Protest

Eine Energiezufuhr

  • 13.07.2012, 18:18

Was an den Studierenden-Protesten des Herbstes 2009 besonders ist.

Was an den Studierenden-Protesten des Herbstes 2009 besonders ist.

An den österreichischen Studierendenprotesten dieses Herbstes ist manches bemerkenswert. Das am wenigsten Bemerkenswerte ist noch, dass Studentinnen und Studenten den größten Hörsaal der Universität Wien besetzen, um damit gegen die Studienbedingungen zu protestieren, die sich sukzessive verschlechtern. Das kommt erstens häufiger vor und überschreitet meist eine bestimmte Dimension nicht und hat zweitens in der Regel auch keine sehr große Resonanz. Die Frage, die zu stellen ist, lautet daher: Was war diesmal anders? Was war diesmal besonders?
Ein Aspekt scheint das gesamte politische Setting in diesem Land zu sein. Es gibt eine chronische Unzufriedenheit damit, wie Politik in diesem Lande funktioniert. Man hat inkompetente Regierende, die irgendetwas tun, aber ganz sicher nicht auf die angemessene Weise über die Probleme des Landes reden oder sie gar zu lösen versuchen. Es gibt eine populistische Radauopposition, die deshalb von Erfolg zu Erfolg zieht. Man hat so ein Grundgefühl: Das gesamte Land ist auf der schiefen Bahn. Es muss sich etwas fundamental ändern. Jede Energiezufuhr für eine Veränderung ist zu begrüßen.
Letztendlich, so würde ich vermuten, war das auch eine Sekundärmotivation der Studierenden selbst, abseits ihrer konkreten Forderungen: so nicht länger regiert werden zu wollen. Aber diese Grundstimmung ist wesentlich für die öffentlichen Reaktionen auf die Proteste der Studierenden. Sie erfuhren sofort sehr viel Sympathie. So genannte „Prominente“ bekundeten ihre Solidarität, auch wichtige „Stützen der Gesellschaft“ verfolgten das Treiben mit (klammheimlicher) Freude. Die Stimmung war freundlich. Das bescherte den Protesten schnell eine Öffentlichkeit und Resonanz, die wiederum die Ausbreitung der Besetzungen auf andere Universitäten und auf andere Städte begünstigte.
Hinzu kommt die Virulenz des Bildungsthemas: Welche Bedeutung die Bildungsinstitutionen für eine faire Gesellschaft haben, wurde in den vergangenen Jahren in den politischen Diskursen stark thematisiert. Unser Bildungssystem – vom Kindergarten, von der Volksschule bis zu den Allgemeinbildenden Höheren Schulen – hält Unterprivilegierten Chancen vor. Es verweigert einem breiten Teil der Bevölkerung Lebenschancen und trägt zur Verschärfung gesellschaftlicher Konflikte bei – etwa, indem es MigrantInnenkinder buchstäblich zu „geborenen VerliererInnen“ macht. Damit schadet es aber nicht nur den Betroffenen, sondern allen. Die Misere an den Hochschulen und Universitäten ist nur ein Aspekt einer veritablen Bildungsmisere. Dies wiederum machte die Probleme der Studierenden „anschlussfähig“ für ein viel umfassenderes Problembewusstsein. 

Made in China

  • 13.07.2012, 18:18

Während sowohl chinesische KapitaleignerInnen als auch ausländische InvestorInnen und KonsumentInnen weiter von den niedrigen Lohnkosten in China profitieren, regt sich der Widerstand bei den unterbezahlten und unzulänglich vertretenen ArbeiterInnen. Deren Erwartungen steigen nach 30-jährigem Wirtschaftswachstum auf Kosten ihrer Rechte.

Während sowohl chinesische KapitaleignerInnen als auch ausländische InvestorInnen und KonsumentInnen weiter von den niedrigen Lohnkosten in China profitieren, regt sich der Widerstand bei den unterbezahlten und unzulänglich vertretenen ArbeiterInnen. Deren Erwartungen steigen nach 30-jährigem Wirtschaftswachstum auf Kosten ihrer Rechte.

