Prekariat

Mythos Praktikum

  • 11.05.2017, 19:54
Der Arbeitsalltag von Studierenden ist von prekären Arbeitsverhältnissen geprägt. Immer mehr junge ArbeitnehmerInnen finden sich in Scheinselbständigkeit, Praktika und Volontariaten wieder. Viele Unternehmen nutzen rechtliche Grauzonen schamlos aus, um sich auf ihre Kosten zu bereichern.

Der Arbeitsalltag von Studierenden ist von prekären Arbeitsverhältnissen geprägt. Immer mehr junge ArbeitnehmerInnen finden sich in Scheinselbständigkeit, Praktika und Volontariaten wieder. Viele Unternehmen nutzen rechtliche Grauzonen schamlos aus, um sich auf ihre Kosten zu bereichern.

Die meisten Jobausschreibungen beinhalten den kleinen Satz „mehrjährige Erfahrung im Bereich xy wünschenswert“. Um diese geforderte Erfahrung sammeln zu können, verschlägt es angehende ArbeitnehmerInnen dann in sogenannte Praktika. Die Unternehmen locken mit aufregenden Tätigkeiten und versüßen einem die Arbeit oftmals mit der Option auf Verlängerung oder gar Fixanstellung. Hier wären wir auch schon beim Mythos Praktikum angelangt, denn die Realität sieht meist leider anders aus: mangelnde Einschulung, schlechte oder keinerlei Bezahlung und nach einigen Monaten des Schuftens heißt es dann auf Wiedersehen. Anschließend beginnt für viele das ganze Spiel wieder von vorne. Für eine richtige Anstellung bringt man zu wenig Erfahrung mit, darum wird einem ein weiteres Praktikum angeboten oder empfohlen.

Kein Wunder also, dass laut einer aktuellen Erhebung der GPA-djp (Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier) mehr als ein Viertel der jungen ArbeitnehmerInnen schon vier oder mehr (freiwillige und verpflichtende) Praktika absolviert haben. 92 Prozent der Studierenden sehen zudem die Notwendigkeit, weitere Praktika zu absolvieren, um ihre Jobchancen am Arbeitsmarkt zu verbessern. ExpertInnen zufolge steigt die Anzahl an Praktikumsplätzen stetig, während die Aussichten auf ordentliche Arbeitsplätze auch für AbsolventInnen von BMS, BHS, Fachhochschulen und Universitäten eher trist sind. Die Zahl der arbeitslosen JungakademikerInnen ist im Vergleich zum Vorjahr leicht gestiegen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass immer mehr Studierende sich in prekäre Arbeitsverhältnisse drängen lassen, sind diese doch allemal besser als gänzlich arbeitslos zu sein, oder? Der Bundesjugendsekretärin der GPAdjp Barbara Kasper zufolge verschließt die österreichische Wirtschaftskammer vor dem Prekariat die Augen. Die Unternehmen seien nur daran interessiert, durch Praktika Nachwuchs auszubilden und zu rekrutieren.

DER MYTHOS. Ein großes Problem ist, dass es laut Arbeitsrecht das Praktikum gar nicht gibt. Menschen in Österreich können als ArbeiterIn oder Angestellte/r beschäftigt werden oder freie DienstnehmerInnen sein, aber die Anstellungsform des Praktikums existiert nicht. Diese Titulierung dient in erster Linie dazu, die Entlohnung zu schmälern. Unternehmen wird so die Möglichkeit geboten, sich in rechtlichen Graubereichen zu bewegen und sogenannte Praktika werden zum lukrativen Geschäftsmodell auf Kosten der Jugend. Gerade das Argument der Unternehmen, man müsse sich neue MitarbeiterInnen erst einmal ansehen, ist an den Haaren herbeigezogen. Dafür gibt es längst ein geeignetes Mittel, genannt Probemonat.

Praktikum ist nicht gleich Praktikum. Pflichtpraktika sind im Rahmen einer (Hoch-)Schulausbildung zu absolvieren und können sowohl in Form eines Arbeitsverhältnisses als auch eines Ausbildungsverhältnisses gemacht werden, je nachdem welcher Aspekt überwiegt. Handelt es sich dabei um ein Arbeitsverhältnis, steht PraktikantInnen durchaus Gehalt zu. Als praktische Indikatoren können folgende Fragen dienen: Bin ich in die Hierarchie des Unternehmens eingegliedert? Gibt es jemanden, der mir anordnen kann, was ich zu tun und zu lassen habe? Übernehme ich eine betriebliche Aufgabe (zum Beispiel EMail- Korrespondenz für das Unternehmen)? Habe ich einen fixen Arbeitsplatz und eine eigene Mailadresse? Dank der Bemühungen der Gewerkschaft bilden viele Kollektivverträge die besondere Situation von PflichtpraktikantInnen inzwischen ab. Laut KV für Angestellte im Metallgewerbe werden PflichtpraktikantInnen die ersten zwei Monate mit 80 Prozent des regulären Einstiegsgehalts entlohnt, anschließend sogar voll. Volontariate sind hingegen reine Ausbildungsverhältnisse und dienen dem Hineinschnuppern in bestimmte Berufe. Man erhält dafür kein Geld, ist aber in keiner Art weisungsgebunden. Sprich: Es gelten keine Bürozeiten oder Kündigungsfristen. Nimmt man neben Schule oder Studium aber ein freiwilliges Praktikum an, handelt es sich hierbei in der Regel um ganz normale befristete Dienstverhältnisse, die dem jeweiligen Kollektivvertrag unterliegen und entsprechend bezahlt werden müssen.

ZWANGSBEGLÜCKT. Die Studierenden- Sozialerhebung 2016 zeigt, dass 2015 44 Prozent der 47.000 befragten Studierenden mindestens ein Praktikum absolviert haben, 25 Prozent ein Pflichtpraktikum und 28 Prozent ein freiwilliges. Die Ergebnisse der zuvor angesprochenen Studie der GPA-djp sind noch erheblich erschreckender. Es wurden 400 Universitäts- und FH-Studierende sowie SchülerInnen aus BMS, BHS oder sonstigen berufsbildenden Schulen befragt. 61 Prozent aller Studierenden und 82 Prozent aller SchülerInnen müssen im Rahmen ihrer Ausbildung ein Pflichtpraktikum vorweisen können. Diese nehmen nicht nur prozentual, sondern auch an zeitlichem Ausmaß zu. Bis zu 20 Wochen oder mehr müssen absolviert werden, um die Ausbildung beenden zu können. Wann und unter

welchen Bedingungen ihre Auszubildenden gezwungen sind zu arbeiten, interessiert die (Hoch-)Schulen in der Regel kaum. Kritisch hinterfragt werden muss hier, wozu Praktika in immer mehr universitäre Studienpläne aufgenommen werden. Warum müssen zum Beispiel Studierende des Bachelors Japanologie an der Uni Wien ein Praktikum im Ausmaß von 160 Stunden absolvieren?

Die Tätigkeitsfelder können bei der Absolvierung von Praktika stark variieren: bergeweise Akten kopieren, Kaffee kochen, Telefonzentrale spielen, für Vorgesetzte Einkäufe tätigen oder Recherchen erledigen, um nur ein paar Beispiele zu nennen. Doch auch anspruchsvolle Positionen werden fallweise mit billigen PraktikantInnen besetzt, um etwa längere Krankenstände oder Karenzzeiten von MitarbeiterInnen zu überbrücken. So erlangt man mit Sicherheit wertvolle Berufserfahrungen, aber auch viel Stress um wenig Geld. Laut der psychologischen Studierendenberatung haben ca. ein Viertel aller Studierenden psychische Probleme wie Ängste, Depressionen und Krisen. Inwiefern hier ein Zusammenhang zwischen psychischen Erkrankungen und dem wachsenden Druck besteht, sei jetzt einmal dahingestellt. Doch der Studierenden-Sozialerhebung 2016 zufolge waren 61 Prozent der Studierenden auch unter dem Semester erwerbstätig, 18 Prozent davon sogar Vollzeit, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Von den Befragten gaben 54 Prozent an, Probleme dabei zu haben, Studium und Erwerbstätigkeit unter einen Hut zu bringen, und 26 Prozent waren stark von finanziellen Schwierigkeiten betroffen.

ARBEITEN ZUM NULLTARIF. Die traurige Wahrheit sieht zudem so aus, dass jede/r dritte Studierende zum Nulltarif arbeitet. Während der Verdienst bei SchülerInnen noch 68 Prozent des Anreizes ausmacht, sind es bei den Studierenden nur mehr ernüchternde 53 Prozent. Nur ein Drittel der Studierenden verdient bei Praktika mehr als 1.000 Euro und ein weiteres Drittel muss sich mit einem Gehalt von unter 800 Euro zufriedengeben.

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Auch in Bezug auf das Arbeitsverhältnis machen sich die ArbeitgeberInnen die Unwissenheit der jungen ArbeitnehmerInnen zum Vorteil. ArbeiterIn, Angestelle/r, DienstnehmerIn, freie/r DienstnehmerIn, Werkvertrag, Honorarnote – bitte was? Jeder Begriff steht für andere Rahmenbedingungen, Pflichten und Rechte, doch den Überblick zu behalten, fällt oft schwer. In der Regel lassen einem die Unternehmen ohnehin keine Wahl. Sollte es sich bei einem Praktikum aber um ein Arbeitsverhältnis handeln, kann auch im Nachhinein entsprechende Entlohnung bzw. die Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen erstritten werden. Es empfiehlt sich dabei bereits vor Antritt eines Praktikums oder kurz nach dessen Beendigung, juristische Beratung aufzusuchen, um Ansprüche abzuklären. Nützliche Informationen hierzu bieten unter anderem die Arbeiterkammer, das Sozialreferat der ÖH sowie die GPA-djp. Diese setzt sich für eine einheitliche Regelung von Pflichtpraktika in den Kollektivverträgen im Sinne fairerer Entlohnung und Arbeitsbedingungen für die PraktikantInnen ein.Auch ein Verbot von Praktika nach der Fach- bzw. Hochschulausbildung steht auf dem Programm! Allerdings sind diese Forderungen nur dann von Erfolg gekrönt, wenn sie von den Betroffenen mitgetragen werden.

