Marxismus

Katzen, Weltraum, Kommunismus

  • 22.06.2017, 16:50
Das Internet ist nicht nur eine Fundgrube für Schminktutorials und Pornos, sondern auch für Memes. Im Jahr 2017 ist Kommunismus ein immer beliebter werdendes Thema.

Das Internet ist nicht nur eine Fundgrube für Schminktutorials und Pornos, sondern auch für Memes. Im Jahr 2017 ist Kommunismus ein immer beliebter werdendes Thema.
Angefangen bei Nyan Cat über Doge, „Charlie bit my finger“ oder Gangnam Style, das schwarzblaue oder goldweiße Kleid bis hin zum US-Neonazi Richard Spencer, der eins auf die Fresse kriegt, untermalt von „Wrecking Ball“-Memes. Sie sind allen bekannt, die das Internet für mehr als E-Mails nutzen. Spätestens wenn man zum ersten Mal „gerickrollt“ wurde, versteht man die Faszination und Anziehungskraft solcher Videos oder Bilder – es sind elaborierte Insidergags des kollektiven Internetgedächtnisses. Mal mehr oder weniger tagespolitisch, mit mehr oder weniger Gespür für Humor, nach den ersten fünf Minuten meistens extrem nervig, aber immer präsent: Das sind Memes und sie werden nicht verschwinden.

LENIN CAT. Nicht immer ist nachvollziehbar, woher ein Meme kommt und wohin es geht, wer es gemacht hat oder was das überhaupt soll. Es wird so oft wiederholt, angepasst, geremixt und aus dem Kontext gerissen, dass die Spezialist*innen von „Know Your Meme“ – eine Seite, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Memes zu katalogisieren, zu erklären und zu sammeln – es auch nicht immer schaffen, den Hintergrund oder die Urheber*innen ausfindig zu machen. Wenn man auf besagter Website nach „communism“ sucht, bekommt man nicht nur ein Ergebnis, sondern: Lenin Cat, Faux Cyrillic, Fully Automated Luxury Gay Space Communism und viele hunderte Subkategorien mehr.

Die Legende besagt, dass Kommunismusmemes durch die Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders 2015 eine breite Öffentlichkeit bekommen haben und seitdem nicht mehr aufzuhalten sind. Dass es davor schon etliche marx- und leninthematische Memes gab, ist klar. Wie das bei Memes aber nun einmal ist, hat sich 2017 durch die General Election in Großbritannien der Name und das Gesicht von Jeremy Corbyn gegenüber den Klassikern des Kommunismus (und Bernie Sanders) durchgesetzt und war somit überall präsent. Eines seiner Highlights ist der YouTube-Hit „Join Labour“, das Bild und Ton von „Join the Navy“ hernimmt, in dem aber auf die Köpfe der Village People neben Corbyn und den oben genannten Marx und Lenin auch Stalin und Mao gephotoshoppt wurden.

ŽIŽEK UND FRUCHTSAFT. Der YouTube-Kanal, auf dem dieses Video geteilt wird, heißt /leftypol/, was für Kenner*innen unschwer in der 4chan- Ecke des Internets verortet werden kann. Über 4chan sollen hier nicht viele Worte fallen, nur so viel: Richard Spencer mag 4chan. Umso irritierender, dass /leftypol/ – steht für leftist politically incorrect – dort operiert und guten Content produziert. Eine Sache muss man sich bewusst machen: Die Memes werden von Linken und Rechten gleichermaßen erstellt, doch man erkennt den Unterschied nur schwer, meist überhaupt nicht. Bei einer kleinen Umfrage unter Freund*innen fanden alle das Labourvideo lustig und niemand hätte vermutet, dass dahinter die Alt-Right steht. Das beweist hauptsächlich eines: Linke haben eben Humor.

Linke und Rechte machen sich über den marxistischen Philosophen Slavoj Žižek lustig, und obwohl die Gründe unterschiedlich sein mögen, sitzen beide Seiten vor dem Bildschirm und lachen über Interviewschnipsel, in denen er zusammenhanglos und mit vielen Schimpfworten über Pornographie oder Fruchtsaft redet – oder wie er aus einem Gartenschlauch trinkt. Der Kern aller Gags bei den Kommunismusmemes ist aber deutlich politischer. Es geht um die großen Probleme der Welt, Kapitalismus, Armut, working poor und Klimawandel. Und die Lösung all dieser Probleme ist extrem einfach und naheliegend, nur niemand will es wahrhaben: KOMMUNISMUS! Rechte können darüber lachen, weil sie es absurd falsch finden. Linke lachen darüber, weil sie es für absurd richtig halten.

WELTRAUMKOMMUNISMUS. Am deutlichsten wird dieser verworrene Konnex zwischen politischem Interesse, Humor und Absurdität bei der Phrase „Fully Automated Luxury Gay Space Communism“. Nicht nur wollen wir™ nicht mehr arbeiten müssen (= fully automated) im gemeinschaftlichen Wohlstand (= luxury), sondern soll das Ganze auch mit Auflösung der Geschlechter (= gay) im Weltraum (= space) passieren. Dies ist eine schöne Weiterentwicklung des Antifaspruchs „Wir wollen nicht nur ein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei!“. Denn wenn wir ehrlich sind, ist die Forderung nach Kommunismus schon schwer genug zu erfüllen, ohne ihn gleich in den Weltraum zu verlagern.

