Protest

Mutter Gottes, Jungfrau, werde Feministin

  • 28.09.2012, 10:00

Neonfarbene Sturmmasken wurden in den letzten Monaten zum großen Trend: Der Prozess gegen die Punkband Pussy Riot zeigt, wie in Russland mit politischem Engagement umgegangen wird und verursachte einen Aufschrei rund um den Globus.

Neonfarbene Sturmmasken wurden in den letzten Monaten zum großen Trend: Der Prozess gegen die Punkband Pussy Riot zeigt, wie in Russland mit politischem Engagement umgegangen wird und verursachte einen Aufschrei rund um den Globus.

Zwei Jahre Haft lautet das Urteil, das Richterin Marina Syrowa Mitte August über die Musikerinnen Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Alechina und Jekaterina Samuzewitsch verhängt hat. Die Riot Grrlz wurden durch ihre Verhaftung nach einem „Punkgebet“ in der orthodoxen Christ-Erlöser-Kathedrale im Zentrum Moskaus weltweit berühmt. „Rowdytum“und „religiöse Hetze“ lautete die Anklage gegen die drei Frauen – den wahren Grund sehen viele jedoch in der Anti-Putin-Politik der Pussy Riots: Seit Oktober 2011 war die Gruppe im Vorfeld der russischen Präsident_innenschaftswahlen aktiv und äußerte in zahlreichen Auftritten Kritik an Vladimir Putin.

Mutter Gottes, Jungfrau, verjage Putin. „Das politische Engagement gegen Putin wächst in Russland immer stärker. Mehr und mehr junge Leute werden in der Bewegung aktiv. Sie wollen die Politik beeinflussen und faire Wahlprozesse“, erzählt Olga Vlasova von der Russischen Demokratischen Partei. Der Prozess gegen Pussy Riot ist für die 26jährige Politikwissenschafterin eine reine Machtdemonstration, die Anklage an den Haaren herbeigezogen: „Die Aktion von Pussy Riot war sehr politisch, sie hatte aber nichts mit Religion zu tun. Der Ort wurde lediglich gewählt, um größtmögliche Aufmerksamkeit zu erregen.“ Vlasova ist überzeugt, dass genauso wie die Hauptaussage der Aktion – Mutter Gottes, verjage Putin – auch der Prozess „ein reines Politikum“ sei.

Das Delikt „Rowdytum“ behandelt das russische Gesetz in zweierlei Hinsicht: Einerseits als Verwaltungsübertretung, wenn keine Sach- oder Personenschäden verursacht wurden – mit einem Höchststrafmaß von 15 Tagen Gefängnis; andererseits, wenn Menschen verletzt werden, oder Dinge zerstört werden, im strafrechtlichen Sinne. „Es mag sein, dass öffentlicher lautstarker Protest und provokatives Verhalten unter ‚Rowdytum‘ fallen, aber in diesem Fall ist es dennoch noch ein großer Schritt zu gewalttätigem, zerstörerischem Auftreten. Auch Blasphemie ist meiner Meinung nach etwas anderes“, meint Paula Sonnraum, die seit letztem November in Russland arbeitet und hier lieber mit geändertem Namen erwähnt sein möchte. Die Tirolerin war selbst im Gerichtssaal anwesend und verfolgte das Geschehen. „Der Prozesstag an sich ist eigentlich sehr ruhig verlaufen. Aber als ein Aufmüpfiger unter den Zuhörer_innen Kritik äußerte, wurde er letztlich unsanft aus dem Gerichtssaal gebracht“, erinnert sie sich an die Verhandlung Mitte August.

Alle Pfarrkinder kriechen zur Verbeugung. Immer mehr russische Staatsbürger_innen schließen sich derzeit wieder der orthodoxen Kirche an – Religion ist in. „Viele haben hier einen ganz anderen Zugang zu ihrem Glauben als beispielsweise in Österreich, weil dieser während der Sowjetunion lange Zeit verboten war. Ich habe mehrere Freund_innen, die sich erst im Erwachsenenalter taufen gelassen haben”, erzählt Sonnraum. Dieser Zustrom und die damit einhergehende steigende Relevanz der Kirche waren auch im Prozess gegen Pussy Riot zu spüren. „Der Kreml versucht schon lange, die Kirche für politische Zwecke zu missbrauchen, ihr Einfluss wächst in Russland immer mehr. Ich denke, auch Pussy Riot hat das verstanden und hat daher diesen bestimmten Ort für ihre Aktion gewählt“, sagt Vlasova. Putin könne die Band nicht einfach gehen lassen, weil ihre Aktion „die beiden heiligsten Institutionen in Russland“ angegriffen hat: „Den Kreml selbst und die Kirche.“ „In Russland gilt zwar die Trennung von Staat und Kirche. Letztere ist jedoch ein riesiger Machtfaktor in der Russischen Föderation. Eine enge Beziehung zwischen Kirche und Kreml kann nicht geleugnet werden“, bestätigt auch Sonnraum. Gerade die streng orthodox Gläubigen setzten sich für eine strenge Verurteilung der Sängerinnen und ein hohes Strafmaß ein.

Das Verfahren gegen die Punkband hat die russische Bevölkerung gespalten – entweder war man für oder gegen Pussy Riot. „Es gibt viele extreme Orthodoxe und das war ihre Gelegenheit, aus ihren Schatten zu treten. Ich selbst bin gläubig, aber Pussy Riot hat meiner Meinung nach im strafrechtlichen Sinn keine Gesetze gebrochen, also sollten sie auch nicht vor Gericht stehen“, so Vlasova.

Das Gespenst der Freiheit im Himmel. Während in Russland dieses Thema betreffend also keine Einigkeit herrscht, stehen im Ausland Solidaritätsbekundungen und mediales Entsetzen an der Tagesordnung. Kaum eine internationale Zeitung hat in den letzten Monaten nicht über die maskierten Gegnerinnen von Putin berichtet, in Deutschland und Österreich wurden in Kirchen Free-Pussy-Riot-Aktionen abgehalten, zahlreiche Stars und Sternchen stellen sich auf die Seite der inhaftierten Frauen. Und auch im Social-Media-Bereich haben die Proteste gegen Putin Einzug genommen: Profilbilder werden mit Sturmmasken in allen Farben des Regenbogens versehen, Liedtexte und Bilder des Pussy-Riot-Auftritts werden täglich getwittert und das Online-Spiel Angry Birds wird zu Angry Kremlins.

„Das Medienecho hat jedenfalls Einfluss auf die Situation hier, es geht nicht mehr nur um einen Prozess gegen Sängerinnen, die sich nicht adäquat verhalten haben, es ist viel mehr daraus geworden“, meint Sonnraum. Die 28-jährige sieht in den Reaktionen auf das Verfahren gegen Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Alechina und Jekaterina Samuzewitsch jedenfalls eine Stärkung der Regierungskritiker_innen: „Ich denke, dass der Prozess Leute motiviert, etwas zu tun, er ist ein weiterer Tropfen, in einem Fass, das bald überlaufen könnte, der Putins Gegner_innen Recht gibt und sie aufstachelt. Es ist doch ein Armutszeugnis, sich mit solchen Methoden an der Macht zu halten.“

Die Überschrift und alle folgenden Zwischenüberschriften sind Zitate aus dem „Punkgebet “, für welches Pussy Riot angeklagt und verurteilt wurde.

Algeriens Frühlingserwachen auf Raten

  • 27.09.2012, 01:15

Keime der Proteste gegen Langzeitpräsidenten Abdel Aziz Bouteflika gehen im größten Staat Afrikas in Zeitlupe auf. Die junge Generation und eine zersplitterte Opposition fordern Demokratie und die faire Verteilung der Erdöl- und Gaseinnahmen. Das Regime löscht den drohenden Flächenbrand mit Almosen in Milliardenhöhe.

