Linke

Italien, ein Land ohne Linke.

  • 30.06.2017, 12:41
Italien war immer schon ein politisches Labor, heute greift der Neoliberalismus erneut Verfassung und ArbeiterInnenrechte an.

Italien war immer schon ein politisches Labor, heute greift der Neoliberalismus erneut Verfassung und ArbeiterInnenrechte an.

Die italienische Regierung besteht gerade aus einer Koalition zwischen Partito Democratico (PD) und Mitterechtspartei Alternativa Popolare. In den letzten Jahren wurde das Arbeitsrecht eingeschränkt und eine unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik betrieben. Italiens Politik hat sechs turbulente Jahre hinter sich. 2011 wurde Berlusconi gezwungen zurückzutreten, die Expertenregierung Monti wurde vom Staatsoberhaupt eingesetzt, die Wahlen 2013 brachten keine eindeutige Mehrheit und seitdem gab es drei verschiedene Ministerratspräsidenten des PD und unzählige Reformen: Arbeitsrecht (Jobs Act), Schulsystem (La Buona Scuola) und öffentlicher Dienst (Madia-Reform).

Arbeitsrecht und Prekarisierung. Die Monti-Regierung hatte die Arbeitsrechte eingeschränkt und durch den Jobs Act wurden alte Forderungen Berlusconis umgesetzt. Die Macht in der Schule wurde zentralisiert aufgelegt und die Reformen des öffentlichen Dienstes hatten das Ziel, Entlassungen von ineffizienten und fahrlässig handelnden Angestellten zu vereinfachen.

Diese Flexibilisierung hat die Situation der arbeitenden Schichten weiterhin verschlechtert, während Unternehmen von Steuerentlastungen und vom Regierungskampf gegen Gewerkschaften profitieren. Renzi galt 2013 als große Hoffnung des progressiven Lagers, um dann die Parteipolitikin der politischen Mitte bzw. Mitterechts zu verankern. Auslandsinvestoren hätten Arbeitsplätze schaffen müssen, aber bislang ist es nur bedingt gelungen, weil Probleme wie Korruption, Bürokratie und Infrastrukturen weiterhin bestehen.

Neoliberale Agenda. Die Verfassungsreform vom 4. Dezember 2016 galt als ein Wendepunkt der Innenpolitik. Die Reform der Verfassung wird seit Jahrzehnten erwartet, aber konnte nie umgesetzt werden. Wie so oft war das Thema der perfekte Bikameralismus – wenn beide Kammern gleichermaßen an der Gesetzgebung beteiligt sind –,der angeblich zu einem langsamen und ineffizienten Gesetzgebungsprozess geführt hat. Seit Anfang des Jahrhunderts wird aber massiv mittels Gesetzesdekreten regiert – rechtssetzende Akte, die sofort in Kraft treten, aber innerhalb von 60 Tagen in ein Gesetz umgewandelt werden müssen, um weiterhin aufrecht erhalten zu bleiben. Diese Akte werden von der Regierung und nicht vom Parlament erlassen und wären nur für Sonderfälle oder Krisensituationen gedacht.

Die italienische Verfassung, die als großer Kompromiss zwischen allen antifaschistischen Kräften 1948 in Kraft getreten ist, steht längst unter großem Druck, weil sie nicht mehr als zeitgemäß empfunden und als zu stark sozialistisch wahrgenommen wird. Bei der Volksbefragung 2006 scheiterte Berlusconis Versuch, ein semi-präsidentielles System zu etablieren. Sein Wirtschaftsminister Tremonti versuchte Jahre später aus Art. 41 die sozialen Aspekte herauszustreichen. Dieser besagt:„Die Privatinitiative in der Wirtschaft ist frei. Sie darf sich aber nicht im Gegensatz zum Nutzen der Gesellschaft oder in einer Weise, die die Sicherheit, Freiheit und menschliche Würde beeinträchtigt, betätigen. Das Gesetz legt die Wirtschaftsprogramme und geeignete Kontrollen fest, damit die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit nach dem Allgemeinwohl ausgerichtet und abgestimmt werden kann.“

