Polyamorie

Die Flucht in die Polyamorie

  • 12.05.2017, 12:54
Polyamorie präsentiert sich als Gegenentwurf zur romantischen Zweierbeziehung. Doch das Patriarchat wird dadurch alleine noch nicht angegriffen.

Polyamorie präsentiert sich als Gegenentwurf zur romantischen Zweierbeziehung. Doch das Patriarchat wird dadurch alleine noch nicht angegriffen.

Jede Person, die offen damit umgeht, mehrere Partnerschaften gleichzeitig zu haben, kennt das: „Das geht nie gut“, „Das funktioniert nicht“, „Eine*r kommt immer zu kurz“. Die essentialisierende Annahme, dass Monogamie normal sei und deswegen funktioniere, schwingt bei jeder dieser Aussagen mit. Wenn man dann allerdings antwortet, dass monogame Beziehungen oft nicht funktionieren und Untreue einer der häufigsten Trennungsgründe ist, wird meist darauf verwiesen, dass nicht die Monogamie schuld an der Trennung sei.

Ob in Filmen, im Fernsehen oder in Büchern: Die ideale romantische Liebe ist die treue Beziehung zwischen zwei meist heterosexuellen Menschen. Mit der zunehmenden Normalisierung von Homosexualität gibt es nun auch Erzählungen, in denen zwei Männer oder zwei Frauen ihr Glück in der romantischen Zweierbeziehung finden. Sind in einer Erzählung jedoch mehrere Personen miteinander verbandelt, muss das Beziehungsgeflecht am Ende in klare Bahnen gelenkt werden. Gerade im Young Adult Genre muss sich eine junge Frau oft zwischen zwei Männern entscheiden, siehe Twilight oder The Hunger Games. Es ist nicht einmal denkbar, dass am Ende alle drei miteinander glücklich werden könnten. Immer und immer wieder wird so Monogamie normalisiert und als die einzige Lebensform dargestellt, die dem „Wesen des Menschen“ entspricht. Die Argumentationsmuster verweisen oft auf die Evolutionsbiologie, die die Monogamie naturalisiert. So sei es zur Kinderaufzucht am besten und wird mit HöhlenmenschenVergleichen unterfüttert. Die gleiche Argumentationskette wird dann auch verwendet, um Homosexualität mal als Spielart der Natur, mal als Abartigkeit darzustellen.

AUSWEG POLYAMORIE. Polyamorie setzt sich aus dem griechischen „poly“ (mehrere) und dem lateinischen „amor“ (Liebe) zusammen und ist ein Obergriff für die Praxis, mit mehreren Menschen gleichzeitig Beziehungen zu führen. Dies geschieht mit vollem Wissen und Einverständnis aller Beteiligten. Polyamorie als Praxis stellt sich gegen das hegemoniale Bild der monogamen romantischen Zweierbeziehung (RZB) und trifft deshalb oftmals auf Verwunderung, Ablehnung und Diskriminierung.

Polyamorie Praktizierende grenzen sich zum Teil ganz bewusst von offenen Beziehungen ab, um das Image zu vermeiden, dass es sich bei Polyamorie um „anything goes“ handle. Vielmehr stellt man die Verbindlichkeit in den Vordergrund: „Mein Herz hat Platz für mehr als einen Partner. Ich suche keine Abenteuer, ich mag es langfristig. Ich betrüge nicht, ich handle einvernehmlich. Ich lüge nicht, ich mache es transparent. Ich bin kein Freiwild, ich trage Verantwortung. Ich liebe tiefer als nur zum Spaß. Ich bin Poly. Ich lebe die Liebe.“ So lautet das Motto einer der größten deutschsprachigen polyamourösen Gruppen auf Facebook. In diversen Facebook-Gruppen und Foren wird der Eindruck vermittelt, dass man sich der Ideologie der Monogamie nicht entgegenstellt, sondern sie als auserwählte Gruppe überwunden hat. Unterschwellig schwingt mit, man hätte eine neue Stufe des Bewusstseins erreicht, in der alle achtsam miteinander umgehen. So folgt jeder Vorstellung neuer Mitglieder ein ganzer Wust an Definitionen zwischen poly, bi, vegan und spirituell.

IDENTITÄT POLYAMORIE. Man liest in vielen Foren: „Gerade bin ich mono, fühle aber poly“ oder „Single und Poly“ und in der Reportage „Unter Anderen – Wahre Lieben“ spricht eine interviewte Person davon „polyamor geboren zu sein“. Als Person, die offen damit umgeht, mehr als eine Partnerschaft zu führen, lebt man ständig gegen die gesellschaftliche Erwartung an. Die Welt scheint nicht für einen gemacht zu sein; ständiger Erklärungs- und Rechtfertigungsdruck führen dazu, dass man es sich wohl lieber in Nischen der eigenen Szene gemütlich macht als Gegenwehr zu leisten. Anstatt Biologismen in die Wüste zu schicken, werden Artikel geteilt, die die angeblich non-monogame Natur des Menschen bezeugen. Man erklärt sich gerne bereit, Journalist*innen für Interviews und Reportagen zur Verfügung zu stehen, um zur Normalisierung beizutragen, präsentiert sich dann aber in Klischees. In der Reportage Unter Anderen – Wahre Lieben wird Attmann Wicka, prominenter Aktivist der Poly-Szene interviewt und dabei gefilmt, wie zwei seiner Freundinnen sich kennen lernen. In einer mit esoterischem Kitsch überladenen Wohnung bittet er dann beide, am Boden sitzend mit einer Klangschale zu spielen. Haremskonnotationen kommen auf und dies wird an keiner Stelle problematisiert.

