Proteste

Ungarns Studierende zwischen Apathie und Aktionismus

  • 05.12.2015, 11:51

Seit dem zweiten Antritt der Fidesz-Regierung 2010 hat Ungarn demokratie-, medien- und minderheitenpolitisch einen autoritären Kurs eingeschlagen. Dieser betrifft auch die ungarischen Universitäten.

Seit dem zweiten Antritt der Fidesz-Regierung 2010 hat Ungarn demokratie-, medien- und minderheitenpolitisch einen autoritären Kurs eingeschlagen. Dieser betrifft auch die ungarischen Universitäten.

„Selbst die Einrichtung meines Büros mussten wir zum Teil selber finanzieren oder von zuhause mitnehmen. Etwa den Drucker“, meint Professor Ferenc Hammer. Seine KollegInnen und er arbeiten wegen der infrastrukturellen und finanziellen Situation völlig prekär. Der Soziologe ist Leiter der Abteilung für Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Eötvös Loránd Universität. Die Bologna-Reform wird vielerorts als Verschulung und Vereinheitlichung des Universitätswesens kritisiert. Vor dem Hintergrund von Ungarns Geschichte als post-sowjetischer Staat meint Ferenc Hammer allerdings, sie habe das Potential gehabt, den bis 1990 inhaltlich schwachen und isolierten Hochschul- und Wissenschaftssektors zu modernisieren. So hätte Bologna etwa der besseren Vernetzung mit Universitäten und WissenschafterInnen rund um den Globus dienen können. Hätte. Wären da nicht die chronisch schlechte finanzielle Lage des Landes und die unklaren, intransparenten politischen Entscheidungen, die maximal die formale Umsetzung der Reform möglich machten.

Seit die Fidesz-Regierung unter Viktor Orbán 2010 mit einer Zwei-Drittel- Mehrheit wieder ins Amt kam, haben sich die Rahmenbedingungen für das Hochschulwesen zusätzlich verschlechtert. Dies hatte zunächst weniger mit der Regierung als mit der Europäischen Union zu tun: Da Ungarn seit 2004 mehrfach gegen die Defizitgrenzen des Maastricht-Vertrages verstoßen hatte, wurde das Land 2011 vor die Wahl gestellt, entweder seinen Haushalt zu konsolidieren, oder das Einfrieren von 500 Millionen Euro an EU-Fördergeldern zu riskieren. Die Regierung Orbán entschied sich zu einem strikten Kürzungskurs, wie er auch in anderen Staaten zu beobachten war. Davon war auch der Hochschulsektor stark betroffen. Machten die öffentlichen Ausgaben für höhere Bildung laut einem Papier der Uni Szeged 2008 noch einen Anteil von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, sank dieser in den letzten Jahren auf ein halbes Prozent. Zumindest wird dies von der Organisation „Oktatói Hálózat“ („Netzwerk der Hochschullehrenden“) kritisiert. Für Hammer ist das aufgrund der schwachen politischen Lobby der Unis und ihrer Heterogenität nicht überraschend. Um nicht auf gesellschaftlichen Widerstand zu stoßen, war die Regierung bemüht, den Hochschulsektor öffentlich als schwarzes Loch für Steuergelder darzustellen.

Auch Lehrende selbst klagen über die Ineffizienz der ungarischen Universitäten, einer von ihnen ist Daniel Deak von der Corvinus Universität Budapest. Das geringe Budget wird aber nicht für effektive Verbesserungen genutzt. Vielmehr resultiert es in schlechter Bezahlung und fehlendem Equipment wie Projektoren, Druckerpatronen und Büchern. Der Soziologe Hammer erzählt, die Bibliothek der Humanwissenschaften an seiner Universität habe seit fünf Jahren keine einzige Neubestellung getätigt.

DAS ENDE DER ORCHIDEEN. In der Regierung Orbán ist zudem eine starke Abneigung gegen sogenannte „unbrauchbare Studiengänge“ präsent. In den Jahren 2011 und 2012 folgten Reformen, die sich negativ auf die Studienvielfalt, auf die soziale Durchlässigkeit der Unis und die Hochschul-Autonomie auswirkten. Zunächst wurde die Zahl der staatlich finanzierten Studienplätze schrittweise von 50.000 auf 30.000, schließlich auf 10.000 reduziert. Gleichzeitig wurde die Zahl der „teilfinanzierten Studienplätze“ (Studierendenkredite) stark angehoben. 2007/08 plante eine sozialdemokratische Regierung allgemeine Studiengebühren. Eine – auch von Orbáns Fidesz-Partei eingeleitete – Volksabstimmung verhinderte dies. Die Anhebung der teilfinanzierten Studienplätze bedeutete allerdings eine indirekte Wiedereinführung von Studiengebühren. Bezüglich der Höhe kursieren im Netz verschiedene Zahlen. Laut der deutsch-ungarischen Tageszeitung „Pester Lloyd“ kommen auf alle, die nach einem definierten Numerus Clausus kein Recht auf einen voll finanzierten Platz haben, Studiengebühren von bis zu 1500 Euro pro Jahr zu. Angesichts der hohen Lebenserhaltungskosten ein echtes finanzielles Problem für viele Studierende.

Dass vor allem sogenannte „Orchideenfächer“ im Spannungsfeld zwischen Staat und Markt stehen, ist kein ungarisches Spezifikum, sondern eine länderübergreifende Realität. Durch die Reformen der letzten Jahre wurden in Ungarn staatlich finanzierte Studienplätze nicht mehr nach Bedarf organisiert, sondern zu jenen Fächern umverteilt, die „nationalökonomisch relevant“ sind. Für das Studienjahr 2013/14 wurde eine „Streichliste“ mit Fächern veröffentlicht, die zukünftig nicht mehr staatlich finanziert werden sollen. Darauf finden sich unter anderem: Volks- und Betriebswirtschaftslehre, Business Management, Soziologie, Internationale Studien, Kommunikationswissenschaften und Studien, die relevant für den öffentlichen Dienst sind. Für letztere wurde gar eine eigene, regierungsgesteuerte Universität gegründet, die somit eine umfassende Kompetenz zur Selektion künftiger AnwerberInnen für wichtige Posten im Staat hat. Studienfächer, die vom Markt nicht ausreichend nachgefragt werden, müssen eben schließen, so die Staatssekretärin Hoffmann.