SICH ZUR WEHR SETZEN. Doch was kann man tun, wenn man un(ter)- bezahlt ist, einen falschen Werkvertrag ausübt oder in die Scheinselbstständigkeit gedrängt wird? Welche Mittel und Wege stehen einem/einer zur Verfügung, um doch noch zu seinem/ ihem Recht zu kommen? Es wäre schön, wenn es jungen ArbeitnehmerInnen finanziell möglich wäre, solch fragwürdige Jobangebote ablehnen zu können. Da aber die meisten auf Geld und/oder Berufserfahrung angewiesen sind, muss man zu anderen Mitteln greifen. Neben teuren Rechtsschutzversicherungen gibt es die Möglichkeit, die Arbeiterkammer aufzusuchen oder Gewerkschaftsmitglied zu werden. Die GPA-djp bietet beispielsweise eine kostenlose individuelle Erstberatung an. Möchte man anonym Missstände in seinem Praktikum melden, kann man dies unter watchlist-praktikum.at tun. Diese Plattform leitet die Daten auf Wunsch der PraktikantInnen an die Gebietskrankenkassen weiter, die die Unternehmen dann gegebenenfalls einer Prüfung unterziehen. Auch Stelleninserate, die mit dem Titel Praktikum versehen sind und hinsichtlich Entlohnung, Versicherung und Arbeitszeit zweifelhaft erscheinen, können dort gemeldet werden.

Möchte man sich den Ärger ganz ersparen, ist es ratsam, auf schwarzesbrett.oeh.ac.at nach Jobs mit dem Gütesiegel Praktikum der ÖH Ausschau zu halten. Diese müssen bestimmte Kriterien erfüllen und achten beispielsweise auf eine gerechte Entlohnung, die Art der Anstellung und den Umfang. Zudem legt die ÖH Wert auf eine geschlechts- und nationalitätsneutrale Formulierung der Inserate. Egal, an welche der Stellen man sich am Ende des Tages wendet, fair statt prekär ist einfach besser.

Julia Coufal hat Deutsche Philologie an der Universität Wien studiert und ist Funktionärin in der GPA-djp-Jugend Wien.

Toastbrot und Champagner

  • 01.04.2013, 15:57

Berufe im künstlerischen und Medienbereich gelten als frei: Viele streben sie an, doch ökonomischen Erfolg haben nur wenige. Vom Kampf zwischen kreativer Selbstverwirklichung und finanzieller Selbsterhaltung.

Berufe im künstlerischen und Medienbereich gelten als frei: Viele streben sie an, doch ökonomischen Erfolg haben nur wenige. Vom Kampf zwischen kreativer Selbstverwirklichung und finanzieller Selbsterhaltung.

Heute Wien, morgen New York. Nächste Woche Shooting auf einer karibischen Insel. Freie Zeiteinteilung, keine Verpflichtungen und viel Geld. Und am Abend treffen sie die hippsten Leute auf verrückten Partys. Das Leben von FotografInnen scheint leicht und frei. Sarah Böswart ist Fotografin – aber ihr Leben sieht anders aus. Eigentlich hat sie alles richtig gemacht: Top Ausbildung, Praktika  und auch einige Preise hat sie gewonnen. Trotzdem findet die 23Jährige, wie viele andere in der sogenannten Kreativwirtschaft,  keine bezahlte Arbeit.

Viele junge Menschen wollen GrafikerInnen, FotografInnen oder JournalistInnen werden. Es sind die Vorstellungen eines  Easy-going-Lebensstils, von lockeren Hierarchien, flexiblen Arbeitszeiten und der Drang nach Selbstverwirklichung, die Leute in die  Kreativbranche ziehen. Dafür sind sie bereit, vieles zu opfern und einige Hürden zu nehmen. Und das, obwohl sie wissen, dass  sie damit niemals materiellen Reichtum anhäufen werden. „Arm, aber sexy“ – klingt verlockend, ist es aber nicht: Wie hart der Kampf  ums finanzielle Überleben in diesen Branchen ist, wird den meisten erst bewusst, wenn das Geld am Ende des Monats nicht mal mehr für das Notwendigste reicht.
Sahel Zarinfard ist Jungjournalistin des Jahres 2012 und gründete das Onlinemedium paroli. Foto: Johanna Rauch
Arbeit in der Freizeit. Böswart hat ein Mal in ihrer Karriere Glück gehabt: Sie bekam eine Stelle als freie Mitarbeiterin im Museum für  Moderne Kunst. Sie hat Fotos retouchiert, die Ausstellungsstücke fotografiert und die Bilder archiviert. „Wir hatten einmal  Originalnegative vom Aktionskünstler Günther Brus. Da hätte ich fast geweint vor Freude“, erzählt sie. Für Böswart war die Arbeit im  Museum ein Traumjob: „Ich würde es sofort wieder machen.“ Verdient hat sie für 20 bis 25 Arbeitsstunden in der Woche  durchschnittlich 340 Euro im Monat. Daneben hat sie ihre Ausbildung an der Graphischen abgeschlossen. Dort gilt  Anwesenheitspflicht. Die Jobs für das Museum hat sie am Abend erledigt. Weil sie  ihrer Familie nicht noch mehr auf der Tasche liegen wollte, pendelte sie jeden Tag von ihrem Elternhaus in St. Pölten nach Wien. Freizeit hatte sie keine. Sahel Zarinfards  Tagesablauf sieht ähnlich aus: Sie steht auf, arbeitet und geht schlafen. Wie viele Stunden die 24Jährige, die kürzlich zur  Jungjournalistin des Jahres gewählt wurde, tatsächlich recherchiert und an Texten schreibt, kann sie nicht sagen. Es sind aber sicher  mehr als 40. Früher hat sie Nebenjobs gemacht, um schreiben zu können. Heute kann sie ihr Leben durch ihre  journalistische Tätigkeit finanzieren. Zwar lebt sie immer noch in einer WG, hat kein Auto und fährt nur selten auf Urlaub – jeden Cent zweimal umdrehen muss sie aber nicht mehr: „Ich hätte mir nie gedacht, mit Schreiben überhaupt Geld verdienen zu können.“  Hauptsächlich stammt Zarinfards Einkommen von ihrer Tätigkeit als Pauschalistin beim Wirtschaftsmagazin cashflow. Inihrer  Freizeit widmet sie sich ihrem Herzensprojekt paroli. Gemeinsam mit vier anderen JungjournalistInnen hat sie das Onlinemedium im  März 2012 gegründet. „Wir wollen uns mit paroli austoben und es als Spielwiese für neue journalistische Formen nutzen“, sagt  sie.
„Viele KünstlerInnen genieren sich für ihre Nebenjobs“, sagt Peter Stoeckl, Assistenzprofessor an der Angewandten in Wien. Foto: Johanna Rauch
Angebot und Nachfrage? Mit einem künstlerischen Job überleben zu können, war nie einfach: „Musiker waren in keiner Epoche  begehrte Schwiegersöhne“, sagt Peter Stoeckl, Assistenzprofessor für Design, Grafik und Werbung an der Angewandten in Wien.  Zuerst arbeiteten KünstlerInnen als ErfüllungsgehilfInnen des Adels. Den HofmalerInnen und -musikerInnen ging es gut, alle  anderen konnten kaum überleben. Mit der Aufklärung kam der Kunst zunehmend die Aufgabe zu, die Herrschenden kritisch zu  hinterfragen – auch damit ließ sich nicht gut Geld verdienen. Und heute? Heute lässt sich das Problem auf eine Grundregel der  Wirtschaft herunterbrechen – auf Angebot und Nachfrage. Weil es so viele GrafikerInnen, FotografInnen und JournalistInnen ibt,  drückt der Konkurrenzkampf die Preise für die Kreativarbeit. „Viele werden über einen Hungerlohn nie hinauskommen. Nur einige  wenige werden sich durchsetzen“, erklärt Stoeckl. Einige dieser Berufe sind zusätzlich von der fortschreitenden Digitalisierung betroffen. Früher waren FotografInnen TechnikerInnen – ohne Fachwissen in der Chemie und teure Geräte war es nicht möglich, ein  Foto auf Papier zu bringen. Im Jahr 1888 erfand Kodak die Kamera für „jedermann“ und warb mit dem Slogan „You press the button,  we do the rest“. „Seit damals geht es mit den Fotohonoraren bergab“, sagt Stoeckl. Sich als FotografIn sein Brot zu verdienen, ist  schwieriger geworden; fast alle brauchen zusätzlich Nebenjobs. Aber auch das ist nichts Neues – schon immer haben sich  KünstlerInnen ihre Leidenschaft mit anderer Arbeit finanziert. In den USA sei es laut Stoeckl ganz normal, dass TänzerInnen  nebenbei Taxi fahren und FotografInnen kellnern, um über die Runden zu kommen. „Es scheint mir ein speziell mitteleuropäisches  Phänomen, dass sich KünstlerInnen für ihre Nebenjobs genieren. Für mich hat das nichts Verwerfliches.“

Bei paroli gehe es laut Zarinfard auch nicht primär ums Geld. Es gehe darum, Mut zu beweisen und etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Darum, unabhängig zu sein. Trotzdem gibt sie zu, dass das hohe Arbeitspensum ihre Freizeit einschränkt und an der Substanz zehrt. Sie muss viel für die Verwirklichung ihres Traums opfern. Ausgebeutet fühlt sie sich dennoch nicht: „Ich bin gerne  Journalistin und sehe die Arbeit nicht als Belastung.“ Böswart geht es anders. Sie ist das prekäre Leben leid. Sie will nicht mehr  erschöpft nach Hause kommen, ohne zu wissen, ob sie jemals mit dieser Arbeit ihr Leben bestreiten wird können. Investiert hat sie  genug: Zeit in ihre Ausbildung, Herzblut in ihre Leidenschaft, die Fotografie, und viel Geld in ihr Equipment. 6000 Euro hat ihre  Kamera mit Objektiven gekostet; dafür hat sie ihren Bausparer aufgelöst. Einkünfte konnte sie daraus fast keine generieren: „Alle  um mich herum haben etwas weitergebracht und ich habe trotz Ausbildung und einer 6000 Euro teuren Kamera nichts geschafft. Ich  habe das Gefühl, als hätte ich meine ganze Kreativität  ausgekotzt.“ Heute will Böswart nicht mehr von der Fotografie leben: Sie  will nicht ihre eigene Chefin sein, wenn das bedeutet, sich gnadenlos selbst ausbeuten zu müssen, um irgendwie durchzukommen.

