Psychotherapie

Die unerträgliche Leichtigkeit des Patienten-Seins

  • 12.05.2017, 21:43
Sondierungen zu einem psychologischen Jargon-Phänomen.

Sondierungen zu einem psychologischen Jargon-Phänomen.

Wer bei einem „Klienten“ zuerst an eine Person denkt, die mit juristischer Vertretung die Höhe von Nachbars Gartenzaun urgiert oder im Rosenkrieg um Kind und Kegel streitet, wird bei einem Blick in aktuelle Fachliteratur der klinischen Psychologie und Psychotherapie überrascht sein. Ob im Kurzlehrbuch oder im psychotherapeutischen Wörterbuch, wo lange Zeit von Patientinnen die Rede war, wimmelt es seit Jahren zunehmend von „Klienten“. So kritisiert „Psychology Today“ am traditionellen Ausdruck der Patientin, dass dieser zu Unrecht eine Person bezeichne, die im Sinn des medizinischen Krankheitsmodells als beschädigt, labil, kurzum als psychisch krank gelte. Dementsprechend ist auch von begriffsimmanenter Stigmatisierung und einem unangemessenen therapeutischen Machtverhältnis die Rede, die es zu überholen gelte. Ist die „Klientin“ also nun Zeichen einer sprachsensiblen Emanzipation psychisch beeinträchtigter Menschen? Könnte es so einfach sein? Oder besser: Sollte es?

DIENSTLEISTUNG UND INTERESSENSVERTRETUNG. Beginnen wir von der ökonomischen Seite: Wenn man sich das Wort „Klient“ auf der Zunge zergehen lässt, schmeckt es irgendwie bitter nach Dienstleistung. Doch trotz des verständlichen Anstoßnehmens daran, dass eine so persönliche Angelegenheit wie Psychotherapie derart reduzierbar sein könnte, entspricht der Begriff den objektiven Gegebenheiten. Die damit verbundene Kränkung sei jeder idealistischen Psychotherapeutin zunächst gegönnt, um dem Narzissmus in Bezug auf die eigene Profession die bittere Wahrheit der Verhältnisse entgegenzusetzen. Denn schließlich holt man sich in der Sprache des Kapitals auf der Couch genauso eine Dienstleistung ab wie beim Installateur. Somit könnte man meinen, dass der „Klientin“-Begriff nur Symptom der konsequenten Durchsetzung der Verdinglichung auf sprachlicher Ebene ist, sich eine idealistische Kritik an ihm somit notgedrungen als verblendet herausstellen muss und sich die Sache damit erledigt hat.

Doch dass sich darin die Intention des Begriffsaustauschs nicht erschöpfen soll, zeigen die ihrerseits idealistischen Befürworter wie der Psychologe Diether Höger im Lehrbuch „Gesprächspsychotherapie“, die die „Klientin“ auf keinen Fall rein ökonomisch verstanden wissen wollen, sondern denen es dabei um (linguistisches) „Empowerment“ zu gehen scheint. Aber wo mit solch einer Dringlichkeit „Power“ herbeigeschafft werden muss – völlig abgesehen von der Problematik, sprachliche mit gesellschaftlichen Modifikationen gleichzusetzen – scheinen Gefühle der Hilflosigkeit, Ohnmacht und Ratlosigkeit offenbar nicht aushaltbar zu sein. Doch genau aufgrund dieser Gefühle begeben sich Menschen in Psychotherapie und diese gilt es sowohl für Patient als auch für Therapeutin erst einmal auszuhalten, um sie bearbeitbar zu machen. Ein solches Unterfangen benötigt Ausdauer und Geduld – Eigenschaften, die im Begriff des Patienten (lat. patiens: ertragend, ausdauernd, geduldig) treffenderweise bereits enthalten sind.

So scheint es also, als ob man sich mit der „Klientin“ bereits im Vorhinein jenes Teiles der Patienten entledigen will, welcher eigentlich der von Relevanz ist, nämlich der störende kranke. Der Wunsch nach Entpathologisierung um jeden Preis, die banale sprachliche Aufwertung dessen, was die Patientin an „Krankem“, sprich an Leid mitbringt, mündet im Versuch dessen sofortiger Aufhebung. Mit dem „Klienten“ wird die Psychotherapie von der Heilbehandlung zur reinen Interessensvertretung. Thomas Rosemann bezeichnet dies in einem NZZBeitrag zutreffend als „sprachliche Verschleierung“: „Wenn wir glauben, einen Patienten auch Patienten zu nennen, sei abwertend, dann bedeutet das, dass Kranksein ein minderwertiger Zustand ist“.