M(atteo) wie Machtrausch Der Finanzberater JP Morgan hatte sich schon 2013 offen für einen Umbau der Staatsform und eine Reform der Verfassung geäußert, 2016 wurde eine Verfassungsreform geplant. Ähnlich wie bei der Verfassungsreform 2006 sollte der Ministerratspräsident gestärkt, das perfekte Zweikammernsystem abgeschafft und der Senat in eine Kammer der Regionen umgewandelt werden. Die stimmenstärkste Partei hätte die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament bekommen – ohne ein starkes Oppositionsrecht vorzusehen. Die fehlenden checks and balances hätten dazu führen können, dass die Regierung Staatoberhaupt und Verfassungsrichter (ein Drittel davon werden vom Staatsoberhaupt selbst ernannt) hätte stellen können. Herabwürdigung von Kritikern und populistische Aussagen zu den Folgen der negativen Abstimmung ersetzten die Debatte. Am 4. Dezember 2016 bekam das „Ja“ nur knapp 40 Prozentder Stimmen. Viele WählerInnen haben auch eher gegen Renzi als gegen die Reform gestimmt.

Wenige Monate nach seinem Rücktritt wurde Renzi erneut von der Parteibasis mit 70 Prozent Vorzugsstimmen gewählt und arbeitet nun an seiner Rückkehr. Die Partei wird jetzt bloß als instrumentum regni benutzt, obwohl sie 2007 als großer politischer Kompromiss zwischen den katholisch-progressiven und den postkommunistischen Kräften ins Leben gerufen wurde. Renzi verändert die Partei sehr tief: viele Kernpunkte von Berlusconis Programm wurden umgesetzt und ihre historische Wählerschaft betrogen. Der ex-linke Flügel hat inzwischen die Bewegung Movimento Progressisti e Democratici gegründet, die laut Wahlumfragen nicht über 3 Prozent geschätzt wird.

Matteo Renzi ist ein talentierter Performer. Er bezog sich kommunikationstechnisch auf Obama, Blair und Macron, übernahm aber auch wesentliche Aspekte Berlusconis Regierungsstils. Dadurch verschob sich der gesellschaftliche Diskurs nach rechts und davon profitierten(Rechts)Populisten wie Salvini und Grillo, die angeblich eine Kooperation bei der nächsten Wahl anstreben. Somit entpuppte sich das „weder rechts noch links“ des M5S als ein bloßes Mittel, um Stimmen aus den linken Lager zu ködern und gleichzeitig einen rechtspolitischen Kurs zu betreiben.

Matteo Da Col hat Politikwissenschaft und Translation an der Universität Wien studiert und arbeitet als Übersetzer.

 

Portugal surreal

  • 21.06.2017, 18:07
Europa driftet immer weiter nach rechts. Mit Ausnahme von Portugal, mit seiner Linksregierung unter Premier António Costa – auf deren Erfolge die GenossInnen der EU-Partnerstaaten neidvoll blicken.

Europa driftet immer weiter nach rechts. Mit Ausnahme von Portugal, mit seiner Linksregierung unter Premier António Costa – auf deren Erfolge die GenossInnen der EU-Partnerstaaten neidvoll blicken.

Die Choreografie der Baukräne über den Dächern Lissabons versinnbildlicht eine der Facetten der wirtschaftlichen Kehrtwende, die Portugal unter seiner Linksregierung glückt. Mitverantwortlich sind der Tourismusboom, steigende Auslandsinvestments und ein brummender Exportmotor. Nach Jahren der Tristesse ist nun knisternder Optimismus spürbar. „Selbst der Exodus junger PortugiesInnen reversiert sich zum Glück“, sagt Luis Fonseca zu progress. Bis zur Krise noch im Seehandel und in Angola tätig, arbeitet er zurzeit als Chauffeur: „Meine beiden Söhne, ein Architekt und ein Ingenieur, vor der Krise die Studien mit Quasi-Jobgarantie, sind im letzten Jahr wieder aus Lateinamerika zurück in ihre Heimat gekommen“, freut er sich.