Die All-China Federation of Trade Unions ist mit über 130 Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft der Welt. Doch wer sich davon eine starke Vertretung der chinesischen ArbeitnehmerInnen erwartet, irrt. Die von Peking kontrollierte Einheitsgewerkschaft spielt bei Lohnverhandlungen praktisch keine Rolle, sondern tritt eher durch die Organisation von Sportveranstaltungen in Erscheinung. Ihre Funktionäre kooperieren häufig mit dem Management und genießen wenig Vertrauen in der Belegschaft. Zwar wurde durch die 1994 eingeführten Dienstverträge eine Basis für Kollektivverträge geschaffen, auf eine spätestens dadurch notwendige, demokratischrepräsentative Struktur wurde allerdings verzichtet.

13 Selbstmordversuche. So ist es kaum verwunderlich, dass der Lohn vieler ArbeiterInnen trotz Arbeitszeiten von bis zu 70 Wochenstunden nicht einmal ansatzweise den Erwerb der in ihrer Fabrik hergestellten Produkte ermöglicht. Obwohl die Löhne seit einigen Jahren trotz der hohen Inflation zumindest offiziell real ansteigen, machen die hohen Wohnkosten, die substantielle Einkommensungleichheit und die damit verbundene Perspektivenlosigkeit zu schaffen. Der Fall von 13 Selbstmordversuchen innerhalb von fünf Monaten bei Foxconn in Shenzhen, das unter anderem für Apple und HP produziert, hat auf tragische Weise dazu beigetragen, Medien in und außerhalb Chinas auf die schwere Situation der chinesischen ArbeiterInnen aufmerksam zu machen. Doch weil die harten Arbeitsbedingungen bei Foxconn vergleichsweise moderat sind, wird kritisiert, dass noch fundamentalere Probleme des chinesischen Arbeitsmarktes weiter im Dunklen bleiben.

Am Rand der Gesellschaft. Seit der Liberalisierung des chinesischen Arbeitsmarktes Anfang der 80er Jahre ziehen WanderarbeiterInnen vom Land in die Städte, wo das Lohnniveau etwa 3,3 Mal so hoch ist wie in der Peripherie. Derzeit werden etwa 150 Millionen Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund geschätzt – die gesamte Erwerbsbevölkerung Chinas machte 2009 zum Vergleich 813 Millionen Menschen aus. Viele Eltern erhofften sich, ihre Familie durch das höhere Einkommen finanziell unterstützen zu können, was unter anderem etwa 20 Millionen in den Provinzen zurückgelassene Kinder zufolge hatte. Die Rechte der WanderarbeiterInnen sind zudem durch die Wohnsitzregistrierung, die Ende der 50er Jahre zur Kontrolle der internen Migration eingeführt wurde, minimal. Wer den eigenen hokou, also den Wohnsitz, am Land hat, hat zwar ein Recht auf Versorgung durch die Kommune – dieses ist jedoch örtlich gebunden. Somit haben MigrantInnen meist keinen Zugang zur öffentlichen Gesundheitsversorgung, Sozialwohnungen und Bildung, sofern sie finanziell nicht dafür aufkommen können. Als wäre das noch nicht genug, stehen sie durch ihre AußenseiterInnenrolle und aufgrund ihres niedrigen Bildungsniveaus am Rand der Gesellschaft und haben fast nur in arbeitsintensiven Sparten Berufsaussichten, etwa am Bau oder in Kohlebergwerken, während sie überproportional von Arbeitslosigkeit bedroht sind.
Während die erste Generation der WanderarbeiterInnen diese Lasten selbstlos auf sich nahm, wachsen die Ansprüche in der zweiten Generation der migrantischen Arbeitskräfte, die nicht mehr der willkürliche Bauteil einer Profitmaschine sein wollen. Unter anderem die Tatsache, dass sie sich nicht mehr mit ihrem Schicksal zufrieden geben wollen, heizt die Stimmung gegen die schlechte ArbeitnehmerInnenvertretung und die katastrophalen Arbeitsbedingungen bei niedrigsten Löhnen an. Die Arbeitsniederlegung der Belegschaft einer Honda-Fabrik in Guangdong, wo ein Großteil der ArbeiterInnen aus den zentralen Provinzen zugewandert ist, und die Forderungen nach bis zu 50 Prozent höheren Löhnen setzten die japanische Firma im Mai 2010 unter großen Druck. In privaten Unternehmen sind nicht nur Löhne und ArbeitnehmerInnenvergünstigungen geringer als in Staatsbetrieben, auch die Lohnspanne von eins zu 50 zwischen japanischen und chinesischen ArbeiterInnen gab den Ausschlag zu den Unruhen. Schlussendlich gab Honda angesichts der dadurch zu entstehen drohenden finanziellen Schadens nach und kündigte anschließend die Streikführer.