Der 15. Oktober 2011 ist der Tag, den Protestbewegungen rund um den Erdball für die „Globale Revolution“ reserviert hatten. In Oran, der zweitgrößten, angeblich weltoffensten Stadt Algeriens, wo, wenn die Sonne sich hebt, im Uni-Viertel noch tiefe Bässe aus dem Rai-Club hämmern, wenn der Muezzin zum Samstagsgebet ruft, mit seiner großen Universität, herrscht Ruhe. Die Tageszeitungen, wie El Watan, titelten mit den „Empörten“, die „eine neue Welt einfordern“, aber wie in Albert Camus Roman „La Peste“, für den Oran trefflich die urbane Vorlage bot, wirkt die von Bergen umringte Hafenmetropole mit ihren knapp 700.000 EinwohnerInnen, als wäre sie unter Quarantäne gestellt – wie das gesamte Land, das sich mit seinen 33 Millionen EinwohnerInnen über das Siebenfache der Fläche Frankreichs erstreckt.
„So Gott es will, wird es uns bald besser gehen“, sagt Nordin A. (25), der Wirtschaft studiert hat und nun bei der Hafenverwaltung einen Teilzeitjob hat: „Wir Algerier sind nun mal arm. Mein Onkel hat das Land auf illegalem Weg verlassen und arbeitet nun in Deutschland. Er wollte, dass ich nachkomme.“ Aber er sei seit dem Tod seines Vaters das Familienoberhaupt, habe fünf Geschwister, und trage die Verantwortung. „Ich liebe Algerien zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren, wie es viele wagen.“
Hamadi K. (20), der dieses Jahr Informatik zu studieren beginnt, und neben der Schule in einem Internetcafe arbeitet, nickt. Über Facebook vernetzt, verfolgen Nordin und er auch die algerische Demokratiebewegung, die sich stark aus ihrer Generation formiert. Obacht sei geboten, wie Hamadi betont. GeheimpolizistInnen würden im Internet, und nicht nur dort, jungen Aufbegehrenden folgen. Festnahmen von der BloggerInnenszene, über KarikaturistInnen – wie Ali Dilem, der neun Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, und wiederholt mit Morddrohungen seitens radikaler IslamistInnen konfrontiert war – bis hin zu JournalistInnen, die nach Aufhebung des seit 1992 währenden Ausnahmezustands im Februar über Demonstrationen berichtet haben, sind keine Einzelfälle. Nordin und Hamadi haben einen Job, wenn auch prekär. Über die Hälfte ihrer AltersgenossInnen hat den nicht. Das Gros sieht sich neben der wirtschaftlichen auch der privaten Zukunft beraubt. Für ihre Hoffnungslosigkeit und Empörung ist Rapmusik ein Ventil und Spiegel. Die „Schuldigen“ der Misere hat der Künstler Solo Montana, in J’accuse im Establishment des „Militärs und des Marionettenpräsidenten“ festgemacht. Nach mehreren Angriffen und Todesdrohungen lebt der Musiker seit dem Frühjahr 2011 im kanadischen Exil. Just als die Welle der Proteste der arabischen Welt Anfang dieses Jahres auch in Algerien gipfelte. Dem ersten Aufbegehren gegen Weizenmehlpreise auf Höchstniveau bereits im vergangenen Dezember, folgte Anfang Jänner die Errichtung eines „Nationalen Rates für Demokratische Änderungen“. Begleitet von Selbstverbrennungen, mobilisierte sich mehr Widerstand. Zehntausende gingen, parallel zu und inspiriert von den revolutionären Bewegungen Tunesiens, den Protesten der Gruppe des „20. Februar“ Marokkos sowie den BesetzerInnen von Kairos Tahrir-Platz auf die Straßen Algeriens.
Im Grunde ist es das Militär, weniger der Präsident und dessen quasi Einheitspartei, die Front de Libération Nationale (FLN), das dieses Land kontrolliert. Demonstriert haben die Sicherheitskräfte dies deutlich, als sie mit 30.000 Gendarmen eine für den 12. Februar angesetzte, knapp 10.00 Protestierende zählende, Versammlung umringten. Ein weiterer friedlicher Protest in Algier wurde am 12. April niedergeknüppelt, ein Vorgehen, das 170 Verletzte forderte. Im laufenden Jahr waren bereits über 800 Verletzte und mindestens fünf Todesopfer zu beklagen.
Unter dem Druck der Straße kündigte Bouteflika sukzessive Verfassungsänderungen, wie beim Wahlrecht, an, forderte Staatsmedien zur Meinungspluralität auf, und öffnete den Geldhahn, um die Wut des Volkes zu bändigen. Der Gerontokrat, 1937 im heute marokkanischen Oujda geboren, ist seit 1999 an die Macht, begleitet von Manipulationsgerüchten und stilisierte sich zum „Friedensbringer“ gegen die Milizen der Islamistischen Heilsfront (FIS), der selbst keinerlei Widerspruch zulässt. 2009 wurde er mit über 90 Prozent der Stimmen wieder gewählt, wobei die Opposition zum Boykott aufrief. Das algerische Staatsvermögen ist immens, dank der Einkünfte aus Erdöl- und Erdgasvorkommen, die Europa laben. Was sich nicht nur darin zeigt, dass Oran einen Stadtteil hat, der gar Frankfurts Bankencity ähnelt, wo die Wolkenkratzer der Energiegiganten stehen.
Reich an Erdgas und Erdöl, konnte Algerien Preisschwankungen bei Grundnahrungsmitteln abfedern. Der Benzinpreis beträgt weniger als ein Zehntel von dem, was wir EuropäerInnen zu berappen haben. Es gibt in Algerien Arbeitslosengeld und eine Fixpension für jedeN, und zuletzt wurden großzügig Gehälter, auch die der UniversitätsprofessorInnen, deutlich angehoben. „Jene, im Sozialismus fußende Elemente“ sind aus der Sicht des saharauischen Politologen und Menschenrechtsaktivisten der NGO Afapredesa, Abdeslar Omar, „das Haar, an dem die Stabilität hängt.“ Wer arbeitslos ist, kaum etwas besitzt, könne sich ernähren, hätte ein Dach über dem Kopf und Anrecht auf Gesundheitsversorgung. So das Ideal, in der Realität trifft man nicht nur nachts Menschen, die in Mülltonnen mit Ratten um Essbares konkurrieren.
Vielmehr ein Revolutionshemmnis ist die letzte, gescheiterte demokratische Etappe, die zwischen 1988 und 1992 in eine Dekade des Bürgerkriegs mündete. Vielen, auch jungen Algeriern wiegen Traumata der Blutvergießen, die rund 100.000 Todesopfer forderten, schwer. Heute noch liefern sich bewaffnete Gruppen Gefechte mit dem Militär. BerberInnenstämme in der Region Kabylei im Osten für ihre Autonomie, radikal-islamistische Milizen und Terroristen der Al Qaida des Islamischen Maghreb verüben Bombenattentate primär gegen Kasernen, aber auch gegen westliche Einrichtungen, wie zuletzt gegen Büros der UNO 2007 in Algiers.
Das Land gleicht einer Baustelle, mit einer Vielzahl chinesischer Bagger. Dem einsetzenden regionalen Wandel, mit gestärkten Demokratien, der sich abzeichnet, wird es sich nicht verschließen können. Doch beweist beginnendes Tauwetter mit Marokko, dass sich Autokraten wie Bouteflika und König Mohammed VI. von Feinden zu Brüdern wandeln. Wenn ihre Macht zu wackeln droht, geben sie nur Häppchen von ihr ab. So bleibt der algerischen Opposition wohl vorerst nur die Hoffnung auf den Artikel 88 der Verfassung, der die Absetzung eines Staatschefs aufgrund von Krankheit fordert, und eine teilweise politische Entmachtung des Militärs.

Der Autor studiert im Doktorat Kommunikationswissenschaften.
Seit 2007 lebt er als freier Journalist in Granada.

Webtipp: Rap von Solo Montana, J’accuse … („Ich beschuldige…”):
www.youtube.com/watch?v=dQ52peh9EFI

Dilems Karikaturen in der Tageszeitung Liberté, auf
http://www.liberte-algerie.com/

 

Das ist blanker Zynismus

  • 13.07.2012, 18:18

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über verblüffende Einsparungen im Budget, die Strategie der Regierung und die Erfolgsaussichten von Studierendenprotesten.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann im Gespräch über verblüffende Einsparungen im Budget, die Strategie der Regierung und die Erfolgsaussichten von Studierendenprotesten.

PROGRESS: Herr Liessmann, was bedeuten die Budgetkürzungen für die Wissenschaft in Österreich?

Liessmann: Die Diskrepanz zwischen dem, was ständig lauthals proklamiert wird – „Wissensgesellschaft, Forschung und Bildung sind unsere Zukunft, et cetera“ – und der Realität wird immer größer. Nehmen wir das Beispiel Bachelor-Abschluss: Auf der einen Seite wird er von der Regierung nicht als akademischer Abschluss gewertet, gleichzeitig sagt man bei der Beihilfenkürzung: „Aber die Studierenden sind eh nach drei Jahren fertig, was brauchen sie danach noch weiter Unterstützung?“ Das ist blanker Zynismus. Auch die Schließung der außeruniversitären Forschungseinrichtungen hat uns internationalgeschadet. Wenn man die Berichte der deutschen Feuilletons dazu gelesen hat, sieht man, wie peinlich das eigentlich ist. Das wiegt das bisschen Geld, das hier eingespart werden kann, wirklich nicht auf.

Wo im Budget hätten Sie gespart?

Nur weil die dafür Verantwortlichen inkonsistente Dinge machen, muss nicht jeder interessierte Bürger bessere Rezepte vorlegen. Da bräuchten wir keine „politischen Eliten“, wenn das jeder nachdenkende Mensch auch machen könnte. Aber manchmal hat man den Eindruck, dass es sich genau so verhält.
In diesem Budget hat man weder größere Strukturreformen ins Auge gefasst, noch eine Neuorientierung des Steuersystems in Angriff genommen. Ein richtiger Schritt und wichtiges Signal wäre gewesen, die Besteuerung von Arbeit zu senken und die von Vermögen zu erhöhen. Passiert ist nichts.

Was ist von dieser Regierung noch zu erwarten?

Ich glaube nicht, dass wir von dieser Regierung noch irgendwelche strategischen Entscheidungen erwarten können. Man wird halt auf dieser Ebene weitertun, wird da und dort auch bei den nächsten Budgets Einschnitte vornehmen, und dann mit den Betroffenen reden. Das ist ja auch so eine seltsame Strategie – man verkündet zuerst ein Spar-Budget ohne vorher mit den Betroffenen zu diskutieren, und lädt sie nachher, wenn ohnehin schon alles entschieden ist, zu Gesprächen ein. Kollegen, die in außeruniversitären Forschungseinrichtungen arbeiten, haben zuerst den Brief bekommen, dass die Basisförderung gestrichen wird, und dann wurden sie zu Gesprächen gebeten. Das ist kommunikationstechnisch ein ganz schlechter Stil. Ich möcht‘ wirklich wissen, was eigentlich diese hochbezahlten und vollkommen überbewerteten Kommunikationsberater machen, die ja überall herumschwirren, und wohl auch unsere Regierung beraten? Da sehe ich wirklich Sparpotential, auf die könnte man leicht verzichten.

Die Studierenden versuchen jetzt vehement, sich gegen das Sparpaket zu wehren. Meinen Sie, das macht Sinn?

Das Einzige, bei dem die Regierung Intelligenz zeigt, ist, dass sie dort spart, wo keine großen Widerstände erwartet werden. Die Regierung hält den Bildungssektor für gesellschaftlich unwichtig, sowohl der Sache nach als auch in Hinblick auf mögliche Protestaktionen. So gesehen muss man nüchtern sein. Chancen sehe ich nur, wenn es hier zu einer breiten Koordination von Protestmaßnahmen zwischen Universitäten, Rektoren, Studierenden, außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Schulen und Lehrern kommt. Aber man merkt, wie schwer das ist. Kaum werden die außeruniversitären Forschungseinrichtungen zugesperrt, finden sich schon Rektoren, die das ganz toll finden, weil sie glauben, ein paar Hunderttausend von diesen eingesparten Euros werden auf ihre Universität abfallen. Mit diesem Prinzip des Sich-spalten-Lassens kann die Regierung natürlich rechnen, und wahrscheinlich werden auch Rektoren und Studenten auf keine gemeinsame Basis kommen. Dann werden die Protestaktionen in Einzelaktion verpuffen, und das hält die Regierung schon aus.