Wahrscheinlich ist das der Grund für das Erstellen dieser Memes. Die politische Lage sieht für Kommunist*innen nicht rosig aus. Das Internet begleitet uns durch den (Arbeits)Tag und wenn man schon am PC hocken muss und lohnarbeitet, kann ein Bild mit einem süßen Hund, der auf seinem Halstuch Hammer und Sichel trägt, den Tag schöner machen. Ob Hundebilder dabei helfen werden, den Kommunismus herbeizubeschwören? Wohl kaum. Ist das Ganze nur ein Abwehrmechanismus der Psyche, um darüber hinwegzukommen, dass wir™ alle wohl nie in den Genuss kommen werden, im Kommunismus leben zu dürfen? Vielleicht.

Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies an der Universität Wien.

ABC des Kommunismus

  • 21.06.2017, 18:21
Nach 150 Jahren ist Das Kapital von Karl Marx in aller Munde, seine Theorie und kommunistische Kritik sind aber weitgehend vergessen. Was die zu bieten haben, soll dieses ABC skizzieren.

Nach 150 Jahren ist Das Kapital von Karl Marx in aller Munde, seine Theorie und kommunistische Kritik sind aber weitgehend vergessen. Was die zu bieten haben, soll dieses ABC skizzieren.

Abstrakte Arbeit
ist nicht zu verwechseln mit einer bestimmten Tätigkeit, die einen bestimmten Nutzen erzeugt, sondern bezeichnet die Eigenschaft der Arbeit, den Wert der Waren zu produzieren – in einem proportionalen Verhältnis zur Arbeitsdauer. Dieser Begriff stellt klar, dass das Lob der Arbeit sich mit Marxismus nicht verträgt. Arbeit ist als Lebensnotwendigkeit jenseits von Lob oder Verdammung, immer mehr Arbeit für immer mehr Wert ist der Zweck der kapitalistischen Produktionsweise. Marx hat es behauptet, die VWL hat es bezweifelt – aber KapitalistInnen praktizieren das Wertgesetz, wenn sie in ihren Maßnahmen ihr Kapital zu seiner Vermehrung einsetzen, also darum konkurrieren, möglichst viel abstrakte Arbeit bei sich zu versammeln und gleichzeitig das Maß dieser Konkurrenz immer höher zu schrauben, also Arbeit bei sich zu reduzieren, die die Konkurrenz noch aufbringen muss (vgl. ➡️ Arbeitswertlehre ➡️ Produktivkräfte).

Arbeitskraft
Während die Arbeitskraft allgemein in der physischen Fähigkeit des Individuums besteht, die Natur zu seinem Zweck zu verändern, besteht die kapitalistische Variante dieses Umstands darin, dass die Arbeitskraft Ware sein darf. Als solche wird sie veräußert, auf dass ihre KäuferInnen sie für diese Periode – die Arbeitszeit – frei zu ihrem Zweck einsetzen können. Insofern ist der Satz unwahr, dass Arbeit bezahlt wird. Bezahlt wird dder Wert der Ware Arbeitskraft, nicht der der Arbeit, denn ihr Produkt gehört dem Kapital. Weil ArbeiterInnen nicht versklavt sind, gewinnen sie jeden Abend die Verfügung über ihre Arbeitskraft zurück, um sich erholen zu können (für den nächsten Tag).

Arbeitswertlehre
Keine „Lehre“, sondern die Kritik der politischen Ökonomie, die sich nicht mit der Banalität erledigt, dass sich der Preis der Waren nicht durch die Arbeit „berechnen“ lässt. 1. weil Marx im Kapital erklärt, dass der Wert der Ware keinen Rechtsanspruch der ProduzentInnen bezeichnet, sondern das Ergebnis eines Konkurrenzkampfes, der sich hinter dem Rücken der ProduzentInnen abspielt. 2. weil man schon kapieren muss, warum Arbeit Wert schafft, aber Maschinen – selbst Arbeitsprodukte – ihn nur übertragen, man die Wissenschaft von der Ökonomie auf die vulgärökonomische Flachheit reduziert, das Phänomen, dass jeder für seine Ware verlangt, was er kriegen kann, für den Begriff der Sache zu halten. 3. Näheres bei Marx!

Ausbeutung
hat mit einem moralischen Vorwurf nichts zu tun. Ausbeutung wird durch ➡️ KapitalistInnen dadurch erreicht, dass sie ➡️ LohnarbeiterInnen unbezahlte Mehrarbeit verrichten lassen, indem deren Arbeit ein wertvolleres Produkt produziert, als ihre Bezahlung kostet. Ausbeutung bezeichnet die trostlose Rolle der produktiven ArbeiterInnen, für diesen Zweck in Haftung genommen zu werden und ist insofern kritisch gemeint. Die Forderung eines gerechten Lohns, der den ArbeiterInnen die Arbeit wirklich entgilt, ist mit der Kritik der Ausbeutung nicht verbunden. Diese Forderung übersieht nicht nur, dass nicht die Arbeit, sondern Ware ➡️ Arbeitskraft bezahlt wird – sie geht auch von der Trennung aus, die das ➡️ Privateigentum zwischen Reichtum und ArbeiterInnen zieht.

Dialektik
Eine Wunderwaffe, mit der man Widersprüche rechtfertigt, ohne sie zu erklären, weshalb sie sich besonders in Uni-Seminaren bestens bewährt.

