Liebe

Wenn Kapitalismus Liebe macht

  • 10.03.2016, 18:04
Die romantische Liebe gilt als letztes Refugium vor der Konsumgesellschaft. Dabei sind marktorientierte Strukturen längst in unsere Intimbeziehungen eingezogen.

Die romantische Liebe gilt als letztes Refugium vor der Konsumgesellschaft. Dabei sind marktorientierte Strukturen längst in unsere Intimbeziehungen eingezogen.

Man hatte halt Sex“, sagt meine Oma. „Nach der Hochzeit, natürlich“, ergänzt mein Opa. Ein Thema, über das meine Großeltern nicht gerne sprechen, weil es nie ein großes Thema war. Die gleiche Unterhaltung mit Freund_innen: „Leidenschaft, Liebe, Emotionalität, Freiheit, …“. Eine endlose Kette aufgeladener Begriffe, die noch ewig so weitergehen könnte. Kapitalismus passt in diese Aufzählung zunächst nicht hinein.

Dabei wurde schon das eheliche Ideal der Großeltern maßgeblich von kapitalistischen Strukturen geprägt. Ihre Beziehung formte sich in den Kinos, den Tanzlokalen und Bars der vierziger Jahre. Mit der neuen Ausgehkultur verlagerten sich die Intimbeziehungen in die Öffentlichkeit, so dass auch die Werbung zunehmend auf ein romantisches Ideal ausgerichtet wurde. Bis heute hat sich diese gemeinsame Logik von kapitalistischen Strukturen und der Idee der romantischen Liebe in heteronormativen Paarbeziehungen hartnäckig gehalten: Materielle Investitionen wie Geschenke oder gemeinsames Reisen sind genauso wichtig wie die Anerkennung des Selbst durch den/die Andere_n. Für die spätkapitalistische Selbstoptimierung ist diese Reproduktion von Individualität unabdingbar.

WAHRE LIEBE? Wie die Soziologin Eva Illouz in ihrer Studie beschreibt, wurde die romantische Liebe mit dem Aufkommen des Kapitalismus zum sicheren Hafen stilisiert und der Geschlechtsverkehr in dieser Semantik zur Quelle der Selbstfindung erklärt. Dass ausgerechnet der Sex Angriffspunkt kapitalistischer Verwertungsinteressen sein soll, läuft der romantischen Vorstellung von Intimität zuwider. Doch genau weil er in Paarbeziehungen so emotional aufgeladen ist, eignet er sich dort besonders gut, um über ökonomische Ungleichheiten hinwegzutäuschen. Besonders bei heterosexuellen Paaren.

Mit der steigenden Erwerbstätigkeit von Frauen verändert sich auch die Ökonomie der Paarbeziehungen: „Geld wird in heterosexuellen Beziehungen ganz neu verhandelt“, sagt die Soziologin Sarah Speck, „dabei werden tradierte Rollenverhältnisse aber nicht unbedingt aufgebrochen.“ Im Gegenteil. In einer großangelegten Studie untersuchte sie gemeinsam mit Cornelia Koppetsch die Dynamik von heterosexuellen Paarbeziehungen, in denen die Frau das Haupteinkommen verdient. „Geld spielt keine Rolle, egal wer es verdient“, versuchten besonders Paare aus dem akademischen Milieu zu suggerieren, so Speck. „Die zentralen Werte von Autonomie und Selbstverwirklichung sind in diesen Beziehungen oft so aufgeladen, dass sie eine faire Aushandlung der Arbeitsverhältnisse verunmöglichen.“ Oft trage die Frau die doppelte Last von Einkommen und Haushalt, ohne dass die Situation als ungerecht empfunden werde. Klassische Geschlechterverhältnisse werden abgelehnt und Ungleichheiten gemeinsam kaschiert. Dafür finde sich der Rollenkonflikt häufig in der Sexualität wieder. Dort scheinen tradierte Rollen legitim zu sein.