Sexismus scheint grundsätzlich kaum ein Thema in Poly-Kreisen zu sein. Es sind meistens die Frauen in Partnerschaften, die mehr Beziehungs- und emotionale Arbeit leisten. In Poly-Beziehungen führt das zu Mehrfachbelastungen, die nicht diskutiert werden. Man will die Monogamie überwinden, aber am Patriarchat wird nicht gerüttelt.

KEINE GEGENWEHR. Polygame Menschen sind konfrontiert mit Ablehnung, Anfeindungen, Zwang zur Verheimlichung und struktureller Diskriminierung. Polygame Ehen sind verboten, womit die Gleichstellung zur hegemonialen Norm verwehrt wird. Polygam Lebende dürfen zusammen nicht gleichberechtigt die Sorge für Kinder übernehmen oder auch nur ein Konto eröffnen. Doch anstatt gegen den Primat der Monogamie anzukämpfen, sich gegen die strukturelle Diskriminierung zu wehren und für mehr Rechte zu kämpfen, flüchten sich viele polygame Menschen in die Nestwärme der eigenen Szene. So wird die Hegemonie der Monogamie sicher nicht gebrochen.

Anne Marie Faisst studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Feiern gegen die Gesamtscheiße

  • 23.02.2017, 20:20
Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Veganismus, Partykommunismus, Freie Liebe und Straight Edge – wie passt das zusammen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen oder muss ich eh nicht recyclen?

Der Winter ist vorbei und mit den ersten Sonnenstrahlen tauchen auch die ersten Gedanken an die Festival-Saison auf. Während die einen im Winter auf einen erfüllten Ferienkommunismus zurückblicken konnten, haben andere daheim weiter gearbeitet: am Refugee-Projekt, im Haushalt, haben Demos angemeldet oder ihr Zuhause verteidigt. Der Ärger über den Hedonismus ist nicht neu, auch nicht die Frage, wie links oder subversiv es sein kann, mehrere Tage unter dem Motto „Koksen, Kotzen, Kommunismus“ in einer arrangierten Parallelwelt zu feiern.

Wer ein Festival wie die „Fusion“ besuchen kann und wer nicht, wird durch die hohen Kosten für die Anreise, die Vergabe teurer Tickets im Lotterie- Verfahren und andere Barrieren, wie etwa Stacheldraht, festgelegt: ein weitestgehend junges, weißes Publikum, das unkritisch Federkopfschmuck oder Dreadlocks trägt. Das Statement der Veranstaltenden, „Vier Tage Ferienkommunismus ist das Motto der ‚Fusion‘. (…) Weil es aber keinen Ort nirgends gibt, wo die Menschen frei sind, ist es gerade die Vereinigung der FusionistInnen aller Länder und der Ferienkommunismus, der uns spüren lässt, dass wir mehr wollen, als das, was uns in diesem Leben geboten wird. Nämlich alles und zwar sofort!“, meint eben alles für alle mit bezahltem Ticket. Nun sind der Besuch von Dixie-Klos und Dauerrausch nicht unbedingt eine rühmliche oder produktive Freizeitgestaltung, aber für manche eben Erholung. Gerne werden vermeintliche „Wohlfühllinke“ kritisiert, die bloß zu Festivals und Soli-Partys gehen, nicht aber nicht bei Lesekreisen und Plena auftauchen. Kapitalistische Härte für alle zu fordern, passt gut in eine Zeit, in der die Kritik an einer kalten Ellenbogen-Gesellschaft ins Gegenteil umschwenkt. Mit Begriffen wie „Slacking“, also dem ambitionslosen Herumhängen, oder „Cocooning“, dem angeblichen Rückzug ins Private, wird Kritik geäußert: Der Rückzug in die persönliche „Comfortzone“ und das „Einbubbeln“ seien Probleme, die genauso wie Netzaktivismus überwunden werden müssten. Das glauben nicht nur Berufsberater_innen, sondern auch asketisch orientierte Linke.

[[{"fid":"2381","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Dabei wird eine Revolution wohl auch nicht von jenen ausgelöst, die sich nicht auf Festivals schon morgens mit Pfefferminzschnaps betrinken oder „Pokémon Go“ spielen. Hedonistische und materielle Lebensweisen – als „Opium fürs Volk“ (Lenin) – abzulehnen, vergrößert die Kluft zwischen Theorie und Praxis. Während das „Antifaschistische Sommercamp“ sicherlich mehr linke ECTS bringt als der Besuch des „Nova Rock“, haben beide gemeinsam, dass dort Kontakte geknüpft und gepflegt werden, Beziehungen, Freundschaften und Projektideen entstehen. Das Versinken in der Party, der Musik, in einem Pulk Menschen, die sich gegenseitig akzeptieren, kann eine einzigartige Erfahrung sein und einen Schutzraum, fern von Alltagsproblemen oder Diskriminierungen, bieten. Ein Festival kann auch sinnlose Gaudi und Besäufnis im Dreck sein, ohne Anspruch auf Verwertbarkeit. Statt dies abzulehnen, sollte ein linker Selbstanspruch lauten, solche Erfahrungen und das gute Leben allen zugänglich zu machen. Denn Burnout ist nicht nur im Job, sondern auch in der aktivistischen oder ehrenamtlichen Arbeit ein Thema.