Gebrauchswert & Tauschwert
Was an Arbeitsmitteln und an Genussmitteln, also sachlichem Reichtum, zur Verfügung steht, macht zunächst den Reichtum jeder Gesellschaft aus. Im Kapitalismus gewinnt dieser Gebrauchswert-Reichtum zusätzlich die Qualität des Tauschwerts: Die nützlichen Dinge haben Wert, weil sie tauschbar sind. Diese zweite Qualität der Ware drückt sich in ➡️ Geld aus.

Geld
ist materialisierte, quantifizierte und ausschließende Kommandomacht über Produkte und Arbeit. Die irrationale Gestalt des ➡️ Privateigentums als Ding, auf dem die politische Ökonomie des Kapitalismus beruht.

LohnarbeiterInnen, doppelt freie
Die/Der LohnarbeiterIn bezeichnet eine recht kümmerliche Gestalt, die über die Mittel ihres eigenen Lebens nicht verfügt, aber dabei tun und lassen kann, was sie will. Durch den ➡️ privateigentümlichen Ausschluss von den ➡️ Produktionsmitteln sind die LohnarbeiterInnen auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen, was ihre Freiheit recht bescheiden ausfallen lässt.

Entfremdung
Entgegen modernen Gerüchten bezeichnete Marx mit der Entfremdung nicht Kapitalismuskritik als Sinnfrage, sondern den Umschlag des Eigentumsgesetzes (MEW 23, S. 609–611), wonach nicht mehr eigene Arbeit das ➡️ Eigentum am Produkt begründet, sondern die ➡️ kapitalistische Meisterleistung, alle Elemente des Produktionsprozesses zu bezahlen. Für die ArbeiterInnen bedeutet dies auch, dass ihre Arbeit in der Unterordnung unter den vom Kapital organisierten Produktionsprozess besteht. Die – reale – Absurdität besteht darin, dass die Arbeit nicht das Mittel derer ist, die arbeiten.

Freiheit & Gleichheit
Keine Werte, die im Kapitalismus vor die Hunde gehen, sondern die realen, juristischen Bedingungen, unter denen ➡️ Lohnarbeit und ➡️ Kapital sich begegnen. Diese Bedingungen bestehen in der realen Abstraktion davon, was die gegensätzlichen Interessen ausmacht und worüber sie verfügen. Kapital und Arbeit begegnen sich als Personen auf dem Markt, wo sie einen höchst ungleichen Tausch machen, der die Verfügung über die Ware Arbeitskraft gegen Lohn entgilt. Dass Freiheit und Gleichheit eine ungemütliche Sache sind, lässt sich auch daran studieren, dass die ArbeiterInnen anders in den Produktionsprozess eintreten (MEW 23, S. 189–191), als sie aus ihm herausgehen (MEW 23, S. 319f.).

Krisen
kommen und gehen, machen jedenfalls dem Kapitalismus leider nicht den Garaus.

Hegel
muss man nicht gelesen haben, um Marx zu verstehen (dafür müsste man Marx lesen).

historisch erkämpft
ist die Gleichberechtigung der ProletarierInnen mit ihren ArbeitgeberInnen, ebenso wie alles Soziale an der Marktwirtschaft, was für keinen der beiden Erfolge spricht. Während zu ersterem mit ➡️ Freiheit und Gleichheit das Nötige gesagt ist, besteht die Errungenschaft des Sozialstaats einfach darin, von den Schädigungen der ➡️ Lohnarbeit auszugehen, um diese zu kompensieren und die Lebenslüge des Lohns wahrzumachen, von ihm „leben“ zu können. Der Sozialstaat erhält die Gesellschaft, die ihn nötig macht, weil er sie affirmiert. Und ProletInnen leben als „einfache Leute“ vor sich hin, weil und solange sie sich ein Leben außerhalb der Organisationsformen moderner Armut nicht vorstellen mögen.

Industrielle Reservearmee
Arbeitslose; ein Produkt des kapitalistischen Einsatzes der ➡️ Produktivkräfte, wobei die Industrielle Reservearmee nicht entsteht, weil die ArbeitgeberInnen keine Arbeit „geben“, sondern weil das Kapital die Lohnarbeit so anwendet, wie es für seine Verwertung zuträglich ist. Mit ihrer Konkurrenz entfalten die Arbeitslosen segensreiche Wirkungen auf den Arbeitsmarkt, wo das Kapital durch Lohndrückerei seinen ➡️ Profit steigern kann.

KapitalistIn
Der Eigentümer von Kapital, der die ➡️ doppelt freien Lohnarbeiter für seinen Profit ➡️ ausbeutet. Als solcher hat er keinen schlechten Charakter, sondern betätigt sich als Charaktermaske, womit gemeint ist, dass er als bloße Personifikation einer ökonomischen Kategorie handelt. Gibt es nicht nur in männlich, wie schon früh eine „Dame mit dem gemütlichen Namen Elise“ bewies (MEW 23, S. 269).

Kommunismus
Kein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird, sondern die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt.

MEW
Marx-Engels-Werke. MEW Band 23 = Das Kapital Bd. 1. Lesen!

Müllhaufen der Geschichte
Bestimmungsort aller theoretischen Schriften der Agenda Austria.

