Nürnberger Prozesse

Warum der Nationalsozialismus von den alliierten Staaten angeklagt wurde

  • 08.03.2016, 20:48
Zwischen November 1945 und Oktober 1946 fand im Nürnberger Justizpalast ein bisher einzigartiger Strafprozess statt.

Zwischen November 1945 und Oktober 1946 fand im Nürnberger Justizpalast ein bisher einzigartiger Strafprozess statt.

Vor dem zu diesem Zweck geschaffenen Internationalen Militärtribunal (IMT) wurden 24 „Nazi-Führer“ und sieben nationalsozialistische Organisationen angeklagt. Die vier Hauptanklagepunkte stellten eine Reaktion auf das bis dahin nicht gekannte Ausmaß und die Schwere der Gewalt des Nationalsozialismus dar. Die Anklage ist auch das Ergebnis einer Deutung dieser verbrecherischen Gewalt und Herrschaftsform.

DER JURISTISCHE BLICK. Der Prozess gilt als Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts. Betont wird dabei die erstmalige individuelle Bestrafung von Spitzenfunktionären eines Staates. Die Alliierten selber nannten sie „Führer, Organisatoren, Anstifter und Mittäter“. Das IMT wird als Beginn einer Zäsur im internationalen Strafrecht gesehen, an deren Ende die Gründung des Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) in Den Haag steht. Dieser soll einen überstaatlichen Schutz von Menschenrechten und die Verfolgung einzelverantwortlicher „Menschenrechtsverbrecher“ ermöglichen. Der IStGH steht vor der Herausforderung seine Gerichtsbarkeit durchzusetzen, und als überstaatliches Gericht von Staaten anerkannt zu werden. Das IMT in Nürnberg stand vor ganz anderen Herausforderungen: Der nationalsozialistischen Gewalt und der Wahrnehmung, dass es die Verbrechen waren, die überstaatlich, also international, waren. Für die Anklage der NSHerrschaft fehlte nicht nur das Gericht, es existierten noch nicht einmal strafrechtliche Kategorien für die bis dahin nicht gekannte Form der Gewaltverbrechen und der politischen Organisationsform der TäterInnen. Das Statut für das IMT wurde im August 1945 auf einer alliierten Konferenz in London verhandelt und schließlich beschlossen. Die Umsetzung einer Anklage der NS-Herrschaft erforderte mehr als Diplomatie.

VIER HAUPTANKLAGEPUNKTE. Das Verbrecherische an den Gewalttaten der NationalsozialistInnen musste zuerst bestimmt werden – auch, um darauf aufbauend völkerrechtlich relevante Brüche von „Vertragsrecht, Gewohnheitsrecht und allgemeinem Gewissen“, den nach Aussage Whitney Harris, eines der US-amerikanischen Ankläger, drei Hauptquellen des Völkerrechts, bestimmen und strafrechtlich kodifizieren zu können. Das Ergebnis waren vier bis dahin völkerrechtlich nie zuvor angewandte Verbrechenskategorien: „Verbrechen gegen den Frieden“, „Kriegsverbrechen“ und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Der vierte Vorwurf – „gemeinsamer Plan oder Verschwörung“ zur Begehung dieser genannten Taten – zielte vordergründig auf die Verantwortlichen ab, wobei die Anklagebehörden damit auch versuchten, einen Zusammenhang zwischen den Taten zu betonen.

Vor dem Schritt der Rechtsfindung und -anwendung mussten die Alliierten eine gewissermaßen kriminologische Einordnung, also das Verbrechen bestimmende oder erklärende Einordnung des Nationalsozialismus, vornehmen. Diese auch als Deutung des Nationalsozialismus und seiner Gewalt zu begreifen, erscheint hier besonders wichtig.