„Im aufgeklärten individualisierten Milieu darf Geschlechterdifferenz keine Rolle mehr spielen. Deshalb wird die Aushandlung von Männlichkeit und Weiblichkeit in den Bereich des Schlafzimmers verlagert“, so Speck: „Nach dem Motto: Wenn der Mann schon kein Einkommen reinbringt, muss er wenigstens im Bett die führende Rolle übernehmen.“ Speck sieht darin widersprüchliche Tendenzen: „Die Omnipräsenz von Sexualität konfrontiert uns mit einer massiven Bedeutsamkeit von Geschlecht und gleichzeitig würden viele das abstreiten. Unsere Studie lässt vermuten, dass gerade diejenigen, die besonders sensibel für Ungleichheiten sind, in der gelebten Sexualität in klassische Rollenverteilungen zurückfallen.“

WARE LIEBE. Beratungsforen, Werbe- und Pornoindustrie suggerieren, dass jede_r ein erfülltes Liebesleben haben kann, sofern sie_er nur darin investiert. Kann man sich dieser Ökonomisierung verweigern? Paul lebt seit sechs Jahren in einer Beziehung. Und seit drei Jahren in einer weiteren. Mit beiden Frauen schläft er und die wiederum mit anderen Menschen. Sex ist für ihn wichtig, aber keine Notwendigkeit für emotionale Nähe. „Ich behaupte nicht, dass polyamore Beziehungen frei von Machtstrukturen sind“, sagt er, „aber die werden weniger in der Sexualität verhandelt.“ Sex sei kein wesentlicher Teil der Beziehungsarbeit und entziehe sich so kapitalistischer Optimierungsansprüche: „Es gibt mehr Freiraum, unterschiedliche Bedürfnisse mit verschiedenen Menschen zu befriedigen, ohne dass die Idee der romantischen Liebe dafür instrumentalisiert wird“, erklärt Paul. Damit schwindet auch der Druck, seinen Wert durch sexuelle Kompetenz dauerhaft unter Beweis stellen zu müssen.

In der Populärkultur dominiert ein Ideal der romantischen heteronormativen Zweierbeziehung. Klar, wir verhandeln heute andere Dinge als meine Großeltern. Damals war es die Ehe, heute sind es die Liebe und insbesondere der Sex, auf die ein gesamter Markt von „romantischen Waren“ abzielt. Und diese „Ware Liebe“ brauchte schon immer das Ideal der wahren Liebe. Bevor wir also die große sexuelle Befreiung anstreben, könnten wir es dabei belassen, uns zunächst von einer Idee von Sex als autonomem Lebensbereich zu verabschieden, so unromantisch das auch klingt. Und wahrscheinlich geht der Spaß daran nicht verloren, wenn wir ihn einfach ein bisschen weniger wichtig nehmen.

Eva Hoffmann studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Uni Wien.

Romeo und Romeo

  • 25.06.2015, 11:35

Eine große Liebe, die sich über mehrere Jahrzehnte und Länder, verschiedene Karrierestufen und Lebensverhältnisse hinweg zieht, lebensbestimmend ist, ewig Sehnsucht nach ihrer Erfüllung produziert und doch nie wirklich sein kann. Denn die zwei, die sich in „Herrlichkeit“ lieben, sind zwei Männer.

Eine große Liebe, die sich über mehrere Jahrzehnte und Länder, verschiedene Karrierestufen und Lebensverhältnisse hinweg zieht, lebensbestimmend ist, ewig Sehnsucht nach ihrer Erfüllung produziert und doch nie wirklich sein kann. Denn die zwei, die sich in „Herrlichkeit“ lieben, sind zwei Männer.

Die Verhältnisse stehen gegen sie, wie das nun mal bei jedem großen Liebespaar der Fall ist. Dazu passt, dass „Herrlichkeit“ von Margaret Mazzantini ein ungemein klassischer, fast schon konventioneller Roman ist. Guido als Ich-Erzähler breitet sein Leben aus, geradlinig ohne formale Auffälligkeiten und Ausbrüche. Beeindruckend zurückhaltend, könnte man das nennen. 

Guido wächst Mitte des 20. Jahrhunderts in einem akademischen Haushalt ohne elterlichen Halt in einem Palazzo in Rom auf, Constantino in dessen Keller als Sohn des Pförtners. Nach einer sehr innigen Begegnung der beiden auf einer Klassenfahrt kreist Guidos ganzes Leben um seine Liebe zu Konstantin, manchmal in weiten, manchmal in engen Bögen. Ob in Rom oder London, ob verheiratet, mit Kind, als Student, als Professor der Kunstgeschichte, in Krankheit und Gesundheit.

Das macht es diesem Leben natürlich schwer, sich als reine Freude zu präsentieren. Dass Constantino dabei etwas blass bleibt und sein Leben als Koch und Restaurantbesitzer (und ebenfalls Ehemann) vor allem das Gegenstück zu Guidos akademischer Karriere markiert, mag der Erzählform geschuldet sein, ein unbekanntes Muster ist es aber nicht. Hier ist alles aus einem Guss: die lückenlose Erzählweise, das runde Sprachbild, dessen Metaphern nur vereinzelt leicht ins Kitschige kippen und die Zeitbezüge, die immer wieder eingeflochten werden, beispielsweise das U-Bahn-Attentat in London. Bücher und Lieder werden auf eine Art und Weise erwähnt, die diese Methode nicht zum Selbstzweck machen, sondern eine Art von Realitätsnähe beim Lesen kreieren, die man schätzt oder auch nicht.