Privateigentum
Im Unterschied zum Besitz einer Sache bezeichnet Privateigentum nicht den schlichten Umstand, über eine Sache (zwecks ihrer Konsumtion) zu verfügen, sondern die Willkür, sie anderen vorzuenthalten. Seine bestechende Durchschlagskraft erhält dieses Recht, wo es das Produktionsverhältnis des Kapitals kodifiziert, also dem Kapital sein Monopol auf den Reichtum der Gesellschaft sichert, während es den LohnarbeiterInnen die Unsicherheit ihrer Existenz garantiert. Deswegen muss es beseitigt werden.

Produktionsmittel
(auch: Rohstoffe, Maschinen, Gebäude) gehören dem Kapital, was dieses zur herrschenden Klasse qualifiziert. An den Produktionsmitteln hantieren diejenigen, die sie nicht haben, zum Wohle derjenigen, die damit „Arbeitsplätze schaffen“. Dieser verantwortungsvolle Beruf besteht in der eigentümlich eigennützigen Handlung, andere für sich arbeiten zu lassen – auf der schlichten Grundlage des ➡️ Privateigentums an den Produktionsmitteln.

Produktivkräfte
werden gesteigert, damit am Preis der Arbeit gedreht wird. Das Kapital verändert das Verhältnis von Vor- und Überschuss, indem es den Wirkungsgrad der Arbeit erhöht, mittels neuer Technologie und Arbeitsmethoden, was keine Wohltat für die arbeitende Menschheit ist, weil sie gleich doppelt auf ihre Kosten geht: 1. wird ihre Arbeit nicht weniger, sondern überflüssig, was zur Bildung einer ➡️ Industriellen Reservearmee führt. 2. wird die bezahlte Arbeit der nicht entlassenen Mannschaft reduziert, was schlecht ist für Leute, die ausgerechnet davon leben, möglichst viel von ihrer Arbeit zu verkaufen. Die Verringerung der bezahlten Arbeit ist die Senkung der Lohnstückkosten, wodurch das Kapital den Ausschluss der ArbeiterInnen von ihrem Produkt steigert, also seinen ➡️ Profit.

Profit (auch Gewinn)
besteht im Geld-Überschuss, den KapitalistInnen realisieren, wenn Waren verkauft werden und dabei mehr einstreichen, als sie in ihrem Vorschuss (Arbeitskräfte, Produktionsmittel usw.) investiert haben. Da der Profit für mehr Profit reinvestiert wird, also maßlos ist, steht er im Ruch, dem Gemeinwohl zu widersprechen, was nicht gerecht ist, weil er als Bedingung allen andern Einkommens (Zinsen, Renten, Gehälter) genau das Gemeinwohl stiftet, das der Kapitalismus zustande bringt: Wirtschaftswachstum!

Utopien
gehen nicht, weshalb realitätsbewusste ZeitgenossInnen gerne den ➡️ Kommunismus als eine solche bezeichnen. „Phantastische Gemütsschwärmerei“ (MEW 4, S. 3) war allerdings Marx und Engels eher peinlich, weshalb sie neben ihrem Programm der „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ auch polemisch Stellung bezogen haben. GegnerInnenschaft gegen die kapitalistische Produktionsweise verlangt nämlich Kenntnisse und nicht bloß Absichten.

verkürzte Kritik
ist ein antikritisches Modewort, das falsche Einwände gegen den Kapitalismus als guten Ansatz, der leider nicht weit genug getrieben wurde, würdigt. Gehört auf den ➡️ Müllhaufen der Geschichte.

Fragen & Einwände aufschreiben und an abcdesmarxismus@hotmail.com schicken!
Dragana Komunizam hat Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert.

Kapitalismuskritik to go

  • 23.02.2017, 19:20
Marx als Comic.

Eine kleine Käserei am Land, ein Familienbetrieb. Hier stellen Robin und sein Vater den Käse her, den sie später am städtischen Marktplatz verkaufen. Dort macht Robin eines Tages Bekanntschaft mit einem Investor, welcher ihm ein Angebot unterbreitet. An dieser Stelle entspinnt sich eine Geschichte, in welche die marxsche Analyse des Kapitalismus eingewoben ist. Robin nimmt einen Kredit auf, es werden Gebäude, Maschinen, Rohstoffe und andere Waren gekauft. Darunter befindet sich auch die im Kapitalismus entscheidende Ware: die Arbeitskraft.

Die zentralen Konzepte der marxschen Kritik, die im Laufe der Story vorkommen, werden in kleinen Hinweiskästchen in zwei oder drei Sätzen erklärt – angesichts des fast tausendseitigen Umfanges des ersten „Kapital“-Bandes eine unglaubliche Reduktion. Wie den marxistisch ungeschulten Leser_innen, so wird auch dem Nachwuchs-Kapitalisten Robin Stück für Stück klar, wie die „Maschine Kapitalismus“ funktioniert.Sein Investoren-„Freund“ Daniel erklärt ihm, wie man Arbeiter_innen ausbeutet, wie man Mehrwert generiert, was der Tausch- und der Gebrauchswert einer Ware sind, und dass er als Finanzier sein Geld zurückbekommen wird – unter allen Umständen. Langsam vermengt sich theoretischer Input mit der immer dramatischer werdenden Geschichte.