Ein weiteres Kernstück der Hochschulreformen sind die sogenannten „Verträge“. Wer einen staatlich finanzierten Studienplatz in Anspruch nehmen will, kann dies nur durch die Unterzeichnung eines Vertrages tun. Damit verpflichtet man sich, nach Abschluss des Studiums die doppelte Studienzeit in Ungarn zu arbeiten, ungeachtet der Chancen auf eine Stelle mit entsprechender Qualifizierung und halbwegs angemessenem Lohn. Bei Missachtung des Vertrages sind alle staatlichen Mittel wieder zurückzuzahlen. Damit sind nicht nur etwaige Gebühren gemeint, sondern die gesamten Studienkosten. Angesichts dessen sehen sich Universitäten mit sinkenden Inskriptionszahlen konfrontiert. Im Studienjahr 2013/14 waren es laut „Pester Lloyd“ 95.000 Studierende: ein 17-Jahres-Tief.

Das ursprüngliche Ziel der Studienverträge, nämlich die Abwanderung ausgebildeter AkademikerInnen ins Ausland zu stoppen, wurde nicht erreicht. Das Problem wurde lediglich verjüngt, denn viele emigrieren nun gleich nach der Matura zum Studieren nach Deutschland, Österreich oder in die Slowakei. Der „Brain Drain“ sei laut Hammer ein zunehmendes Problem für Ungarn. Auch András Maté, Professor der Theologie und Gründungsmitglied des „Netzwerkes der Hochschullehrenden“, stimmt zu: „Die besten Köpfe“ unter den angehenden und ehemaligen StudentInnen würden gehen. Während Studierende „unwirtschaftlicher“ Fächer sowieso geringe Chancen auf einen leistbaren Studienplatz haben, werden jene AnwerberInnen für staatlich voll ausfinanzierte Fächer durch derartige Verträge ins Ausland getrieben.

ZENTRALISIERUNG UND KONTROLLE. Studierenden- und Lehrendenvertretungen kritisieren gemeinsam die fehlende Kommunikationskultur zwischen politischen EntscheidungsträgerInnen und Betroffenen an den Universitäten. Dies führt regelmäßig zu politischen Veränderungen, die den Realitäten nicht angemessen sind. Während die Entwicklung in Europa eher in die Richtung Hochschulautonomie geht, gibt es in Ungarn Zentralisierungsprozesse. Der mangelhaft ausgeprägte Korporatismus und der feudale Politikstil sind für die in Wien und Budapest lehrende Soziologin Éva Judit Kovács sogar Strukturprinzip der ungarischen Gesellschaft. Ein Kernelement der Autonomie-Reform sei ihrer Meinung nach das verwaltungs- und finanztechnische Durchgriffsrecht des Staates an den Universitäten. Das Nachrichtenportal „Budapest Beacon“ schreibt von einem „chancellery system“. Es handelt sich um eine Behörde, deren BeamtInnen direkt von Premierminister Orbán ernannt werden und die sowohl die Verwendung der staatlichen Finanzmittel reguliert, ein Vetorecht bezüglich der Entscheidungen der DirektorInnen, sowie die Entscheidungsmacht über Personalfragen hat, ausgenommen ist nur das Forschungsund Lehrendenpersonal. Nicht mehr die Unis, sondern der Staat und die Regierung werden zum unmittelbaren Arbeitgeber des Personals.

KEIN WIDERSTAND DER STUDIERENDEN? Die Einschätzung des Widerstandspotentiales von Studierenden und Lehrenden angesichts der massiven Eingriffe gehen selbst bei ProfessorInnen auseinander. András Maté erklärt, dass es den Hochschullehrenden mit „Oktatói Hálózat“ gelungen sei, eine langfristig strukturierte, kritische Plattform zu kreieren, welche in der Lage sei, den hochschulpolitischen Diskurs zumindest etwas zu beeinflussen. Das Studierenden- Netzwerk „Hallgatói Hállózat“ sei allerdings, so Maté, eine lose Gruppe, die sich nicht auf permanente Organisierung orientiere. Interessanterweise sind beide Gruppen Ausdruck der Proteste gegen Orbáns Hochschulreformen 2011. Das Protestpotential der Studierenden würde sich immer nur anlassbezogen entfalten, meint Maté. Gibt es einen restriktiven, hochschulpolitischen Vorstoß der Regierung, finden sich immer wieder neue Gesichter zu spontanen Protesten zusammen. Danach verschwinden sie wieder, es gibt keine permanenten Strukturen, was sich auch darin äußert, dass man kaum jemanden für ein substanzielles Interview gewinnen kann. Seit 1990 seien politische Bewegungen – vor allem parteigebundene – in den Unis untersagt. In der Analyse übereinstimmend, aber in der Schlussfolgerung abweichend äußert sich Ferenc Hammer: Wenn Studierende zu spontanen, großen Demonstrationen zusammenkamen, habe die Regierung ihre hochschulpolitischen Pläne zumindest etwas entschärfen müssen. „Die Protestierenden haben damit bisher mehr erreicht als die Opposition im Parlament“, meint er und lacht.

Johannes Mayerhofer studiert Soziologie und Psychologie an der Universität Wien.

„Der Gewöhnungseffekt ist ein Hund“

  • 10.03.2014, 21:51

Die Abschaffung des Wissenschaftsministeriums war zwar ein zufälliges Produkt der Koalitionsverhandlungen, fügt sich aber dennoch in einen Wandlungsprozess der österreichischen Hochschullandschaft ein, der bereits vor mehr als zehn Jahren seinen Anfang genommen hat. Eine Chronologie der Bildungsökonomisierung.