Fassade vs. Realität. Dennoch wählen viele junge Leute dieses prekäre Leben und gehen das Risiko der Armut ein. Denn das  Prekariat des Künstlers und der Künstlerin unterscheidet sich deutlich von der Armut des Bettlers und der Bettlerin, wie die  Schriftstellerin Katja Kullman in ihrem Buch Echtleben beschreibt: Sie erklärt, wie man sich möglichst lange von einer Packung  Toastbrot ernährt, um Geld zu sparen. Dieses wird dann beim Feiern mit FreundInnen hinausgeworfen, um die soziale Fassade  aufrechtzuerhalten. „KünstlerInnen gehen im Gegensatz zu BettlerInnen einer Tätigkeit nach, für die es Anerkennung gibt – sei es  auch nur von wenigen. Sie können sich selbstverwirklichen“, erklärt Stoeckl. Auf einer Party sind FotografInnen und MusikerInnen  eben angesagter als HilfsbuchhalterInnen – auch, wenn sie nicht davon leben können.

Aber lohnt es sich überhaupt, Geld in die  universitäre Ausbildung von Leuten zu investieren, die am Ende ohne Mindestsicherung nicht überleben können? Bis zum  Studienabschluss kostet einE StudentIn den Staat laut Universitätsbericht 2011
im Schnitt 106.788 Euro. Universitäten sind eben ildungseinrichtungen und keine Ausbildungseinrichtungen,  sagt Stoeckl: „Sonst könnten sie ja Orchideenfächer wie Ägyptologie auch niemals rechtfertigen. Sie werden gelehrt, weil Interesse daran besteht und  nicht, weil es so einen großen Bedarf gibt. Das entspricht nicht unserem Universitätssystem.“ Dass an den Kunstunis und in den kreativen Ausbildungen etwas falsch läuft, streitet er aber nicht ab. Das hat auch Böswart zu spüren bekommen: „Sie hoffen halt  jedes Jahr, dass der/ die Eine dabei ist, der/die sich durchsetzen wird“, sagt sie. Den Abschluss absolvieren in der Fotografieklasse der Graphischen aber jedes Jahr rund 30 AbsolventInnen.

Von den Studierenden wird erwartet, möglichst einzigartig und elitär zu wirken. Wer sich beispielsweise der Wirtschaft „anbiedert“  und statt abstrakten Kunstwerken, für die er/sie zwar künstlerische Anerkennung, aber kein Geld erntet, Porträts malt, um seinen/ihren Lebensunterhalt zu verdienen, wird an den Kunstunis Spott ernten. „Dabei sagen einige LehrerInnen bei uns selbst, dass sie nur unterrichten, weil sie von ihrer Kunst nicht leben können“, erzählt Böswart. Solidarität und einzelinteressen. Außerdem fördert das Eliten-Denken den Konkurrenzdruck: JedeR will besser als der/die andere sein, keineR will seinen/ihren Erfolg teilen.  Dabei wäre es aus Stoeckls Sicht das Wichtigste, zusammenzuarbeiten: „Wenn sich einE WerberIn, einE GrafikerIn und einE  FotografIn zusammentun, können sie größere Aufträge annehmen und sind psychisch viel stabiler.“ Diese Solidarität fehlt aber in  vielen Kunstund Medienbereichen. Manchmal aber besiegt der  Unmut die konträren Einzelinteressen: So haben Zarinfard und ihre KollegInnen zum Start von paroli in einem offenen Brief die prekären Arbeitsbedingungen von jungen JournalistInnen angeprangert und damit für Aufsehen gesorgt: Der Brief wurde von rund 800 UnterstützerInnen unterzeichnet. Man  wollte aufzeigen, dass  ArbeitgeberInnen heranwachsende JournalistInnen benachteiligen und ihnen den Einstieg ins Berufleben erschweren. Dabei handle es sich laut Zarinfard um ein System- und nicht bloß um ein Individualproblem. Als Reaktion auf den Brief folgten Gespräche mit  der Gewerkschaft und dem Verband Österreichischer Zeitungsverleger (VÖZ), die in eine öffentliche Podiumsdiskussion mündeten. 

Die Chancen, dass sich die Situation verbessert, schätzt Zarinfard trotzdem gering ein. „Ich denke, dass es nun ein   Problembewusstsein in den Chefetagen gibt, ein wirkliches Interesse, etwas zu ändern, aber nicht.“ Jedenfalls hat die Aktion  bewiesen, dass das kollektive Prekariat mehr Aufsehen erzeugt als das für die Kreativjobs symptomatische EinzelkämpferInnentum. 

„Das ist dann keine Kunst mehr“

  • 01.04.2013, 14:29

DJ und Produzentin Joyce Muniz, Sängerin Katie Trenk (Sex Jams) und Labelgründer Martin Unterlechner (DuzzDownSan) haben einen Nachmittag zusammen verbracht und über Kreativität, Schaffensdruck und die österreichische Musiklandschaft diskutiert. progress war mit dabei.

DJ und Produzentin Joyce Muniz, Sängerin Katie Trenk (Sex Jams) und Labelgründer Martin Unterlechner (DuzzDownSan) haben einen Nachmittag zusammen verbracht und über Kreativität, Schaffensdruck und die österreichische Musiklandschaft diskutiert. progress war mit dabei.

progress: In den 70er Jahren meinte Joseph Beuys, dass jeder Künstler sein kann, der will. Der Kreativitätsbegriff erfuhr damit eine starke Aufwertung. In den 80ern galt Kreativität als Ausbruch aus der Arbeitsroutine und dem Stumpfsinn des Alltags. Inzwischen werden wir beim Arbeiten ständig aufgefordert, möglichst kreativ zu sein. Kann sich Kreativität unter Druck überhaupt entfalten? Wie geht ihr als MusikerInnen damit um?

Joyce: Druck kann sehr produktiv sein. Manchmal brauche ich monatelang für einen Remix und eine Woche vor der Deadline kommt  dann plötzlich etwas Cooles raus. Der Druck Geld zu verdienen, ist aber trotzdem schlimm. Ich hab immer neben meiner Musik gearbeitet, irgendwann hat sich dann mein Hobby zum Beruf entwickelt. Als das passiert ist, hat sich aber schon etwas verändert in meinem Leben.

Inwiefern hat sich dein Leben verändert?

Joyce: Ich habe bemerkt, dass ich mich selbst unter Druck setzen und sehr organisiert sein muss, wenn ich kontinuierlich Geld verdienen will. Der Druck, Geld zu verdienen, war aber, denke ich, schon immer da. Für mich ist es wichtig, die goldene Mitte zu finden: Wenn gerade nichts da ist, auch ohne miese Jobs überleben zu können.

Martin: Es wäre wohl kontraproduktiv, wenn das Geldverdienen eine große Rolle bei DuzzDownSan spielen würde. Dann müsste man natürlich auch Kompromisse eingehen und hätte mehr Druck. In unserer Situation können  wir kreativ sein, ohne Konsequenzen. Da ist die Freiheit, keine Erwartungen berücksichtigen zu müssen. In der Arbeitswelt hat man oft mit einer anderen Form von Kreativität  zu tun. Denn dort schleichen sich oft Dinge ein, die mit Kreativität nicht mehr wirklich viel zu tun haben. In vielen Situationen, in denen man unter Druck an was arbeitet, überschlagen sich zu Beginn die Ideen, wenn dann Geld und Zeit als zwei  kritische Faktoren hinzukommen, werden diese aber ausgehöhlt. Das ist dann eben eine Zweckkreativität, bei der auch meist nichts  tolles entsteht.

Katie: Ich denke, entweder man ist  Künstler oder eben nicht. Dagegen kann man sich nicht wehren und das kann man auch nicht  lernen. Mit Sex Jams sind wir zu fünft in der Noise- Pop-Szene unterwegs. Wir bekommen viele und gute Reviews, wir spielen Live-Shows und es läuft eigentlich gerade sehr gut für uns. Aber es wird trotzdem nie so sein, dass wir alle davon leben können. Ich  war vor zwei Jahren in einer Phase, in der ich mich gegen Druck, produktiv sein zu müssen, wehrte. Ich fragte mich, woher der  Druck kommt und ob es das wirklich ist, was ich will.

Joyce: Ja, das, was dabei herauskommt, ist oft keine Kunst mehr.