Mit jeder Anhebung des Arbeitstempos, mit jeder weiteren angeordneten Prügelorgie des Vorarbeiters sinkt Robins Hoffnung, das Geld jemals zurückbezahlen zu können. Vom Gedanken reich zu werden ganz zu schweigen. Karl Marx war nicht nur Philosoph, sondern auch Visionär. Die Arbeiter_innen würden sich über ihre gemeinsame ökonomische Lage klar und von einer „Klasse an sich“ zu einer „Klasse für sich“ werden, so seine These. Über diesen knapp 200-seitigen Comic kann man verschiedener Meinung sein. Manche mögen in ihm eine zu starke Vereinfachung und Popularisierung von Marx' Gedanken sehen. Andere könnten es begrüßen, dass der Comic die intellektuelle und theoretische Schwelle zur Kapitalismuskritik senkt, wodurch sich potentiell mehr Leute für dieses Thema begeistern könnten. „Capital in Manga“ ist jedenfalls eine gute Einstiegslektüre für alle, die an Robert Misiks „Marxismus für Eilige“ noch scheitern.

VarietyArtworks: Capital in Manga! Red Quill Books 2012, 191 Seiten, 24,50 Euro.

Johannes Mayerhofer studiert Soziologie und Psychologie an der Universität Wien.

„Insgesamt bin ich nicht allzu optimistisch“

  • 21.06.2016, 20:22
Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

progress: In Ihrem Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ grenzen Sie die kritische Theorie von Marx stark vom Marxismus der II. und III. Internationale ab. Letzteres fassen Sie unter dem Namen traditioneller Marxismus zusammen. Können Sie das ein wenig ausführen und die Unterschiede erklären?
Moishe Postone: Die Kategorie „traditioneller Marxismus“ ist eine Bezeichnung, die sehr viele Ansätze einschließt. Der gemeinsame Nenner ist eine Kritik am Kapitalismus, die sich ausschließlich gegen die Distributionsweise, das Privateigentum und den Markt richtet. Der Standpunkt der Kritik ist die Arbeit. In einer postkapitalistischen Gesellschaft sollen die Arbeiter_innen den Reichtum, den sie produziert haben, innerhalb einer Planwirtschaft zurückbekommen. Zwar nicht als Einzelne, aber gesellschaftlich. Diese Analyse des „traditionellen Marxismus“ ist auf der einen Seite historisch inadäquat geworden und auf der anderen Seite ging schon die Kritik von Karl Marx in eine andere Richtung. Bei ihm ist es eine Kritik der Arbeit im Kapitalismus, statt einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus. Ich habe versucht herauszuarbeiten, wie der spezifisch kapitalistische Charakter der Arbeit im Kapitalismus einer sehr komplexen Dynamik unterliegt. Diese Dynamik unterscheidet den Kapitalismus von allen vorhergehenden Gesellschaften. Marx liefert mit seiner Analyse ein Instrumentarium, um diese widersprüchliche Dynamik zu begreifen.

Und diese Widersprüche im Kapitalismus sind dann auch jene, die zu Widersprüchen gegen den Kapitalismus führen?
Ja, und fast alle die sich mit Marx beschäftigt haben, reden von der Widersprüchlichkeit des Kapitalismus. Größtenteils wird dieser Widerspruch aber als einer zwischen Privateigentum und Markt auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite verstanden. Ich halte dem entgegen: Nein, es ist ein Widerspruch zwischen dem Zustand, wie Arbeit heute organisiert wird und einer möglichen zukünftigen Organisation der Arbeit. Ein Widerspruch zwischen dem Bestehenden und dem in ihm enthaltenen Potential, welches aber durch das Bestehende selbst nicht verwirklicht werden kann und deshalb auf die Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus verweist. Es ist eine Kritik an der auf Arbeit basierenden Gesellschaft.

Warum haben die Marxist_innen am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts Marx so gelesen?  Wer den Autor der Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam liest, stößt auf viele Stellen, in denen er diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit sehr explizit ausführt. Wie kam es also dazu?
Einmal ist es eine Rezeptionsgeschichte. Die Leute haben eigentlich nicht Marx gelesen, außer vielleicht das Kommunistische Manifest. Hauptsächlich haben sie Friedrich Engels gelesen. Was Marxismus genannt wird, sollte Engelsismus heißen. Es ist aber nicht nur eine Rezeptionsgeschichte. Die Arbeiterklasse wuchs zu dieser Zeit rasant an. Es war vor diesem Hintergrund sehr leicht vorstellbar, die Gesellschaft in Form der Kapitalistenklasse einfach zu enthaupten und damit eine befreite Gesellschaft zu erringen. Vor 50 Jahren kam diese Entwicklung aber an ihr Ende. Die Linke der 1960er verstand das nicht ganz. Zum einen vollzog sich damals etwas, was André Gorz den Abschied vom Proletariat nannte. Zum anderen gab es in Deutschland K-Gruppen, die den Gang in die Fabriken propagierten. Sie waren in historischen und politischen Belangen sehr verwirrt. Nicht, weil sie in die Fabriken gingen, sondern weil sie das Zentrum der Weltrevolution in China oder gar Albanien sahen. Die meisten hatten keine Ahnung was Albanien für ein Land war. Enver Hodscha war nicht nur kein netter Typ, in Albanien gab es fast keine Motorisierung. Und dieses Land sollte die Sperrspitze der Weltrevolution repräsentieren? Hier wurde Kritik zur reinen Glaubenssache.
Wenn man die Bewegung in den 1960er Jahren betrachtet, dann ist diese Form der Dogmatisierung jedoch nicht die Richtung, in die diese amorphe Bewegung gegangen ist. Es kam damals zu einer großen Verschiebung. Im Großen und Ganzen wurde die Stelle des Proletariats von den antikolonialen Kämpfen eingenommen. Es gibt einen Unterschied, ob man antikoloniale Bewegungen unterstützt, weil sie als vollwertige Menschen anerkannt werden wollen, oder ob man denkt, dies sei der Keim einer postkapitalistischen Gesellschaft. Das hatte verheerende Folgen. Am stärksten wurde dies im Nahen Osten sichtbar. Jahrelang sympathisierten Antiimperialisten mit Polizeistaaten im Nahen Osten. Solange sie keine langen Gewänder trugen und nicht allzu religiös waren, galten sie den europäischen Antiimperialisten als progressiv. Aber das waren sie nicht, auch wenn sie damals von der Sowjetunion unterstützt wurden. Die teils berechtigte, teils völlig unberechtigte totale Fokussierung auf Israel hat viele Linke blind für diese Probleme gemacht. Man bemerkt das noch heute im Fall von Syrien: Die Linke hat dazu nicht viel zu sagen. Dabei hat das Regime unter Assad vermutlich schon über 300,000 Syrer_innen ermordet. Zudem kam in den 1960er Jahren die Identitätspolitik auf. Sie begann als Kritik an einem abstrakten Universalismus, der Differenz nicht berücksichtigte, engte sich aber schnell zu einem Partikularismus ein. Was es auf keinen Fall gab, war eine Rettung der proletarisch zentrierten Politik. Dazu gab es nur Lippenbekenntnisse und viele marschierten mit roten Fahnen, aber das war alles.