Die Abschaffung des Wissenschaftsministeriums war zwar ein zufälliges Produkt der Koalitionsverhandlungen, fügt sich aber dennoch in einen Wandlungsprozess der österreichischen Hochschullandschaft ein, der bereits vor mehr als zehn Jahren seinen Anfang genommen hat. Eine Chronologie der Bildungsökonomisierung.

Die Bestürzung war groß, als am Abend des 12. Dezember 2013 bekannt wurde, dass das Wissenschaftsministerium die Koalitionsverhandlungen nicht überlebt hat und die Agenden des bisherigen Ministers Karlheinz Töchterle (ÖVP) in das Wirtschaftsministerium unter der Führung von Reinhold Mitterlehner (ÖVP) wandern. Als „schäbig, armselig und dumm“ bezeichnete etwa Spitzen-Forscherin Renée Schroeder dieses Ergebnis gegenüber dem Nachrichtenmagazin profil. RektorInnen, Uni-Personal, ForscherInnen, Studierende und selbst große Teile der ÖVP waren entsetzt über die Entscheidung von Parteiobmann Michael Spindelegger, das Wissenschaftsministerium zugunsten eines neu geschaffenen Familienministeriums aufzulösen. Eine Unterordnung der Wissenschaft unter das „Diktat der Wirtschaft“ war und ist eine der zentralen Befürchtungen der KritikerInnen dieser Entscheidung. Vor einem „Aushungern der Grundlagenforschung“ warnen zahlreiche namhafte WissenschaftlerInnen, RektorInnen-Chef Heinrich Schmidinger forderte Bundespräsident Heinz Fischer auf, die Regierung nicht anzugeloben, die Universitäten wurden kurzzeitig schwarz beflaggt und StudierendenvertreterInnen aller Fraktionen riefen zu Protest- und Trauerkundgebungen auf. Sie warnten auf Transparenten und in Aussendungen vor einer weiteren „Ökonomisierung der Bildung“.

Und dennoch: Nach ein paar Tagen der Empörung war die Aufregung auch schon wieder vorbei. Für Sigi Maurer, ehemalige ÖH-Vorsitzende, inzwischen Wissenschaftssprecherin der Grünen, zeigt das, „wie weit wir schon sind. Das Wissenschaftsministerium arbeitet seit vielen Jahren auf eine stärkere Integration in die Wirtschaft hin. Jetzt sind die Wissenschaftsagenden dort angesiedelt – das macht für viele keinen Unterschied mehr. Ein Stück weit ist so etwas wie informierte Resignation eingetreten“, analysiert Maurer.

Mangelnde Wertschätzung. Offensichtlich war die Eingliederung der Wissenschaftsagenden in das Wirtschaftsministerium aber kein von langer Hand geplanter Schritt, sondern ein zufälliges Produkt der Koalitionsverhandlungen. „Dennoch zeigt diese Entscheidung klar, welches Bild die ÖVP von Wissenschaft hat und welche Wertigkeit sie ihr beimisst“, sagt Maurer. Damit ist sie ausnahmsweise einer Meinung mit Karlheinz Töchterle. „Die Einführung eines neuen Familienministeriums soll ein Zeichen sein, dass der ÖVP dieser Bereich besonders wichtig ist. Im Umkehrschluss sind ihr demnach Wissenschaft und Forschung nicht so wichtig. Das ist für mich angesichts der Bedeutung dieses Bereichs nicht plausibel“, so Karlheinz Töchterle gegenüber progress. Der Ex-Minister teilt die Sorgen der KritikerInnen: „Neben der symbolischen Wirkung sind auch faktische zu befürchten. Wissenschaft und Forschung bekommen schlicht weniger Zuwendung.“ Das vielzitierte „Diktat der Wirtschaft“ befürchtet der ehemalige Minister zwar weniger, ganz auszuschließen sei es aber dennoch nicht, so Töchterle.

Pacman frisst die Bildung. Die Jagd nach ECTS-Punkten erinnert Studierende an das Computerspiel Foto: Martin Juen

Nicht erst seit der Übersiedelung der Wissenschaft ins Wirtschaftsministerium ist eine immer stärkere Verstrickung von Wirtschaft und Bildung in Österreich Thema, denn die Universitäten befinden sich seit Langem in einem Wandlungsprozess, der nicht zuletzt unter europapolitischen Vorzeichen begann. Einerseits durch den Bologna-Prozess, der europäische Mobilität und einheitliche Abschlüsse bringen sollte, andererseits durch die Lissabon-Strategie, mit der Europa bis zum Jahr 2010 zum „wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt“ werden sollte, begann spätestens ab dem Jahr 2000 auch in Österreich ein drastischer, struktureller Umbau der Universitäten. Zentral war dabei das Universitätsgesetz 2002 (UG 02, inzwischen wird es nur mehr UG genannt), mit dem die Universitäten in die seither vielbeschworene „Autonomie“ entlassen wurden. Luise Gubitzer, Ökonomin und Professorin an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) und seit den 80er- Jahren im Wissenschaftsbetrieb tätig, konstatiert, dass rund um das Jahr 2000 ein Prozess in Gang gesetzt wurde, der bis heute andauert und vor allem durch eine „Übernahme des Vokabulars, der Denkweise und der Organisationsform“ aus der gewinnorientierten Wirtschaft geprägt sei. Unter dem Dogma des „New Public Managements“ wurden unternehmensähnliche Strukturen geschaffen und marktwirtschaftliche Bewertungskriterien eingeführt: Evaluierung, Kennzahlen, quantifizierbare Leistungs- und Zielvereinbarungen, Wissensbilanzen und Rankings – all das sollte „outputorientierte“ Arbeit ermöglichen. RektorInnen wurden als UniversitätsmanagerInnen mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet.