Eine melancholische Liebesgeschichte, deren teilweise durchaus kreischende Tragik gedämpft wird durch den ruhigen, reflektierenden Erzählton.

Margaret Mazzantini: „Herrlichkeit“
DuMont, 500 Seiten, 23,70 Euro, eBook 17,99  Euro

 

Dorothea Studthoff studierte Germanistik und Skandinavistik in Freiburg und betreibt das Blog ,,Hauptsache: fadengeheftet“.

Durch die Heirat ins Exil

  • 14.07.2014, 14:32

Die NS-Rassegesetze machten Beziehungen zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden kompliziert, ein normales Familienleben unmöglich. Schein-Scheidungen um Berufsverbote zu umgehen gab es ebenso, wie Schein-Ehen, um sich nach der Flucht vor der Abschiebung zu schützen. Irene Messinger hat untersucht, wie Jüdinnen die Heirat zur Flucht nutzten.

Die NS-Rassegesetze machten Beziehungen zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden kompliziert, ein normales Familienleben unmöglich. Schein-Scheidungen um Berufsverbote zu umgehen gab es ebenso, wie Schein-Ehen, um sich nach der Flucht vor der Abschiebung zu schützen. Irene Messinger hat untersucht, wie Jüdinnen die Heirat zur Flucht nutzten.

Rosl Ebners Hochzeit war wohl keine besonders romantische Angelegenheit. „Wir haben im Rathaus in einem kleinen Zimmer unterm Hitlerbild den Segen des Standesbeamten bekommen.“, beschreibt sie später trocken die Zeremonie. Mit ihrem frisch angetrauten Mann, einem Franzosen mit polnischen Wurzeln, konnte sich die gebürtige Österreicherin kaum verständigen; für die Eheschließung war er bezahlt worden. Damit die Hochzeit wenigstens ein bisschen feierlich wirkte, besorgte Rosls Schwester noch schnell einen Blumenstrauß.

Die Hochzeit zwischen Schriftstellerin und Kabarettistin Erika Mann und dem britischen Lyriker Wystan Hugh Auden war wohl ähnlich unromantisch. Er war homosexuell und die beiden kannten sich bis dahin nicht.

Das Ja-Wort gaben sich die beiden Paare aus einem einzigen Grund: Durch die Heirat wurden die beiden Jüdinnen Rosl Ebner und Erika Mann französische bzw. britische Staatsbürgerinnen – die Garantie, nach der Flucht nicht zurück nach Deutschland abgeschoben zu werden. „Komisch, dass wir gerade in den Tagen heirateten, in denen meine Ausbürgerung von den Nazis beschlossen worden sein muss.“ schreibt Erika Mann in einem Brief.

Solche Scheinehen zwischen deutschen oder österreichischen Jüdinnen und Franzosen oder Briten sind in den späten Dreißiger Jahren keine Einzelfälle. Über 60 Ehen wie die von Rosl Ebner und Erika Mann hat Politikwissenschaftlerin Irene Messinger aufgespürt und untersucht. Da Frauen damals mit einer Heirat noch automatisch die Staatsbürgerschaft ihres Mannes annahmen, war die Heirat im Ausland für viele Jüdinnen die Gelegenheit zur Flucht. Manchen vermittelten Freunde oder politische Organisationen potentielle Ehemänner, andere heirateten einfach ihre Cousins im Nachbarland.

progress: Ich würde gerne zuerst allgemein über die Situation von „gemischten“ Paaren in Nazi-Deutschland sprechen. Wie war die rechtliche Situation solcher Paare? Und wie wurden Mischehen überhaupt definiert?

Messinger: Als Mischehen wurden nur Ehen zwischen – immer in Anführungszeichen, weil ich keine Definitionen des NS-Regimes übernehmen möchte – „Deutschblütigen“ und „Nicht-Deutschblütigen bezeichnet, also mehrheitlich Juden und Jüdinnen, aber auch Menschen, die  heute mit dem N-Wort oder dem Z-Wort bezeichnet würden. Ehen mit Ausländern wurden nicht als Mischehen bezeichnet. Ich habe das nur in meinem Vortrag unter „Ehen mit Fremden“ zusammengefasst, weil ich es spannend fand, die beiden Konzepte in Relation zu setzen. Mischehen waren starken Repressionen ausgesetzt, während es vergleichsweise einfach war einen Ausländer oder eine Ausländerin zu heiraten.