PRAGMATISCHER OPTIMIST. Während die Sozialdemokratie europaweit orientierungs- und zahnlos in Opposition oder Zweckehe-gleichen Koalitionskompromissen ihre Wurzeln vergisst, erfreut sich Premier António Costa großer Beliebtheit. Ein überaus pragmatischer Optimist, dem es geglückt ist, zur Stützung seiner sozialistischen Minderheitsregierung die stets zerstrittene Linke – KommunistInnen (PCP) und Linksblock (BE) – zu einen.

Was Costas Polit-Antagonist Ex-Vizeregierungschef Paulo Portas (CDS-PP) – nun bei Mexikos Ölkonzern Pemex tätig – zu dessen Amtseinführung „Geringonça“ nannte (zu Deutsch „schräges, unsolides Konstrukt“), funktioniert nun – aller Unkenrufe zum Trotz.

Mehr noch, es gelang Costas Kabinett, der Wirtschaft Flügel zu verleihen. Costa sieht den Grund darin freilich pragmatisch: Er habe einfach alles exakt umgekehrt gemacht wie sein Vorgänger – der konservative Ex-Premier Pedro Passos Coelho (PSD).

EINFACHES REZEPT. „Eineinhalb Jahre sind vergangen, und der Teufel hat das Land nicht geholt“, sagte Costa Anfang Juni: „Wir haben das Land nicht neuerlich in eine Tragödie gesteuert. Ganz im Gegenteil.“ Wo die Vorgänger Pensionen und Gehälter gekürzt haben, um das Budget zu sanieren, habe man diese angehoben. Wo Steuern gestiegen seien, habe man diese gesenkt. „Das Rezept ist einfach“, so Costa: „Nicht mit Kürzungen saniert man den Haushalt, sondern mit dem Vertrauen der Familien und UnternehmerInnen.“ Was Jobs betrifft, blickten die Menschen nun sukzessive optimistischer in die Zukunft, sagt João Barata, der als Fotograf für eine Stadtgemeinde des Großraums Lissabon arbeitet: „Früher drehten sich Gespräche im Freundeskreis nur um die ‚Troika‘, die Krise und wie schlecht es allen geht, was Arbeitsplatzsicherheit, -konditionen oder eben Pensionskürzungen betrifft.“ Nun könne man wieder feiern. Sei es der Fußball-EM-Titel oder der Sieg beim Eurovision Song Contest, scherzt Barato: „In gewisser Weise hat sich die Kehrtwende auch in den Köpfen der PortugiesInnen vollzogen. Vom Pessimismus, der dominierte, zum Optimismus.“

Dafür setzt Costa populäre Maßnahmen. Etwa gegen die Energiearmut, oder das Anheben des gesetzlichen Mindestlohns um 25 Prozent binnen vier Jahren, der aktuell unter 650 Euro monatlich rangiert. Neben der Senkung der Mehrwertsteuer von 23 Prozent generell, in Hotellerie und Gastronomie auf 13 Prozent. Oder die Rücknahme der Privatisierung der Fluglinie TAP Portugal. Costa surft auf einer Welle der Beliebtheit, was sich in Wahlsonntagsumfragen zeigt. Mehr als 42 Prozent würden den Premier wiederwählen. Die Arbeitslosigkeit markierte im März bereits ihren Tiefststand seit sieben Jahren (9,8 Prozent laut Eurostat). Ein Defizit von 2,1 Prozent (2016) haben die Konten Lissabons seit der Nelkenrevolution 1974 nicht mehr gesehen.

„Die Stimmung ist deutlich optimistischer als vor ein paar Jahren. Wenn ich durch die Straßen gehe, fällt mir auf, dass viel mehr TouristInnen unterwegs sind“, sagt Sven Haidinger, österreichischer Motorsportjournalist, der sich 2015 in Lissabon niedergelassen hat. „Der Tourismusboom bringt natürlich Arbeitsplätze. Überall wird gebaut und renoviert, um die Stadt attraktiver zu machen.“ Es würden immer mehr Läden und Lokale aufsperren, deren Zielgruppe aber reiche TouristInnen seien. Oder die vielen EU-BürgerInnen, junge Selbständige und PensionistInnen, die es nach Portugal zieht. Erstere wegen der Lebensqualität, Zweitere wegen Steuerbefreiungen.