Dahinter stecke eine „industrielle Vorstellung“ der Institution Universität, so Gubitzer: Sie werde als Betrieb gesehen, der Waren produziert und stets seinen Output zu steigern hat – mehr Publikationen, mehr AbsolventInnen, etc. „Dabei handelt es sich aber nicht um einen fruchtbaren Forschungswettbewerb, sondern im Grunde um einen Statuswettbewerb. Es ist nicht die Konkurrenz darum, wer den besseren Master anbietet, sondern wer besser dafür wirbt“, kritisiert sie.

Entdemokratisierung. Darüber hinaus brachte das UG 02 große Einschnitte in die demokratischen Strukturen der Universitäten: Die Möglichkeiten der Mitbestimmung von Studierenden und des wissenschaftlichen Personals wurden massiv eingeschränkt. Ihre Stimmen im Senat, dem einzig verbliebenen Uni-Gremium, das gewählt wird, wurden zugunsten des Stimmanteils der ProfessorInnen verringert. Das und die hierarchischen Organisationsstrukturen, die auf allen Ebenen sichtbar wurden, führten damals zu Protesten. Nicht nur Studierende gingen auf die Straße, auch viele progressive Lehrende solidarisierten sich mit den Studierenden, erinnert sich Barbara Blaha, die ein paar Jahre später als ÖH-Vorsitzende eine neue Protestwelle anführen sollte. „Aber es ist auch erstaunlich, wie schnell das wieder vorbei war. Zehn Jahre später kann sich keiner mehr vorstellen, dass Unis anders funktionieren können als heute. Das Gedächtnis der Institutionen ist offenbar sehr kurz“, sagt Blaha.

Aber auch die Proteste gegen das Universitätsgesetz waren nicht die ersten, die sich gegen den Einzug von Verwertungslogiken in den Hochschulbereich richteten. Nach den Sparpaketen der 90er-Jahre und der in diesem Kontext beschlossenen Senkung der Familienbeihilfe gingen auch im Jahr 2000 Studierende auf die Straße, um gegen die erstmalige Einführung von Studiengebühren unter der damaligen Bildungsministerin Elisabeth Gehrer (ÖVP) zu protestieren. In den folgenden Jahren sollten die Studiengebühren wieder abgeschafft, eingeführt, doch nicht abgeschafft, autonom eingehoben und wieder rückerstattet werden. Luise Gubitzer sieht Studiengebühren als einen Schritt der Verankerung einer marktwirtschaftlichen Logik im Bildungssystem: Mit ihnen kommt das Element „Preis“ ins Spiel. „Als öffentliches Gut muss Bildung aber allen zugänglich sein und darf keinen Preis haben“, so Gubitzer.  

Liberalisierung und Protest. Zu den Protesten gegen Studiengebühren und gegen das umstrittene UG kam außerdem bald ein weiteres Thema hinzu, das weit über die Grenzen der Universität hinaus ein breites Bündnis von zivilgesellschaftlichen AkteurInnen auf den Plan rief: das GATS-Abkommen – das „General Agreement on Trade in Services“ der Welthandelsorganisation (WTO), das den weltweiten Handel mit Dienstleistungen und dessen Liberalisierung zum Ziel hatte.

Bildung, Gesundheit, Energie- und Wasserversorgung sollten dem freien Markt zugänglich gemacht und staatliche Regulierung in diesen Bereichen eingeschränkt werden. „Bildung ist dann nicht mehr Aufgabe des Wissenschaftsministeriums, sondern des Wirtschaftsministeriums“, warnte im Studienjahr 2002/03 die Fakultätsvertretung für Geistes- und Kulturwissenschaften der Uni Wien – ironischerweise auf einer Informationsseite, die heute noch online ist. Unter dem Motto „Education not Profit“ startete die ÖH eine groß angelegte Kampagne gegen das Handelsabkommen und war damit Teil eines breiten Bündnisses, das unter dem Slogan „Stopp GATS“ zahlreiche Organisationen unter einem Dach vereinte: von den Gewerkschaften bis zu ATTAC, von SchülerInnenorganisationen über die Armutskonferenz bis hin zu Umweltorganisationen. Die WTO wollte die Verhandlungen zum GATS bis zur Doha-Runde 2005 abschließen. Aufgrund von Uneinigkeiten zwischen den Mitgliedsstaaten ist das aber bis heute nicht gelungen.

Nach sechs Jahren schwarz-blauer Regierungspolitik, die unter anderem das UG02 und die Einführung von Studiengebühren gebracht hatten, keimte bei vielen Studierenden ein kleiner Hoffnungsschimmer, als die SPÖ 2006 als Wahlsiegerin aus den Nationalratswahlen hervorging und Alfred Gusenbauer Bundeskanzler wurde. Denkbar groß waren die Wut und die Enttäuschung, als klar wurde, dass auch diese Regierung, entgegen aller Ankündigungen, die Studiengebühren nicht abschaffen würde. Dieser Umstand und die Unzufriedenheit mit dem Gesamtergebnis der Koalitionsverhandlungen veranlassten die damalige ÖH-Vorsitzende Barbara Blaha aus der SPÖ auszutreten. Blaha sieht die damaligen Protesten, durchaus als Erfolg: „Wenn die Studierenden dieses Thema 2007 nicht so skandalisiert hätten und mein Partei-Austritt nicht so ein großes Thema gewesen wäre, wäre Werner Faymann nicht gezwungen, das Thema Studiengebühren als Symbolfrage zu behandeln. Mit dem Ergebnis, dass die Studiengebühren heute für einen Großteil der Studierenden Geschichte sind. Und solange Faymann Kanzler ist, werden sie das auch bleiben.“ Die Studierenden, die 2007 auf der Straße waren, sehen das aber nicht als ihren Erfolg, weil es zur geforderten Abschaffung der Studiengebühren erst Jahre später kam, so Blaha.