KLIENTELISMUS ALS HUMANISMUS. Und damit ist man beim Knackpunkt angelangt, nämlich der ideologischen Annahme der humanistischen Psychologie, dass es statt psychischer Krankheit im herkömmlichen Sinn lediglich innere Blockaden bzw. „Inkongruenzen“ gibt. Und dass man anstatt mit einer klassischen Therapie der nur vorübergehend im psychischen Morast steckengebliebenen „Klientin“ (und hier stimmt der Begriff dann wirklich) nur durch ein bisschen Coaching zur Durchsetzung ihrer Selbstverwirklichungstendenz verhelfen muss. Die „Klienten(!)zentrierte Psychotherapie“ nach Carl Rogers subsumiert die praktische Vollendung dieses Gedankens bestens, der auch von gesellschaftlichen (Zwangs-)Zusammenhängen schlichtweg nichts wissen will. Anstatt berechtigterweise die gesellschaftliche Ächtung psychischen Leidens anzuprangern, zeigt sich hier die Assimilation an jenen Verblendungszusammenhang, der jegliches Leid im Subjekt aufzulösen versucht. Die Möglichkeit eines kritischen Verständnisses der individuellen und gesellschaftlichen Umstände, die das Individuum überhaupt zum Leiden bringen, wird so negiert.

Es ist auffallend, dass die Psychoanalyse in ihrer praktisch-klinischen Anwendung eine der wenigen Psychotherapie-Schulen ist, die bislang größtenteils am Gebrauch des „Patientinnen“-Begriffs festzuhalten scheint. Es lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen, ob es sich dabei um eine bewusste Abgrenzung zum thematisierten Jargon handelt oder ob die Psychoanalyse an dieser Stelle im besten Sinne zurückgeblieben ist und jenem im Laufe der Zeit ebenso erliegen wird. Jedoch könnte sich hier der kleine, aber feine Unterschied in der nur auf den ersten Blick ähnlichen Bestrebung zeigen, mit einem pathologisierenden Krankheitsbegriff zu brechen. Denn im Gegensatz zum humanistischen Versuch nähert die Psychoanalyse die Pole von „normal“ und „pathologisch“ soweit einander an, dass sie, wenn überhaupt trennbar, maximal als Kontinuum begreifbar sind. Zentral ist hierbei die Beobachtung, dass dem vermeintlich „Gesunden“ etwas „Krankhaftes“ innewohnen und sich gleichzeitig im „Kranken“ etwas beruhigend „Gesundes“ offenbaren kann. Und dass somit neben den vielfältigen individuellen Bedingungen ein jeder zuerst und zuletzt immer auch an den Verhältnissen krankt. Dementsprechend ist es gerade die Möglichkeit, sich im Rahmen einer Psychotherapie und der damit (hoffentlich) verbundenen Regression endlich einmal schamlos als Patientin fühlen und das eigene Leiden voll entfalten zu können, die den Weg zu mehr psychischer Autonomie ebnen kann – und zwar ohne die einen ohnehin schon permanent umgebende Forderung danach, jederzeit ein unabhängiger, entscheidungssicherer und selbstkundiger „Klient“ zu sein.

Lea Wiese studiert Psychologie an der Universität Wien.

Ein Schleier, der sich über die Existenz legt

  • 18.10.2013, 21:23

Der Verein Hemayat bietet seit 1994 traumatisierten Folter- und Kriegsüberlebenden medizinische, psychologische und psychotherapeutische Betreuung. Die Psychologin und Psychotherapeutin Barbara Preitler hat den Verein mitbegründet. Claudia Aurednik sprach mit ihr über die Traumata von Flüchtlingen.

Der Verein Hemayat bietet seit 1994 traumatisierten Folter- und Kriegsüberlebenden medizinische, psychologische und psychotherapeutische Betreuung.  Die Psychologin und Psychotherapeutin Barbara Preitler hat den Verein mitbegründet. Claudia Aurednik sprach mit ihr über die Traumata von Flüchtlingen.

progress: Das Wort Hemayat bedeutet im Arabischen Betreuung und Schutz. Hat es vor der Gründung des Vereins keine Betreuungsmöglichkeiten für traumatisierte Kriegsflüchtlinge gegeben?

Barbara Preitler: Erst Anfang der 1990er Jahre kam man in Mitteleuropa zu der Erkenntnis, dass Menschen mit traumatischen Erlebnissen – wie etwa Krieg, Flucht und Folter – psychotherapeutisch betreut werden müssen. Im Laufe des Balkankriegs wurden einzelne Initiativen gegründet, die sich um  Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien gekümmert haben. Wir aber waren der erste Verein, der Folter- und Kriegsüberlebende psychotherapeutisch betreut hat. Unser erstes Jahresbudget, in der Höhe von 10.000 US-Dollar, haben wir damals von der UNO bekommen. Eine NGO, die Deutschkurse angeboten hat, hatte uns erlaubt nach Kursende ihre Räumlichkeiten zu nutzen. Im Laufe der Zeit haben wir uns als Verein etabliert. Dennoch mussten wir ständig mit Mängeln kämpfen. Diese reichten von zu wenig Geld und Personal bis hin zu fehlenden Räumen und unzureichenden  Sprachkenntnissen. Nur zu wenige KlientInnen hatten wir nie. Aktuell warten 300 Personen auf einen Therapieplatz bei Hemayat.

Aus welchen Ländern kommen Ihre KlientInnen? 