DIE ZIVILISIERTE STAATENWELT. Das Ergebnis dieser Deutung drückte sich in der Selbstwahrnehmung der Ankläger aus. So sah etwa der US-amerikanische Ankläger Robert Jackson als „wahre Klägerin vor den Schranken dieses Gerichts“ die Zivilisation. Die Verbrechen, die in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern begangen wurden, an jenen Orten, an denen der „Zivilisationsbruch“ (Dan Diner) des Nationalsozialismus manifest wurde, standen allerdings gar nicht im Fokus der Anklage. Wie ist diese Aussage Jacksons dann aber zu verstehen? Die Anklagekonzeption war zu jedem Zeitpunkt auf den deutschen Angriffskrieg ausgerichtet. Zeitlich und logisch wurden seine Vorbereitung und Planung als „Knotenpunkt“ (Jackson) gesehen. „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ wurden als Folge der Vorbereitung und Durchsetzung des Krieges gesehen. Systematische – auch die antisemitisch und antislawisch motivierte – Gewalt wurden im zeitlichen Verlauf des Krieges und der Okkupation gesehen und unter „Kriegsverbrechen“ subsumiert. Dem Sinnbild der Alliierten entsprechend, klagte die Zivilisation den Krieg der Nazis an. Hannah Arendt schrieb in ihrem Denktagebuch: „Das internationale Recht beruhte im Kriege darauf, dass innerhalb der zivilisierten Welt, auch wenn der ‚consensus‘ zwischen den Staaten abgebrochen war, derjenige ‚consensus‘, auf dem jeder von ihnen beruhte, unangetastet bleiben musste. Ohne dies wäre jeder Krieg zu einer Bedrohung des gesetzlich festgelegten Systems des Staates selbst geworden.“ Die Anklage richtete sich genau gegen die vom nationalsozialistischen Krieg ausgehende besondere Bedrohung.

KRIEG GEGEN DIE ZIVILISATION. Die Beweisführung zu den „Verbrechen gegen den Frieden“ zeigte, worin die Bedrohung der Zivilisation gesehen wurde: in einer fundamental gegen die Anerkennung von staatlicher Souveränität gerichtete Kriegspolitik. Der britische Ankläger Hartley Shawcross beschrieb etwa am Beispiel der von Deutschland betriebenen Zerschlagung und Annektierung des tschechoslowakischen Staates, wie die Bedingungen internationaler Beziehungen zerstört wurden. Das zeigt sich an der Behauptung der NationalsozialistInnen dort Gebiete zu okkupieren, die man als von sogenannten „Volksdeutschen“ bewohnt ansah. Nach nationalsozialistischem Verständnis, erklärte Jan Philipp Reemtsma, war der Krieg keiner zwischen Staaten, sondern ein „Rassenkrieg“. Die Ankläger erkannten darin explizit einen Angriff auf die Bedingungen staatlicher Souveränität. Vor Gericht wurde damit der „Mythos von der Rassegemeinschaft“, wie es der französische Ankläger François de Menthon ausdrückte, thematisiert. Die rassenideologischen Versuche festzustellen, wer „Volksgenosse“ war, mündeten seiner Ansicht nach auch in der Hierarchisierung von „Rassen“.

Die „Resubstantialisierung der einst abstrakten staatsrechtlichen Begriffe“, wie Ingeborg Maus diesen politischen Prozess kritisch nannte, und die „Rassifizierung“ des Rechts waren ein Angriff auf die Herrschaft des Gesetzes, die in bürgerlich-kapitalistischen Staaten der Form nach gleiche Rechte und Schutz für alle sichert. So lange nämlich die Rechtsordnung universal ist, schrieb Franz Neumann in seiner Analyse der NS-Herrschaft 1942, garantiert sie „auch ein Minimum an Freiheit, da das allgemeine Gesetz zweiseitig ist und so auch den Schwachen wenigstens rechtliche Chancen einräumt“.

LOGIK DES VERBRECHENS. Deutschland betrieb in den überfallenen Staaten eine vom sowjetischen Ankläger Roman Rudenko beschriebene Vernichtung „aller demokratischen Einrichtungen und bürgerlichen Rechte der Bevölkerung“. Ankläger de Menthon sah in dieser ideologischen und praktischen Entgrenzung der Gewalt eine eigene „Logik des Verbrechens“. Das NS-Regime erkannte nicht nur keine völkerrechtlichen Beziehungen zwischen den Staaten an, „großangelegter, geplanter und systematischer Mord [wurden] zur wesentlichen Aufgabe einer fest gefügten und scheinbar sicheren kriegerischen Besetzung“, so Shawcross.

Die völkische Ideologie wurde vor allem in Gestalt ihrer logischen Feindschaft zu den Bedingungen eines „rechtlich gehegten Zusammenlebens der ‚zivilisierten‘ Völker“ (Erhard Denninger) angeklagt. Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess war keine Sammelklage der von einem „Führerstaat“ in ihren Grenzen verletzten Staaten. Angeklagt wurde eine „Verschwörung gegen die Welt“ (Jackson).