Schon im Jahr 2009 sollte es zu neuen Protesten kommen, die unter dem Titel #unibrennt – jedenfalls der medialen Rezeption nach – als die größten Bildungsproteste der vergangenen Jahre in die Geschichte eingehen sollten. „Die Proteste waren, abgesehen von der Besetzung als Protestform, weit nicht so radikal, wie sie nach außen vielleicht gewirkt haben“, erinnert sich Sigi Maurer, die damals ÖH-Vorsitzende war. „Der Fokus vieler Arbeitskreise war die Verbesserung der individuellen Situation an der Universität, mit der Zusatzforderung nach ECTS-Punkten für den Aktivismus im Audimax. Auch daran zeigt sich, wie weit die Durchdringung der Gesellschaft, auch der Studierenden, mit ökonomischen Prinzipien vorangeschritten ist“, stellt Maurer fest und ergänzt: „Das wäre eine Möglichkeit gewesen, darüber nachzudenken, was das Ziel von Lehre und Studium sein sollte – das haben die meisten Universitäten aber verabsäumt.“

Von Österreichs Universitäten bleibt nur noch ein Skelett. So sahen es Demonstrierende im Dezember 2013  Foto: Martin Juen

Neben der individuellen Unzufriedenheit mit dem Studium sei aber auch ein kollektives Unbehagen mit dem Wandel der Hochschullandschaft durch diese Proteste ersichtlich geworden, sagt Barbara Blaha: „Der Funke in der #unibrennt-Bewegung war dieses dumpfe Gefühl, dass die Unis derzeit in die falsche Richtung laufen.“ Das habe sich für die Studierenden an vielen Kleinigkeiten des Studienalltags bemerkbar gemacht: Voraussetzungsketten, verschulte Lehrpläne, eine möglichst effiziente Verwertbarkeit der Lehrinhalte und „Employability“. Nicht umsonst wird mit der Protestbewegung rund um das Audimax der Spruch „Bildung statt Ausbildung“ verbunden. Gefordert wurden unter anderem eine Demokratisierung der Universitäten, der freie Hochschulzugang, die Abschaffung bzw. Nicht-Einführung von Studiengebühren und nicht zuletzt die Ausfinanzierung der österreichischen Universitäten. Ob #unibrennt ein paar Jahre später auch noch funktionieren würde, ist sich Blaha nicht sicher. „Der Gewöhnungseffekt ist ein Hund. Und inzwischen ist der ökonomische Druck – etwa durch die weitere Verringerung der Familienbeihilfe und die Nicht-Anpassung der Studienbeihilfe – so hoch, dass ich von niemandem verlangen kann, links oder rechts zu schauen. Die Menschen rennen durch ihr Studium – weil sie müssen.“

In wessen Auftrag? Längst hat also eine ganze Reihe von Mechanismen dazu geführt, dass marktwirtschaftliche Logiken Einzug in das Hochschulwesen gehalten haben. Laut Luise Gubitzer wird eine Ökonomisierung von Bildung und Bildungsinstitutionen auf mehreren Ebenen sichtbar. Nicht zuletzt hat auch die chronische Unterfinanzierung der Universitäten durch den Staat zunehmend private AkteurInnen auf den Plan gerufen. Dass die erste Ankündigung Mitterlehners war, die Finanzierung von Forschung durch Drittmittel noch stärker ausbauen zu wollen, sieht Gubitzer als Problem: „Das bedeutet, dass der Staat sich zunehmend aus seiner Aufgabe, universitäre Bildung zu finanzieren, zurückzieht und sie immer mehr auf eine Basisfinanzierung reduziert. Den Rest müssen sich die Unis dann anderswo holen. Das halte ich für eine riesige Gefahr.“ Die komplette Ausfinanzierung der öffentlichen Universitäten ist aus Gubitzers Sicht nämlich Aufgabe des österreichischen Staates. Warum? „Weil öffentliche Bildung vielfach positive, multiplikative Effekte hat“, so Gubitzer – etwa das Reflektieren von gesellschaftlichen Prozessen, aus denen sich wiederum Forschungsaufgaben und Lehrgegenstände für die Universität ergeben. „Die öffentliche Uni muss sich immer wieder mit den Aufgaben, die sie gegenüber der Gesellschaft wahrnehmen muss, in Beziehung setzen“, so Gubitzer.

Auch die Rolle von Sponsoring gelte es kritisch zu beobachten. Nirgendwo wird die wachsende Bedeutung von privaten Geldern so gut sichtbar wie bei einem Spaziergang durch den neuen WU-Campus mit seinem OMV Library Center und seinem Red Bull-Hörsaal. Die ständige Präsenz der Firmennamen mache ein kritisches Hinterfragen dieser Unternehmen schwieriger, so Gubitzer. Außerdem sei problematisch, dass es zunehmend zur Selbstverständlichkeit werde, dass sich Universitäten auf diese Weise finanzieren. „Die WU wurde ja mit öffentlichen Mitteln gebaut. Die Frage ist, wofür das Hörsaalsponsoring eigentlich verwendet wird.“ Wenn damit etwa ein Kongress finanziert wird, werde dorthin wohl niemand eingeladen, der dem sponsernden Unternehmen kritisch gegenübersteht, befürchtet Gubitzer.

Keine Studierendendemo ohne Popkultur – gegen die Abschaffung des Wissenschaftsministeriums 2013 demonstierten die Space Invaders mit. Foto: Luiza Puiu

Über die Konsequenzen dieser Entwicklungen gelte es nicht nur innerhalb der Universitäten, sondern auch als Gesellschaft nachzudenken. „Die Unternehmen wissen ganz genau, was sie von der Uni verlangen, während die gesellschaftlichen Gruppen viel zu wenig fordern“, sagt Gubitzer. Statt die Unis zunehmend darauf zu reduzieren, dass sie Studierende ausbilden, müsse sich die Gesellschaft bewusst machen, was sie von einer Universität, die aus Steuermitteln finanziert wird, erwartet. Eine öffentliche Universität habe nämlich komplett andere Aufgaben als ein gewinnorientiertes Unternehmen, so Gubitzer. Statt die Universitäten also dem Wettbewerb um gutes Abschneiden bei Rankings zu überlassen, müsse die Öffentlichkeit fragen, was sie eigentlich von der Forschung hat. „Menschen, die in den Universitäten sind und noch etwas anderes wollen, als Studierende für den Arbeitsmarkt auszubilden, müssen gestärkt werden, um Lehre und Forschung voranzubringen.“ Das und eine Wiederaufwertung der internen Mitbestimmung an den Universitäten wären laut Gubitzer erste dringende Voraussetzungen, um die Unis wieder auf einen anderen Kurs zu bringen.