Waren Sie von den Sparmaßnahmen im Bildungssektor eigentlich überrascht?

Nein, eigentlich nicht. Budgets über Einsparungen bei Bildung und Sozialem zu sanieren, liegt ja europaweit im Trend. Überrascht war man vielleicht über Details. Auf bestimmte Ideen, wie die Familienbeihilfe zu kürzen und gleichzeitig die Studienbedingungen zu verschlechtern oder außeruniversitäre Forschungsinstitute zu schließen, muss man erst kommen, das war zum Teil echt verblüffend.

Der Protest lebt

  • 13.07.2012, 18:18

Das Armutsbudget der Regierung bedroht die Existenz vieler Studierender. Der Protest dagegen ist kämpferisch.

Das Armutsbudget der Regierung bedroht die Existenz vieler Studierender. Der Protest dagegen ist kämpferisch.

Damit haben sie nicht gerechnet. Noch am Tag zuvor verkündeten sie in entspannter Übereinkunft ihre Einigung über das neue Budget. Tags darauf sollte der Bevölkerung der Weg in die budgetäre Zukunft gewiesen werden. Dann kam es doch anders. Am 24. Oktober hatten Vertreter von SPÖ und ÖVP eigentlich vor, den Entwurf zum kommenden Armutspaket im Haas-Haus vor laufenden ORF-Kameras zu zelebrieren. Nicht gerechnet haben sie allerdings mit den rund 2000 Studierenden, die bei strömenden Regen ein paar Stockwerke tiefer, auf dem Stephansplatz, ihrem Zorn Ausdruck verliehen. Sichtlich um Beherrschung bemüht versuchten die Frontmänner der Regierung ihre Pläne als Erfolg für Österreich zu vermarkten. Wer die Diskussion live mitverfolgte, merkte schnell, wie der lärmende Protest von der Straße die DiskutantInnen ins Wanken brachte. Zeitweise schienen ihre Argumente im Groll der Studierenden unterzugehen. Oben sozialpartnerInnenschaftlicher Konsens in österreichischer Tradition. Unten auf der Straße die Betroffenen, die nnicht gefragt wurden. Ein Sinnbild für die Politkultur in Österreich.

Armutszeugnis. Das Armutsbudget, gegen das nicht einmal 24 Stunden nach der Verkündung in Loipersdorf bereits heftig angekämpft wurde, schlägt tiefe Kerben in das Leben vieler Studierender. Noch im vergangen Jahr waren zentrale Forderungen der Audimax-Besetzung eine bessere finanzielle Absicherung der Studierenden sowie eine angemessene finanzielle Ausstattung der Hochschulen. Jetzt muss gegen herbe Einschnitte gekämpft werden. Die Bezugsdauer der Familienbeihilfe wird ab dem ersten Juli 2011 von 26 auf 24 Jahre herabgesetzt. 27.000 Studierende verlieren damit 2.700 Euro jährlich. Anders gesagt: Ab nächstem Jahr werden 27.000 neue Studijobs gebraucht. Viele, die auch jetzt schon gerade mal über die Runden kamen, werden sich nun ernsthaft mit der Frage eines Studienabbruchs beschäftigen müssen. Die Hochschulen und damit jene, die in ihnen forschen, lehren und lernen, werden missachtet. Schlimmer noch: als politischer Pokereinsatz missbraucht. Dies ist nun einmal mehr deutlich geworden. Der heftige Protest, nicht nur von Studierenden, bewegte die Regierung nun aber zumindest zu einer Medieninszenierung. Zur Beschwichtigung des Protests wurden am 27. November so genannte Nachbesserungen verkündet. Wesentliches wurde aber nicht geändert. Im Gegenteil, über weite Strecken verbergen sich hinter dieser Ankündigung eklatante Mogelpackungen. Eine dieser „Nachbesserungen“ sieht etwa vor, dass Studierende mit Kindern oder jene, die Präsenzdienst geleistet haben, auf Grund des verspäteten Studieneintritts die Familienbeihilfe ein Jahr länger beziehen können sollen. Nichts Neues, bereits zuvor war dies gesetzlich gesichert. An den drastischen Einschnitten hat sich jedenfalls gar nichts geändert. So auch bei der Förderung der studentischen Selbstversicherung. Wer bisher nicht die Möglichkeit hatte, sich bei den Eltern mitzuversichern, der/die konnte für gut 300 Euro im Jahr eine, vom Staat geförderte, Krankenversicherung abschließen. Diese Förderung soll nun ersatzlos gestrichen werden. Künftige Kosten für die Betroffenen: 600 Euro jährlich. In den Radius des finanziellen Kahlschlags gelangen auch die Studierendenheime. Für viele Studierende stellten diese bisher eine leistbare Alternative dar. In Zukunft werden Neuerrichtungen aber nicht mehr vom Wissenschaftsministerium gefördert. Dieses übernahm bisher rund ein Drittel der Gesamtkosten. Dass die Mietpreise in den Studiheimen folglich steigen werden, wird erwartet. Schließlich hat die Regierung auch Pläne für all jene, die vorhaben ein Studium ab dem Wintersemester 2011 zu beginnen: Zusätzliche Zugangsbeschränkungen. Wie diese konkret aussehen werden, ist bisher noch nicht geklärt.

Manöver. Die Strategie der Regierung ist nicht ganz ungeschickt. Auf der einen Seite schmücken sich die Verantwortlichen der Koalition mit schönklingenden wie holen Phrasen über die profunde Bedeutung von Bildung. Anderseits wird an den Zusammenhalt appelliert, wenn gespart werden soll. Zusammenhalt ist hier selbstverständlich ein trügerisches Wort. Es wird nicht etwa bei jenen Vermögenden gespart, die auch bisher kaum einen Beitrag zur Gemeinschaft leisten, oder höhere Beiträge von diesen verlangt. Nein. Zur „Verantwortung“ gezogen werden jene, deren soziale und ökonomische Position ohnehin am prekärsten ist. Widerstand wird es von Seiten der Studierenden und der Zivilgesellschaft gegen diese Ungerechtigkeiten auch weiterhin geben. Am 27. November haben wieder mehrere Tausend Menschen gegen das Armutspaket demonstriert. Aufgerufen hatte eine Allianz von 113 Organisationen (www.zukunftsbudget.at). Die ÖH-Bundesvertretung plant, vor den Verfassungsgerichtshof zu ziehen, sollte das Budget in seiner jetzigen For m beschlossen werden. Einstweilen geht der Protest der Studierenden weiter, er ist lebendig und kämpferisch.
 

Aufstand der Humanität

  • 13.07.2012, 18:18

Was ist eigentlich geblieben vom großen Hochschulprotest, als im Wintersemester 2009 die größten Hörsäle in ganz Österreich besetzt gewesen waren?

Kommentar

Was ist eigentlich geblieben vom großen Hochschulprotest, als im Wintersemester 2009 die größten Hörsäle in ganz Österreich besetzt gewesen waren? Man ist geneigt zu sagen: Wenig! Ignoranter denn je negieren die RegierungspolitikerInnen die Tatsache, dass ihr Handeln die Hochschulen ausblutet und in Wirklichkeit nichts anderes als eine Nötigung der Studierenden darstellt.
War der ganze Aufruhr also umsonst, haben die Studierenden ohne Sinn und Zweck nächtens in den Hörsälen ausgeharrt? Nein! Die im Oktober 2009 entstandene Bewegung war mehr als bloß ein Kampf um eine Verbesserung der Studienbedingungen. Sie intendierte zugleich Besserung der Lebensbedingungen aller, verlangte statt Ausbildung zuerst Bildung, nämlich Förderung der Entwicklung zum emanzipierten Individuum, das in einem solidarischen Zusammenhang zur gesellschaftlichen Transformation beizutragen fähig ist.
Die Studierenden wehrten sich gegen eine Ideologie heroisch-nüchterner Inhumanität und gegen die Entfremdung, die diese mit sich bringt. Die dezentrale Organisationsform der Bewegung hat nicht zu einer Verengung des Gesichtskreises geführt, den Studierenden ist es gelungen, Kontakte zu protestierenden Studierenden und deren Universitäten in Europa aufzubauen.
Man könnte sagen, die EU ist ein wenig europäischer geworden – dank der Studierenden.
Es ist eine Generation von Menschen aufgestanden, die bewusst um ihre Biografie ringt, die sich nicht treiben lassen will, die ihren Weg sucht. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob man einE AkteurIn im Bildungswesen ist, oder einE TeilnehmerIn an einer mehr oder weniger anstrengenden akademischen Fremdenführung.
Die Protestbewegung hat die Sinne und den Intellekt der Beteiligten geschärft, ihr Selbstbewusstsein gestärkt und ihre Kritikfähigkeit gehoben. Intensive Lernprozesse gingen in kürzester Zeit vor sich. Bei den Protesten 2009/2010 ging es auch darum, in welcher Sprache über die Probleme gesprochen wird, welche Fragen überhaupt gestellt werden können und dürfen, welcher Logik man sich unterwirft oder nicht unterwirft – ob es nun die Logik der Sachzwänge ist oder die pragmatische Kanalisierung von Forderungen.
Natürlich ging es und geht es auch noch immer um die finanzielle Seite der Angelegenheit. Das Bildungssystem braucht eine adäquatere Finanzierung. Wie viel mehr der Protest aber erzeugt hat, als die bloße Forderung nach schnöden Mammon, zeigt unter anderem die Schau einer Broschüre der Universität für Angewandte Kunst, die auf Seite 27 dieser Ausgabe des PROGRESS präsentiert wird.