Kein Steikrecht. Obwohl Streiks in China nicht explizit verboten sind, wurde das Streikrecht 1982 abgeschafft, weil die Regierung die Probleme zwischen KapitaleignerInnen und Proletariat offiziell als beseitigt ansah – ein zynisches Urteil. Dennoch begegnet die KP Arbeitsunruhen wie denen in Guangdong bisher mit Geduld und spricht von privaten Problemen zwischen ArbeiterInnen und dem Management.
Von diesen unabhängig, von den Gewerkschaften organisierten und in erster Linie auf eine Verbesserung der eigenen Arbeitsbedingungen ausgerichteten Forderungen wird in westlichen Medien in letzter Zeit vermehrt berichtet. Leider täuscht der Eindruck, dass es sich dabei um einen radikalen Umschwung handelt, denn Streiks wie in Guangdong fanden auch in der Vergangenheit regelmäßig statt, ohne dabei auf großes Interesse bei den staatlich kontrollierten Medien zu stoßen. Von einer neuen ArbeiterInnenbewegung kann insofern keine Rede sein, denn solange es keine unabhängige Vertretung mit Kündigungsschutz gibt, sind seriöse Verhandlungen mit dem Management nicht möglich, wie der Streik in Guangdong zeigt.
Diverse NGOs, etwa China Labour Bulletin (clb.org.hk), haben es sich deshalb zum Ziel gemacht, die restliche Welt auf die fundamentalen Missstände und die chinesischen ArbeiterInnen auf ihre Rechte aufmerksam zu machen. Auch das 2008 eingeführte neue Arbeitsrecht und durch das Internet leichter zugängliche Informationen über die Arbeitsbedingungen in anderen Provinzen haben das Bewusstsein der Arbeitskräfte hinsichtlich der Mindeststandards geschärft. Berichte darüber, dass die Einheitsgewerkschaft ab nächstem Jahr vermehrt lokalen, basisdemokratisch gewählten und vom Management unabhängigen GewerkschafterInnen das Parkett überlassen will, bringen ebenfalls Grund zur Hoffnung.

Entfesselung der Empörung

  • 13.07.2012, 18:18

Für soziale Gerechtigkeit, für die „wahrhaftigkeit“ der Politik statt deren „unterwerfung unter Märkte“und für die Chance auf ein würdevolles Leben gehen abertausende „Empörte“ in Portugal und Spanien auf die Straße. Sie starten dabei eine Revolution auf Raten, die sich zusehends globalisiert.

Für soziale Gerechtigkeit, für die „wahrhaftigkeit“ der Politik statt deren „unterwerfung unter Märkte“und für die Chance auf ein würdevolles Leben gehen abertausende „Empörte“ in Portugal und Spanien auf die Straße. Sie starten dabei eine Revolution auf Raten, die sich zusehends globalisiert.