KAPITALISTISCHE HÄRTE FÜR ALLE. Ohne Bezahlung, dafür mit Gruppendruck und nach dem Motto „Wer macht, hat Recht“, wird auch in der Linken teilweise bis zur Selbstaufgabe gearbeitet. Wer sich durch besonderes Engagement hervortut, verschafft sich Wert und Bedeutung. Das Recht der Macher_innen führt fast unweigerlich auch zu Gatekeeping, also der Macht über Informationsflüsse und Zugang zu Ressourcen. Solche Entwicklungen und Haltungen unterscheiden sich manchmal kaum von ausbeuterischen Strukturen der Arbeitswelt. So wird gegenseitige Mobilisierung zur Regulierung. Wer sich wann, mit wem, auf welcher Demo zeigt oder nicht, wird beobachtet und bewertet, ohne unterschiedliche Abilities oder Arbeitsverhältnisse einzubeziehen oder sich zu fragen, wer sich wieviel Freizeitopfer oder die Fahrkarte zur Projektbesprechung leisten kann. Wie gefährlich das ist, zeigen mehrere Fälle, in denen Polizeispitzel lokale Projekte wie etwa die „Rote Flora“ in Hamburg unterwandern konnten oder (mutmaßliche) Vergewaltiger wie Assange und Jacob Appelbaum wichtige Rollen in aktivistischen Umfeldern einnehmen konnten.

[[{"fid":"2382","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

YO, FUTURE! „Don’t smoke, don’t drink, don’t fuck, at least I can fucking think“, singt Ian MacKaye von der Band Minor Threat im Song „Out of Step“, der zentral bei der Entstehung der asketisch lebenden Straight-Edge-Bewegung (sXe) war. So daneben zugequalmte Kulturzentren, betrunkene Ausfälle und unbefriedigende One-Night-Stands auch sein mögen, der Gegenentwurf zur selbstzerstörerischen Punk-Kultur der 80er („No Future“) klingt im heutigen Kontext, in dem „bewusster“ Konsum und Verzicht im selbstoptimierenden Mainstream angekommen sind, fast wie eine Erhebung über die Rauchenden, Trinkenden und Fickenden. Denen wird, zumindest implizit, die Fähigkeit zum eigenständigen Denken abgesprochen.

Die nüchterne Subkultur argumentiert etwa, dass für die Gestaltung politischer Aktionen ein klarer Kopf von Vorteil sei. Wer vor Demos und Aktionen Alkohol trinkt oder Drogen nimmt, gefährdet sich selbst und andere, das steht in jeder „Demo 1x1“- Broschüre. Ein Handbuch für das richtige Linkssein im falschen gibt es aber glücklicherweise nicht. So ist sXe ein radikaler Versuch, politische Dimensionen des eigenen Konsums oder Verzichts aufzuzeigen. Viele Edger_innen leben zudem vegan und denken beispielsweise durch Antispeziismus oder Unterstützung von Fair-Trade-Produkten Machtverhältnisse in ihren Konsumpraxen mit.

Auch über Esskultur werden Machtverhältnisse, Rassismen und Klassen reproduziert. Wer, was und wie öffentlich essen darf oder nicht, ist nicht erst dann politisch, wenn ein „denn’s“-Biomarkt in die ehemalige „Zielpunkt“-Filiale einzieht oder auf der Straße Fat- und Bodyshaming betrieben werden. Anzunehmen, jede Küche, in der Chia-Samen verwendet werden, wäre Brutstätte für Körperkult oder moralische Überheblichkeit, ist jedoch genauso falsch, wie zu glauben, die Kaufentscheidung für die saisonalen, regionalen Bio-Zucchini, wären ein wirksames Statement. Mögen sich auch einzelne durch ihre Ernährungsform und Lifestyle-Wahl über andere erheben wollen, versuchen die meisten doch schlicht, zu essen, was sie sich leisten können, was ihnen gut tut und für sie selbst ethisch vertretbar ist. Als Verbraucher_in ist kaum zu überblicken, wie Produktions- und Beschäftigungsbedingungen oder Konzernstrukturen wirklich aussehen.

[[{"fid":"2383","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

SAUFEN, SNICKERS, SELF-CARE. Das bekannte Zitat „Mich um mich selbst zu sorgen, heißt nicht, sich gehen zu lassen. Es ist selbsterhaltend und das ist ein Mittel des politischen Kampfs“ von Audre Lorde setzt destruktiven Machtstrukturen das Konzept der „self-care“, also der Selbstfürsorge, und der radikalen „self-love“ entgegen. „Sich nicht gehen lassen“, regelmäßige Mahlzeiten und auch gesunde Ernährung können self-care sein. Für sich selbst zu sorgen, kann aber auch bedeuten, maßlos Junkfood zu essen, wochenlang mit niemandem zu reden und Videospiele zu spielen. Das Saufen auf dem Festival oder die Familienpackung Snickers sind nicht nur selbstschädigend, sie bedienen bloß andere Bedürfnisse als nur die richtige Nährstoffzufuhr. Eigentlich hedonistische Lebens- und Verhaltensweisen werden ent-individualisiert, das (gute) Überleben gilt als revolutionärer Akt: „Selbsterhalt ist Widerstand.“