Katie: Genau, sondern ein Scheiß- Job. Ich bin nicht im Proberaum und will einen Hit nach dem anderen hinauswerfen, ich will Triebe  verarbeiten und ausdrücken. Die Band steht bei uns an erster Stelle. Wir haben alle unsere Brotjobs, die flexibel sind, sonst  würde das auch nicht funktionieren. Wenn ich darauf aus wäre,schnell und viel Geld zu verdienen, dann würde ich wohl auch andere Musik machen. Etwas Elektronisches zum Beispiel. Bei Sex Jams kann ich es mir aber dafür leisten, mit Absicht falsch zu singen, das  geht bei anderen Sachen dann nicht.
Foto: Christopher Glanzl
Joyce: Ich habe viel in meinem Leben aufgegeben für meine große Liebe, die Musik. Ich kann jetzt wirklich stolz sagen, dass ich  davon leben kann. Ich weiß das auch zu schätzen, weil viele Musiker das eben nicht können. Ich opfere nach wie vor sehr viel dafür.  Das ist etwas, das man von außen vielleicht nicht sieht.

Wie schwierig hat man es als Frau in dieser Szene?

Joyce: Die Techno- und House-Szene wird nach wie vor von Männern kontrolliert. Es gibt sehr wenige Frauen, dafür dass es so viele  DJs gibt. Das Business ist schon sehr hart. Mir wurde oft die Tür vor der Nase zugeschlagen. Mittlerweile gibt es aber sehr viele Frauen, die präsent und erfolgreich sind. In den letzten zehn Jahren hat sich das stärker ausgeglichen.Katie: Ja, das zieht sich  durch alle Bereiche.

Martin: Mädchen sind schneller abgeschreckt. Da ist einfach eine andere Hemmschwelle in Bezug auf Technik vorhanden. Der Sound  ener Mädels, die produzieren, hat jedoch etwas sehr Intuitives und Organisches. Auch beim Auflegen sieht man das: Die  besten Techno-DJs, die ich bisher erlebt habe, waren Frauen. Man hat also auch Chancen und kann davon profitieren.

Wie steht es  2013 um Österreichs Kreativ- und Musiklandschaft? Da hört man ja oft viel Negatives – zu Recht?

Martin: Ich denke, es braucht hierzulande sehr viel Bestätigung von außen. Sobald jemand von außen sagt, „das ist cool, was du machst“, wird deine Kreativität ganz anders wertgeschätzt. Nehmen wir zum Beispiel Dorian Concept: Als Gilles Peterson gesagt hat, dass er dope ist, sind alle auf den Hype aufgesprungen und er wurde auch hier gefeiert.

Joyce: Österreich hat sehr viele kreative Leute. Das Problem ist, dass es keinen starken Markt mehr gibt. Es ist traurig, dass hier  super Künstler leben, aber kaum ein eigener Support existiert. Als österreichischer Künstler kannst du nur weiterkommen, wenn das Label gute Kontakte zu Deutschland oder England hat. Und die sind total beschäftigt mit ihren eigenenMusikern. Wien ist eine tolle  Stadt, aber wir können uns als Künstler hier schwer entfalten. Wenn du aber in Österreich beim Publikum gut ankommst, dann hast  du international große Chancen, weil die Leute hier sehr kritisch sind: Wenn sie etwas Neues hören, sagen sie selten „Leiwand, super!“, sondern „Ja, schau ma mal“. In den USA oder Großbritannien heißt es hingegen gleich einmal „amazing“ oder „dope shit!“.

Martin: Glaubst du nicht, dass das bei uns noch einmal verschärft ist, weil es hier einfach so einen kulturellen Minderwertigkeitskomplex gibt?

Joyce: Jeder Künstler hat das mit seiner Stadt oder seinem Land. Dieses Verhältnis zu den „Locals“ gibt’s auch in Sao Paulo, New York oder Berlin. Man gibt eben erst etwas einen Wert, wenn man es verloren hat. Etwa wenn sie sehen, dass du international  erfolgreich bist. Man merkt, dass die Leute zuhause dann plötzlich wieder mehr Lust auf dich haben.

Das heißt, für KünstlerInnen ist das Publikum vor der eigenen Haustüre die wirkliche Nagelprobe?

Katie: Es herrscht hier eine Scheuklappenmentalität vor. Das war ja in Österreich schon immer so, vom Theater bis hin zur Musik, beachtet wurde man doch oft erst, wenn man schon tot war. Sex Jams bewegt sichin einem Genre, das nicht so groß ist. Es wäre also sehr stumpfsinnig, nur in Österreich bleiben zu wollen. Du hast schnell alles hier leer gespielt und unser Sound ist auch eher international. Auf unserem Label Siluh Records sammeln sich auch internationale Künstler wie etwa Mozes and The Firstborn.

Martin: Wobei es eigentlich schon wieder gut für die Kreativität ist, dass der Markt hier so klein ist. Man kann das Geschäft mit  Musik hier so stark vernachlässigen, dass jeder eine geringere Hemmschwelle hat, sich in einer Form auszudrücken, die nicht auf Kommerzialisierung abzielt.

Joyce: Es gibt hier eine starke Undergroundszene. Ich bin immer wieder erstaunt, wie viele gute Leute es hier gibt – auf so kleinem Raum. Der Underground kann dich hier aber auch schnell verschlucken. Wien hat zum Beispiel eine eigene Energie, was das betrifft.  Man vergisst schnell, sich mit der Außenwelt zu verbinden. Viele Leute bleiben da hängen. Entweder du bist präsent, oder eben gar  nicht. Ich versuche deswegen die Mitte zu halten, einmal hier, dann wieder weg.

Martin: Es fehlt hier einfach auch an gegenseitigem Support.

Joyce: Ja, und früher gab es mehr Crews und coole Labels, mit eigenem Sound, wie zum Beispiel G-Stone, Klein Records oder Vienna Scientists. Die hatten international auch viel mitzureden. Es gibt auch jetzt ein paar tolle Labels, wie etwa Affine Records, Luv Shak  oder Schönbrunner Perlen. Aber im Großen und Ganzen hat man hier einfach nicht so viele Chancen.

Sind Marketing und Kunst für  euch klar getrennte Bereiche?

Katie: Hm, ich bin immer skeptisch, wenn Künstler anfangen, von Selbstmanagement zu reden. Es wird natürlich nicht passieren,  dass irgendwer in deinen Proberaum kommt und dich entdeckt, aber ich sehe das Management trotzdem nicht als meine Aufgabe. Joyce: Klar, ich denke, es gibt wenige Künstler, die sich selbst verkaufen können. Die, die das können, sind dann schnell keine  Künstler mehr, weil sie dann so damit beschäftigt sind, sich zu vermarkten. Ich kenne viele Musiker, die sehr belastet sind, weil sie  alles selber machen wollen: Marketing, Labelarbeit, Releases und so weiter. Das geht aber oft in die Hose. Da sind so viele  Emotionen und Erwartungen da, die im Business nichts verloren haben. Das frustriert dich dann total, wenn’s nicht gut läuft. Kunst  und Marketing müssen getrennt sein. Das ist ganz wichtig, denke ich.

Katie Trenk ist Sängerin der Band Sex Jams, die mit ihrem ersten Album „Post Teenage Shine“ bekannt wurde. Seitdem gilt die  fünfköpfige Formation als österreichische Noise-Pop- Hoffnung. Sex Jams haben soeben ihr Zweitwerk „Trouble honey“ auf Siluh Records und Noise Appeal Records released. Auf Seite 33 findest du eine Plattenkritik on „Trouble honey“.

Martin Unterlechner, auch bekannt als Mosch, hat 2008 das Label DuzzDownSan ins Leben gerufen. Es zählt mittlerweile zu den wichtigsten Raplabels Österreichs. Nebenher ist er als Rapper und Produzent unterwegs – sein Album „Metamorphosis as a  Metaphor“ erschien jüngst auf DuzzDownSan.

Joyce Muniz ist DJ, Produzentin und Vokalistin mit brasilianischen Wurzeln und hat sich in den letzten Jahren nicht nur in Österreich, sondern auch international in der House- und Techno-Szene einen Namen gemacht. Soeben ist ihr neuer Release „Trust  your Enemies“ am Berliner Label Exploited Records erschienen.

Hard Way to make an Easy Living

  • 31.03.2013, 23:20

Über Poker wird oft gesagt, es wäre eine anstrengende Art, sich ein einfaches Leben zu machen. Etwas ganz Ähnliches ließe sich über den reativbereich sagen.

Über Poker wird oft gesagt, es wäre eine anstrengende Art, sich ein einfaches Leben zu machen. Etwas ganz Ähnliches ließe sich über  den Kreativbereich sagen.

Alle ernsthaften Pokerspielerinnen wissen, dass sie ihr Spiel mit Disziplin und Ausdauer betreiben müssen, um erfolgreich zu sein.  Dennoch treibt viele der Traum an, vom Spielen leben zu können. Also von einer Tätigkeit, die im Grunde doch keine „richtige“ Arbeit ist, auch wenn ihr mit mehr Fleiß und Verbissenheit nachgegangen wird, als sie die meisten anderen Jobs erfordern. Es ist  eben ein Traum und nicht einfach Mittel zum Zweck. Poker ist aber nicht der einzige Bereich, auf den diese Diagnose zutrifft: Menschen wollen auch Journalistinnen werden, Künstlerinnen, Designerinnen; sie wollen sich kreativ betätigen, ihre Idee vom  eigenen Geschäft oder Restaurant verwirklichen. Sie träumen davon, von ihrer Leidenschaft leben zu können und sind bereit, dafür  einiges in Kauf zu nehmen.