Sie zelteten im Zentrum Madrids an der Puerta del Sol, in Mailand vor der Börse, skandierten zu Hunderttausenden Parolen. Sie forderten soziale Gerechtigkeit im israelischen Tel Aviv und selbst in Santiago de Chile sekundierten über eine Million DemonstrantInnen die Forderung nach einer neuerlichen Verstaatlichung des Bildungssektors. Stets gewaltfrei und mit zivilem Ungehorsam – und konfrontiert mit Attacken seitens der Polizei, die in Madrid und Barcelona mit Schlagstöcken gegen die DemonstrantInnen vorging, die in Athen Wasserwerfer, abgelaufenes Tränengas und brutale Körpergewalt einsetzte und in Chile ebenfalls Tränengas gegen die StudentInnen anwandte.
Die Proteste, die in Portugal am 12. März dieses Jahres mit der so genannten Geração à rasca (dt. „Generation in der Bredouille“) begonnen hatten, schwappten prompt nach Spanien über, wo die Plattform Wahre Demokratie, jetzt – initiiert von Jon Aguirre Such – am 15. Mai in Massendemonstrationen landesweit aufbegehrte. Die Bewegung gewann eine Eigendynamik und wächst weiter, global wie lokal. Es scheint, als fände der beherzte Aufruf des einstigen Widerstandskämpfers gegen Nazi-Deutschland, Stéphane Hessel (93), in seinem Essay „Empört Euch!“ in Iberien den größten Widerhall. Als der Résistance-Veteran Anfang September nach Madrid geladen war, fehlten ihm fast die Worte: „Die Protestbewegung ist etwas Wunderschönes. Spanien, wie die Welt ganz generell, sie sollten sich vom Neoliberalismus verabschieden.“

Murmeltiertagsgefühl. „Nein, sie vertreten uns nicht!“, „Die Revolution hat begonnen!“ oder „Sie nennen es Demokratie, es ist ein Polizeistaat!“ sind einige der vielen Protestrufe der unzähligen spanischen „Empörten“ (span. indignados). Eine „verlorene Generation“, die sich von den aus ihrer Sicht „wirtschaftshörigen“ Großparteien, seien es SozialistInnen oder die rechtskonservative Volkspartei, ihrer Zukunft beraubt fühlt. Dabei geht es unter anderem um würdevolles Arbeiten und Wohnen, sowie um Parolen wie „Eure Krise bezahlen wir nicht“, gegen „die Märkte“, die „Rating-Agenturen“ oder die „Banken- Rettungen“. Die Unterwerfung der Politik durch die „Märkte“ gelte es zu brechen, ebenso die „Zweiparteien-Diktatur“, welche seit 36 Jahren die spanische Politik charakterisiert. So treten die indignados für die Stärkung der Kleinparteien und parlamentarische Pluralität, gegen politische Korruption und Sinnlosigkeiten per Finanzierung aus der Staatskasse an. Bei einem Blick auf die Ansprachen spanischer Ministerpräsidenten seit Leopoldo Calvo-Sotelo im frühen demokratischen Spanien um 1981 über Felipe González bis zu José Maria Aznar, kommt ein Murmeltiertagsgefühl auf: Auf deren Agenda standen seit jeher Arbeitslosigkeit, Wirtschaftskrise und die Verbesserung des Zugangs zu Wohnungen für die junge Generation. Nach wie vor werden diese Themen gebetsmühlenartig in die TV-Kameras posaunt.

Heute hat beinahe jedeR zweite unter 30Jährige in Spanien keinen Job. AkademikerInnen streichen mitunter ihre Titel aus dem Lebenslauf, um überhaupt noch eine Anstellung, freilich prekär, zu erhalten. 45,7 Prozent Arbeitslosigkeit bei den Jungen – das ist ein Wert, der sich nicht nur seit Krisenbeginn verdoppelt hat, er erscheint im EU-Vergleich außerirdisch. Viele, die zu Boomzeiten noch gelockt von den Gehältern der Bauund Tourismusindustrie Schule und Studium abgebrochen haben, zählen heute zum paradox erscheinenden Kollektiv der „jungen Langzeitarbeitlosen“.