Selbstfürsorge basiert auf dem Gedanken: Erst, wenn es mir selbst gut geht, kann ich anderen helfen, denen es nicht so gut geht, und habe ich das nötige Rüstzeug, um auch langfristig politisch aktiv sein zu können. Zu den Ursprüngen der „selfcare“- Idee schreibt die feministische Autorin Laurie Penny: „Weite Teile der Linken können noch eine Menge von der Queer-Community lernen, die schon lange die Haltung vertritt, dass für sich selbst und seine Freund_innen zu sorgen in einer Welt voller Vorurteile kein optionaler Bestandteil des Kampfes, sondern auf viele Arten der Kampf selbst ist.“

[[{"fid":"2384","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Nicht umsonst kommen alternative Beziehungskonzepte wie Relationship Anarchy, die Freundschaften und anderen nicht-sexuellen Beziehungen größere Bedeutung zumessen, aus der Community. Enge Freundschaften und Netzwerke können für Queers oder von Rassismus Betroffene lebenswichtig sein. Die klassische monogame Hetero-Paar-Beziehung ist nach wie vor Quell für Unterdrückung und Gewalt: „Durch ihren (früheren) Partner wurde 13 % der Österreicherinnen körperliche/sexuelle Gewalt sowie 38 % der Frauen psychische Gewalt zugefügt – etwa durch Einschüchterung, Kontrolle, Hausarrest oder Herabwürdigung vor anderen Personen.“ Dass die Ehe aber auch eine Schutzfunktion für die Ehepart13 ner_innen und Kinder beinhalten und Absicherung bedeuten kann, wird gerne ignoriert, etwa wenn queere Paare sich dafür rechtfertigen sollen, eine „Ehe für alle“ zu fordern und damit angeblich ein Recht auf Spießbürgerlichkeit einfordern – wenn der rechtliche Status in der Praxis darüber bestimmt, wer etwa am Krankenhausbett Händchen halten darf und wer nicht.

Gegenkonzepte wie Polyamorie oder das Verzichten auf schnellen Sex von Straight Edgern können aber vor allem für Frauen Freiheiten bedeuten. Rebecca Gold fasst in einem Essay zusammen: „Wir können das Patriarchat nicht rückgängig machen ohne Monogamie zu verdrängen“ und schreibt weiter: „In einer nicht monogamen Welt werden Frauen ihr Leben nicht damit verschwenden, nach dem perfekten Mann zu suchen. Intimität wird eine immer präsente Möglichkeit sein, die biologische Uhr wird nicht mehr die Flugbahn bestimmen, die das Leben einer Frau einschlägt, da das Konzept von Familie weniger an biologische Reproduktion geknüpft ist.“ Doch auch Mehrpersonen-Beziehungen schnurren schnell auf eine klassische Familienkonstellation zusammen, sobald Windeln gewechselt werden müssen oder die Festivalsaison ansteht. Um gleiche (reproduktive) Rechte, die Auflösung klassischer Familienbilder, Eifersucht, gerecht verteilte Care-Arbeit und sexuelle Selbstbestimmung oder Kindererziehung ohne Stereotypen geht es im (Beziehungs-)Alltag oft nur am Rande, egal welches Label wir unseren Zwischenmenschlichkeiten verpassen.

[[{"fid":"2385","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Stephanie Gmeiner","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Das gute Leben für alle – es darf ruhig bei uns selbst anfangen. Ob der Bio-Apfel, ein Snickers, Polyamorie oder der Lesekreis sich gut anfühlen, bleibt dabei uns überlassen. Der persönliche Lifestyle und die Freiheit, andere Lebensweisen und -konzepte ausprobieren zu können, ist nicht einfach da, sie muss immer wieder verhandelt, behauptet und neu erkämpft werden. Und irgendjemand räumt danach den Müll vom Festivalplatz.

Anne Pohl ist freiberufliche Marketing- und Event- Beraterin und gründet non-kommerzielle Projekte wie herzteile.org.

Alternative Beziehungsformen

  • 10.03.2016, 18:18
Poly, offene Beziehung, Freundschaft Plus, usw. – die Liste möglicher Beziehungskonstellationen ist lang. progress hat Statements von Menschen, die nicht in der bekannten romantischen Zweierbeziehung (RZB) leben, gesammelt. Was ist toll, was nervt sie und wie lieben sie?

Poly, offene Beziehung, Freundschaft Plus, usw. – die Liste möglicher Beziehungskonstellationen ist lang. progress hat Statements von Menschen, die nicht in der bekannten romantischen Zweierbeziehung (RZB) leben, gesammelt. Was ist toll, was nervt sie und wie lieben sie?