Die Vernetzungsmaschinerie

  • 13.07.2012, 18:18

Das Internet hat die Struktur von Studierendenprotesten nachhaltig verändert. Die entscheidende Frage wird in der Zukunft sein, wie es am besten gelingen kann, Online- und Offline-Aktivitäten zu verbinden. Eine Analyse.

Das Internet hat die Struktur von Studierendenprotesten nachhaltig verändert. Die entscheidende Frage wird in der Zukunft sein, wie es am besten gelingen kann, Online- und Offline-Aktivitäten zu verbinden. Eine Analyse.

Anfang der 1980er. Die englische Punkband The Clash stellt sich die alles entscheidende Frage: Should I stay or should I go? Der Studierendenprotest ist zwar keine Liebesgeschichte, jedoch geht es wie in der Liebe um die gemeinsame Zukunft. „Hingehen oder heimgehen?“, denkt sich der Publizistikstudent Luca Hammer am Nachmittag des 22. Oktobers. Soeben hat ihm ein Tweet mitgeteilt, dass das Audimax besetzt ist.
24 Stunden später sitzt er dort. Den Arm mit dem Handy in der Hand in die Höhe gereckt, filmt er das Geschehen mit und überträgt es live ins Internet. Hammer mutiert zur digitalen Schnittstelle. Zwischen denen, die hingehen, und jenen, die daheim bleiben. Tags darauf nimmt der Student seine Kamera und den Laptop mit; abends bespricht er mit ein paar Leuten die Webseite; in der Nacht von Samstag auf Sonntag geht unsereuni.at online. Fortan bündelt die Webseite sämtliche Aktivitäten der Studierenden. Links zum Live-Stream, Facebook und Wiki vergrößern den Kreis der AnhängerInnen. Mit der Übersichtlichkeit der Webseite haben die Studierenden einen entscheidenden Trumpf in der Hand.
Dem bekannten Blogger Gerald Bäck zufolge stieg die theoretische Reichweite der Tweets bereits nach vier Wochen auf 21,5 Millionen. Hunderttausende fieberten bei Plenarsitzungen, Diskussionen und Vorträgen, die live aus dem Audimax gesendet wurden, mit. Bis heute hat die Facebook-Gruppe „Audimax Besetzung an der Uni Wien – Die Uni brennt!“ mehr als 30.000 Mitglieder. Die Solidarität ist groß. Auch nach der Räumung des Audimax am 21. Dezember. 

Medien springen auf. Der Schritt, soziale Netzwerke zur Aufmerksamkeitssteigerung und Vernetzung zu nutzen, stellt eine Emanzipation von herkömmlichen Medien dar. Nicht mehr Fernsehen, Radio oder Print entscheiden, was die Öffentlichkeit erfährt, sondern die Studierenden selbst. Die professionelle Vernetzung via Internet motiviert die Protestierenden, hält sie am Laufenden und die Proteste für lange Zeit am Leben. Nach kürzester Zeit springen die traditionellen Medien auf. Nicht nur, weil das Audimax voll ist, sondern vor allem weil ihnen der Protest im Internet imponiert. Sie stilisieren die professionelle Vernetzung der Studierenden als Innovation hoch.
„Während das Web 1.0 rein zur Informationsbeschaffung diente, steht das Web 2.0 für Koordination. Die Studierendenbewegung ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich Protestbewegungen im Internet organisieren und in reale Bewegungen umgesetzt werden“, sagt Alexander Banfield-Mumb, der an der Universität Salzburg die Rolle von digitalen Medien in Protestbewegungen erforscht.
Studentische Milieus gelten traditionell als beweglich.  Die Organisation entsteht spontan, ist oft basisdemokratisch und wird von einer hohen Fluktuation geprägt.  Wenn jemand ausfällt, bricht nicht das ganze System zusammen, sondern die Lücke wird gefüllt. Zu viel Bewegungsfreiheit kann jedoch Chaos schaffen. Das Internet gibt dem Protest eine Struktur. In ihm wird koordiniert und kaum jemand hat sich daran gestoßen, dass alle Tätigkeiten in einem Presseraum der Uni Wien zusammenliefen. Zentralismus wird in diesem Aspekt akzeptiert. Die Arbeitsgruppe Presse, ein Team aus ständig wechselnden Menschen, ist das Herz der Bewegung. Weil sie Übersicht schafft. 

Couch Aktivismus. Das geschmeidige Zusammenspiel von Online-Vorbereitungen und Offline-Aktivitäten ist kein Novum. Wie gut so etwas funktioniert, hat man sowohl bei den WahlkampfhelferInnen von Obama als auch bei den Protesten im Iran gesehen. Zu einem Großteil scheitern jedoch Protestaktionen, die im Internet geschmiedet wurden. Couch-Aktivismus nennt sich das Phänomen, wenn trotz großer AnhängerInnenschaft im Internet kein Protest auf der Straße zustande kommt.
Soziale Netzwerke scheinen das Benzin für die Maschine der österreichischen Studierendenproteste gewesen zu sein. Was wäre passiert, wenn das Benzin weniger professionell aufbereitet gewesen wäre? Wäre die Maschine kollabiert? Eine Antwort darauf wäre reine Spekulation. Der Blick über die Grenzen Österreichs zeigt jedoch, dass es auch anders gehen kann. „In Deutschland wurde das Web 2.0 viel weniger in die Proteste eingebunden“, stellt Christoph Bieber, Politologe an der Justus-Liebig Universität in Gießen, fest. Als Begründung nennt er drei Schlagworte: StudiVZ, Dezentralisierung, Twitter.
Das Image von Twitter sei in Deutschland angeknackst und deshalb weniger beliebt bei den Studierenden, vermutet Bieber. Außerdem habe man sich schwergetan, die verschiedenen Proteste zu koordinieren. Das mag einerseits an der hohen Anzahl der streikenden Unis gelegen sein, andererseits habe man sich schlichtweg für das „falsche“ Netzwerk entschieden: „Die deutschen Studierenden setzten auf StudiVZ. Ein Fehler, da sich StudiVZ nur beschränkt für externe Vernetzungen eignet.“ 

Lucky Streik. Vor rund 13 Jahren hatten die deutschen Studierenden den Aufstand im Internet unter dem Slogan „Lucky Streik“ schon erprobt. Die Zeitungsberichte von damals lesen sich ähnlich euphorisch wie heute. Netzbegeisterte StudentInnen erstellten Webseiten und Streik-E-Mail-Listen.  Audio- und Videodateien peppten das Angebot auf und sogar Chats soll es auf den Seiten gegeben haben. Der Betreuer einer Webseite erinnert sich an die „atemberaubende“ Zeit: „Am Abend vor der Bonner Demo kam durchschnittlich alle zwei Minuten eine E-Mail mit einer neuen streikenden Uni an.“
Die Webseiten haben den Streik 1997 überdauert. Das Erfahrungswissen ist den ProtestlerInnen geblieben. Auch bei der aktuellen Studierendenbewegung in Österreich wird die Infrastruktur und das Know-How die Protagonisten und Protagonistinnen überdauern. „Das Mobilisierungspotential des Web 2.0 ist längst nicht ausgenutzt“, sagt Banfield-Mumb, „und auch die nächste Stufe, das Web der Kooperation, blieb so gut wie unberührt.“
Verbesserungsvorschläge gibt es viele – etwa wie die Stimmen im Chat neben dem Live-Stream am besten in Diskussionen eingebunden oder wie im Wiki gemeinsam Themen bearbeitet werden können. Eine Chance, Online- und Offline-Protest weiter zu professionalisieren, bietet jedenfalls der Gegengipfel zur Jubiläumsfeier des Bologna-Prozesses im März. Die AktivistInnen könnten zeigen, dass der Protest einen längeren Atem hat als einigen PolitikerInnen lieb ist. Wenn nur genug Leute hingehen.  N

 

Wie weiter mit den Hochschulen?

  • 13.07.2012, 18:18

Ende Dezember wurde das Audimax in Wien geräumt, die Debatte um die Hochschulen in Österreich ist aber weiterhin am Kochen. Noch Ende des Jahres 2009 wurde der Hochschuldialog initiiert. Was aber passiert in diesem Dialog? Wer spricht mit wem? Und was wird am Ende stehen?

Ende Dezember wurde das Audimax in Wien geräumt, die Debatte um die Hochschulen in Österreich ist aber weiterhin am Kochen. Noch Ende des Jahres 2009 wurde der Hochschuldialog initiiert. Was aber passiert in diesem Dialog? Wer spricht mit wem? Und was wird am Ende stehen?

Die österreichweiten Proteste ließen den ganzen Herbst über die Wogen in der Hochschuldebatte hochgehen. Durch die Masse der Studierenden, die sich das Versagen der österreichischen Bildungspolitik nicht länger gefallen lassen wollten, kamen Universitäten und Politik in Zugzwang. Die Rektorate der besetzten Unis mussten mit den Studierenden verhandeln und Lösungen finden. An einigen Universitäten gibt es nun eigene Vernetzungsräume für Studierende, die Forderungen der Studierenden mussten beachtet werden.
Aber nicht nur die Universitäten wurden zum Handeln gezwungen. Auch die Bundesregierung musste reagieren: Erster Schritt war die Auflösung der MinisterInnenreserve, 35 Millionen Euro für die Hochschulen – bei genauerem Blick auf die Misere der Unis und nach Einschätzung der Österreichischen HochschülerInnenschaft nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Die Proteste gingen unbeirrt weiter und Noch-Wissenschaftsminister Hahn kam immer mehr ins Straucheln und rief für 25. November 2009 den Dialog Hochschulpartnerschaft (kurz: Hochschuldialog) aus. Im November und Dezember sollte ein Prozess gestartet werden, der in „Empfehlungen“ an die Regierung mündet und laut Auskunft des Ministeriums schon „seit dem Sommer“ im Zuge des Hochschulplans vorgesehen war.