MUTIGER. „Meine portugiesischen FreundInnen verdienen zu wenig, um sich das leisten zu können“, sagt Haidinger weiter und warnt: „Lissabon läuft Gefahr, seine Authentizität und Identität zu verlieren.“ Positiv bemerkt er einen einsetzenden Startup- Boom in der jungen Bevölkerung: „Die PortugiesInnen sind heute mutiger geworden, neue Wege unternehmerisch auszuprobieren.“

Dafür gewährt Wirtschaftsminister Mário Centeno (PS) Förderungen. Weiters soll forcierte Altersteilzeit den jungen arbeitslosen PortugiesInnen den Einstieg ins Berufsleben erleichtern und zugleich die Zahl der Teilzeit arbeitenden jungen ArbeitnehmerInnen reduzieren, um deren Perspektiven zu steigern.

Dafür, dass Costa schön auf Linkskurs bleibt, und der EU und den Gläubigern die Stirn bietet, sorgen ohnehin die PCP, und allen voran BE-Chefin Catarina Martins. Sie mäßigte nach Drohungen um ein Euro-Austritts-Referendum zwar den Ton. Doch fordert sie im progress-Interview vehement ein, „dass der Aufschwung sich auf die Lebensqualität der ArbeitnehmerInnen und deren Rechte positiv auswirkt. Die Regierung muss ihr Versprechen halten, und den grundlegenden Verpflichtungen gegenüber den ArbeiterInnen nachkommen.“

Jan Marot studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.

„Es muss ein Umdenken stattfinden“

  • 20.06.2017, 21:36
Während auf Athens Straßen gegen das neue Sparpaket demonstriert wird, sitze ich mit Syriza-Vorstandsmitglied Giorgos Chondors auf der Terrasse des Parteibüros. Ein Gespräch über linkes Regieren, Solidarität und die Zukunft Griechenlands.

Während auf Athens Straßen gegen das neue Sparpaket demonstriert wird, sitze ich mit Syriza-Vorstandsmitglied Giorgos Chondors auf der Terrasse des Parteibüros. Ein Gespräch über linkes Regieren, Solidarität und die Zukunft Griechenlands.

progress: Nachdem es Alexis Tsipras entgegen seiner anfänglichen Versprechen nicht gelungen ist, sich gegen die Sparpolitik durchzusetzen, haben nicht nur Griech*innen die Hoffnung auf eine menschlichere Politik verloren. Auf europäischer Ebene spricht man von einem Scheitern der Linken. Denken Sie, ist es überhaupt möglich, im Rahmen der EU „links“ zu regieren?
Giorgos Chondors:
Ich würde nicht sagen, dass es unmöglich ist. Denn dann müsste ich auch denken, dass es keinen Sinn macht, dass es linke Parteien überhaupt gibt. Wir mussten aber auch feststellen, dass die Regierung zu übernehmen nicht heißt, die Macht zu haben. Wir wissen jetzt, was möglich ist und was nicht. Die Kräfteverhältnisse in der EU sind total ungünstig, was unsere Politik betrifft, und weil sich dieses Kräfteverhältnis ständig nach rechts verschiebt, wird es noch ungünstiger.

Wenn man sich die Programme ansieht, wird schnell klar, dass die Sparpolitik von Anfang an der falsche Weg war und immer noch ist. Die Argumentation der Gläubiger, durch Einsparungen die Krise zu bewältigen, gilt längst in weiten Kreisen als überholt. Selbst der IWF und die Wirtschaftsminister der europäischen Kommission haben in einer Studie die Fehler der Austeritätspolitik eingestanden. Es ist ganz einfach: Wenn du die Kaufkraft kürzt, leidet die Wirtschaft. Gerade in Griechenland, wo sich diese in erster Linie auf den Binnenmarkt beschränkt, hat sich das bestätigt.

Deshalb hat all das weder mit wirtschaftlichen noch fiskalischen, sondern politischen Überlegungen zu tun. Das Ziel ist, das linke Projekt aus der Welt zu schaffen, indem man seinen Kontakt zu gewissen Bevölkerungsgruppen sozusagen abschneidet. Das heißt, unter der Politik dieser Regierung müssen vor allem jene Bevölkerungsgruppen leiden, die guten Bezug zu Syriza haben. Das ist die Überlegung dahinter.