Theresa Aigner ist freie Journalistin in Wien. Ein ausführliches Interview mit der Ökonomin Luise Gubitzer findest du hier: „Die öffentliche Uni hat der Gesellschaft etwas zurückzugeben“.

Aktion und Reaktion bei der Wiener Refugee-Bewegung

  • 11.12.2013, 19:19

Im Spätherbst vergangenen Jahres setzte sich ein Protestmarsch von der Sammelunterkunft „Flüchtlingslager Ost“ in Traiskirchen in Bewegung. Es handelte sich um eine Protestaktion von Flüchtlingen, die im Morgengrauen des 24. November 2012 gen Wien marschierten. Anschließend plante man im Sigmund Freud Park ein Protestcamp zu errichten.

P { margin-bottom: 0.21cm; }A.western:link { }A.ctl:link { }

Im Spätherbst vergangenen Jahres setzte sich ein Protestmarsch von der Sammelunterkunft „Flüchtlingslager Ost“ in Traiskirchen in Bewegung. Es handelte sich um eine Protestaktion von Flüchtlingen, die im Morgengrauen des 24. November 2012 gen Wien marschierten. Anschließend plante man im Sigmund Freud Park ein Protestcamp zu errichten.

Der dem Marsch zu Grunde liegende Anlass zum Protest und die daraus erwachsene Protestbewegung rund um die „Besetzung“ der Votivkirche war eine Einzigartigkeit der österreichischen Asylrechtsgeschichte. Zum ersten Mal machten österreichische Flüchtlinge auf die barbarischen Zustände, denen sie ausgeliefert sind, weitestgehend eigenständig aufmerksam. Sie versuchten so einerseits ihrer Wut über den täglichen Spießrutenlauf durch die oftmals unergründlichen Wege der österreichischen Asyljudikatur Ausdruck zu verleihen, andererseits versuchten sie mittels später ausformulierten politischen Forderungen konkrete Veränderungen herbeizuführen.

Kaum jemand hätte wohl zu diesem Zeitpunkt eine solche Welle an darauffolgenden Ereignissen erwartet. Vielmehr rechnete man in den Kreisen der UnterstützerInnen und direkt Beteiligten mit einem baldigen Erschlaffen des Protests, da bisher von zivilgesellschaftlicher Seite vergleichsweise geringes Interesse an einer Thematisierung der menschenunwürdigen Zustände in Asylheimen bestand. Bei einer genaueren Untersuchung asylrechtlicher Sachverhalte in der österreichischen Medienlandschaft als auch in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen konnte man erkennen, dass etwa Stellungnahmen und Aufrufe zum Protest sich bisher meist auf eine sehr oberflächliche und plakative Behandlung dieser Thematik beschränkten. Bloß zu tatsächlich "massenfähigen" Anlässen mobilisierte man zu Demonstrationen (wie etwa im Falle der in den Kosovo "auszuweisenden" Arigona Zogaj), jedoch nicht um eine grundlegende Skandalisierung der menschenunwürdigen Zustände zu leisten. Dies änderte sich jedoch mit dem Aufflammen des Flüchtlingsprotests dramatisch, der Protest war weitestgehend "in aller Munde".

Anfängliches Desinteresse
Die österreichischen Medien zeigten von Beginn an flächendeckendes Desinteresse oder betrieben Faktenhuberei; der Kurier versuchte gar den Protest als ein von außerhalb gelenktes Ereignis zu brandmarken, in dem eine dubiose Gestalt in Form eines bayrischen „Linksaktivisten“ (1) als alleiniger Strippenzieher herhalten musste. Damit sollte der Protest der Flüchtlinge, der bereits Forderungen nach vollem Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und uneingeschränkte Bewegungsfreiheit beinhaltete, delegitimiert werden.
Die „Flüchtlingsbewegung“ war anfänglich eher ein Sammelsurium verschiedenartiger, gemeinsam agierender Gruppierungen. Um auf die menschenunwürdigen Zustände aufmerksam zu machen, errichtete man ein Zelt-Lager im Sigmund-Freud-Park. Jedoch provozierte dies sehr bald gezielte Aktionen der Wiener Polizei, die sich in erster Linie gegen dort ansässige AsylwerberInnen und UnterstützerInnen richteten. Fortan wurde den Protestierenden klar, dass das Zeltlager bloß von kurzer Lebensdauer sein würde und so suchten etwa 20 Asylwerber Zuflucht in der Votivkirche. Derjenige, der von einer „Besetzung“ der Votivkirche überhaupt erst sprach, war der Pfarrer der Kirche, der sich ganz und gar nicht solidarisch zeigte und sich später durch gewisse Feindseligkeiten gegenüber den Geflüchteten bemerkbar machte: etwa durch die Weigerung, die Flüchtlinge aus der Kirche zu lassen und durch den Versuch das Betreten der Kirche zu verhindern.
Die Flüchtlinge forderten zu dem Zeitpunkt unter anderem grundlegend menschenwürdigere Zustände in den Lagern, einen freien Zugang zur staatlichen Grundversorgung für alle AsylwerberInnen unabhängig von ihrem Rechtsstatus, die Leistungen (darunter: Mietzuschuss, Verpflegungsgeld und Krankenversicherung) beinhalten, welche de jure schutzbedürftigen AsylwerberInnen zustehen und einen Austausch sämtlicher Dolmetscher in Traiskirchen, da diese oftmals sprachlich unqualifiziert sind und kaum in der Lage sind die AsylwerberInnen präzise genug zu verstehen.