Was bisher geschah. Am 25. November 2009 setzte das Ministerium den Startschuss für den Hochschuldialog und lud alle PartnerInnen zum ersten Treffen, bei dem – nach einem Vorbereitungsworkshop – über die Aufteilung der Themen diskutiert wurde. Seit Dezember wird in fünf so genannten Arbeitsforen gearbeitet. Eingeladen sind alle, die das Ministerium als HochschulpartnerInnen sieht. Das sind beispielsweise das Bildungsministerium, die Parteien, die Österreichische HochschülerInnenschaft, die Protestbewegung und die SozialpartnerInnen. Die HochschulpartnerInnen sollen in den Arbeitsforen Empfehlungen erarbeiten. Die Studierenden fordern eine Öffnung des Dialogs für alle Studierenden und Beteiligten – der Livestream konnte bereits für einige Arbeitsforen erkämpft werden.

Große Erwartungen? Die Anforderungen an den Hochschuldialog sind hoch – alle Partner-Innen erwarten sich Ergebnisse in ihrem Sinne. Für die VertreterInnen der Studierenden ist klar: Es braucht Verbesserungen an den Hochschulen. „Die Forderungen der StudentInnen müssen in der Umsetzung der offenen und demokratischen Hochschulen münden“, heißt es in einer Meldung der Österreichischen HochschülerInnenschaft. Die Empfehlungen, die am Ende des Dialogs stehen sollen, sieht die ÖH vorerst kritisch. Eva Maltschnig, ÖH-Generalsekretärin, meint dazu: „Wir erwarten uns vom Hochschuldialog mehr als Absichtserklärungen und Manuskripte, die in Schubladen verschwinden. Die Regierung ist aufgefordert, mehr Ernsthaftigkeit für das Thema zu entwickeln – sie muss die Ergebnisse einer parlamentarischen Behandlung zuführen!“.
Das Ministerium bleibt sowohl in der Beschreibung auf der Homepage als auch auf direkte Nachfrage des PROGRESS unverbindlich: „Wir erwarten uns eine faktenorientierte Diskussion, alle Partner sollen mitgestalten können“, gibt das Büro Johannes Hahns bekannt. (Anm. d. V.: zur Zeit der Verfassung des Artikels ist noch nicht bekannt, wer neueR MinisterIn wird.)
Die PartnerInnen im Hochschuldialog haben ihre Standpunkte gleich rund um den ersten Termin am 25. November klargestellt. So steht die Bundesarbeitskammer (BAK) für „mehr und nicht weniger Uni-AbsolventInnen“ und den Ausbau der Fachhochschulen, die Rektoren wollen nicht in ihrer Autonomie beschnitten werden und wenn möglich selbst über Zugangsregelungen entscheiden. Was das für die Studierenden bedeutet ist nicht ganz klar, aber – so die Einschätzung von StudierendenvertreterInnen – gefährlich, macht doch die Wirtschaftsuniversität beispielsweise keinen Hehl daraus, am liebsten die gesamte Uni beschränken und Unmengen an Menschen dadurch ein Studium verwehren zu wollen. Der Kampf gegen Zugangsbeschränkungen an den Unis und für bessere Studienbedingungen geht für die Studierenden also auch im Hochschuldialog weiter. 

Den Hochschulsektor bearbeiten. Im Arbeitsforum Gesellschaftlicher Auftrag des tertiären Sektors soll es um den Bildungsbegriff, Aufgaben der Hochschulen, Bildung/Ausbildung, Hochschulen und Standortwettbewerb/Arbeitsmarkt sowie Gender- und Diversitymanagement gehen. Das Arbeitsforum Koordinierte Entwicklung des tertiären Sektors soll sich unter anderem mit der demokratischen Mitbestimmung an den Hochschulen befassen: Ein Thema, das für die Studierenden längst überfällig ist. Mit dem Universitätsgesetz 2002 wurde die Mitbestimmung der Studierenden massiv beschnitten – die Österreichische HochschülerInnenschaft kämpft seitdem für den Wieder-Ausbau der Mitbestimmung an den Hochschulen. Die Studierenden-Mitbestimmung an den Fachhochschulen lässt für FH-VertreterInnen auch noch zu wünschen übrig – und die Proteste zeigen: die Studierenden wollen mitbestimmen und nicht nur wie BildungskonsumentInnen behandelt werden.  Das Arbeitsforum Bologna und Studienstruktur soll unter anderem die Ausgestaltung der Lehre bearbeiten. Im Arbeitsforum  Studienwahl und Hochschulzugang soll es um die Optimierung der Nahtstelle mit dem Schulbereich und Vorlaufprozessen im Schulbereich, Studienberatung und -information, Zugangsregeln, soziale Durchlässigkeit, soziale Absicherung von Studierenden und Drop-Out gehen. Themengebiete die sich in zwei Halbtagen und einem ganzen Tag vermutlich schwer abarbeiten lassen, so die Einschätzung einiger TeilnehmerInnen. Mit der Frage, woher das Geld kommen soll, über dessen Vermehrung sich alle einig zu sein scheinen, befasst sich das Arbeitsforum Ressourcen und Finanzierung von Lehre und Forschung.

Der kleinste gemeinsame Nenner. Worauf sich aber scheinbar alle PartnerInnen als Ziel einigen können ist die finanzielle Ausstattung der Universitäten. „Hinsichtlich der Uni-Finanzierung müssen keine Ergebnisse abgewartet werden, hier besteht bereits ein Konsens unter allen Beteiligten. Die von der ÖH und vielen anderen geforderten zwei Prozent des BIP für die Hochschulen bis 2015 müssen jetzt angegangen werden“, heißt es von der ÖH.  Selbst die Vertretung der Rektoren, die Universitätenkonferenz, ist sich sicher: „Die erforderlichen Mittel sind beträchtlich, aber bei entsprechender Schwerpunktsetzung seitens der Politik ist ein solcher Wachstumskurs realisierbar.“
Wie das Geld aufgetrieben wird, bleibt freilich zu diskutieren – für viele der Beteiligten scheint die Einführung einer Vermögenssteuer unumgänglich.

Higher Education Reloaded. Und wie ist die Rolle der Studierenden im Hochschuldialog? In einem Kommentar schreibt Standard-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid von den Studierenden als der betrogenen Generation – denn die PensionistInnen würden schneller erreichen was sie wollen und konkrete Ergebnisse zu Gesicht bekommen, wie das Plus von 1,5 Prozent im November. Im Gegensatz dazu würde die „junge Generation“ auf Empfehlungen vertröstet. „So wird bei Vertretern der jungen Generation das Gefühl verstärkt, dass sie zwar angehört, aber nicht gehört werden.“ Die Studierenden selbst wollen beim Dialog sinnvoll mitgestalten und nicht nur gehört werden.
Aber auch darüber hinaus sollen sich alle Studierenden an der Hochschuldebatte beteiligen können. Flankierend zum Hochschuldialog gibt es offene Veranstaltungen und die Möglichkeit, sich online zu beteiligen – die Diskussion soll allen möglich sein. Die ÖH organisiert außerdem einen offenen Kongress mit dem Titel Higher Education Reloaded: Von 19. – 21. Februar soll an der Technischen Universität Wien ein offener Diskussionsraum die Möglichkeit zu Debatte, Information und Austausch über den tertiären Hochschulbereich geben. Ziel ist die Vernetzung von Studierenden mit anderen PlayerInnen im Bildungsbereich. 

Wachgeküsst? Durch die Besetzungen an Österreichs Unis, die Dauer und die Schlagkraft der Protestierenden wurde Österreich – zumindest für eine gewisse Zeitspanne – wachgerüttelt. Die Studierendenproteste haben zweifelsohne zu diesem Hochschuldialog geführt. Was am Ende des Dialogs stehen wird, scheint offen. Die Entscheidung über die Empfehlungen des Dialogs treffen aber Nationalrat und Regierung. Die Universitäten – und das ist Konsens unter den HochschulpartnerInnen – brauchen mehr Geld. Was die Studierenden brauchen sind konkrete, sichtbare und sinnvolle Veränderungen: Studienbedingungen, die fördern statt hindern, ausreichend Studienplätze und keine Knock-Out-Mechanismen. Die ÖH und die BesetzerInnen appellieren an die Bundesregierung, „nach dem jetzigen Weckruf nicht erneut in einen zehnjährigen Dornröschenschlaf in Sachen Bildungspolitik zu verfallen“. Denn, so ÖH-Generalsekretärin Eva Maltschnig: „Wenn die Politik glaubt, sie hätte den Widerstand ausgesessen, wird sie sich noch wundern. Als Dekoration für einen Diskussionsprozess, der am Ende bloß das Mascherl ‚die Studis waren ohnehin dabei‘ trägt, stehen wir nicht zur Verfügung.“

Neue Bildung braucht das Land

  • 13.07.2012, 18:18

Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist Geschichte. Dass jetzt bei der Bildung Schluss sein muss mit Rumwurschteln, sollte mittlerweile allen klar sein. Die ÖH zieht ein Fazit über 2009, und hat Hoffnung für 2010.

Das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ist Geschichte. Dass jetzt bei der Bildung Schluss sein muss mit Rumwurschteln, sollte mittlerweile allen klar sein. Die ÖH zieht ein Fazit über 2009, und hat Hoffnung für 2010.