Die deutliche Mehrheit der Griech*innen hat sich bei dem Referendum im Jahr 2015 gegen die Sparmaßnahmen der Gläubiger ausgesprochen. Wenige Tage später wurde – unter der Drohung des Grexits – einem weiteren Sparprogramm zugestimmt. Seitdem hat sich die soziale Krise weiterhin verschärft. Angesichts dieser humanitären Katastrophe, wäre es nicht sinnvoller gewesen, aus dem Euro auszutreten?
Der größte Teil der griechischen Bevölkerung, der mit „Oxi“ stimmte, hat damit noch lange nicht gemeint, aus dem Euro auszutreten. Das wissen wir nicht nur aus Umfragen, sondern auch aus den Wahlen. Jene Parteien, die für den Euro-Austritt plädierten, bekamen nicht einmal ein Prozent. Dafür gab es also keine Mehrheit.

Zudem bedeutet ein Euro-Austritt noch lange nicht, dass man die Schulden loswird. Faktisch wären die Schulden noch höher, da man sie in einer abgewerteten Währung zurückzahlen müsste. Ein ungeordneter Grexit hätte wahrscheinlich eine noch größere soziale Katastrophe mit sich gezogen. Aber die eigentliche Erpressung war nicht der Grexit, sondern dass der Euro-Austritt mit dem totalen Verlust der Bankeinlagen einhergegangen wäre. Über 85 Prozent der griechischen Konten hatten weniger als 2.000 Euro Einlage. Man kann sich vorstellen, welche Menschen dieser Schritt am härtesten getroffen hätte. Das Ausmaß der sozialen Katastrophe wäre kaum vorstellbar. Das könnten wir nicht verantworten. Für Griechenland ist der Euro-Austritt keine ideologische oder politische Diskussion, sondern eine rein pragmatische. Eine linke Regierung, die dafür da ist, die untere Schicht zu unterstützen, hat eine größere Verantwortung.

Neben den tragischen sozialen Auswirkungen der Sparpolitik birgt die Krise auch Momente der Solidarität. Menschen, die selbst von den Einschnitten betroffen sind, schaffen es, Tag für Tag zu helfen. Selbstorganisierte Flüchtlingsheime, Suppenküchen oder Solidaritätskliniken sind Ausdruck davon. Kann man von einem Wertewandel im Zuge der Krise sprechen?
Es ist eine großartige Erfahrung, wie sich eine Bevölkerung selbst organisieren kann, um einerseits Widerstand zu leisten und sich andererseits materiell zu unterstützen. Es geht dabei nicht nur um das Lindern von Not in einer Krisensituation. Diese Solidaritätsstrukturen eröffnen ebenso ein neues soziales Denken, was in gewisser Weise auch mit einem Wertewandel einhergeht. Dieses Modell ist ein alternativer Vorschlag für eine solidarische Gesellschaft. Eines muss man sich allerdings auch eingestehen: Man kann den Kapitalismus nicht mit der solidarischen Ökonomie ersetzen.

Falls es eine Zukunftsvision für Griechenland gibt, hat solidarische Ökonomie Platz darin?
Zukunftsvisionen für Griechenland kann es in absehbarer Zeit nur dann geben, wenn es die Kräfteverhältnisse zulassen. Auf europäischer Ebene muss ein Umdenken stattfinden. Dazu gehört, dass die Vormundschaft endlich aufhört. Sollte dies passieren, ist die Implementierung der solidarischen Ökonomie in den wirtschaftlichen Wiederaufbau vorgesehen. Dazu versucht die Regierung, die Erfahrungen der verschiedenen solidarischen Initiativen – von den Solidaritätskliniken bis hin zu landwirtschaftlichen Kooperativen – zu institutionalisieren. Es geht darum, die Idee der solidarischen Ökonomie zu verbreiten, Projekte zu vernetzen und zu unterstützen. Auf diesem Gebiet passiert zurzeit sehr viel. Ziel ist es, einen sozialen und demokratischen Weg aus der Krise zu finden. Solange die Programme allerdings noch laufen, ist es sehr schwer, eigenständige Politik zu machen.