Bis März dieses Jahres verweilten die Flüchtlinge in der Votivkirche, bis man sich darauf einigte in das Servitenkloster umzusiedeln.
Die Caritas diente in der Zeit ab der Besetzung der Votivkirche maßgeblich als Verhandlungsteam zwischen den Refugees und dem österreichischen Staat. Der Aufenthalt der Protestierenden in der Votivkirche war jedoch von mehreren Repressalien und Einschüchterungsmethoden geprägt, die allesamt das Ziel hatten den Protest zu unterbinden und ihn zu delegitimieren.

Repression
Am 28. Februar ereignete sich ein Treffen zwischen Flüchtlingen und ihren UnterstützerInnen mit mehreren Vertretern der Kirche in einem Café unweit der Votivkirche, bei dem angeblich auch Shahjahan Khan anwesend gewesen sein soll. Shahjahan Khan war zu diesem Zeitpunkt einer der federführenden Akteure und Sprecher des Protests. Vermutlich am Weg zurück zur Votivkirche, war Shahjahan Khan in einer Gruppe anderer Illegaler unterwegs gewesen. Einige ZivilpolizistInnen erblickten ihn, umzingelten ihn in Folge dessen und führten ihn ab.
Es war kein Zufall, dass Shahjahan Khan Zielscheibe der polizeilichen Repression wurde: Shahjahan Khan war nicht nur ein Sprecher der in der Votivkirche Protestierenden, er war auch einer der schärfsten Kritiker des Wiener Polizeiwesens, der in einer Presseaussendung vor 2 Tagen, anlässlich der Verhaftung eines anderen, illegal aufhältigen Fremden, der auf selbige Art und Weise festgenommen wurde, schrieb:

“We want to negotiate, but the police threatens us. We are being surveilled, stopped and checked in front of the church with increasing frequency, without having done anything. Often by undercover officers, who don’t reveal their identity to us. Worst of all is, that one of us has been arrested and taken away by the police and that we still don’t know, what happened to him.” (2)

Was sich liest wie das Drehbuch eines miesen Krimis, schien sich sehr bald als Strategie der österreichischen Exekutive herauszukristallisieren, um den Flüchtlingsprotest aus dem Zentrum der medialen Aufmerksamkeit zu drängen: Einschüchterung mittels repressiver Methoden gepaart mit innenpolitischer, medialer Delegitimation.

Am 29. Juli – 4 Monate waren seit dem „Umzug“ in das Servitenkloster vergangen – wurden acht pakistanische Asylwerber, die allesamt in die Besetzung der Votivkirche involviert gewesen waren, im Rahmen einer polizeilichen Aktion, in den sicheren Tod abgeschoben. "Weil wir Refugees auch Pakistan und die Taliban in den Medien kritisiert haben, werden uns die Geheimdienste schon am Flughafen erwarten, einsperren und wie Kriminelle behandeln. Sie werden uns töten", sagte Shahjahan Khan. (3)

Die österreichische Judikative wandte hierbei - wie bereits in der Vergangenheit - bemerkenswerte, extralegale judizielle Methoden an. Der Verhaftung der acht Refugees war die Verhängung des „gelinderen Mittels“ vorausgegangen, die mittels eines Bescheides erfolgte, der am 23. Juli erlassen wurde. In diesem Bescheid war sich die Fremdenpolizei also noch einig, dass die Schubhaft noch nicht erforderlich sei, da die „tägliche Meldung“ bei einer Polizeistation ausreiche. Selbst dieser Bescheid war bereits rechtswidrig gewesen, da die Fremdenpolizei sie damit begründete, sie müsse „den aktuellen Aufenthaltsort von amtsbekannt rechtswidrig aufhältigen Fremden“ kennen.  Der amtsbekannte Aufenthaltsort war aber kein anderer als das Servitenkloster gewesen, sodass schon für die Verhängung der täglichen Meldung keine Veranlassung bestand und der Bescheid selbst nichts als eine polizeistaatliche Drangsalierung darstellte.
Ebenfalls bemerkenswert war, dass das Bundesministerium für Inneres die bedrohliche Sicherheitslage für sich in Pakistan Aufhältige gar nicht erst geleugnet hatte, sondern selbst eine Reisewarnung auf der offiziellen Homepage ausschrieb. (4) Auf die Frage jedoch, ob Innenministerin Johanna Mikl-Leitner garantieren könne, dass einem der Asylwerber in Pakistan nichts passiert, fiel ihr bloß folgendes ein: „Ich kann auch nicht garantieren, dass einem Asylwerber in Österreich ein Verkehrsunfall passiert, genauso wie ich das bei einem Österreicher oder einer Österreicherin nicht garantieren kann.“ (5)
Im Laufe dieses Montags wurde also acht jungen Existenzen ein jähes Ende bereitet, indem man sie beispielsweise in die Terror-Provinz Khyber Pakhtunkhwa abschob - der Ort an dem sich einst Osama Bin Laden verschanzen konnte - oder auch in das Swat Tal, wo der Zimmernachbar von einem der Abgeschobenen erst vor Kurzem seinen Bruder durch eine gezielte Tötung der Taliban verloren hatte.

 

Delegitimation
Es war nicht der erste Schlag gegen die Flüchtlingssolidarität - und es sollte auch nicht der Letzte gewesen sein, in dem die Innenministerin eine tragende Rolle spielen sollte.
Mittels einer gezielten medialen Delegitimationskampagne versuchte man am darauffolgenden Tag, dem 30. Juli, einige Refugees in die Nähe von Schlepperei und Menschenhandel zu rücken um die Solidaritätskampagne mit den Flüchtlingen so in ein schlechtes Licht zu rücken.