Abschaffung von Mitbestimmungsrechten und demokratischen Organen. Zugangsbeschränkungen. Verschulung. Leistungsdruck. Studiengebühren. Die hochschulpolitischen Assoziationen zu den Nuller-Jahren halten sich fast durchgehend im negativen Bereich auf. Kaum ein Jahr, in dem nicht irgendetwas am österreichischen Hochschulsystem schlimmer wurde. Auch das Schulsystem wurde durch einfaches Nicht-Reformieren dem endgültigen Verfall preisgegeben.
Immer wieder haben sich Studierende zusammengetan, um gegen diese Verschlechterungen zu protestieren: Die Einführung der Studiengebühren, die Umsetzung des Universitätsgesetzes, das Elitenförderungsprogramm der schwarz-blauen Bundesregierung, schulpolitische Katastrophen und der rote Studiengebühren-Umfaller hatten immer wieder Demos, Kundgebungen, riesige Umzüge, Aktionen und (Rektorats-)Besetzungen zur Folge. Rückwirkend stellt sich für alle Involvierten die Frage, ob diese Proteste abseits einer massiven Förderung der transparentstoffverkaufenden Wirtschaft nachhaltige Verbesserungen erzielen konnten. Zum Teil, würden einige sagen. Fast 90 Prozent aller Studierenden zahlen mittlerweile keine Studiengebühren mehr, die Studienbeihilfe wurde geringfügig angehoben (nominell, nicht real), die Studierenden an Fachhochschulen sind jetzt Teil der ÖH und verfügen damit über eine gesetzliche Vertretung.
Das Fazit ist also eher mau. Von gefühlten tausend Demos und realen hunderttausenden Protestierenden ist politisch nicht viel übrig geblieben. Frei nach Antonio Gramsci drohte der Optimismus des Willens am Pessimismus des Verstandes zu scheitern. Schließlich wurde im Juli 2009 das undemokratische Universitätsgesetz reformiert, mit der grundlegenden Konsequenz, dass Zugangsbeschränkungen nun in so gut wie jedem Fach eingeführt werden können. Aufsehen erregte das aber keines. 

Bildung brennt. Die Politikverdrossenen strafte das Jahr 2009 aber Lügen – weder von langer Hand geplant noch von Institutionen organisiert beschloss eine große Zahl von Studierenden schlicht und ergreifend, dass es jetzt genug ist. Genug mit Ellbogentechnik, Sitzplatzproblemen, engen Studienplan-Korsetten und prekären Lebensverhältnissen. Wie ein Waldbrand weitete sich der Protest in unglaublicher Geschwindigkeit von der Akademie der Bildenden Künste auf ganz Österreich aus. Die heftigsten Bildungsproteste ausgerechnet am Ende der Nuller-Jahre, wo doch die Reform der Hochschulen zu standortgerechten Dienstleistungsanbietern längst abgeschlossen sein hätte sollen und die Kundschaft StudentInnen gelangweilt an der Kassa steht.
Es hat sich ausgesessen. Für die ÖH bieten diese Proteste auf der einen Seite große Unterstützung in ihren Anliegen. Sie zeigen, dass die Forderungen nach offenen Universitäten, freier Bildung und sozialer Absicherung von Studierenden nicht aus der Luft gegriffen sind, sondern über eine riesige Basis verfügen. Auf der anderen Seite sind in ÖH-Strukturen Erinnerungen an vergebliche alte Kämpfe stets präsent. Besonders unter Schwarz-Blau wurden Proteste regelmäßig einfach ausgesessen. Erstmals in der Frage der Studiengebühren führte ein Zusammenspiel aus einem günstigen innenpolitischen Moment und der Tatsache, dass die ÖH die Abschaffung der Studiengebühren zur Glaubwürdigkeitsfrage für die SPÖ gemacht hatte, zu dem Erfolg der teilweisen Abschaffung. Für die ÖH gilt es demnach, die Forderungen der Studierendenbewegung von 2009 politischer Umsetzung zuzuführen und dafür alle Kanäle zu nützen.

Vorsätze und Hoffnungen. 2009 ist das Fass mit der Novelle des Universitätsgesetzes übergelaufen – die StudentInnen haben begonnen, sich zu wehren. Der Dialog Hochschulpartnerschaft, den das Wissenschaftsministerium daraufhin einleitete, soll eine grundlegende Veränderung des Hochschulwesens anstreben. Inwieweit sich innerhalb dieser Struktur Verbesserungen erzielen lassen, wird sich aber erst zeigen. Jedenfalls nehmen wir unsere Zielsetzung ernst – allen voran die Zurückeroberung freier, demokratischer Hochschulen – und werden aktiv Verbesserungsvorschläge liefern.
Für 2010 hat sich die ÖH-Bundesvertretung einiges an Projekten vorgenommen. Das Jahr startet für uns politisch mit dem Kongress Higher Education Reloaded (siehe Seite 11), mit dem wir Student-Innen die Möglichkeit geben wollen, sich zu vernetzen und ihr bildungspolitisches Wissen zu erweitern. Darüber hinaus wollen wir natürlich auch 2010 das StudentInnenleben ein Stück schöner, gerechter und einfacher machen: Wir vertreten euch wie immer in wohnpolitischen Fragen, beraten euch in sozialrechtlichen und studienrechtlichen Angelegenheiten. Außerdem haben wir uns vorgenommen, unser Beratungsangebot in Form eines Studien- und Sozialrechtswikis besser aufzubereiten, uns für den Arbeitsmarktzugang von Studierenden aus Nicht-EWR-Staaten einzusetzen und endlich studienrechtliche Mindeststandards für FH-Studierende zu erreichen.
Die Hoffnung, dass in den Zehner-Jahren einiges besser wird, lebt – nicht zuletzt aus der traurigen Gewissheit, dass die Nuller-Jahre ein verlorenes Jahrzehnt für emanzipatorische Hochschulpolitik waren.

 

 

Pflastersteine nach Athen tragen

  • 13.07.2012, 18:18

Hellas muss Milliarden an Euro sparen. PolitikerInnen kündigen die radikalsten Reformen der Geschichte der jungen Demokratie an. Das treibt die Massen auf die Straßen, schürt Widerstand und belebt Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Eine Reportage.

Hellas muss Milliarden an Euro sparen. PolitikerInnen kündigen die radikalsten Reformen der Geschichte der jungen Demokratie an. Das treibt die Massen auf die Straßen, schürt Widerstand und belebt Zivilcourage und Demokratiebewusstsein. Eine Reportage.

Ein Mann fuchtelt wütend mit den Händen in der Luft. Die Fotografin, gegen die die griechische Schreitirade gerichtet ist, zuckt mit den Schultern. „You are not in Barcelona!“, bricht es aus ihm heraus – und das obwohl die Linse der Kamera nicht einmal seinen Kopf im Focus hat. Für sie interessanter sind die schwarz vermummten Männer rund um ihn herum. Die schweren Gasmasken mit den rüsselartigen Schnauzen haben sie fest an die Köpfe geschnallt, die oft noch jungenhaft anmutenden Körper stecken in schwarzen Kapuzenpullovern. Von den mehreren hunderttausend Demonstrierenden, die an jenem fünften Mai durch die Innenstadt Athens mal singend, mal schreiend, mal still und leise marschieren, zählt nur ein Bruchteil zum gewaltbereiten Schwarzen Block. Dennoch scheinen tausende PolizistInnen – mit Schlagstock, Tränengas und Schockbomben bewaffnet, mit Gasmaske und Abwehrschild geschützt – an jenem schwülen Mittwochnachmittag nur wegen ihnen die Straßen zu säumen. Abwartend stehen sie da, beobachten wie sich die Massen vorbeischieben. Es ist ruhig solange sich nicht die Wut der Enttäuschten über die PolizistInnen ergießt. 

Die Ruhe vor dem Sturm ist laut. Wüste Beschimpfungen sind zu vernehmen, bis der erste zur Bierflasche greift und sie auf die PolizistInnen schleudert. Steine, so groß, dass sie gerade noch in eine Hand passen, folgen. Die Masse schiebt sich panikartig davon, manche flüchten durch die engen Gassen. Schaulustige stehen abseits, ziehen sich vorausahnend Stofffetzen vor Mund und Nase. Jeder weiß in diesem Moment, was als nächstes kommt. Ein Mann ganz in Schwarz schmeißt einen Molotowcocktail auf die in grün gekleideten Zielscheiben seiner Wut, Mülltonnen werden angezündet, die Polizei feuert Schockbomben und Tränengas. Es kracht, es knallt und zurrt. Ein stechender, juckender, lähmender Geruch liegt beißend in der Luft, dringt in das Gewand und reizt Tränendrüsen und Atemwege. Wer will und kann, der flüchtet. Andere sehen an jenem Tag wie eine Bank in Flammen aufgeht. Bei der größten Demonstration seit der Revolution vor 35 Jahren ersticken drei Bankangestellte hinter den gut verriegelten Eingangsbereichen, die die Banken in diesen Tagen vor Angriffen schützen sollten. Auch am nächsten Tag bleiben sie verriegelt. Schwarze Fahnen hängen an metallenen Rollläden.
Der Generalstreik in Athen ist die wütende Reaktion auf die rigorosen Sparmaßnahmen der griechischen Regierung. PensionistInnen und BeamtInnen werden bis zu einem Fünftel ihres Gehalts verlieren. In den kommenden Monaten soll eine Reform nach der anderen beschlossen werden. Das Pensionssystem und die Krankenkassen werden komplett umgestaltet, die Steuerbehörden neu aufgestellt, die Zahl der politischen VertreterInnen in den Regionen soll schrumpfen und die 10.000 staatlichen Kommissionen werden zusammengestrichen. 30 Milliarden Euro will die Regierung wegen der drohenden Staatspleite einsparen. Gleichzeitig bekommt Hellas in den kommenden drei Jahren von der EU und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) Notkredite in Höhe von € 110 Milliarden. Wer Geld gibt, der bestimmt dieAuflagen, und  so dürfen die EU und der IWF all die Reformen überprüfen und, wenn sie es als notwendig empfinden, den Geldhahn abdrehen. Griechenland geht als erstes Land, das sich bevormunden lassen muss, in die Geschichte der Euro-Zone ein. 