Arbeitslos vs. Auswandern. César Corrochano ist einer von vielen, die sich empören und sich von Anfang an der Bewegung angeschlossen haben. Vor dem Abschluss seines Architekturstudiums in Madrid stehend, lebt der 29Jährige wie das Gros seiner AltersgenossInnen noch im Elternhaus. Mit seinem „Gehalt“ für einen Uni-Halbtagsjob à 470 Euro (zehn Bezüge jährlich) ist ein WG-Zimmer (ab 350 Euro aufwärts) illusorisch. Sozialversicherung ist ein Fremdwort für ihn und auch Jobbewerbungen hat er nach zig Absagen satt: „Entweder ich wechsle mein Berufsfeld, oder ich wandere aus“, sagt Corrochano: „Vielleicht auch nach Deutschland.“ Immerhin hat er sein Erasmus-Semester in Hannover verbracht, und spricht fast akzentfrei „einbisschen Deutsch“, wie er bescheiden sagt. Zahlreiche KollegInnen wären bereits in Berlin, Paris oder eben in Panama oder Chile in Büros tätig, um der Hoffnungslosigkeit der „verlorenen Generation“ Iberiens zu entfliehen. Von der Politik ist er schwer enttäuscht: „Egal was man wählt, verändern wird sich nichts“, beklagt er. Ein Großteil der PolitikerInnen sei „auf ihren persönlichen Vorteil erpicht und hat den Kontakt zur Bevölkerung ohnehin längst verloren“. Darum fordert er „eine fairere Welt“ ein, „die definitiv möglich sei“.

Worte der Unterstützung äußerte auch der international angesehene Richter Baltasar Garzón. Er wünscht sich, dass „die 15M-Bewegung zu einer dauerhaften Institution“ wird. Und so manches, das auf den „Volksversammlungen“ der indignados auf unter dem Motto „Yes, we camp“ errichteten Zelt-Plätzen landesweit debattiert wurde, steht bereits auf der Agenda der Realpolitik, wenn auch stark abgeschwächt: Der Schutz der vor der Enteignung stehenden Hypotheken-kreditnehmerInnen und ein Transparenzgesetz wider die Polit-Korruption, wie von den „Empörten“ gefordert, ist mittlerweile in Vorbereitung. Immerhin wurden die Vermögenswerte aller Abgeordneten offengelegt. Außerdem steht eine Wahlrechtsreform an, die die Kleinparteien stärken soll. Denn das D’Hondtsche Wahlsystem, das übrigens auch in Österreich angewandt wird, benachteiligt diese bisher. Ein Blick zurück auf den Wahlgang von 2008 veranschaulicht das. Die Vereinigte Linke errang knapp 960.000 Stimmen, erhielt jedoch lediglich zwei Abgeordnete. Ein Sitz „kostete“ die fast 500.000-fache Bekundung des WählerInnenwillens. Die Großparteien errangen mit je zehn und elf Millionen Stimmen hingegen 169 (Sozialisten) und 154 (Konservative) Sitze im Parlament – einen pro 65.000 Stimmen.

Erst der Anfang. Der streitbare Philosoph Fernando Savater empört sich hingegen über die „Empörten“: Diese seien so unbedeutend wie ein „Kistchen Gartenkresse“. Der Soziologe Kerman Calvo, Professor an der Universität Salamanca und Autor einer ersten wissenschaftlichen Expertise über die spanische Protestbewegung, sieht die Bewegung hingegen erst am Anfang. „Sie stehtauf keinen Fall vor ihrem Ende. Ganz im Gegenteil“, sagt er. Sie sei „in eine Phase der Selbstdefinition eingetreten und lege nun ihre Prioritäten fest“. Der spanische staatliche Rundfunk gab zuletzt die Zahl jener, die „in irgendeiner Form an der Protestbewegung mitgewirkt“ hätten, mit bis zu acht Millionen an – in einem Land, das knapp 47 Millionen EinwohnerInnen zählt. Die Vernetzung der Bewegung geschieht nicht einzig über Twitter per Hashtags wie #15M, #spanishrevolution, #tomalaplaza und Facebook. Auf eigenen Blogseiten der zahllosen lokalen Volksversammlungen werden auch zu regionalen Themen Lösungsansätze debattiert. Denn ein Mausklick auf „Gefällt mir“ alleine ist keineswegs ein revolutionärer Akt.