Wegen Verdachts der Schlepperei wurden sechs weitere Personen, drei davon im Servitenkloster, festgenommen. Sie sollen einer großen kriminellen Organisation angehören, die mindestens 300 Schleppungen von vorwiegend pakistanischen Staatsbürgern organisiert und durchgeführt haben soll, welche von Kleinasien über die sogenannte "Balkanroute" nach Österreich und in den EU-Raum erfolgt sein sollen." (derstandard.at, 31. Juli 2013)

"Schwere Vorwürfe gegen drei pakistanische Asylwerber aus dem Servitenkloster. Azhar I., Ali S., und Sabtain S. wurden am Dienstag in der Nähe des Klosters verhaftet. Die drei Pakistani sollen in den letzten Monaten (...) bis zu 10.000 Euro kassiert haben, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaften Wien und Wiener Neustadt. Insgesamt soll die Truppe 10 Millionen Euro verdient haben." (ÖSTERREICH, 31. Juli 2013, Printausgabe)

Dass die Vorwürfe haltlos waren und dies lediglich ein Versuch des Innenministeriums war, der Solidarität, die in den Tagen rund um den 29. Juli ihren Höhepunkt fand, einen Schranken vorzuschieben, zeigte sich letztendlich dadurch, dass die Staatsanwaltschaft selbst die konstruierten Vorwürfe, die Inhumanität und Folter inbegriffen, widerlegten und zurückwiesen.

"Diese Vorwürfe sind nicht Gegenstand unseres Ermittlungsverfahrens. Wir kennen das nur aus den Medien", sagen Thomas Vecsey und Erich Habitzl, die Sprecher der Anklagebehörden Wien und Wiener Neustadt. Auch die laut Polizei gescheffelten "zehn Millionen" (in manchen Stellungnahmen war von drei Millionen die Rede) sind, wie die Gerichtsakte zeigt, nicht Akteninhalt, sondern nur zugespitzte polizeiliche Schätzungen.
Einem Bericht des Falter zufolge finden sich im Gerichtsakt weder Hinweise auf Millionenbeträge, die die Wiener Beschuldigten laut Innenministerium kassiert haben sollen, noch auf Gewalthandlungen, von denen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sprach. Sie hatte etwa in einem Interview mit dem KURIER gemeint, der Schlepperring würde "äußert unmenschlich" agieren: "Wenn es etwa Probleme mit schwangeren Frauen auf der Schlepper-Route gab, dann wurden diese Frauen hilflos auf der Route zurückgelassen." (6)

Dass staatliche Behörden seit jeher versuchen, unliebsame Proteste zu kriminalisieren und delegitimieren, konnte man bereits angesichts der Flüchtlingsproteste in Würzburg und München beobachten.
Auch im postnazistischen Österreich geht es brutaler zu als im allgemeinen kapitalistischen Normalvollzug , denn auch hier herrscht ein grundlegend anderer Umgang mit Migration und Asyl als etwa in "republikanisch" verfassten Staaten, an deren Basis nicht das Prinzip der "Blutsverwandschaft" steht, sondern das ius solis. Während beispielsweise in den USA (nicht nur kandidierende) Präsidenten verlautbaren, dass es sich um eine "nation of immigrants" (Obama) handele, so scheint dies in Staaten wie Österreich, in denen selbst im Lande geborene MigrantInnen stets versöhnlich als "Austro-Türken" bezeichnet werden und nicht etwa als vollwertige Österreicher angesehen werden, als undenkbar.

Allerdings ist der Vorgang der Asylabwehr in Österreich und Deutschland ein anderswertiger: er beschränkt sich nicht nur auf die klassischen Abwehrformen politisch-ökonomischer Facon (etwa die Verhärtung asylrechtlicher Normen um anhand ökonomischer Argumentation Einwanderung einzuschränken), sondern gedeiht hier ein Verhalten, das nur durch den Postnazismus erklärt werden kann. So fungiert das Ressentiment gegen Migration und Einwanderung in Österreich und Deutschland als parteiübergreifendes Scharnier zwischen einander eher verfeindeter Gruppen. Denn das Bild, das der Wahlkampf anlässlich der diesjährigen Nationalratswahl zeichnete, war nicht das eines kollektiven Rutsches nach ,Rechts‘, sondern vielmehr das Abbild eines Österreichs, in dem ehemals als ,extrem‘ titulierte Parteien nicht mehr ausschließlich Klientelpolitik betrieben, sondern sich durch modifizierte Positionspapiere einander annäherten. Von Efgani Dönmez bis Heinz Christian Strache war man sich einig, dass die Flüchtlinge zwar Mitleid verdient hätten, man allerdings den eigens erschafften unmenschlichen Gesetzen Folge leisten müsste. (7)

So hätte es jedem aufmerksamen Verfolger der Proteste zumindest denkbar erscheinen müssen, dass es sich auch bei den sich in Wien ereignenden polizeilichen und ministeriellen Aktionen gegen die Flüchtlingssolidarität, um nichts anderes als einen derartigen Versuch gehandelt hatte: unliebsamen Protest mittels gezielten asylrechtlichen, strafrechtlichen und fremdenpolizeilichen Aktionen ein für alle Mal den Garaus zu machen. (8)

 

-David Kirsch

 

Anmerkungen:

(1) http://kurier.at/chronik/wien/hausverbot-fuer-linksaktivisten/2.301.992
(2) http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/02/25/fluchtlinge-aus-der-votivkirche-kritisieren-bedrohung-durch-die-polizei/
(3) http://fm4.orf.at/stories/1722136/
(4) http://www.bmeia.gv.at/aussenministerium/buergerservice/reiseinformation/a-z-laender/pakistan-de.html
(5) http://fm4.orf.at/stories/1722136/
(6) http://kurier.at/politik/inland/servitenkloster-fluechtlinge-ermittlungsakt-relativiert-schlepper-verdacht/21.850.377

(7) Siehe meine Untersuchung zum parteiübergreifenden Ressentiment gegen Asyl in Österreich in der UNIQUE/04:

http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=3123

http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=3901
(8) Siehe dazu auch meine eigenen zeitgleich erschienen Einschätzungen und Studien zu den einzelnen Vorfällen:
http://exsuperabilis.blogspot.co.at/2013/02/zu-den-polizeilichen-aktionen-vorfallen.html,
http://exsuperabilis.blogspot.co.at/2013/07/erinnert-sich-noch-jemand-den-27-mai.html