Korruption und Vetternwirtschaft. Viele, die auf die Straße gingen, haben die Militärdiktatur in den späten 60er und frühen 70er Jahren miterlebt. Sie wollen sich nichts mehr diktieren lassen. „Get out IMF“ prangt in roter Schrift auf einem alten Bank-Gebäude am Syntagma- Platz. Manch einer spricht in diesen Tagen vom Austritt aus der EU. Nicht Vassilis P., der als Kellner in einem Restaurant am Fuße der Akropolis eine Gemüseplatte serviert. „Die Griechen sind Mitschuld an der Krise. Jahrzehntelang hat man durch Korruption und Vetternwirtschaft ganz gut vom System gelebt.“ Jene, die nicht in die Hand, die sie füttert, beißen wollen, beugen sich während der Demonstration neugierig über die hübschen Balkone am Syntagma-Platz, lassen sich die Haare schneiden in einem der vielen Friseursalons, die trotz Generalstreik in der Innenstadt regen Betrieb haben, oder sie schlürfen überhaupt in sicherer Entfernung ihren Cappuccino um € 4,50 am Kolonaki-Platz.
Rund € 30 Milliarden pro Jahr versickern in Griechenland in der Schattenwirtschaft. Die Regierung unter der Führung von Premierminister Giorgos Papandreou will nun den Steuersündern den Garaus machen. Geschehen soll dies etwa durch eine Überwachungstechnik aus Israel. tatt Quassam-Raketen im Gaza-Streifen sollen Satelliten über Griechenland nun die versteckte Swimmingpools und Luxuskarossen in Vorort-Villen ausfindig machen. Warum besteht ein Teil der GriechInnen aus korrupten SteuerhinterzieherInnen? Sie als geizig abzustempeln, wäre wahrlich zu einfach. Nein, das Problem ist strukturell: Es ist das fehlende Vertrauen in den Staat, das zur mangelnden Steuerehrlichkeit führt.
Seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 teilen sich grob gesehen zwei große Parteien die Macht über Griechenland auf. Den Grundstock zur heutigen Staatsschuld legte die Regierung von Andreas Papandreou – Vater des heutigen Ministerpräsidenten – der aktuell regierenden Panhellenischen Sozialistischen Bewegung (PASOK). Er griff mit seiner populistischen usgabenpolitik in den 80er Jahren tief in die Staatskassen. Die meisten großen Ausgabenschübe gingen jedoch in der Vergangenheit auf das Konto der zweiten, großen Partei: Der konservativen Partei Neue Demokratie  (ND). Die Regierung unter Konstaninos Karamanlis, die im vergangen Jahr abgewählt wurde, ist für die Verdoppelung des Haushaltslochs verantwortlich. Jedoch ist die Schuldfrage nicht allein mit diesen zwei Parteien geklärt – das ganze politische Establishment hat dem traditionellen griechischen Usus gefrönt, denStaat als Beute zu betrachten und den öffentlichen Dienst vom Staatssekretär bis zur Putzfrau mit eigenen Leuten zu füllen.
Aus diesem Grund sind die Feindbilder der Demonstrierenden nicht primär die BesserwisserInnen innerhalb der EU oder des IMF, sondern die eigenen PolitikerInnen. Was die Menschen eint, ist ein Grundverständnis über die korrupte Elite. „So nicht!“, sagen viele, ballen die linke Hand zu einer Faust und strecken sie in die Höhe. Verkörpert wird der Feind durch die schwer bewaffneten PolizistInnen, die an allen Ecken und Enden für Zucht und Ordnung sorgen. Was in Österreich unvorstellbar wäre, passiert in Griechenland in sämtlichen Straßen, auch ohne Demonstration: Eine Frau kracht mit einer Horde von schwer bewaffneten PolizistInnen zusammen, die oft scheinbar grundlos das von vielen Studierenden und linksautonomen BewohnerInnen bevölkerte Viertel Exarchia belagern. Sie schreit und schimpft, stößt gegen das Schutzschild der ExekutivbeamtInnen. Es wird zurückgeschubst, ihr Geschrei wird lauter und in Bruchteilen von Sekunden stürmen zwei Dutzend ZivilistInnen auf die verlängerten Arme der Regierung zu. Zivilcourage ist in Griechenland dieser Tage kein abstrakter Begriff. 

Der Abend danach. Am Abend nach der Demonstration ist es ungewöhnlich ruhig in Exarchia. Wo sich sonst vor liebevollen Graffiti-beschmierten Häusern die junge Generation zum Biertrinken trifft, schleicht heute nur eine Katze über die glatten Pflastersteine. Bars, Restaurants, Shops – sie alle sind verriegelt. Mit den DemonstrantInnen ist auch das Leben von den Straßen abgezogen. Kaum ein Auto parkt anarchistisch am Straßenrand, die PolizistInnen sitzen angelehnt an das Gitter der Eingangspforten eines Supermarktes. Sie wirken erschöpft und gelangweilt. So manch einer spielt in diesen Leerlaufstunden mit dem Handy. Nicht weit von ihnen entfernt ist das Polytechnische Institut – einer der wenigen Rückzugsorte in Athen, wo seit Beginn der jungen Demokratie die Polizei keinen Zutritt hat. An der Straßenecke wurde im Dezember 2008 der 15-jährige Alexandros von einem Polizisten erschossen. Damals war viel von der Perspektivenlosigkeit der jungen Generation die Rede. Mittlerweile hat sich die Situation verschlimmert. Im Herbst 2009 war in Griechenland bereits jede vierte Person unter 24 Jahren ohne Job. Bald werden sich die Leute womöglich nicht mehr über die 700-Euro-Generation beklagen, die nicht gerecht bezahlt wird, sondern über die hoffnungslose Gegenwart ohne Beschäftigung. „Wer es sich leisten kann, der studiert im Ausland“, sagt die Journalistin Karolina T., „und kommt nicht mehr zurück.“ Die junge Griechin mit dem schwarzen Lockenkopf ging vor sechs Jahren zum Studieren nach London. Bis heute hat sie Rückkehrpläne, aber keine Möglichkeiten.
Neben Griechenland ist die Jugendarbeitslosigkeit auch in Italien und Spanien sehr hoch. Im März waren im krisengebeutelten Spanien bereits 41,3 Prozent der jungen Menschen ohne Arbeit. Auch hier ist die Tendenz steigend. Die Jugendarbeitslosigkeit ist eng mit der Krise verknüpft, die auch die mediterranen Staaten erfasst hat. Vor allem seit der Diskussion rund um den Rettungsschirm für Griechenland sind alte Stereotype und Vorurteile gegen die SüdländerInnen wieder am Köcheln. Faul und träge sollen sie sein, die Menschen in jenen Ländern, in denen viele so gerne ihre Sommerurlaube verbringen. Schon jetzt haben gehässige BritInnen die Abkürzung „Pigs“ für Portugal, Italien, Griechenland und Spanien erfunden. Vier Staaten, von denen befürchtet wird, dass die aktuelle Wirtschaftskrise sie wie zarte Grashalme in einem Sturm umknickt. Vielleicht waren die wütenden Worte „You are not in Barcelona!“ des griechischen Demonstranten unbewusst vorausahnend. Vielleicht gehen das nächste Mal hunderttausende SpanierInnen auf die Straßen. Zumindest für das Demokratiebewusstsein könnte das gut sein.

 

Gemeinschaftliches Arbeiten und Konsumieren weltweit

  • 13.07.2012, 18:18

Die GenossInnenschaftsbewegung breitet sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts weltweit aus. In Österreich oft mit Raiffeisen-Bank und Konsum gleichgesetzt, gibt es international Beispiele, die ein moderneres Bild auf den Zusammenschluss von Menschen zu Produktions- oder Konsumgemeinschaften werfen.

Die GenossInnenschaftsbewegung breitet sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts weltweit aus. In Österreich oft mit Raiffeisen-Bank und Konsum gleichgesetzt, gibt es international Beispiele, die ein moderneres Bild auf den Zusammenschluss von Menschen zu Produktions- oder Konsumgemeinschaften werfen.

GenossInnenschaften oder auch Kooperativen gibt es schon seit dem Altertum. Damals schlossen sich Menschen zu Bündnissen wie Glaubensgemeinschaften zusammen, die genossInnenschaftliche Züge hatten. Im Mittelalter bildeten sich unter sozial oder wirtschaftlich schwachen Personen Vereinigungen, die zum Beispiel die Begräbnisse der Mitglieder finanzierten. Aus GenossInnenschaften, die sich um die gemeinschaftliche Verwaltung der Almen kümmerten, entstand später die Schweizer EidgenossInnenschaft, die eine Form der direkten Demokratie darstellt.
Im Dezember 1844 gründeten 28 WeberInnen die Rochdale Society of Equitable Pioneers. Robert Owen, ein englischer Unternehmer, gründete diese ProduktivgenossInnenschaft, um die Lage der FabriksarbeiterInnen zu verbessern. Außerdem gründete er eine KonsumgenossInnenschaft in Form eines Ladens, um den Menschen leistbare Lebensmittel zur Verfügung zu stellen. Owen gilt als der Begründer der modernen Form dieses Zusammenschlusses. Das BesucherInnenbuch der Pioneers zeigte unter anderem Namen aus England, Deutschland, Spanien, Japan, Italien und Russland. George Jacob Holyoake veröffentlichte die Geschichte der Rochdale Pioneers 1858 unter dem Titel Self-Help by the People. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
Die GenossInnenschaftsbewegung breitete sich ab diesem Zeitpunkt rasch aus. Im deutschsprachigen Raum wurden die ersten GenossInnenschaften 1847 von Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch gegründet. Aus Raiffeisen’s Vereinigung zur Bekämpfung von Armut der ländlichen Bevölkerung entstand später ein Darlehenskassenverein. In Europa gibt es heute 300.000 GenossInnenschaften mit über 140 Millionen Mitgliedern.