San Precaria. Das Prekariat ist mittlerweile in aller Munde. Es hat sich herumgesprochen, dass sich die Arbeitsformen transformieren  und immer weniger Menschen in stabilen, vertraglich langfristig geregelten Verhältnissen beschäftigt sind. Auch in  linken Debatten hat sich der Fokus vom Proletariat auf das Prekariat verschoben. Damit einher geht auch eine Verschiebung von der  Betrachtung der kapitalistischen Produktionsweise als ganze zur Betrachtung der wechselnden Arbeitsbedingungen innerhalb  des Kapitalismus. War das Proletariat noch eine Bestimmung der grundsätzlichen Lage von Menschen im Produktionsprozess, meint  das sogenannte Prekariat eine sehr heterogene Gruppe, die das Leben unter ungewissen Verhältnissen gemeinsam hat. Die junge  selbstständige Architektin oder die angehende Künstlerin lebt scheinbar genauso prekär wie die Fließbandarbeiterin, die womöglich  umziehen muss, um einen Job zu finden, von dem sie nicht einmal sicher weiß, wie lange sie ihn behalten wird. Bei letzterer ist  übrigens einigermaßen verständlich, warum sie bereit ist, unsägliche Schikanen auf sich zu nehmen: Es bleibt ihr nicht viel übrig.  Wie verhält es sich aber in jenen Bereichen, von denen eigentlich alle wissen, dass ökonomisch nicht viel zu holen ist und in denen  sich dennoch Horden junger gut ausgebildeter  Menschen finden, die bereit sind, für die Chance auf eine mögliche Karriere ein  schlecht oder gar nicht bezahltes Praktikum nach dem anderen zu absolvieren? Sie bilden eine Art Wohlstandsprekariat und  konkurrieren um Stipendien, Beihilfen und Ausbildungsplätze, in der Hoffnung, einmal ihre Brötchen mit etwas Interessantem zu  verdienen.

Privilegien. Dieses Prekariat der Studierenden und Jungabsolventinnen ist in der eigentümlichen Situation, von einem Projekt zum  ächsten zu hetzen, einen Förderantrag nach dem anderen auszufüllen und Zertifikate zu sammeln, die sich im Lebenslauf gut  machen, aber dabei nichts zu verdienen, sondern sich vielmehr mit Hilfe von Reserven oder versteckten Einkünften über Wasser  halten zu müssen. Teilweise sind sich diese Prekären ihrer Einkünfte nicht einmal völlig bewusst. Vielleicht arbeiten sie sogar und  finanzieren sich selbst, leben aber in der günstigen Eigentumswohnung von Verwandten, bekommen immer wieder Geldgeschenke  oder werden auf Urlaube eingeladen. Und selbst wenn all dies nicht zutrifft, sind sie oft in der angenehmen Lage, einfach zu wissen,  dass sie einen Rückhalt haben, falls es hart auf hart kommt. Ihre prekäre Lage ist deshalb auch abenteuerlich und  zumindest eine Zeit lang durchaus erträglich. Das vergegenwärtigt, wieso vielen ein unbezahltes Praktikum als normaler Schritt auf  der Karriereleiter erscheint, oder warum es vielen nicht widerstrebt, Projekte, von deren Wichtigkeit sie im Grunde nur halbherzig  überzeugt sind, unentgeltlich auf die Beine zu stellen. Wir sind alle Individuen. „Ich nicht“, antwortet ein Statist in Monty Pythons  Das  Leben desBrian und stört die Menschenmenge, die im Chor einstimmig ihre Verschiedenheit bekundet. Sicher ist es auch ein Wunsch nach Selbstverwirklichung: danach, mit dem Leben etwas Besonderes anzufangen, der alle in dieselben prekären Berufe  drängt.

Die meisten wollen ja doch nicht leidenschaftlich Zahnärztin oder Mechanikerin werden, sondern Stars, Künstlerinnen, Profi- Gamerinnen. Sie strömen in Felder, in denen zu arbeiten mehr als einen Job bedeutet, mehr als ein Mittel, Geld zu verdienen. Es geht  darum, einen Traum zu verwirklichen und sich in einem umkämpften Bereich zu behaupten. Letztlich darum, etwas Besonderes zu  sein. Die Wohlstandsprekären machen mit, weil sie sagen wollen: „Ich bin Designerin“ oder „Ich kann von meiner Kunst leben“. Und  weil sie die Vorstellung, einen dieser normalen Jobs, die anstrengend sind, aber sein müssen, verständlicherweise abschreckt. Eine  Musikerin in einer Talk-Show meinte einmal, sie hätte hart an ihrem Album gearbeitet, aber sie wäre dankbar, keinen „richtigen Job“  machen zu müssen. Irgendwie nachvollziehbar. Es ist, wie Dolly Parton singt: „Working nine to five – what a way to make a livin’.“ Zweierlei Elend. Natürlich sind die Bedingungen, unter denen viele ihrem wahren Selbst nachhetzen, wirklich elendig – und die Kritik  daran notwendig und begrüßenswert. Auch wenn es nicht überrascht, dass sie reichlich artikuliert wird, betrifft sie doch  gerade jene, die im Kulturbereich, im Fernsehen und bei Radios tätig sind. Immerhin zeigen sie sich üblicherweise solidarisch mit  jenen, denen es noch mieser geht und deren Zugang zu Artikulationsmöglichkeiten begrenzter ist.

Es gibt nämlich noch ein anderes Prekariat. Viele Menschen haben keine Wahl, weil sie nichts haben. Ihnen bleibt nichts übrig, als  jeden Job anzunehmen, wo er auch sein mag, und noch die schikanösesten Arbeitsbedingungen zu ertragen. Diese Prekären gibt es  hierzulande und es gibt sie anderswo; dort geht es ihnen vielleicht noch schlechter. Dieses Phänomen ist nicht neu, es existiert, seit  es Kapitalismus gibt. Wer nichts hat, muss die eigene Haut verkaufen. Neu ist nur, dass Akademikerinnen  icht automatisch  mit einem sicheren Platz im Verwaltungsapparat des Elends belohnt werden. Und vielleicht war auch das nie wirklich ganz so  einfach. Die Gesellschaft transformiert sich also – und bleibt sich doch gleich.

Kein Geld, kein Job. Ist das Wissenschaft?

  • 26.03.2013, 23:12

Neugier und Passion, Begabung und Mut – diese Eigenschaften werden als ideale Voraussetzung für eine wissenschaftliche Laufbahn gehandelt. Entmutigt werden junge WissenschafterInnen trotzdem an allen Ecken und Enden.

Neugier und Passion, Begabung und Mut – diese Eigenschaften werden als ideale Voraussetzung für eine wissenschaftliche Laufbahn gehandelt. Entmutigt werden junge WissenschafterInnen trotzdem an allen Ecken und Enden.

Klara* kocht Kaffee. Sie ist müde: „Ich habe bis spät in die Nacht gearbeitet.“ Neben ihrem Schreibtisch in ihrem WG-Zimmer in einer geräumigen Wiener Altbauwohnung liegt eine dicke Mappe, auf der in glänzenden Lettern groß PHD steht. Letztes Jahr hat Klara, wie unzählige andere Studierende, unter dem Druck auslaufender Diplomstudienpläne, ein sozialwissenschaftliches Studium an der Universität Wien abgeschlossen und stand damit vor der Frage: „Was nun?“ PhD lautete in Klaras Fall vorerst die Antwort, die ihr  selbst noch nicht so ganz geheuer ist.

„Insgesamt sind die Aussichten alles andere als gut“, konstatierte der Präsident des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF), Christoph Kratky, letztes Jahr bei den konservativen Alpbacher Technologiegesprächen in Bezug auf  wissenschaftliche Karrieren. Ein Jahr zuvor hatte der Chemiker seinem Sohn öffentlich davon abgeraten, eine wissenschaftliche Laufbahn einzuschlagen. Unsicherheit ist der wissenschaftlichen Praxis grundsätzlich inhärent, weil Fragen gestellt werden, ohne zu wissen, wohin die Suche nach Antworten führt. In den letzten Jahren hat jedoch eine andere, sehr konkrete Form der Unsicherheit Einzug in das Leben vieler Forschender und Lehrender, und jener, die es noch werden wollen, genommen. Im Allgemeinen sei die Wissenschaftslandschaft in Österreich heute davon geprägt, dass die Universitäten im Zuge ihrer Autonomisierung zu selbstständigen Einheiten wurden, „die miteinander in Wettbewerb stehen, die sich rechtfertigen müssen, was sie mit ihrem Geld machen, Erfolge messbar machen und Pläne vorlegen müssen“, erklärt die Wissenschaftsforscherin Ruth Müller im progress- Gespräch: „Und das hat maßgebliche Konsequenzen auf allen Ebenen der Wissensproduktion.“ Die unternehmerische Universität braucht Maßstäbe für Erfolg und Exzellenz und soll gleichzeitig angesichts ihrer Unterfinanzierung sparen: Das Lukrieren von Drittmitteln, quantifizierbare Forschungsergebnisse wie Publikationszahlen, Projektarbeit und befristete Arbeitsverträge wurden zu  euen  Paradigmen des akademischen Feldes.