Wenn man Autoren der 1960-70er Jahr liest, fällt vereinzelt auf, dass es doch auch welche gab, die beim Arbeitsbegriff vom traditionellen Marxismus sehr abwichen. Wie weit verbreitet war das damals?
Es war nicht sehr verbreitet. Das kann jetzt auch Lokalpatriotismus sein, aber ich würde behaupteten, es wurde vor allem in Frankfurt vertreten. Seit den späten 1930er Jahren hatten Autoren wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer Abschied von der Verherrlichung der Arbeit genommen. Gut, ich finde die Kritik der Frankfurter Schule einseitig und problematisch. Sie drehten die Bewertung der Arbeit einfach nur um. Das sehe ich kritisch, aber diese Tradition hat viele Linke in Frankfurt gegen den Marxismus-Leninismus geimpft. Die ML-Gruppen waren wohl auch deshalb in Frankfurt schwächer als in vielen anderen deutschen Städten.

Wie verhält es sich denn mit der Marx-Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raumes, gibt es da neben ihnen auch andere Autoren, die diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit vertreten?
Ja, aber sie sind höchstwahrscheinlich nicht so bekannt. Patrick Murray, Christopher Arthur, Marcel Stoetzler, es gibt sie schon. Unabhängig davon gibt es eine starke Marx-Welle in den USA und Großbritannien, aber dort wird Marx anders gelesen. Der angelsächsische Marxismus war schon immer auf die Ökonomie zentriert, er war immer mehr eine kritische politische Ökonomie statt einer Kritik der politischen Ökonomie. Es fehlt eine gewisse Reichhaltigkeit der deutschsprachigen Diskussion. Wenn die Linken in Großbritannien versuchten, sich Theorie anzueignen, blickten sie nach Frankreich und lasen Louis Althusser, Ètienne Balibar und dann später Michel Foucault. Jene Kritik aber, die mit dem Werk von Georg Lukàcs beginnt und in der kritischen Theorie fortgesetzt wird, die eine Gesellschafts- und Kulturkritik formuliert, wird in den USA nur von einer kleinen Gruppe von Akademiker_innen und ihren Student_innen vertreten. Dennoch, Marx ist in den USA und Großbritannien viel weiter verbreitet als in Deutschland oder Österreich.

Spielen sie bei dieser kleinen Gruppen von Akademiker_innen und Student_innen auf die Gruppe Platypus an?
Ich meinte das viel allgemeiner. Die Gruppe Platypus, die kaum für alle Gruppen steht, die die kritische Theorie rezipieren, ist leider sehr zwiespältig. Ich kannte die Gründungsmitglieder sehr gut. Manche haben meine Seminare belegt und sind aus Chicago. Sie präsentieren sich als Gruppe, die sich sehr ernsthaft mit Theorie beschäftigt, sehr viel ernsthafter, als viele andere. Andererseits versuchen die Führungskader etwas zu tun, was nicht machbar ist. Sie wollen meine Arbeit, die von Adorno und von Lenin verbinden. Mein Buch ist sehr bewusst gegen den Leninismus geschrieben. Es war ein Versuch auf einer sehr grundlegenden Ebene gegen den Leninismus vorzugehen.

Sie beschreiben eine Dynamik, die unabhängig von spezifischen Regierungen überall auf der Welt ähnlich abläuft. Wie kann man erklären, dass der Wohlfahrtsstaat heute nicht mehr finanziert werden kann oder warum die Sowjetunion und der Wohlfahrtsstaat zur gleichen Zeit untergingen?
Es gibt sehr viele Theorien über die Gründe der Krise in den frühen 1970er Jahren. Keine davon überzeugt mich vollkommen. Wenn die amerikanische Presse versucht das Phänomen Trump zu erklären, reden sie über die Misere der ehemaligen industriellen Arbeiterklasse in den USA. Ihr Durchschnittslohn ist seit 1973 gleich geblieben. In Deutschland stieg er dagegen noch eine gewisse Zeit an. Deutschland blieb in manchen Bereichen länger ein Wohlfahrtsstaat. Es gab aber auch in Deutschland gegenläufige Tendenzen. In den 1960er Jahren nahm die Zahl der Student_innen stark zu. Um dies zu finanzieren, wurde der Sozialstaat ab den frühen 1970er zurückgeschraubt. Ich glaube es gibt einen Zusammenhang zwischen den Grenzen einer auf proletarischer Arbeit basierenden Gesellschaft, den Grenzen des Keynesianismus und der ökonomischen und ökologische Krise.