Freundschaften plus.
Wenn meine Beziehungsform ein Label hätte, dann wohl „solo poly“. Aber eigentlich sag ich lieber: Es gibt in meinem Leben mehrere Personen, die ich gern habe bzw. liebe, und mit denen ich gelegentlich Sex habe. Bis vor zwei Jahren nannte ich es: Single mit mehreren Freundschaften Plus. Dann wies mich eine dieser Freundschaften darauf hin, dass da sehr viel Romantik zwischen uns ist, und wir eh quasi „zusammen“ sind. Seither nenne ich es Polyamorie. Die Beziehungen sind alle verschiedenartig, aber gleich wertig. Ich lebe alleine, bin gern selbstständig und unabhängig, – aber eben trotzdem verliebt und für die Menschen da, die mir wichtig sind und mit denen ich einen Teil meines Lebens verbringen möchte.
Sasha

Beziehungsformen sind politisch.
Ich habe zwei Partner, also zwei einzelne gleich wichtige und fast gleich lange Beziehungen. Alle haben dieser Konstellation zugestimmt und sind damit glücklich. Jede_r kann zusätzlich treffen und lieben, wen er_sie will. Davon erzählen wir uns dann möglichst gegenseitig. Ich hätte aber auch Verständnis dafür, wenn jemand mal etwas lieber für sich behält, solange es nicht in ein geheimes Doppelleben ausartet. Von life advice über Polyamorie halte ich ungefähr so viel wie von allen anderen Beziehungsratschlägen in Medien: Ich mag sowas nicht. Wenn ich in meinen Beziehungen Fragen, Ängste oder Probleme habe, wende ich mich lieber an den betreffenden Partner, liebe Freund_innen – oder mich selbst. Für mich ist meine Beziehungsform kein Lifestyle und schon gar keine sexuelle Orientierung; politisch ist sie schon – wie jede andere Form von Lebensgemeinschaft auch.
Lara

Ehemänner tendenziell sicher.
Ich habe zwei Freunde. Der Plural wirkt missverständlich, was soll ich sagen, Partner? Beziehungen? Ich kann nichts daran ändern, dass die deutsche Sprache da so ungenau ist. Hauptsache, ich weiß, was Sache ist, und mehr geht ja auch nicht alle was an. Wobei – dass ich niemanden hintergehe, das möchte ich schon festhalten. Nein, wir haben nichts zu dritt, und nein, ich bin nicht ständig auf der Suche nach Frischfleisch, und ja, dein Ehemann ist vor mir tendenziell sicher. Konflikte lösen wir stets partnerschaftlich – die beiden sind gewerkschaftlich organisiert. Leider musste ich in der letzten Verhandlung über Sockenlagerung Zugeständnisse machen.
Paulina

Kapitalverhältnis & Poly-Beziehung.
Schwierig wird es für mich dann, wenn unsere poly-Beziehung auf den Alltag im Kapitalismus trifft. Dass wir eine Fernbeziehung führen, hilft da wahrlich nicht. Wenn wir uns tagelang nicht mal bei Skype sehen können, weil Lohnarbeit, Studium, Aktivismus, Reproduktionsarbeit und self care jede freie Sekunde verschlingen, dann ist es schwer, wenn meine Partnerin die paar freigeschaufelten Momente auch noch zwischen ihre_r/m Freund_in und mir aufteilen muss. Jene Person, die auch noch näher wohnt, sie häufiger trifft, wenn mir nur Skype und längere Treffen in wesentlich selteneren Intervallen bleiben … Da entstehen bei mir plötzlich Eifersucht und Verlustgefühle, wo sonst kaum welche sind. Chris

Sexistische Zuschreibungen.
An die Rechtfertigungen dafür, mehrere individuelle Beziehungen zu führen, habe ich mich mit der Zeit gewöhnt. Was mich aber immer total nervt ist, dass vor allem weiblich gelesenen Personen wie mir dann oft unterstellt wird, mit jedem ins Bett zu gehen. Das ist einfach nur sexistischer Bullshit. Ebenso wie die Behauptung, ich würde schon eine RZB anfangen, wenn ich nur auf „den Richtigen“ träfe, obwohl er*sie weiß, dass ich keine Beziehungen mehr mit cis-hetero-Männern führe. Trotzdem liebe ich diese Beziehungsform, weil sie sehr auf gegenseitiger Wertschätzung, Offenheit und Konsens basiert und die unterschiedlichen Bedürfnisse mehr wahrgenommen und respektiert werden als in meinen RZB.
Liz

Doch nicht gekuschelt.
Seit sechs Jahren bin ich mit einer Person zusammen. Seit 2012 leben wir poly. Es fing alles damit an, dass ich mit einer Freundin von mir kuscheln wollte. Ich sprach es mit meine_r/m Partner_in an, mit de_r/m ich zu der Zeit monogam lebte. Wir einigten uns dann erstmal darauf, dass Kuscheln mit anderen Menschen und eventuell auch mehr okay wäre. Es kommt mir seltsam vor, dass es erst vier Jahre sind, in denen ich polyamorös lebe; so viele spannende, schwierige, gute, nervenaufreibende und identitätsstiftende Erfahrungen habe ich seitdem gesammelt. Übrigens habe ich mit der Freundin, wegen der ich die poly-Geschichte ansprach, doch nie gekuschelt: Ich war zu schüchtern, diesen Wunsch zu formulieren.
Mara