Konkurrenz. Wer heute in die Wissenschaft geht, setzt sich einer verschärften Konkurrenz um Publikationen, Förderungen sowie eine  schwindende Anzahl guter und sicherer Posten aus – ein System, das unweigerlich eine beträchtliche Anzahl an  NachwuchswissenschafterInnen früher oder später über den Rand fallen lässt. Nichtsdestotrotz versuchen junge Menschen mit  vielfältigen Motiven und Interessen in der Wissenschaft Fuß zu fassen und wagen damit einen Schritt auf unsicheres Terrain. „Ich  wollte eigentlich nicht Dissertation schreiben“, sagt Klara: „Nochmal vier Jahre allein im Kammerl zu sitzen und vor mich hin zu  schreiben, darauf hatte ich zumindest unmittelbar jetzt keine Lust. Außerdem war ich mir total unsicher, ob ich überhaupt in diesen Wissenschaftsapparat einsteigen möchte.“
Pauline zog für eine PhD-Stelle von Paris nach Wien und sieht ihre Dissertation als gute Überleitung zwischen Studium und Arbeit. Foto: Johanna Rauch
Denn das Leben als Jungwissenschafterin sei kein rosiges. Es werde im Allgemeinen  „komplette Hingabe“ erwartet, so Klara: „Also Wissenschaft – das ist kein Job, das ist ein Leben. Und das macht mir eben auch so Angst. Es wird erwartet, dass du außerhalb der Arbeitszeiten arbeitest, dass du ständig publizierst, und zwar bei schlechter Bezahlung. Es wird erwartet, dass man sich selbst ausbeutet.“ Die andere Seite der Medaille ist  für Klara jedoch die Freude an der wissenschaftlichen Tätigkeit: „In verschiedene Lebenswelten einzutauchen und zu versuchen, sie zu verstehen, macht mir Spaß. Und Forschung ist für mich ein bisschen wie ein  Puzzle – aus vielen kleinen Teilen entsteht ein größeres Ganzes und den Bildern und Geschichten wird damit Sinn gegeben.“

Damit verbindet sie auch einen politischen Anspruch: „Ich möchte Fragen stellen, die eine politische Relevanz haben.“ Und Klaras Diplomarbeitsbetreuerin hat ihr schließlich ein Angebot gemacht, zu dem sie sagt: „Ich hatte das Gefühl: Ich kann das jetzt nicht ablehnen.“

Unsichere Verhältnisse. Deshalb arbeitet Klara nun gemeinsam mit Kolleginnen an einem Antrag für ein Forschungsprojekt, in dessen Rahmen sie ihre  Dissertation schreiben möchte. Das bedeutet mehrere Monate intensiver Arbeit an der Entwicklung einer innovativen Fragestellung, was sich immer wieder anfühle, als müsse man „das Rad neu erfinden“. Das bedeutet auch ein Jahr finanzieller und persönlicher Unsicherheit und neben dem Gefühl, eine große Chance bekommen zu haben, stehen immer wieder auch Zweifel und Ängste: „Einerseits hängt über allem dieses Projekt ‚Dissertation’ und andererseits kein Geld, kein Job, unsichere Zukunft, kein geregelter Tagesablauf – das macht es schwierig, sich immer wieder selbst zu motivieren.“ Bis zu einer Entscheidung, ob das Projekt finanziert wird, kann noch ein halbes Jahr vergehen, das Klara mit unbezahlten Praktika und kleineren Jobs zu überbrücken versucht.

Um ähnlichen Herausforderungen aus dem Weg zu gehen und keine Zeit zu verlieren, hat sich Pauline im Unterschied zu Klara bewusst gegen eine Mitarbeit an der Entwicklung und Beantragung eines Forschungsprojekts entschieden, bevor daraus –  „eventuell“ – die Möglichkeit einer Finanzierung für eine Dissertation erwächst. Pauline hatte allerdings auch die Wahl und nach anfänglichen Zweifeln den Eindruck, dass „alle Türen offen stehen“: Als Abgängerin einer angesehenen und höchst selektiven  französischen IngenieurInnenschule und Absolventin einer Disziplin, die nicht als Massenfach charakterisiert werden kann, hat die damals 22jährige Diplom-Ingenieurin und Expertin für Holz gerade einmal eineinhalb Monate lang nach einer PhD-Stelle gesucht.

Dann hatte sie zwei Stellenangebote  im deutschsprachigen Raum. Sie zog von Paris nach Wien um, trat eine durch Drittmittel  finanzierte PhD-Stelle in einem Projekt an der BOKU an und war zunächst verwundert, dass hier alle große Augen machten, wenn sie  ihr Alter und ihre Arbeit in einem Atemzug erwähnte: „In meinem Umfeld in Frankreich ist das nicht außergewöhnlich.“ Wie das geht?  Nach dem Baccalauréat – der französischen Matura – mit 17 oder 18, zwei harte Jahre „classe préparatoire“, dann drei Jahre in der IngenieurInnenschule, die Pauline im Vergleich dazu dann weitgehend wie ein Spaziergang erschienen sind. „Die Dissertation ist für mich jetzt schließlich eine gute Überleitung zwischen dem Studium und der Arbeit. Schließlich lernt man weiterhin und fängt  gleichzeitig an zu arbeiten.“ Aus einem massiv verschulten System kommend, ist es Pauline primär wichtig, im Rahmen ihrer  Dissertation zu lernen, selbstständig zu arbeiten.

So beschäftigt sich Pauline nun seit einem halben Jahr mit der Entwicklung nachhaltiger Alternativen zu Plastik, lernt immer besser  Deutsch und hatte bisher das Gefühl unter guten Bedingungen zu arbeiten: keine unentgeltliche Arbeit in der Freizeit, gute  Bezahlung und eine kollegiale Atmosphäre. Das klingt zunächst nach der Realisierung des Traumes von Effizienz und Zielstrebigkeit im Rahmen innovativer und anwendungsorientierter Forschung – dabei scheint es allen Beteiligten zunächst gut zu gehen. Man  könnte meinen, von Klaras Erfahrungen und Einschätzungen sei Paulines Situation weit entfernt. Und dennoch ist die Prekarität vor  kurzem auch Teil von Paulines persönlichem und professionellem Horizont geworden. Denn das Unternehmen, mit dem Pauline im   Rahmen ihres PhD-Projekts zusammengearbeitet hat, ist in Konkurs gegangen. Ende September hätte ihr Vertrag für ein weiteres Jahr verlängert werden sollen – nun ist unklar, wie das finanzierbar sein soll. Somit wird Pauline letztlich wohl doch nicht umhinkommen, entweder Projektanträge zu schreiben und Fördermittel zu lukrieren oder von neuem umzuziehen und sich in ein neues Thema einzuarbeiten.
„Universitäten stehen miteinander im Wettbewerb, müssen Pläne vorlegen und Erfolge messbar machen“, kritisiert die Wissenschaftsforscherin Ruth Müller. Credit: Johanna Rauch
Destruktive Dynamik. Dass solch unsichere Verhältnisse einerseits die Betroffenen massivem Druck und Stress aussetzen, und andererseits auch mit epistemischen und sozialen Konsequenzen einhergehen, die durchaus auch guter, innovativer und kritischer  Wissenschaft im Wege stehen, betont Müller. Im Zuge ihrer Dissertation im Rahmen des Projekts Living Changes in the Life Sciences  am Institut für Wissenschaftsforschung der Universität Wien hat sie unter anderem festgestellt, dass  LebenswissenschafterInnen vor allem im Post-Doc- Stadium, das als besonders heikle Phase einer wissenschaftlichen Karriere betrachtet wird, angesichts des massiven Drucks, laufend Forschungserfolge vorzulegen und zu publizieren, dazu tendieren, sich  mit „relativ sicheren“ Themen zu beschäftigen. So reizvoll riskantere und innovativere Fragestellungen wären – junge  WissenschafterInnen können sich diesen zusätzlichen Risikofaktor nicht leisten. „In seiner ganzen Radikalität manifestiert sich das  darin, dass ProfessorInnen feststellen, ihre Karriere sei unter heutigen Bedingungen nicht mehr möglich, weil sie sich als Post-Doc  zwei Jahre mit einem ungewöhnlichen Thema beschäftigt haben, das sich im Endeffekt als sehr fruchtbar erwiesen hat, zunächst aber keine verwert- und  publizierbaren Ergebnisse hervorgebracht hat“, stellt Müller fest. Und während im Allgemeinen immer  wieder betont wird, wie wichtig Innovation, Kreativität und Kollaboration für die Wissenschaft seien, zeigt Müller auch auf, dass die  derzeitigen Bedingungen tatsächlich Tendenzen der Individualisierung befördern. Angesichts der verschärften Konkurrenz im Post-Doc-Stadium wird Teamarbeit beispielsweise aus Angst vor dem Verlust der ErstautorInnenschaft häufig vermieden. 

Potenzielle Synergien bleiben folglich oftmals ungenutzt. Keine Karriere mit Lehre. Die universitäre Lehre wird weitgehend in den  Hintergrund gedrängt. Dass der Kultur- und Sozialanthropologe Igor Eberhard, der gerade dabei ist, seine Dissertation abzuschließen, von sich sagt, dass es vor allem seine Leidenschaft für die Lehre gewesen sein, die ihn trotz allem dazu veranlasst  habe, im akademischen Feld weiterzuarbeiten, steht im Kontrast zur aktuellen systemischen Logik der österreichischen Wissenschaftslandschaft. Eberhard lehrt nicht nur seit 2009 Vollzeit an der Universität Wien, sondern publiziert auch in Projekten mit Studierenden Sammelbände. Vom Schreiben der Texte bis zu Layout und Werbung wird alles gemeinsam gemacht – ein  aufwändiger Prozess, im Zuge dessen alle gemeinsam viel lernen, erzählt er. Honoriert wird das allerdings nicht. Zusätzlich habe er immer auch geforscht sowie eigene Text publiziert, „aber im Grunde hätte ich karrieretechnisch betrachtet nie so viel Energie in die  Lehre investieren dürfen“, stellt Eberhard heute fest: „Für den wissenschaftlichen Lebenslauf bringt das gar nichts. Es ist zwar  wichtig, dass man Lehrerfahrung hat. Das steht in jeder Ausschreibung drin. Welcher Umfang, wie gut oder wie intensiv, das ist  eigentlich nebensächlich. Im  Vordergrund stehen Publikationen.“ Dennoch waren vor allem in sozialwissenschaftlichen Fächern jeweils auf ein Semester befristete Lehraufträge – meist in Kombination mit Stipendien, Projektarbeit und anderen Jobs – bisher  vielfach eine Möglichkeit für JungwissenschafterInnen, sich ein Doktoratsstudium zu finanzieren.