Der Kapitalismus hat die Tendenz, immer weniger Arbeit für die Produktion seines Reichtums zu gebrauchen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Abnahme der Zahl von Arbeiter_innen. Damit wird eine wichtige Einkommensquelle des Wohlfahrtsstaates beschnitten. Kann man sich das so irgendwie vorstellen?
Ja, aber ich möchte dies noch wertkritisch ausarbeiten. Dort bin ich noch nicht. Die Krise von 2008 ist wirkliche ein Nachbeben der Krise von 1973.

In der Linken ist im Moment eine gewisse Re-Traditionalisierung zu beobachten. Man liest wieder Lenin oder Luxemburg. Oder man bezieht sich auf den Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre. Beide wollen eine neue linke Partei gründen, wie erfolgsversprechend ist das?
Dramatisierend gesagt, es ist ein widersprüchliches Problem. Es gab früher einen Zusammenhang von Arbeitskämpfen und Veränderung. Progressive Leute müssten in der heutigen Situation zwei Sachen versuchen, die in zwei verschiedene Richtungen gehen. Die Arbeiter_innen vor den Auswirkungen des Kapitalismus schützen, denn ihre Situation wird Zusehens erbärmlich und den Kapitalismus mit dem Ziel seiner Überwindung kritisieren.

Kommen wir zum Antisemitismus, zu dem Sie in der Vergangenheit viel geforscht haben. Wie funktioniert der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft und warum wird er unter bestimmten Verhältnissen virulent?
Der Antisemitismus ist eine Fetisch-Form, die den seit mindestens einem Jahrtausend existierenden christlichen Antijudaismus zur Voraussetzung hat. Aber beide Phänomene sind nicht dasselbe. Der Antisemitismus ist eine bestimmte antikapitalistische Ideologie, die zwischen der konkreten Dimension des Kapitals (Industrie, Maschinen) und der abstrakten (Geld, Börse, Banken) trennt. Dabei wird in dieser Ideologie die konkrete Seite des Kapitals als gesund und gut erachtet. Die abstrakte Seite dagegen als zersetzend und global. Diese Trennung drückt sich konkret in einer ideologischen Sicht auf den Kapitalismus aus, die sowohl die industriellen Kapitalist_innen, als auch die Arbeiter_innen als Produzent_ innen sieht und alleinig die Bankiers als Schmarotzer_ innen identifiziert.

Das ist die Basis der antisemitischen Ideologie. Wie kommt es dazu, die abstrakte Seite des Kapitals als jüdisch zu imaginieren?
In Ländern wie Österreich oder Deutschland gab es nicht nur eine lange Tradition des christlichen Antisemitismus: Die Jüd_innen erlangten ihre Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genau in dem Moment, in dem auch die kapitalistische Industrialisierung expandierte. Jüd_innen wurden plötzlich sichtbar und zwar besonders in Berufen, die mit dieser Entwicklung aufkamen, während traditionellere Berufe bedroht waren. Antisemitismus ist jedoch nicht nur eine Form des Rassismus. Ich könnte auch auf andere Dimensionen des Problems aufmerksam machen, wie den Unterschied zwischen Gesellschaften, die durch staatliche Intervention modernisiert wurden, wie in Zentraleuropa und zum Teil auch in Frankreich, und Gesellschaften mit einer älteren liberal-kapitalistischen Geschichte. Nein, der Antisemitismus ist eine Weltanschauung. Diese Ideologie will die Welt erklären und deshalb ist sie so weit verbreitet. Der Rassismus funktioniert dagegen anders. Ich will das nicht hierarchisch verstanden wissen. Das eine ist nicht bekämpfenswerter als das andere. Der Antisemitismus ist zudem ein Krisenphänomen. Schauen wir dazu in den Nahen Osten. Es gibt mehrere Gründe, warum der Antisemitismus dort heute so verbreitet ist. Da wäre die Nazi-Propaganda während des Zweiten Weltkriegs. Aber das erklärt natürlich nicht alles. Ein zweiter Faktor ist die Sowjetunion: 1967 hatte Israel die mit der Sowjetunion verbündeten arabischen Staaten geschlagen. Nach der Niederlage ihrer Verbündeten startete die Sowjetunion eine Propaganda, die dem Stürmer entstammen hätte können. Der Zionismus wurde mit dem Faschismus gleichgesetzt. Dann ist da der ökonomische Abstieg dieser Weltregion auf ein Niveau vergleichbar mit dem Afrikas südlich der Sahara. Der Abstieg der arabischen Welt beginnend in den 1980er Jahren und der gleichzeitige Aufschwung anderer Weltteile, die früher als Dritte Welt galten, haben viele Menschen im Nahen Osten empfänglich für Verschwörungstheorien gemacht. Diese Verschwörungstheorien hatten sie zur Hand.