Commitment und Bedürfniserfüllung.
Ich lebe Beziehung nicht in Relation zu anderen Beziehungen. Für mich spielt keine Rolle, was andere von einem gemeinsamen Partner bekommen, so lange meine Bedürfnisse erfüllt werden. Ich muss nicht mehr haben, um meinen Status zu validieren. Ich will nicht weniger haben, um anderer Leute Status zu validieren. Leider hinterfragen die wenigsten Regeln, die nur dazu dienen, Hierarchien zu etablieren. „Love is abundant“ ist Unsinn, wenn man Menschen in Konkurrenz um Zeit und Ressourcen setzt. Bei mir müssen Dinge keinen Namen haben, so lange das nicht bedeutet, Minimalstandards zu untergraben und Vorhersehbarkeit und Commitment zu verweigern.
@sanczny

Offener Umgang mit Eifersucht.
Ich lebe polyamor. Das hat sich für mich zufällig ergeben. Eigentlich wollte ich mich nicht verlieben, sondern einfach eine Weile solo das Leben genießen und plötzlich gab es drei Menschen, die mir unheimlich wichtig wurden. Statt mich zu einer Entscheidung für eine Person zu zwingen, probierten wir Polyamorie aus und stellten fest, dass es für uns gut funktionierte. Mittlerweile gibt es fünf Menschen, die ich als meine Herzmenschen bezeichne. Ich schätze sehr, dass diese Personen alle verschieden sind und mit mir auf völlig unterschiedliche Art harmonieren. Natürlich gibt es auch manchmal Eifersucht, aber ein offener Umgang damit und mit anderen Problemen hilft sehr.
Alina Saalfeld/@andere_grufty

Bürgerliche Konsumhaltung.
Einer der für mich spannendsten deutschsprachigen Texte zum Thema „poly“ stammt von Bäumchen. Xier* schreibt im Artikel „Kein Sex (II): Class/Sex/ Race: Liebe und begehre mich (trotzdem)“ über die Verwobenheit verschiedener Machtachsen, Unterdrückungsformen und poly. Also warum poly eben nicht für alle gleich ist, und warum „immer die falschen Leute poly sind“: „Ich rede von Menschen, die andere Menschen verschleißen, weil sie keine Rücksicht nehmen. Ich glaube, dass poly deshalb eine Konsumhaltung geworden ist, weil es mehrheitlich von der weißen Mittelschicht ausgeübt wird, die vor allem eines kann: konsumieren. Und daran orientiert sich leider auch viel RZB-Kritik. Sie ist so bürgerliche Mittelschicht und weiß, dass ich jedes Mal wieder LOLe. Poly und Class sind so ein riesiges Thema und ich seh’ es nirgendwo richtig angepackt. Race ebenfalls nichts. Wer ‚lebt‘ sich bei poly aus und wer nicht? Wer muss cool bleiben und soll ‚chillen‘?“
Ariel

Offen miteinander.
Wir sind, wie in vielen anderen Beziehungen auch, meist glücklich. Wir reden viel und kuscheln noch mehr – das gibt Sicherheit und tut mir gut. Ich bin KK seit sechs Jahren kinky nahe, wir wohnen weit von einander und sehen uns zwei- bis dreimal im Jahr. Mit F teile ich seit 18 Monaten meine Gedanken, seit über einem Jahr das Bett. Und dann war ich mit J befreundet, bis wir festgestellt haben, dass wir uns auch sexy finden und da jetzt noch mehr ist. Und mit mir bin ich schon sehr lange nahe, und Verwöhnen, Sex und schöne Dinge mit mir mache ich regelmäßig. Ich genieße generell nette Menschen in meinem Umfeld. Und ich genieße alles, so wie es ist. Schön, dass wir offen miteinander sein können, das tut so gut.
Liebhardt

Gegen Vergleiche.
Ich lebe seit drei Jahren in zwei Beziehungen und alles klappt gut. Mehr will ich dazu gar nicht sagen, denn ich denke, es ist genau das Vergleichen und Analysieren von Beziehungen und Beziehungsmodellen, das es vielen Menschen immer schwerer macht, einfach ihre Beziehung(en) so zu gestalten, wie es sich für sie richtig anfühlt. Alle paar Monate lese ich in Tageszeitungen oder Blogs selbstzufriedene Artikel über nicht-monogame Beziehungen, manche kritisch, manche befürwortend – ich brauche das nicht. Ich schöpfe auch keine Identität aus meiner Beziehungsform. Ab und zu lese ich so einen Artikel gerne mit Donald-Duck-Stimme jemandem zum Einschlafen vor. Dieser Beitrag hier klingt am besten mit der Stimme von Towely aus „Southpark“.
Sonja

Intime Fragen.
Ich bin eine Frau mit zwei Boyfriends und aufgrund dieser Konstellation werden mir immer wieder Fragen gestellt. Häufig: „Wissen die voneinander?“ Natürlich wissen sie voneinander, so gut bin ich auch nicht im Geheimnisse-Bewahren. Ja, sie mögen sich. Ja, wir machen Dinge zu dritt. „Habt ihr dann zu dritt Sex?“ Was für dämliche und völlig respektlos intime Fragen man gestellt bekommt! Was dämlich und respektlos ist? Alles was ihr „ganz normale“ heteronormative romantische Zweierbeziehungen nicht fragen würdet!
Stoli Sparkles

Liebe wird durch teilen mehr

  • 20.02.2013, 16:11

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Fabian erzählt mit strahlenden Augen von seinem kleinen Bruder Tim. „Wir bauen Lego und spielen Rennbahn. Das mache ich extrem gern. Das ist auch ein bisschen wie ein Alibi: Dass man das machen darf und nicht komisch angeschaut wird als Erwachsener“, lacht Fabian. Dabei hat Fabian Tim erst vor ein paar Monaten kennengelernt. Und streng genommen ist Tim auch nicht wirklich sein Bruder.