Lokale Stärke. „Neben unseren Blockade-Aktionen gegen die polizeilichen Delogierungen säumiger HypothekenkreditnehmerInnen, ist das das Gebiet, über das wir derzeit den größten Zuwachs verzeichnen“, sagt Marta Cifuentes (28)aus Granada: „Über lokale Themen, wie etwa die Schließung einer Bezirksbibliothek, kommen wir an einen breiten Personenkreis, der uns sonst nicht kennen würde.“ Sie hat Psychologie fertig studiert und widmet sich nun – aus „purem Interesse“ – einer Kunstausbildung im Bereich-Schmuckdesign. Seit Beginn der Proteste ist Cifuentes Teil der 15M-Bewegung. „Ich war bei der Demo im Mai, und zwei Tage später erfuhr ich, dass die Ersten ein Protestcamp errichtet hatten. Ich bin sofort hingegangen“, sagt sie. „Es ist fast unglaublich, wie schnell wir uns organisiert hatten. Binnen weniger Tage hatten wir eine Gemeinschaftsküche, einen Kindergarten, eine Bibliothek, ja selbst psychologische Betreuung leisteten wir im Camp“, sagt Cifuentes, merkt jedoch an: „Bei denjenigen, die Wochen im Freien geschlafen hatten, merkte man deutlich den psychischen Verfall. Manche wurden fast paranoid.“

Zwar wird der kommende Urnengang anlässlich der Parlamentswahlen am 20. November mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in einer absoluten Mehrheit der konservativen Volkspartei münden. Enttäuscht von den SozialistInnen unter Zapatero, wenden sich viele WählerInnen der Rechten zu – selbst wenn diese nostalgisch der Diktatur unter Francisco Franco und José Antonio Primo de Rivera, dem Gründer der faschistischen Falange Española de las J.O.N.S., huldigen.

Weiß oder Wahlboykott. „Die vorgezogenen Parlamentswahlen eröffnen ein ideales Zeitfenster für neue 15M-Proteste“, meint der Soziologe Calvo. Doch selbst wenn sich ihr Widerstand gegen beide Großparteien, SozialistInnen wieKonservative, richte, werde „ihr Einfluss auf das Wahlergebnis sehr gering sein“, prognostiziert er: „Die meisten Protestierenden sehen sich nahe der Linken oder sind NichtwählerInnen.“ In der Tat, noch bei den Kommunalwahlen im Mai waren sie laut, die Stimmen, die zum Wahlboykott oder zum durchwegs beliebten „Weiß-Wählen“ (die ungültige Stimme wird gezählt, aber keiner Partei zugerechnet, was die Großparteien minimal schwächt) aufriefen.Nun jedoch – „um einen Erdrutschsieg der Konservativen zu verhindern“, wie die Aktivistin Cifuentes sagte – wollen zumindest Teile der Bewegung von ihrem Recht Gebrauch machen. Im Wahlkampf werden sie ohnehin nicht untergehen: 15M-Delegierte reisen quer durch Europa und um die ganze Welt, um sich persönlich auszutauschen. Einem Sternmarsch aus allen Provinzen gen Madrid folgte einer nach Brüssel, wo die „Empörten“ am 15. Oktober eintreffen wollen. Am selben Tag sind Großkundgebungen in ganz Spanien anberaumt und die Online-AktivistInnen des Kollektivs Anonymous, das die spanische 15M-Bewegung unterstützt, kündigte eine zu Redaktionsschluss noch nicht näher definierte Aktion für den Wahltag, die „OP20N“ an.

 

Kämpfen – Diskutieren – Mobilisieren

  • 13.07.2012, 18:18

Ein heißer Herbst wurde prophezeit, ein heißer Herbst ist es geworden.