Gab es bei den Repressionen auch innerhalb der Kategorie der Mischehen rechtliche Unterschiede?

Ja, das war sehr komplex. Es gab Unterschiede ob der Mann oder die Frau jüdisch war, ob sie Kinder hatten, ob sie Mitglieder der Kultusgemeinde waren. Die besten Chancen hatten Ehen, bei denen der Mann – also der Familienerhalter und so weiter – „deutschblütig“ war.

Hier spielten also auch Geschlechterstereotype eine Rolle.

Ja, vor allem auch, wenn es darum ging, dass nicht nur die Ehefrau, sondern die Mutter der Kinder „deutschblütig“ war. Das war sozusagen die zweitbeste Gruppe. Paare mit Kindern waren immer besser geschützt als kinderlose Paare. In der Nazi-terminologie wurde dann unterschieden in „privilegierte“ und nicht-privilegierte Mischehen, mit unterschiedlichen Konsequenzen für den Alltag und die Überlebenschancen.

Welche Repressalien gab es nun für Mischehen?

Es wurde auf politischer wie sozialer Ebene Druck ausgeübt: Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, regelmäßige Denunziationen der Nachbarn. Aber man muss sich die regionalen Unterschiede anschauen. In Deutschland wurden Vorschriften oft ganz anders ausgelegt als in Österreich. In Wien haben zum Beispiel die meisten Mischehen überlebt. Sie waren natürlich schon Repressalien ausgesetzt und wurden in so genannte Judenhäuser umgesiedelt, aber in Deutschland kam es dazu, dass die jüdischen Partner aus Mischehen ins KZ kamen.

Gab es deswegen auch Trennungen?

Ja, im Ehegesetz 1938 gab es die Möglichkeit, sich aus rassischen Gründen scheiden zu lassen. Aber es wurde nicht nur die Scheidung erleichtert, sondern es wurde auch massiver Druck von der Gestapo ausgeübt. Und durch Arbeitsverbote und so weiter wurden die Paare ohnehin in eine sehr prekäre Situation gedrängt. Bei den Scheidungen gab es aber auch geschlechterspezifische Unterschiede. Frauen sind eher zu ihren jüdischen Männern gestanden, während sich Männer eher von ihren jüdischen Partnerinnen getrennt haben. Vielleicht auch aus Karrierebewusstsein. Ein schönes Beispiel ist da der Schauspieler Hans Albers: Dem wurde gesagt, entweder er kann nicht weiter als Schauspieler arbeiten oder er lässt sich von seiner jüdischen Frau Hansi Burg scheiden. Es gab aber ein großes Interesse im NS-Regime, dass er weiter Schauspieler bleibt. Sie haben also einen Deal eingefädelt: Er hat sich offiziell getrennt, seine Frau hat zum Schein einen Norweger geheiratet, aber sie blieben weiter ein Paar. Es gab also unterschiedliche Formen, Druck auszuüben, aber auch unterschiedliche Formen, damit umzugehen.

Es gab aber nicht nur Schein-Scheidungen sondern auch Schein-Ehen. Was hast du hier untersucht?

Ich habe mit die Eheschließungen im Jahr 1938 angeschaut, die von der jüdischen Gemeinde in Wien registriert wurden. Ich habe mir gedacht, mal schauen, wer hier in Wien geheiratet hat, aber auch, welche Ehen im Ausland geschlossen wurden. Das war ja einfacher. Und bis wann konnten Jüdinnen überhaupt noch ausreisen, um im Ausland zu heiraten? Das machten vor allem Frauen, die im Grenzgebiet lebten. So haben zum Beispiel Grazerinnen Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien geheiratet oder Wienerinnen Prager Juden.

Wie lange war so etwas möglich?

Von den Fällen, die ich kenne, fanden die meisten Eheschließungen in den Jahren 38 und 39 statt, vereinzelt auch noch 1940, allerdings nicht in Österreich. Dann war das nicht mehr möglich.

Wie wurden nun solche Scheinehen angebahnt? Man braucht dazu ja Kontakte im Ausland.

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Kontakte waren unumgänglich. Es gab Kontakte in politischen Netzwerken. Zum Beispiel habe ich viele Frauen im Internationalen Sozialistischen Kampfbund gefunden, der viele Mitglieder mit Briten verheiratet hat. Oder auch Vereinigungen in den Exilländern, wo es mehr darum ging, dass die Frauen nun nicht mehr abgeschoben werden konnten. Großbritannien und die Schweiz haben etwa oft nur kurzfristig Schutz geboten. Aber es sind auch familiäre Netzwerke wirksam geworden, wo dann Frauen ihren Cousin geheiratet haben oder die Mutter als Kupplerin tätig war.