Fabian und Tim haben sich über das Mentoring-Programm Big Brothers Big Sisters gefunden, das seit 110 Jahren besteht. In den USA ist es die bekannteste Sozialmarke. Weltweit wurden bisher etwa zwei Millionen Kinder von großen Geschwistern betreut. Im Juni 2012 wurde das erste Büro von BBBS in Wien eröffnet. Bereits im ersten halben Jahr haben sich 50 Familien und 140 MentorInnen gemeldet. Aktuell gibt es in Wien schon 21 Mentor-Mentee-Tandems. Ziel ist, Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu fördern. Viele der betreuten sind Kindervon Alleinerziehenden.

Auch Ilona, Tims Mutter, kümmert sich alleine um ihren Sohn. Tim sei ganz ohne Vaterkontakt. „Es ist toll zu wissen, dass er jetzt mal ein Jahr lang jemand fix in seinem Leben hat, den er als Vorbild sieht. Ich kann mir natürlich auch die Bedienungsanleitung für einen Solarbaukasten nehmen, aber das kommt bei einem Kind ganz anders an, wenn das jemand macht, der technikbegeistert ist. Das ist ein ganz anderes Begreifen und Lernen.“

Und umgekehrt hat sich Fabian einen kleinen Bruder gewünscht, der neugierig ist, mit dem er ins Museum gehen und dem er viel erklären kann. Das trifft sich gut, denn Tim liebt das Technische Museum. „Es macht extrem Spaß. Und es ist ein wunderbares Gefühl, wenn ich sehe, dass Tim sich darüber freut.“ Durch ein bewährtes Matching-Verfahren wird für jedes Kind eine passende MentorIngefunden. „Gemeinsame Interessen sind gute Türöffner für die persönliche Beziehung“, erklärt Judith Smetacek, die Geschäftsführerin von Big Brothers Big Sisters Österreich.

Suche nach dem Puzzleteil. Intensiven Gesprächen mit den MentorInnen über Motivation, Interesse und Erwartungen folgen Telefonate mit drei vom Mentor genannten Referenzpersonen aus Familie, Freundeskreis und Arbeitsumfeld – um Selbstbild und Fremdbild zu vergleichen. „Oft ist man so fasziniert von dem Programm, vergisst aber, dass das in der aktuellen Lebenssituation vielleicht gar nicht umsetzbar ist. Daher ist dieser Gegencheck wichtig, um zu sehen, ob die Lebenssituation so stabil ist, dass eine langfristige, vertrauensvolle Beziehung zu einem Kind ohne Beziehungsabbruch jetzt gerade möglich ist“, erklärt Smetacek. Die Rollen zwischen Kernfamilie sowie großen Brüdern und Schwestern sind klar abgegrenzt. „Die Rolle des Mentors ist nicht die Erziehung des
Kindes. Er ist dazu da, um das Kind zu stärken, das Kind wertzuschätzen, ein Ansprechpartner zusätzlich zur Familie zu sein“, sagt Smetacek. Natürlich merkt man aber auch den Einfluss des großen Bruders. Seit Tim weiß, dass Fabian Vegetarier ist, möchte auch er meist ohne Wurst zu Abend essen.

Der Zeitraum für eine Mentoring-Beziehung ist auf acht bis zehn Stunden im Monat über mindestens ein Jahr festgelegt. Nach diesem Jahr kann das Mentoring-Verhältnis verlängert werden. Im Schnitt dauert eine Mentoring-Beziehung zwischen zwei und drei Jahren. „Eine neue Welt wird ein Stück weit erschlossen“, erklärt Smetacek. „Manchmal kommen verschiedene Nationen zusammen. Verschiedene Generationen sind es immer. Und verschiedene Biographien. Man lernt voneinander und miteinander.“ Internationale Studien zeigen, dass Kinder, die im BBBS-Mentoring großgeworden sind, sozial kompetenter sind als die Vergleichsgruppe. Sie können besser mit Konflikten umgehen und treten für ihre Wünsche und Bedürfnisse ein. Andere Vereine, wie etwa das Hilfswerk oder die Caritas, vermitteln Leihomas und Leihopas, wenn Großeltern in der Familie fehlen. Sie verbringen durchschnittlich zwei bis vier Stunden pro Monat mit ihrem neuen Enkelkind.