Das Engagement der sogenannten „ExistenzlektorInnen“ und ihr Beitrag zum Funktionieren der Universitäten mögen jedoch noch so groß sein – Wertschätzung oder längerfristige Perspektiven erhalten sie von Seiten der Universitäten dafür bisher nicht. "In den Lebenswissenschaften lehren deshalb die wenigsten Leute auf der Junior-Ebene, weil das als etwas gesehen wird, was dich nur behindert. Und wenn du dann drei Papers schreiben und einen Kurs vorbereiten solltest, ist klar, wo die Prioritäten liegen“, stellt  uth  Müller fest. Dass diese Verhältnisse für die Qualität der Lehre letztlich nicht förderlich sind, erleben Studierende verschiedenster Fächer am laufenden Band.
Den Kultur- und Sozialanthropologen Igor Eberhard hat vor allem seine Begeisterung für die Lehre auf der Uni gehalten. Für diese gibt es jedoch wenig Prestige und Anerkennung. Credit: Johanna Rauch
Schwere Entscheidungen. Angesichts der prekären Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses sei es umso wichtiger, sich der Tendenz zu Individualisierung zu entziehen, betont Eberhard: Der Austausch mit anderen Betroffenen stärke individuell und  potenziell auch politisch. Als Mitglied der IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen setzt sich Eberhard deshalb auch seit heuer im Betriebsrat der Universität Wien für die Interessen der LektorInnen und für eine Aufwertung der Lehre ein. Er will auch nach Abschluss seiner Dissertation weiter lehren und forschen: „Ich habe schon zu viel investiert, um jetzt aufzugeben.“ Dafür müsse er aber mit großer Wahrscheinlichkeit ins Ausland gehen, denn in Österreich fehlen einfach die entsprechenden Perspektiven und Möglichkeiten. Müller bringt die Problematik einer Entscheidung für die Wissenschaft auf den Punkt: „Man kann sich heute nicht mehr für eine wissenschaftliche Karriere entscheiden. Man kann sich dafür entscheiden, es zu versuchen.“

Für Klara und Pauline ist eine akademische Zukunft dementsprechend keineswegs in Stein gemeißelt: „Ich probiere das jetzt einfach und wenn ich merke, dass das nichts für mich ist und mich das nicht glücklich macht, dann muss ich eben wieder etwas anderes machen“, meint Klara, die sich auch vorstellen kann, im journalistischen Bereich zu arbeiten. Auch Pauline sieht ihre Zukunft nicht unbedingt in der Wissenschaft, sondern eher in einem Unternehmen: „Im Endeffekt sehe ich längerfristig wenige attraktive  Möglichkeiten, in der akademischen Forschung zu bleiben.“

Institutionalisiertes Scheitern. So schwer es ist, in den Wissenschaften Fuß zu fassen, so schwer kann es aber auch sein, sich wieder  daraus zu verabschieden, weiß Müller: „Viele DissertantInnen sagen am Anfang, eigentlich weiß ich nicht so genau, wo ich in zehn Jahren sein möchte. Bereits im Zuge der  Auswahl von PhD-Studierenden gilt es jedoch unbedingt zu performieren, dass du  genau diese Berufung hast, in den akademischen Wissenschaften zu sein. Sonst gilt man nicht als förderungswürdig. Und was am  Anfang vielleicht bei manchen eine Performanz ist, verselbstständigt sich häufig.“ Dann tatsächlich auszusteigen, ist ein Schritt, der oft als Scheitern betrachtet wird. Um sich davor zu schützen, ist es aus Müllers Sicht wichtig, sich selbst auch mit Alternativen zur Arbeit im akademischen Feld auseinanderzusetzen und sich bewusst zu machen, dass „dieses individualisierte Schaffen oder Versagen eine unglaublich mächtige Konstruktion ist“. Der aktuellen strukturellen Schieflage in den Wissenschaften ist mit persönlichem Engagement nur bedingt beizukommen, so Müller: „Es geht nicht darum, dass du nur gut genug sein musst und dann  schaffst du es.“ Letztlich brauche es dringend eine Perspektivenänderung in den Institutionen, betont sie: „Hin zu einem ganzheitlicheren Begriff davon, was es heißt, WissenschafterIn zu sein, und einem Bewusstsein dafür, dass es ein komplexeres Set   von Indikatoren braucht, die auch qualitativ sein müssen. Und es muss klar werden, dass Langfristigkeit auch wichtig ist.“

Linktipp:
IG LektorInnen und WissensarbeiterInnen

Projekt: Living Changes in the Life Sciences (gefördert durch GENAU/bmwf: Projektleitung: Univ. Prof. Ulrike Felt)

*Name geändert. Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt.

Ich wollte ein Männerleben leben

  • 13.07.2012, 18:18

Der Cowboy Katja Kullmann über weiches Kapital und harte Realität.

Der Cowboy Katja Kullmann über weiches Kapital und harte Realität.

Wir trafen die selbsternannte Weltenbürgerin Katja Kullmann, die schon zwischen Financial Times, dem Freitag, der EMMA als auch der GALA oder für Sie bummelte, an einem windigen Vormittag auf der Prater Hauptallee in Wien. Bei einem Kaffee am dortigen Antifaschismus-Platz erklärt sie uns, wo bei dieser Bandbreite an Medien ihre Loyalität liegt: Bei den linken Feministinnen, auch wenn die nicht mehr so viel EMMA lesen wie früher. In ihrer Erzählung spannt Katja Kullmann große Bögen, baut argumentative Kurven – und steht dabei aber immer auf dem Boden der Realität.

PROGRESS: Du beschäftigst dich in deinen Büchern sehr stark mit dem Generationenwandel. Was unterscheidet dich von der heutigen Studentin?

KULLMANN: Meine Frauengeneration hatte noch ein durchwegs positives Ideal von Freiheit und Autonomie. Das war für uns noch nicht neoliberal besetzt, sondern eine positive Utopie. Ich war eine Nach-68erin, hatte vereinzelt LehrerInnen, die sehr liberal waren. Ich gehöre zur ersten Frauengeneration, die zum Selbstbewusstsein erzogen wurde. Alte Säcke als Lehrer hatte ich zwar schon noch im Gymnasium, aber eine oder zwei junge Kolleginnen waren auch dabei. Zwischen diesen Polen bin ich aufgewachsen. Mein Ziel war es, mein Leben größer zu machen, als das meiner Eltern. Wir hatten das Versprechen vor uns, dass die Kindergeneration ein Stückchen weiter kommen sollte. Das habe ich absolut verinnerlicht. Ich bin dabei nicht der Schrankwand-Typ und ich brauche kein teures Auto, aber ich bin immer viel gereist und das war mir in puncto Freiheit und Autonomie immer wahnsinnig wichtig.

Sollte der Begriff Freiheit aus linker Perspektive zurückerobert werden?

Ich habe den Deal immer als fair empfunden: Ich strenge mich an, schreibe gute Noten und lerne Fremdsprachen, und damit komme ich dann weiter. Das war der Plan: nicht früh zu heiraten, nicht an den Herd gefesselt zu sein und auch was die Berufstätigkeit betrifft, mich nicht über 40 Jahre hochdienen müssen. Vor allem: immer selbstständig sein, von niemandem abhängig, und bloß Staats-Stipendium beantragen oder sowas. Heute reibe ich mich daran, dass es letztlich ein lupenrein neoliberaler Entwurf des Ich ist – ein perfekter Yuppie-, Westerwelle-, FDP-Lebenslauf. Obwohl es ursprünglich widerständig gemeint war. Die jüngere, eure Generation, ist da viel realistischer: Ihr wisst, wie hart es aussieht. Ihr habt den Vorteil, dass sich der Restglaube an Statussicherheit erübrigt hat. Keiner rechnet wahrscheinlich mit einer festen Anstellung oder anderen verlässlichen sozialen Absicherungen.

Wie hat sich diese Vorstellung vom perfekten Lebenslauf verändert?

Die Marge der Leute, die sich heute noch Praktika leisten können, wird immer kleiner: Denn sie werden nicht mehr bezahlt. Damit spielt das Elternhaus eine viel größere Rolle. Bei meinen Praktika war zumindest die Unterkunft gedeckt. Herkunftsfragen werden für Männer wie auch Frauen wichtiger. Denn Ausbildung ist unser neues Gut, unser weiches Kapital. Es ist zunehmend ungerecht verteilt, weil der Zugang schwerer wird.

Wie geht die Generation Praktikum mit den schlechten Rahmenbedingungen um?

Bei den Mittzwanzigern und Jüngeren gibt es aus meiner Sicht einerseits solche, die das, was man in den 80ern Ellenbogengesellschaft nannte, extrem fahren. Das ist die Gruppe, die sich extrem ins Private zurückzieht, eine Affinität zu Psychotherapien und zu einer unglaublichen Innerlichkeit entwickelt hat. Sie wollen sich schützen und besitzen eine kaltschnäuzige Statusangst. Auf der anderen Seite sehe ich eine ganz starke Repolitisierung, gerade bei jungen Frauen, die unbelastet schwere Begriffe, mit denen meine Generation noch Schwierigkeiten hatte, wie Solidarität, auf den Lippen haben. Allein das Wort Feminismus nehmen die Jüngeren viel sportlicher in die Hand und sprechen es aus. Ich glaube, es gibt die Streber und die, die sich politisieren.