VERSCHWÖRUNG, KEIN FÜHRERSTAAT. Otto Stahmer, der Verteidiger Hermann Görings in Nürnberg, erklärte vor Gericht, ein Diktator zwinge zur Umsetzung seines Planes, eine „Verschwörung mit einem Diktator an der Spitze [sei] ein Widerspruch in sich selbst“. Dieser Einwand überraschte die Ankläger wenig, war es ihnen mit der konzeptionellen Annahme einer „Verschwörung“ konkret daran gelegen zu verhindern, dass sich die Angeklagten hinter dem Staat als „metaphysischen“ Schuldigen oder Hitler als „Diktator“ der Verbrechen verstecken konnten. Zwar sah man auf der Nürnberger Anklagebank, den Worten des französischen Anklägers Charles Dubost nach, „das Gehirn dieses Staates“ sitzen. Die Deutung einer „Verschwörung“ ist jedoch auch Reaktion auf die spezifische Machtverteilung im Herrschaftsgefüge des NS, dessen politische Organisationsform an Stelle einer allgemein zentralisierten Gewalt vielmehr einen „gemeinsamen Plan“, etwa jene besagten „Knotenpunkte“, aufwies.

Die Ankläger hatten aus den Gewaltphänomenen auf die politische Struktur der nationalsozialistischen Herrschaft geschlossen. Das heißt, der alliierte Deutungsprozess im Rahmen der Anklage limitierte sich auf eine herrschaftsstrukturelle Beschreibung des Nationalsozialismus. Schwachpunkt dieser Wahrnehmung ist, dass sie das „Selbststabilisierungspotenzial“ (Winfried Süß) des NS weiterhin in seiner politischen Organisationsform vermuten musste. Sie musste also so sehr auf die Existenz einer gemeinsamen „Verschwörung“ zur Begehung der Verbrechen pochen, dass sie gewissermaßen in jene Sackgasse lief, an deren Ende den spezifisch nationalsozialistischen Gewaltverbrechen – dem „Zivilisationsbruch“ – eine sinnvolle Herrschaftsfunktion zugeschrieben werden musste. Darum erhielt der Antisemitismus ausgerechnet an dieser Stelle des Prozesses auch die meiste Aufmerksamkeit. Die antisemitische Verfolgung und Vernichtung wurde auf die Funktion als Speerspitze der Drohung gegen potenziellen Widerstand reduziert. Diese Wahrnehmung des Antisemitismus kann die in den Konzentrationslagern betriebene Vernichtung um ihrer selbst willen nur rationalisieren. Sie muss übergehen, dass in Auschwitz die „praktische Widerlegung der Prinzipien von Zweckrationalität und Selbsterhaltung“ wirklich wurde, wie Dan Diner sagte.

Wenn Ankläger Shawcross den Antisemitismus als „Bindemittel zwischen Volk und Regime“ bezeichnete, so scheint den Anklägern dennoch etwas von der Bedeutung des irrationalen Wahns für die Stabilisierung der nationalsozialistischen Gesellschaft bewusst geworden zu sein. „[D]ie Juden zu vernichten“, war Ankläger Jackson zufolge „eine bindende Kraft, die jederzeit die einzelnen Teilkräfte dieser Verschwörung zusammenhielt“.

ANALYSE UND ANKLAGE. Die Anklage war nicht das Ergebnis einer „herrschaftstheoretischen“ (Alfons Söllner) Analyse des Nationalsozialismus. Die Wahrnehmung der NS-Gewalt als verbrecherische implizierte eine Deutung der Herrschaft des Nationalsozialismus in Abgrenzung von den politischen Herrschaftsformen der anklagenden Staaten. Gegenstand des Prozesses war das „unstaatliche“ (Franz Neumann) Gewaltverhältnis des NS. Darin zeigt sich deutlich die Differenz der Gegenstände von IMT und IStGH. Eine kritische Analyse aktueller Ideen internationaler Strafgerichtsbarkeit kann hier ihren Ausgangspunkt finden.

Raphael Heinetsberger studiert Politikwissenschaft in Wien und Hamburg.