Ziel ist auch hier, dass Kinder in ihrer Leihoma oder ihrem Leihopa eine zusätzliche Bezugsperson finden. Mehrere Generationen sollen zusammengeführt werden. Karl, 58, Pensionist, ist Leihopa in Ausbildung. „Ich möchte eine erfüllende Tätigkeit, in die ich meine Lebenserfahrung einsfließen lassen kann“, sagt er. „Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben. Gerade in der Arbeit mit Kindern bekommt man ein großes Echo und viel Freude zurück.“

Alternativen. Die Zusammensetzung der Familie ändert sich. Wo früher noch das traditionelle Vater- Mutter-Kind-Modell das verbreitetste war, haben andere Familienformen in den letzten Jahrzehnten aufgeholt.  Heutzutage sind fast zehn Prozent aller Familien Patchworkfamilien. Die Anzahl der Alleinerziehenden hat in den vergangenen 50 Jahren um mehr als ein Drittel zugenommen.  Die Familienmodelle sind vielfältig. Und manche zeigen, dass es auch ganz anders gehen kann. Jacky und Paul sitzen in der Devi´s  Pearl Bar in Zürich und erzählen von ihrer Beziehung. Oder besser gesagt: von ihren Beziehungen.

Jacky ist verheiratet, hat mit Paul eine zweite Beziehung und noch eine Fernbeziehung in Bern. Paul hat eine Beziehung mit Jacky und eine Fernbeziehung in Wien. Er lebt mit seiner langjährigen Freundin zusammen, sie wird aber bald ausziehen – aus praktischen Gründen, damit beide mehr Privatsphäre haben, wenn sie sich mit anderen PartnerInnen treffen wollen. „Monogamie ist in unserer Gesellschaft verankert wie Schwerkraft in der Physik. Das wird einfach als von Gott gegeben angenommen. Ich glaube nicht, dass das so sein muss“, sagt Paul.

Jacky und Paul leben polyamourös. In vielen Verständnissen von Polyamorie geht es in erster Linie nicht um Sex, sondern darum, emotionale Bindungen zu mehr als einem Partner oder mehr als einer Partnerin zu leben.

Polyamourösität. Das polyamouröse Lebensmodell gibt Paulnicht zuletzt auch stabilere,  länger andauernde Beziehungen: „Wenn man auch mal was anderes sieht, hat man einen Kontrast und Abwechslung, und dann kann man eine Beziehung viel länger führen.“ Jacky erzählt von ihrem langen Entwicklungsprozess. Denn: man ist nicht einfach plötzlich polyamourös. Es findet ein grundlegender Paradigmenwechsel statt. „Du bekommst vorgelebt, dass Monogamie toll ist, und wenn dein Partner sich verliebt oder fremdgeht, ist die Beziehung sofort in Gefahr und du musst dich trennen. Genau da ist die Problematik. Du wirst sehr beeinflusst von außen, von der Familie, den Medien, von Freunden. Du musst dir aber überlegen: Was möchte ich?“

Als Jackys Mann Jürg vorbeikommt und sich zu ihnen setzt, nimmt Jacky einmal Pauls und dann Jürgs Hand. Sie lehnt sich unbewusst mal in die eine, mal in die andere Richtung, hakt sich mal bei Jürg ein, und gibt Paul einen Kuss, als sie kurz auf die Toilette verschwindet. Es scheint alles ausgeglichen zwischen den dreien. Keine Vernachlässigung eines Partners zugunsten des anderen, keine Eifersucht, keine Spannungen. Und genauso selbstverständlich und liebevoll handhaben Jacky und Jürg auch den Umgang ihrer jeweiligen Partner und Partnerinnen mit der gemeinsamen Tochter. „Vor einem Kind kannst du nichts verstecken. Die spüren das und es wäre nicht fair, ihm irgendetwas vorzumachen. Unsere Tochter kennt alle unsere Partner, und sie weiß auch, wenn ich einen Abend bei Paulbin. Je mehr Liebe sie bekommt, desto besser.“ Wenn Paul bei Jacky übernachtet und Jürg bei seiner Freundin ist, wird auch das vor ihrer gemeinsamen Tochter nicht verheimlicht.

War Paul am Abend da, fragt sie am nächsten Morgen auch nach ihm, um „Guten Morgen“ sagen zu können. „Ich glaube, dass ich mittlerweile eine Bezugsperson geworden bin, die wichtig ist für sie“, sagt Paul.

Ehrlichkeit als Schlüssel. So normal das polyamouröse Familienleben momentan für ihre  Tochter ist, machen sich Jacky und Jürg natürlich auch Gedanken darüber, wie ihre Tochter mit dem Thema in Zukunft umgehen wird, wenn sie die Andersartigkeit dieses Familienmodells von der Gesellschaft reflektiert bekommt. „Heutzutage ist die Gesellschaft schon offener als früher“, sagt Jürg. „Wenn sie Fragen hat, wird sie kommen. Sie wird von uns jede Frage ehrlich beantwortet bekommen. Ich werde vor ihr nichts verstecken“, sagtJacky. Sehr wichtig ist ihr, dass ihre Tochter Selbstverteidigung lernt. „Das gibt Selbstvertrauen“, fügt Paul hinzu. Zu Jackys und Pauls Beziehung gehört auch, dass sie Erziehungsfragen besprechen. „Ich führe eine Beziehung zu meinem Mann. Ich führe eine mit Paul. Und alles, was mich beschäftigt, teile ich mit allen“, sagt Jacky. Paul möchte aber für Jackys Tochter keinesfalls eine zusätzliche Person sein, um etwa ein „Nein“ ihrer Mutter zu umgehen. Für die direkte Erziehung ihrer Tochter sind ganz klar nur Jacky und Jürg zuständig. Bezugsperson ist er aber trotzdem, das ist ihm wichtig: „Liebe wird durch teilen mehr“, ist Paul überzeugt.