Lisa Edelbacher hat Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien studiert und arbeitet nun als freie Journalistin.

Bekenntnisse gegen den jüdischen Staat

  • 12.05.2017, 21:58
Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd

Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd: „I hear so much hatred of Israel, so much hatred of Jews, and I feel like leaving the country. In a way I feel like I can’t be here.“ Ziva ist eine von 30 linken AktivistInnen, die Sina Arnold für ihr Buch über Antisemitismus in der USamerikanischen Linken interviewte. Zivas Position ist außergewöhnlich: Typisch für die Linke in den USA, so Arnold, sei vielmehr eine „Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit gegenüber Antisemitismus“. Es gibt kein Problem mit Antisemitismus, lautet der linke Tenor – Antisemitismusvorwürfe seien bloß Versuche, Israelkritik zu diff amieren. Antizionismus, das wird aus Arnolds Studie deutlich, ist für viele amerikanische Linke zum politischen Bekenntnis geworden. Wer dazugehören will, muss sich gegen den jüdischen Staat stellen.

Arnold leitet ihre empirische Forschung mit einem ausführlichen Überblick zur Geschichte des Antisemitismus in den USA, insbesondere in der Linken ein. Ein entscheidender Wandel hat in den 1960ern stattgefunden: Mit dem Aufkommen der New Left, die den traditionellen Marxismus der Old Left gegen Identitäts- und Diskurspolitik eintauschte, wurde Israel als Hassobjekt fi xiert. Die Etablierung des Antizionismus als „ehrbarer Antisemitismus“, die Jean Améry in den 1960ern in der deutschen Linken beobachtete, hat sich in dieser Zeit auch jenseits des Atlantiks vollzogen.

Aus 30 Interviews mit Mitgliedern von 16 politischen Gruppen lässt sich kaum eine lückenlose Analyse der amerikanischen Linken erstellen. In Verbindung mit der historischen Darstellung gibt Arnolds Studie jedoch einen guten und plausiblen Eindruck, wie es die US-Linke mit dem Antisemitismus hält. Befremdlich ist lediglich Arnolds Schluss: Linke Positionen seien bloß „Ermöglichungsbedingungen“ für antisemitische Diskurse. Wer sich antirassistisch und antiimperialistisch betätigt, dem könne schon einmal ein antisemitisches Versehen passieren. Dass es sich vielleicht umgekehrt verhält, dass sich also das Engagement gegen Israel aus dem Antisemitismus ergibt, bestreitet Arnold – obwohl ihr Material diese Vermutung durchaus nahelegt.

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

Die queeren Kompliz_innen des Systems

  • 22.06.2016, 11:49
Gegen die Komplizenschaft mit dem System appellieren Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter mit „Queer und (Anti-) Kapitalismus“. Adressiert ist das Buch eindeutig an Leute, die sich in queeren Theoriegebilden bereits prächtig zurechtfinden.

Gegen die Komplizenschaft mit dem System appellieren Heinz-Jürgen Voß und Salih Alexander Wolter mit „Queer und (Anti-) Kapitalismus“. Adressiert ist das Buch eindeutig an Leute, die sich in queeren Theoriegebilden bereits prächtig zurechtfinden. Dieser tendenziell weiße, akademische Mittelschichtskreis hat sich mitunter ganz gut mit gesellschaftlichen Machtstrukturen arrangiert und ist immer wieder einmal versucht, sich in akademischen Diskursen und kleinen Teilbereichen dessen zu verlieren, was die Autoren nun als „das Ganze“ problematisieren. Das Ganze ist irgendwie Kapitalismus, aber nicht bloß als Wirtschaftsform, sondern als Prinzip, das die Gesellschaft strukturiert und gestaltet und das mit Sexismus, Rassismus und anderen Ungleichheiten verwoben ist.