Unsere KlientInnen kommen aus circa 40 verschiedenen Ländern. Die meisten stammen aus dem Iran sowie aus arabischen und afrikanischen Ländern. Derzeit betreuen wir sehr viele Menschen aus Tschetschenien und Afghanistan und langsam kommen auch immer mehr syrische Flüchtlinge zu uns.

Unter welchen psychischen Problemen leiden Ihre KlientInnen? 

Viele leiden an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Diese tritt meist nach einem außergewöhnlich schlimmen Erlebnis auf – mit unterschiedlichen Symptomen: Die Menschen leiden etwa an schmerzhaften Erinnerungen, die sich unterschiedlich zeigen. Manchmal erinnern sich die Betroffenen ständig an das Erlebte und beschreiben die Situation als eine Art Schleier, der sich über ihre gesamte Existenz legt und immer präsent ist. Bei Anderen ist es aber so, dass erst durch ein bestimmtes Ereignis die traumatischen Erlebnisse wieder hochkommen. Dies kann sich in Alpträumen und in den schlimmsten Fällen in Flashbacks äußern. Dem gegenüber stehen die Symptome der Vermeidung. Es wird alles getan, um die schmerzhafte Erinnerung abzublocken.

Treten in weiterer Folge auch Depressionen auf? 

Traumatisierte Menschen neigen generell dazu, besonders empfänglich für physische und psychische Erkrankungen zu sein. Im Zuge meiner wissenschaftlichen Tätigkeit beschäftige ich mich viel mit Trauer, die jedoch nicht als psychische Krankheit diagnostiziert werden kann. Trauer ist eine normale Reaktion auf Verlust. Die Flüchtlinge, mit denen ich arbeite, haben massive Verluste erlitten. Meist haben sie das Haus, die Freunde, ihre Peer-Groups, ihren Arbeitsplatz und ihre Haustiere verloren. Flüchtlinge, denen ausschließlich diese Dinge widerfahren sind, habe ich aber bislang nicht getroffen. Die meisten Flüchtlinge haben alle ihre Angehörigen verloren, ohne dass sie die Möglichkeit einer Verabschiedung hatten. Diese „komplizierte Trauer“ ist natürlich mit einer langanhaltenden Traurigkeit verbunden.

Was wird beim Umgang mit Flüchtlingen zu wenig beachtet? 

Meiner Ansicht nach findet die Tatsache, dass die Fluchtrouten selbst für die Flüchtlinge hochtraumatisch geworden sind, zu wenig Beachtung. Die meisten von ihnen sind oft monate- oder jahrelang unterwegs und den Schleppern ausgeliefert. Die Bandbreite der Arten von Schleppern reicht dabei vom brutalsten Menschenhändler bis zum größten Menschenfreund. Für die Flüchtlinge ist es aber eine reine Glückssache, an wen sie bei ihrer Flucht geraten. Denn sie sind rechtlos, man kann mit ihnen tun, was man will. Viele von ihnen sind dadurch noch zusätzlich traumatisiert worden. Es wäre also gut, wenn sie in „Welcome-Centers" und nicht in Polizeianhaltezentren aufgenommen werden würden.

Viele Frauen erleben im Krieg oder während der Folter sexuelle Gewalt. Sind sie dadurch stärker von Traumatisierungen betroffen?

Wir täuschen uns wirklich sehr, wenn wir davon ausgehen, dass ausschließlich Frauen vergewaltigt werden. Denn auch viele Männer wurden sexuell missbraucht und vergewaltigt. Diese Traumata werden jedoch tabuisiert. Frauen haben hingegen ein gemeinsames Wissen darüber, was ihnen in Kriegs- und Diktatursituationen passiert ist. Sie leiden besonders stark unter der Angst, dass die sexuelle Gewalt weitergehen könnte und dass ihre Männer davon erfahren könnten. Dennoch möchte ich da keine Opferhierarchie konstruieren. Es ist sowohl für Männer als auch für Frauen schrecklich, etwas Derartiges erlebt zu haben.

Was kritisieren Sie am Umgang mit Flüchtlingen in Österreich? 

Ich habe manchmal den Eindruck, als würde eine Schuldvermutung gegenüber allen AsylwerberInnen gelten. Es kann nicht sein, dass jemand, der um Asyl bittet, automatisch des Asylmissbrauchs bezichtigt wird. Bei dem Anspruch auf Asyl handelt es sich um ein Menschenrecht. Es ist schwer vorstellbar, dass jemand einfach aus Spaß, ohne etwas mitzunehmen seine oder ihre Heimat verlässt, sich Schleppern anvertraut, auf einem seeuntauglichen Boot nach Europa fährt und in griechischen Parks von Neonazis verfolgt wird. Daher sollten wir damit aufhören, diesen menschenverachtenden Generalverdacht über alle und jeden zu erheben. Ich mache diese Arbeit aus der tiefsten Überzeugung und weil jeder Mensch gewisse Grundrechte hat. Wenn jemand das Pech hat, Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu sein, dann hat dieser das Recht auf jede Formdes Schutzes und der Rehabilitation.

Die Autorin ist Zeithistorikerin, freie Journalistin und studiert derzeit Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der WU Wien.

Siehe auch: Schlepperei in Zeiten unbegrenzter Grenzen