Kommentar

Ein heißer Herbst wurde prophezeit, ein heißer Herbst ist es geworden. Doch niemand ahnte, wie drastisch die Auswirkungen des Sparbudgets tatsächlich sein würden, bis in Loipersdorf die Kürzung der Familienbeihilfe bekannt gegeben wurde. Seither heißt es kämpfen, diskutieren, mobilisieren – eben alle Mittel ausschöpfen, die wir haben.
Was die Regierung vorhat, wird sich zeigen. Bei den Gesprächen am so genannten Hochschulgipfel mit Bundeskanzler und Finanzminister wurde uns aber mehr als verdeutlicht, dass die derzeitige Regierung keine Ahnung von den Auswirkungen ihres eigenen Budgets hat. Sie haben es nicht mal der Mühe wert befunden sich über die Situation der Studierenden in Österreich zu informieren. Um genau diese Situation zu verdeutlichen haben wir 27.000 Handabdrücke auf 500 Metern Stoff ums Parlament gewickelt, genau so viele Studierende wären sofort von der Kürzung mit 2.700 Euro jährlich betroffen!
Die ÖH wird momentan überrannt, von Studierenden, die aus lauter Verzweiflung nicht mehr wissen, wie es weiter gehen soll. Doch es geht weiter, nach der großen Demonstration der Plattform Zukunftsbudget, an der sich über 100 Organisationen beteiligen, folgen jetzt Mahnwachen. Ab sofort werden wir die Regierung jeden Dienstag bis zu den Winterferien zwischen 16 und 19 Uhr daran erinnern, dass ihre Sparmaßnahmen nicht nur sozial ungerecht sind, sondern auch Menschen einen fixen Bestandteil ihrer Lebensgrundlage rauben.
Gemeinsam können wir etwas bewegen. In diesem Sinne: Frohe Proteste.

Die Angst vor dem Demos

  • 13.07.2012, 18:18

Eine Demokratie lebt von informierten BürgerInnen. Aber in Österreichs Amtsstuben herrscht Verschwiegenheit. Ein Bericht.

Eine Demokratie lebt von informierten BürgerInnen. Aber in Österreichs Amtsstuben herrscht Verschwiegenheit. Ein Bericht.

Der ehemalige Präsident der USA, George W. Bush, schreibt in seiner Autobiografie, dass die mit Abstand schwierigste Aufgabe eines Gouverneurs oder einer Gouverneurin das Prüfen von Todesurteilen ist – die Entscheidung also, ob ein Todesurteil vollstreckt, aufgeschoben oder nicht durchgeführt wird. Dabei würde er alle Fakten nachdenklich und sorgfältig abwägen, und erst dann entscheiden, schreibt Bush. Ein Reporter der New York Times hat allerdings nachgewiesen, dass Bush sich für diese Frage von Leben und Tod in der Regel nur 15 Minuten Zeit genommen hat. Diese Konfrontation mit der tatsächlichen Vorgehensweise war nur aufgrund eines Informationsfreiheitsgesetzes im Bundesstaat Texas möglich. Nicholas D. Kristof von der Times stellte einen Antrag und bekam Einblick in den Terminkalender von Bush.
Eine Demokratie lebt von Informationen über die Tätigkeit des Staates und seines Personals. Nur ausreichend informierte BürgerInnen können an demokratischen Prozessen teilnehmen. Da kann es auch hilfreich sein, den Tagesablauf eines Amtsträgers oder einer Amtsträgerin zu kennen.
Aus gutem Grund sind daher in Österreich Parlamentssitzungen und Verhandlungen vor Gericht öffentlich zugänglich. Aber das ist nicht genug: In selbstbewussten Demokratien braucht es auch den geregelten Zugang zu Dokumenten von Behörden und Ämtern. Erst das ermöglicht Medien, NGOs und einzelnen BürgerInnen, ihre Regierung zu kontrollieren und ihre Rechte zu schützen. Die Einsicht in Originaldokumente und Akten ist ein wichtiges Instrument gegen Korruption und Amtsmissbrauch. Der freie Zugang soll Offenheit und Transparenz fördern. Als Folge kann sich auch die Akzeptanz für die Arbeit der Behörden verbessern. Soweit die Theorie.
Die Praxis sieht in Österreich freilich anders aus: Nach wie vor bestimmen Geheimniskrämerei und zugeknöpfte BeamtInnen das politische Geschehen und die Verwaltung. Ihre Verschwiegenheit wird durch die Verfassung geschützt. Franz C. Bauer, JournalistInnengewerkschafter und Präsident des Presserats, kritisiert die österreichische Situation: „Die Mächtigen haben kein Interesse an informierten Bürgern.“
freedominfo.org, ein Netzwerk von Initiativen für Informationsfreiheit aus verschiedenen Ländern, stellt in einem Report von 2006 fest, dass es derzeit in 70 Ländern Informationsfreiheitsgesetze gibt; in 50 weiteren sind Gesetze in Arbeit. Allerdings, schränkt der Report ein, sind die Gesetze in vielen Ländern längst nicht ausreichend. Durch zahlreiche Ausnahmeregelungen und hohe Gebühren, die für Auskünfte zu bezahlen sind, halten die Gesetze oft nicht, was ihr Name verspricht. Weiters beobachten die Initiativen im Zuge des „Kampfs gegen den Terror“ seit einigen Jahren den Trend, bestehende Gesetze durch neue Bestimmungen wieder einzuschränken.