In Europa ist geographisch eine Spaltung der radikalen Rechten zu beobachten. In Westeuropa sind es vor allem Rechtspopulist_innen die einen Ethnopluralismus vertreten, der Muslime und den Islam nicht in Europa will. In Osteuropa sind viele dieser Parteien sehr traditionell völkisch und antisemitisch. Woran liegt das?
Die Staaten in Osteuropa definieren sich seit ihrer Entstehung ethno-nationalistisch. Einzig die tschechische Republik ist da eine partielle Ausnahme. Schon die Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Habsburger waren ethno-nationalistisch. Nach der Unabhängigkeit der einzelnen Staaten von Österreich-Ungarn bestanden viele ethnische Konflikte weiter. Die einzige säkulare Tradition in diesen Staaten war der Kommunismus. Der heutige reaktionäre Charakter vieler dieser Staaten und ihrer Bevölkerung ist ein Zeichen für das Scheitern des sowjetischen Modells. Aktuell sind die osteuropäischen Staaten in ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten. In Ungarn spricht Viktor Orban von einer weltweiten Verschwörung gegen Ungarn, er verbindet dies alles mit dem Namen eines Mannes: George Soros. Es ist kein Zufall das Soros jüdisch ist. (Mehr zu dem Thema in diesem Artikel) Im Westen war der Ethno-Nationalismus nicht so stark, weil die Nationen sich früher als bürgerliche Staaten konstituierten. Es gab auch immer eine Spannung zwischen dem ethnischen Charakter der Nation und ihrem formal politischen Anspruch. Im Westen will man wohl zumindest den Anschein erwecken, ein wenig kosmopolitisch zu sein. Im Fall von Österreich bin ich mir da aber nicht so sicher. Insgesamt bin nicht allzu optimistisch. Wenn man sich die Zwischenkriegszeit ansieht, kippten zwar zuerst die osteuropäischen Staaten nach rechts, doch diese Tendenz verschob sich danach Richtung Westen. AfD oder Pegida sind klar ethno-nationalistische Bewegungen mit starken antisemitischen Tendenzen. Sie geben sich öffentlich nicht so, aber sie sind es.

Es wird immer wieder gesagt, die Schwäche der Linken sei die Stärke der FPÖ. Die SPÖ würde ihre Werte eben gar nicht mehr vertreten.
Und was wäre sozialdemokratische Politik?

Ein Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre, Keynes.
Ja aber wenn das nicht geht? Es ist ein Dilemma. Egal ob SPÖ oder SPD, sie sind immer weniger und weniger Arbeiter_innenparteien. Aber das hängt mit den strukturellen Veränderungen zusammen. Der Untergang einer Klasse ist nie schön. Die Linke war sich darüber im Falle des Kleinbürgertums sehr bewusst. Aber sie stehen diesem Umstand im Falle der industriellen Arbeiter_innenklasse ein wenig hilflos gegenüber. Genau das passiert gerade: Es ist eine Krise der industriellen Arbeiter_innenklasse.

Und was wird mit dieser Klasse passieren?
Viele werden sehr arm und wütend werden. In den USA führt das auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Es gibt immer mehr Menschen, die arbeitslos oder halb-angestellt sind. Das nennt man die Gig-Economy. Angelehnt ist das Wort an den Jazz-Musiker, der eine kurze Anstellung nach der anderen hat. Du kannst Taxi-Fahrer am Morgen, Putzfrau am Nachmittag und ein Nachwächter in der Nacht sein und trotzdem reicht es kaum zum Leben. Man muss immer flexibel sein und dies wird als Freiheit verkauft. Ich glaube wir sind in einer großen Krise und die Rechte wird davon profitieren. Die Rechte hat kein Programm, aber sie kann Wut kanalisieren. Die Linke will das nicht und versucht rational zu bleiben.

Aber es gibt linke Politiker, die das doch schaffen?
Bernie Sanders kann die Wut auch gut kanalisieren. Es gibt viele Arbeiter_innen, zumindest wenn man den Medien glauben kann, die nicht sicher sind, ob sie Donald Trump oder Sanders wählen sollen. Aber Sanders Lösungen sind auch nur linker Populismus. Dieser ist natürlich nicht reaktionär wie rechter Populismus. Aber es wird nicht funktionieren. Es sind nicht die Freihandelsverträge, die allein für den Rückgang der Beschäftigung verantwortlich sind. Ein Beispiel: Letztens las ich einen interessanten Artikel über die Tomaten-Ernte in Kalifornien. 1952 wurden 2,5 Millionen Tonnen Tomaten geerntet, dafür wurden 45.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Dann entwickelten Forscher an der Universität von Kalifornien in Davis eine viereckige Tomate, die von Maschinen einfach geerntet werden konnten. Heute werden 12 Millionen Tonnen Tomaten geerntet und dafür werden 2.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Das passierte nicht weil die Tomatenindustrie in ein anderes Land verlegt worden wäre. Diese Entwicklung der Wissenschaft und der Maschinen im beengenden kapitalistischen Rahmen ist der Hauptgrund dafür, dass es immer weniger Jobs gibt. Natürlich kann man die Handelsverträge kritisieren, auch diese neoliberale Phantasie, dass mehr Freihandel mehr Beschäftigung bedeutet. Aber wer behauptet, die strukturellen Veränderungen in den USA seien hauptsächlich durch die Handelsverträge entstanden, liegt einfach falsch. Das ist eine Verkürzung.

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.