Dieser Verwobenheit war man sich in den Anfängen der queeren Bewegung in den 1960ern durchaus bewusst. Damals protestierten Trans*-Personen, Sexarbeiter*innen, junge obdachlose Queers, Queers of Color und jene aus der Arbeiterklasse gegen Polizeigewalt und gesellschaftliche Unterdrückung. Die aktuelle Queer-Bewegung neigt dazu, diese solidarischen Kämpfe in den Hintergrund zu drängen und eigene privilegierte Positionen absolut zu setzen. Dagegen wenden sich die Autoren. Sie gehen darauf ein, warum sex, class und race analytisch nicht getrennt werden sollten, wieso eine Aufspaltung politischer Kämpfe problematisch ist und warum wir uns bedingungslos an die Kämpfe jener anschließen müssen, die gesellschaftlich am meisten unterdrückt werden. Zentrale Themen sind die Geschichte der Queer-Bewegung, Feminismus, Kolonialismus, globale Arbeitsteilung und Kapitalismus.

Das Buch findet klare Worte für queere Kompliz_innen des Systems, vorausgesetzt sie sind mit akademischem, linkem Theoriejargon vertraut. Für alle anderen sind es weniger klare Worte, mehr verschwommene Ideen in komprimierter Form. Ich würde das Buch trotzdem allen empfehlen, die sich gerne kritisch mit der Gesellschaft auseinandersetzen. Durch die streckenweise komplizierten Formulierungen kann man sich durchkämpfen, dann bietet es eine hervorragende Zusammensicht der Kernaspekte linker Ideologie. Außerdem gibt es dutzende Verweise auf essentielle Werke zum Weiterlesen, die in bisherigen Debatten vielfach ungerechtfertigt vernachlässigt wurden.

Heinz-Jürgen Voß & Salih Alexander Wolter: Queer und (Anti-)Kapitalismus.
Schmetterling Verlag. 2015 (2. Auflage).
159 Seiten, 12,80 Euro.

Carina Brestian studierte Gender Studies an der Uni Wien.

Eine kurze Geschichte Spaniens

  • 05.12.2015, 13:03

Spanien hat seit dem Beginn der Platzbesetzungen im Mai 2011 eine beeindruckende Phase sozialer Kämpfe hinter sich. Nicht zuletzt angesichts der anstehenden Wahlen lohnt sich ein Blick auf die Situation.

Das Buch „Mit Podemos zur demokratischen Revolution – Krise und Aufbruch in Spanien“ von Raul Zelik beginnt nicht 2008 mit der Krise, sondern bettet die jüngeren Entwicklungen in den Kontext des 20. Jahrhunderts ein. Besonders interessant ist dabei das Kapitel zur „Transicion“ ab Mitte der 1970er Jahre – jenem gefeierten Demokratisierungsprozess unter Aufsicht des Königs, durch den die alten Eliten ihre politische und ökonomische Macht behalten konnten. Große Teile der Linken machten da mit, Widerstand gab es nur von den Rändern – in Katalonien und dem Baskenland. Dieser Prozess war alles andere als friedlich. Dutzende Menschen fielen etwa den von der sozialdemokratischen Regierung unterstützten Todesschwadronen zum Opfer.

Präzise analysiert Zelik das spanische Akkumulationsmodell, in dem Immobilienboom und Korruption schließlich in die große Krise führten. Mit 15-M entstand daraus eine beeindruckende soziale Bewegung. Doch obwohl sie über Jahre mobilisierungsfähig geblieben ist, gelang es ihr nicht die Politik zu ändern.

Besonders aufschlussreich ist die kurze Darstellung der Populismus-Theorie, die der Strategie von Podemos zugrunde liegt. Der Autor sieht die Chancen eines Bruchs aber weniger bei Podemos als in den neuen Gemeindekandidaturen und den Absetzungsbewegungen in Katalonien. Besonders interessant ist dabei, wie aus konkreten Kämpfen gegen Zwangsräumungen in Barcelona die Einheit der Linken hergestellt wurde. Nicht im Nationalismus, sondern in der demokratischen Konstituierung der Gesellschaft, wie sie von den linken und linksradikalen Teilen der Unabhängigkeitsbewegung angestrebt wird, sieht Zelik eine Chance.

Ohne dem Autor in jeder These zuzustimmen, bietet Zeliks Buch einen hervorragenden Überblick und viele Aspekte der spanischen Erfahrung scheinen auch für die Neuformierung der Linken in Österreich hilfreich.

Martin Konecny dissertiert am Institut füt Politikwissenschaft und ist Redakteur bei mosaik-blog.at.