Geist der Gegenaufklärung. Dennoch gibt es Staaten mit fest verankerten und schlagkräftigen Zugangsregeln zu Informationen. In Skandinavien ist die Behördentransparenz seit langem geregelt, Schweden hat das älteste derartige Gesetz. Es wurde vor 244 Jahren beschlossen. In den USA existiert der Freedom of Information Act seit 1966. Nicht nur der Terminkalender von George W. Bush wurde mit Hilfe von Gesetzen zu Tage gefördert, sondern auch viele Nachrichten über den Irak-Krieg. Der jüngste spektakuläre Fall: Ein Bericht des US-Justizministeriums, der jahrelang der Öffentlichkeit vorenthalten wurde. Er zeigt, wie Naziverbrecher nach dem Kriegsende vom Geheimdienst CIA geschützt wurden.
In Österreich hingegen weht noch immer der Geist der Gegenaufklärung und des staatlichen Absolutismus durch die Ämter. Nicht der freie Zugang zu Informationen ist in der Verfassung festgeschrieben, sondern deren Geheimhaltung. Sämtliche Organe der Bundes-, Landes- und Gemeindeverwaltung sind dazu angehalten, Tatsachen zu verschweigen, „deren Geheimhaltung im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der umfassenden Landesverteidigung, der auswärtigen Beziehungen, im wirtschaftlichen Interesse einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, zur Vorbereitung einer Entscheidung oder im überwiegenden Interesse der Parteien geboten ist“. Das macht Kontrolle unmöglich. Recherchieren JournalistInnen heikle Themen, stoßen sie früher oder später auf eine Mauer des Schweigens – oder genauer: auf StaatsdienerInnen, die sich dahinter verschanzen.

Recht auf Information. Trotz dieser staatlich verordneten Geheimniskrämerei wird Österreich von dem Netzwerk freedominfo.org zu den Ländern gezählt, die ein Informationsfreiheitsgesetz haben. Hier wird das zahnlose Auskunftspflichtgesetz von 1987 angeführt, das schlicht erklärt: „Die Organe des Bundes (...) haben über Angelegenheiten ihres Wirkungsbereiches Auskünfte zu erteilen, soweit eine gesetzliche Verschwiegenheitspflicht dem nicht entgegensteht.“ Der JournalistInnengewerkschafter Franz C.    Bauer sagt, das Gesetz „wird in keiner Form wahrgenommen, ganz zu schweigen von ernst genommen.“
Manfred Redelfs, Leiter der Recherche-Abteilung von Greenpeace Deutschland und Fürsprecher von Informationsfreiheitsgesetzen, vertritt die Meinung, es seien Gesetze notwendig, die „Amtsverschwiegenheit von der Regel zur begründungsbedürftigen Ausnahme machen und damit zu einem Klima der Offenheit beitragen“.
„Was in Österreich ganz einfach fehlt“, sagt Bauer, „ist das Recht jedes Staatsbürgers auf Information.“ Bei einer entsprechenden gesetzlichen Regelung sollten nur Themen der öffentlichen Sicherheit von der Akteneinsicht ausgenommen sein und der Schutz der Privatsphäre müsse gewahrt bleiben. Auch der Presseclub Concordia und der Verband der Österreichischen Zeitungen verlangen von der Regierung ein solches Gesetz, damit der Zugang zu Informationen garantiert sei und Medien ihre Kontrollfunktion erfüllen könnten.
Mit derartigen Vorschlägen, die es JournalistInnen erleichtern würden, ihrer „Watchdog“-Aufgabe nachzukommen, stieße er bei PolitkerInnen seit Jahren auf taube Ohren, erzählt Bauer. „Politiker haben immer nur Angst, dass wir sie nur durch den Kakao ziehen wollen.“

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