Warum fangen trotzdem so wenige etwas mit dem Wort Feminismus an?

Man sollte das nicht zu kleinreden. Ich sehe wirklich viele junge Frauen, die versuchen, den Feminismus neu zu bespielen, ihm neue Inhalte zu geben. Es gibt aber viele Ängste. Wir leben in einem Klima, in dem es einerseits diese starken, politisierten Bewegungen gibt und andererseits aber diese Diskussion, wo unglaublich schnell geschlechtsübergreifend abgewatscht wird. Es gibt viele Leute, die sagen, sie würden lieber hungern, als im Lidl bei den abgeranzten Hartz-IV-Leuten einkaufen zu gehen. Die Angst davor, zur „Gutmenschin“ oder „Wutbürgerin“ erklärt zu werden, ist heutzutage riesig. Denn als solches abgestempelt zu werden, macht dich zum Problemfall, zur Querulantin. Das ist ein Spiegel dieses Funktionieren-Müssens. Erstmals betrifft das beide Geschlechter: Dieser Leistungsdruck, diese fröhlich wirkende Stromlinienförmigkeit, die man erfüllen sollte, und die sehr stark ins Persönliche reicht. Damit hängt auch die Angst zusammen, das Wort Feminismus in den Mund zu nehmen, denn es klingt nach Problemen, nach Haltung. Seit den späten 90ern heißt es: Die Zeit der Ideologien ist vorbei. Genau das ist aber die neue Ideologie.

Inwiefern wirkt sich das neue Prekariat auf die Geschlechterverhältnisse aus?

Es gibt dieses Zitat, dass es in jeder Schicht oder Klasse eine Unterklasse oder Unterschicht gibt, und das sind die Frauen. Seit über 20 Jahren kennen wir dieselben Zahlen: Frauen verdienen im Schnitt, quer durch alle Branchen, noch immer rund ein Viertel weniger als Männer. Und wenn sie zur Alleinerziehenden werden, ist das Armutsrisiko besonders hoch. Gerade in der sogenannten Kreativbranche werden Frauen, denen es beruflich oder finanziell mal nicht so gut geht, schnell pathologisiert – als ob sie ein psychologisches Problem hätten. Da heißt es dann: Die trinkt, die nimmt Drogen, die ist depressiv. Typen können genauso abgebrannt sein, aber potentiell gibt es immer das Bild vom Cowboy oder dem Lonely Wolf, wo gesagt wird, der hat einfach eine schwierige Phase. Genau dieses Bild – der lonesome rider, immer unterwegs, die Welt entdecken – war übrigens eine Art Leitbild für mich, als ganz junges Mädchen. Das hat wieder mit dem unbedingten Willen zur Autonomie zu tun: Es gab fast nur männliche Vorbilder dafür. Im Grunde wollte ich immer eher ein Männerleben führen, denke ich. In Teilen ist mir das auch gelungen.

Nach dem Erfolg deines Buches „Generation Ally“ und deiner Zeit als selbständige Journalistin folgte bei dir eine sehr prekäre Phase als Hartz-IV-Empfängerin. Wie hast du die erlebt?

Das ist eine schizophrene Erfahrung, die viele in den Nullerjahren gemacht haben. Als ich beim Amt als künftige Hartz-IV-Empfängerin vorsprechen musste, war das eine Mischung aus Arzt- und Vorstellungsgespräch. Ich hatte mir einen Businessplan zurechtgelegt, der natürlich nicht funktioniert hat. Denn du darfst dann im Grunde nicht mehr freiberuflich tätig sein. Es blieb dabei: Ich hatte 13 Euro am Tag, ich durfte nicht aus der Stadt weg, das war vollkommen irre. Ich dachte mir: Aha, jetzt bin ich also auch eine Verliererin – und so sieht das also aus: Sie lassen dich nicht mehr mitspielen.

Hat diese Erfahrung mit Hartz-IV deine Sicht auf die Welt verändert?

Meine Repolitisierung ist auf diesem Amtsflur passiert, weil ich gesehen habe, dass ich als Medienarbeiterin Teil einer Avantgarde bin, die systemisch freigesetzt ist. Das ist eine neurotische Branche, die mitforciert hat, dass der Fensterputzer und die Pflegekraft mit immer niedrigeren Löhnen in die Knie gezwungen werden. Und ich bin Teil derer, die den Quatsch auch noch erzählt haben: Jeder sei seines Glückes Schmied.

Würdest du sagen, du hast erlebt, was Armut ist?

Man darf so ein elitenartiges Prekariat, wie ich es erlebt habe, nicht verkitschen und vergleichen mit echter Armut. Damit meine ich, wenn du in der dritten oder vierten Generation SozialhilfeempfängerIn bist und es nicht zum Abitur geschafft hast, fehlt dir ein ganz wichtiges Kapital, das Kulturkapital. Das unterscheidet dann doch die akademisch Prekarisierten von dem Kollegen mit dem Hauptschulabschluss. In Bezug auf Status und Codes kann man sich dann trotzdem noch verkaufen, kann sich seinen Blog so einrichten, dass man so wirkt, als sei man beschäftigt und kann sich augenzwinkernd im abgefransten Kaffeehaus treffen. Das hilft erstens, vor sich selber viel zu verschleiern, und zweitens, diesen Shabby Chic zur Schau zu stellen. Jemand, der wirklich arm ist, kann das gar nicht so veräußern.

Wie ist denn das Frauenbild unter diesen Bobohipstern? Gibt’s da einen Backlash?

Das Abziehbild ist tendenziell männlich, wir denken ja sofort an die Typen mit den Jesusbärten und den Baumwollbeuteln. Den Hipster aber gab’s schon immer, der ist nicht neu. Das ist sozusagen eine urbane Avantgarde. Es gab schon den Yuppie, den Bobo, das taucht alle fünf Jahre auf. Was eigentlich damit gemeint ist, ist diese bunte Bildungselite, die sehr urban, intellektuell, gut vernetzt ist, die diese Codes kennt und die reiche Symbolsprache, an die auch Statusfragen gehängt werden. Auch wenn sie im Second Hand Shop um drei Euro ihre Karohemden kaufen, kann das statusmäßig ein total wertvolles Karohemd sein. Du musst nur wissen, wie das gerade zu tragen ist, und ab wann nicht mehr. Sobald das Elitenwissen dann im Mainstream angelangt ist und die BerlintouristInnen das auch tragen, suchst du dir was Neues.

Ist das Hipstertum so männlich, weil es so Ich-bezogen ist?

Ja, damit hat das sicher zu tun – was ich interessant finde, gerade weil der Begriff do it yourself stark verbreitet ist. Das ist ja auch ein Teil dieser Bewegung: Sehr viele der modischen und hippen Frauen stricken oder craften. Auch auf queerfeministischen Webseiten spielt das eine Rolle. Ich habe nichts gegen Stricken, ich kann aber die bildhafte Logik überhaupt nicht verstehen, und sehe nicht, was daran zum Beispiel widerständig oder feministisch ist. Der Hipster ist jedenfalls keine politische Figur, er demonstriert nicht, er beschäftigt sich mit sich selbst, seinen Gefühlen, seinen Style-Ängsten, und sieht dabei veträumt aus.

Gibt es denn heute positive feministische Rolemodels?

Es gibt heute ein unglaubliches Prinzessinnenwesen. In den 70er-Jahren waren es vor allem im Kinderfernsehen Figuren wie die Rote Zora, Ronja Räubertochter. Das waren aggressive, mutige, aufmüpfige Figuren und Namen. Heute haben wir Lillifee und die Manga-Ästhetik, also diese Verniedlichung. Schwierig finde ich auch, dass jüngere Frauen sich wieder so „girliehaft“ benennen, wie wir es vor 20 Jahren schon mal hatten: Sie nennen sich „Mädchen“ oder „Missys“. Ich kann nur sagen: Dieses Augenzwinkern hat der Feminismus schon einmal versucht – es funktioniert nicht. Ich glaube nicht, dass es die eine gibt, die saisonal das Rolemodel schlechthin ist. Das entspricht auch nicht der Vielfalt und Diversität der Frauen. Für mich ist es Le Tigre Kathleen Hanna. Ich glaub auch, dass Anke Engelke eine Breitenfunktion besitzt, die ganz anders ist, als eine klassische fernseh-feminine Frau. Es ist grundsätzlich erst mal gut, dass es heute mehr interessante Frauen in der Öffentlichkeit gibt, glücklicherweise nicht nur verzweifelte Schlauchboot-Lippen-Trägerinnen.

Warum ist es heute überhaupt so kompliziert, Feministin zu sein?

Die Welt ist ganz schön unübersichtlich. Und ich denke, der Feminismus leidet wie auch andere politische Inhalte und Strömungen darunter, dass die Leute vereinzelt sind. Darüber hinaus ist es vor allem der Leistungsdruck, unter dem wir leiden, und die Angst davor, zu nervig und zu kompliziert zu sein, in dem Moment, in dem man Prinzipienfragen stellt. Ich glaube, dass Feminismus ganz oft mit innerem Unmut anfängt. Man muss den Mut finden, Dinge auszusprechen, dazu muss man stark sein. Und viele Leute fühlen sich gerade nicht stark, haben Angst, sich verwundbar zu machen. Aber ich habe den positiven Eindruck, dass es eine neue Sehnsucht gibt, sich mit anderen zusammenzutun und dass das, erst mal im Kleinen, auch gerade wieder passiert. Niemand kann alleine Verhältnisse umstoßen.