Was ist das denn? GenossInnenschaften sind Zusammenschlüsse von natürlichen oder auch juristischen Personen. Das so genannte S-Prinzip bedeutet hier: Selbstverwaltung, Selbstverantwortung und Selbsthilfe. Die KapitalgeberInnen und Mitglieder sind gleichzeitig EntscheidungsträgerInnen und GeschäftspartnerInnen der Vereinigung.
Laut Gesetz müssen GenossInnenschaften den Erwerb oder die Wirtschaft der Mitglieder fördern. Sie müssen dies in Abstimmung mit ihren Mitgliedern durch sinnvolles unternehmerisches und marktgestalterisches Handeln erfüllen. Das besondere an dieser Form des wirtschaftlichen Zusammenarbeitens besteht darin, dass hier die erwirtschafteten Gewinne direkt an die Mitglieder weitergegeben werden. Eine Nichtweitergabe erfolgt nur dann, wenn neu investiert werden muss. Gewinn ist aber nicht der Selbstzweck einer GenossInnenschaft. Je nach Zweck muss das erwirtschaftete Geld auch entsprechend eingesetzt werden.
Die Mitglieder in solchen Zusammenschlüssen sind nicht auf eine bestimmte Zahl beschränkt. Die Anzahl kann je nach neu gewonnenen und ausgeschiedenen Mitgliedern ständig schwanken. Durch die Mitgliedschaft verpflichten sich die Personen zwar zur Einzahlung von Kapital und zur Entrichtung von etwaigen Mitgliedsbeiträgen, können aber dann von der jeweiligen Leistung der GenossInnenschaft profitieren.

Österreichische Varianten. Das klingt zuerst alles sehr theoretisch. Bei genauerer Betrachtung kennt aber jede Person in Österreich zumindest eine GenossInnenschaft. Die Raiffeisen-Gruppe mit ihrem Giebelkreuz als Markenzeichen ist in jedem Teil Österreichs zu finden. 1,7 Millionen Menschen sind in Österreich Mitglied und 40 Prozent der Bevölkerung sind KundInnen. Somit stellt sie die größte Bankengruppe in Österreich dar.
Die erste Raiffeisenkasse wurde in Österreich 1886 gegründet, weitere EinzelgenossInnenschaften folgten. Ab 1894 gab es landesweite Zentralen, und seit 1898 gibt es den Österreichischen Raiffeisenverband. Die Struktur ist seit damals stark gewachsen. In Österreich gibt es derzeit 560 selbstständige Raiffeisenbanken mit insgesamt 1.800 Filialen. Raiffeisenbanken wurden zur wirtschaftlichen Absicherung ihrer Mitglieder gegründet. Neben der Möglichkeit, die Entscheidungen innerhalb des Verbandes mit zu bestimmten, sind Mitglieder vor allem auch MiteigentümerInnen.
Eine weitere bekannte GenossInnenschaft stellte Konsum dar. Sie war bis zu ihrer Insolvenz 1995 eine KonsumgenossInnenschaft. Gemeinsam mit dem Österreichischen Gewerkschaftsbund war Konsum mehrere Jahrzehnte lang Besitzerin der BAWAG (Bank für Arbeit und Wirtschaft). Konsum wurde deshalb oft als gewerkschaftliches Unternehmen wahrgenommen, was aber rein rechtlich nicht der Fall war.
Die ersten KonsumgenossInnenschaften wurden in Österreich bereits 1852 gegründet. Viele ArbeiterInnen wollten den steigenden Preisen für Lebensmittel entgehen und solidarisierten sich. Die Zusammenschlüsse befassten sich mit dem Vertrieb von Nahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Gebrauchs. 1903 kam es mit Unterstützung der damaligen SPÖ zur Gründung des Zentralverbandes österreichischer Konsumgesellschaften. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchte der Konsumverband aber parteilich unabhängig zu werden.
Nach schwierigen Phasen für die GenossInnenschaften während des Ständestaats und dem Nationalsozialismus begann nach dem Zweiten Weltkrieg ein rascher Aufbau des Konsumverbandes. Ab Mitte der 1950er Jahre nahm der Mitgliederzuwachs aber ab, die Mitglieder waren veraltet und viele GenossInnenschaften waren nahe am finanziellen Ruin. Ein neues Konzept war von Nöten. 1970 wurde daher der erste Konsum-Großmarkt und 1971 das erste Konsum-Möbelhaus eröffnet. Der Verband sollte sich zur Konsum-Einzelhandelskette weiterentwickeln. Anfänglich steigende Gewinne konnten sich aber nicht auf Dauer einstellen. Konsum musste Anfang der 90er Anteile an der BAWAG verkaufen. 1995 wurden die bestehenden Filialen von anderen Unternehmen übernommen oder aufgelöst.

GenossInnenschaften auswärts. Österreichische GenossInnenschaften hören sich ein wenig nach Großkonzern oder verstaubter Vergangenheit an. International sieht das ein wenig anders aus. Auf Englisch heißen diese Vereinigungen Co-Operatives oder kurz Co-Ops. In Großbritannien begannen sich Anfang des 19. Jahrhunderts Menschen gegen die Form der Wohlfahrt zu wehren. Sowohl Staat als auch Kirche begannen zwischen „förderungswürdigen“ und „unwürdigen“ Armen zu unterscheiden. Daher wurden die ersten Friendly Societies gegründet. Ende des 19. Jahrhunderts waren knapp 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Großbritannien und 90 Prozent in Australien Mitglieder einer Friendly Society. Sie waren damit die größte Form von Vereinigungen von ArbeiterInnen im angelsächsischen Raum vor der Gründung von Gewerkschaften.
GenossInnenschaften stellen eine Form der wirtschaftlichen Demokratie dar und sollen so die politische Demokratie ergänzen. Diese Motive sind in den großen österreichischen GenossInnenschaften kaum noch sichtbar, im internationalen Bereich stehen sie dafür stärker im Vordergrund. So sind gerade viele kleinere Co-Ops klar im linken bzw. sozialistischen Spektrum anzusiedeln. Ein Beispiel hierfür stellt The London Socialist Film Co-Op dar. Sie zeigen aktuelle und ältere Filme, um sozialistische Kultur weiterzutragen. Nach den Veranstaltungen werden die TeilnehmerInnen zu Diskussionen angeregt. Mitglieder werden dazu ermuntert, eigene Filme zu drehen, sich aktiv an der Organisation von Veranstaltungen zu beteiligen oder Vorschläge für gezeigte Filme zu machen.
Rainbow Grocery in San Francisco wurde 1975 gegründet und ist ein vegetarischer Supermarkt. Er entstand aus einem Projekt namens People‘s Common Operating Warehouse of San Francisco, bei dem Essen von Menschen der Umgebung in Großmengen eingekauft und danach untereinander aufgeteilt wurde, um das Zusammenleben in der Gemeinschaft und politisches Denken zu fördern. Aus diesem zuerst religiösen Projekt entstand dann der säkulare Verkaufsladen.
Den Titel Co-Operative konnte Rainbow Grocery erst 1993 führen, denn bis dahin besaß Kalifornien keinen rechtlichen Terminus für Arbeiter-Innen-Co-Ops. Doch schon von Beginn an war Rainbow Grocery ein von den Mitgliedern demokratisch organisierter und gemeinsam besessener Laden. Im Unterschied zu KonsumgenossInnenschaften ist das Geschäft aber nicht in Besitz der Menschen, die dort einkaufen, sondern gehört den ArbeiterInnen. Die Vereinigung beschreibt sich selbst als Zusammenschluss der einzelnen Abteilungen im Laden wie Einkauf, Käse, Reinigung oder Bäckerei. Auf der Abteilungsebene werden die Entscheidungen wie Neueinstellungen oder Einkauf eigenständig getroffen. Nur größere finanzielle oder rechtliche Entscheidungen werden von dem jährlich gewählten Board, das sieben Mitglieder hat, getroffen. Zur Wahl für das Board können sich alle MitarbeiterInnen bzw. Mitglieder aufstellen – egal in welcher Abteilung sie arbeiten. Zusätzlich zum Board gibt es monatliche Treffen der Mitglieder, in denen Entscheidungen besprochen und abgestimmt werden.

Fairer Handeln. Natürlich gibt es auch internationale Vereinigungen, die auf größerer Ebene agieren. Als bekannte Vertreterin sei hier Fairtrade genannt. Die Organisation versucht weltweit, durch fairen Handel und gerechte Löhne benachteiligte kleinbäuerliche Familien zu unterstützen. Bei Plantagen werden die PflückerInnen gefördert, da sie die Benachteiligsten in der Produktionskette sind. Die einzelnen ProduzentInnen müssen sich, um das Fairtrade-Siegel zu erhalten und mit Hilfe von Fairtrade Produkte erzeugen zu dürfen, zu GenossInnenschaften zusammenschließen. Wenn dies noch nicht möglich ist, muss zumindest auf demokratische Strukturen hingearbeitet und die ArbeiterInnen gerecht entlohnt werden. Neben Schulungen in den Bereichen Marketing und Produktionsverfahren unterstützt Fairtrade auch soziale Projekte wie den Bau von Schulen, Brunnen und Apotheken.
Die gerechte Produktion von Kaffee ist im öffentlichen Bewusstsein wohl am stärksten mit Fairtrade verbunden. Die Produktpalette umfasst heute aber weit mehr. Schokolade, Datteln und Gewürze sind genauso wie Baumwolle, Teppiche und Fußbälle erhältlich. Das Fairtrade-Gütesiegel zeigt den KundInnen in aller Welt, welche Erzeugnisse unter demokratischen Bedingungen hergestellt wurden. Die Preise sind zwar in den meisten Fällen höher als bei vergleichbaren Produkten ohne Siegel, allerdings können die KonsumentInnen neben dem Erwerb eines guten Gewissens so auch einen Beitrag zur Verbesserung der Lebensbedingungen von ArbeiterInnen leisten.
GenossInnenschaften gibt es weltweit in vielen verschiedenen Formen. Allen gemeinsam ist eine demokratische Struktur, die für alle Mitglieder Mitsprache garantiert. Diese Form von Demokratie in Arbeits- und Produktionsprozessen ist ein wichtiger Wegweiser zu einer Gesellschaft, die auf die Bedürfnisse aller eingeht. Viele, vor allem größere, Vereinigungen stellen heute gleichzeitig multinationale Unternehmen dar, die stark im kapitalistischen System verankert sind. GenossInnenschaften müssen daher nicht zwingend zur Veränderung des bestehenden Systems beitragen. Sie können jedoch einen Beitrag dazu leisten, dass Menschen gerecht bezahlt und in Entscheidungsprozesse eingebunden werden.

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