Aber man brauchte ja nicht nur Kontakte, sondern wahrscheinlich auch Geld. Ich kann mir vorstellen, dass vor allem Frauen aus gut situierten Familien ins Ausland geheiratet haben. Was hast du dazu herausgefunden?

Bei den Fällen, die ich untersucht habe, kamen die Frauen tatsächlich aus der politischen Elite oder aus der künstlerischen Ecke. Die Frage ist nur: Finde ich diese Fälle einfach leichter, weil über diese Frauen Biographien geschrieben werden und sie Autobiographien hinterlassen haben? Ich habe auch vereinzelt Fälle aus der Arbeiterklasse gefunden – zum Beispiel  ein Hausmädchen, das nach Großbritannien gegangen ist und dort geheiratet hat. Aber die waren natürlich unter Druck und haben sich wahrscheinlich bemüht, keine Spuren zu hinterlassen. Ich glaube, die Eliten haben sich ganz einfach leichter getan, nachher darüber zu reden und zu dieser Fluchtstrategie zu stehen.

Was geschah nach der Eheschließung? Wurden die Ehen gleich wieder geschieden nachdem die Frau die Staatsbürgerschaft bekommen hatte?

Manche Ehen, die ich untersucht habe, wurden noch im selben Jahr oder im Jahr danach wieder geschieden. Es gibt auch Fälle – allerdings kenne ich die nur aus Erzählungen – von palästinensischen Männern, die nach Polen gefahren sind, dort eine Polin geheiratet haben, sie nach Palästina oder Israel gebracht haben, um sie in Sicherheit zu bringen, sich scheiden ließen und gleich wieder nach Europa fuhren, um die nächste Polin zu heiraten.

 

 

Zur Person: Irene Messinger ist ausgebildete Sozialarbeiterin und studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien. Sie schrieb ihre Dissertation zum Thema „Verdacht auf Scheinehe. Intersektionelle Analyse staatlicher Konstruktionen von 'Schein- und Aufenthaltsehe' und ihrer Auswirkungen im Fremdenpolizeigesetz 2007“. Sie arbeitete in der Rechtsberatung für Asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren und ist Lehrbeauftragte für „Gender & Diversity“ an der FH Wien für Soziale Arbeit.

Links zum Thema

Website von Irene Messinger homepage.univie.ac.at/irene.messinger

Verein Fibel www.verein-fibel.at

 

Magdalena Liedl studiert Anglistik und Zeitgeschichte an der Uni Wien.

Pornos sind niemals Missbrauch

  • 15.05.2014, 10:10

 

Feministische Pornos sind ein Versuch den Porno neu zu definieren. Dabei sollen Frauen ihre sexuellen Einschränkungen ablegen und zu neuen Lustufern aufbrechen. Und am besten die Männer noch mit ins Boot nehmen.

Von der Feuchte des letzten Ficks Zwei formlose Körper winden sich, nähern sich einander an. Sie treffen sich, immer wieder, drücken sich aneinander. Zwei Mal zwei längliche Auswölbungen. Küsse. Zwei hautfarbene Stoffhüllen, Silhouetten menschlicher Körper, die sich aneinander reiben. Ein Arm streichelt den anderen, der unter der Berührung erschaudert. Mit der zunehmenden Heftigkeit ihrer Bewegungen finden sich immer mehr markante Auswölbungen, die ihren glatten Hüllen mehr Form geben. Die Berührungen, die zwischen den beiden stattfinden, sind zutiefst menschlich, doch erst dunkle Stellen im Stoff verraten zwei Menschen unter den Anzügen. Es sind die Stellen, die nass werden mit Speichel, Sperma, Schweiß und Scheidenflüssigkeit. Nach und nach werden mit einer Schere immer mehr Teile des Polyesteranzugs herausgeschnitten und die Haut der DarstellerInnen wird sichtbar.

Skin ist der erste Teil einer Sammlung von insgesamt zwölf erotischen Kurzfilmen, die den Titel Dirty Diaries trägt. Es ist eine DVD voll mit feministischem Porno. Die per Handykamera aufgenommenen Kurzfilme zeigen wie vielfältig Porno ist, dessen Fokus nicht auf der männlichen, sondern auf der weiblichen Sexualität liegt. Die von Mia Engberg produzierte Sammlung Dirty Diaries widerspiegelt sexuelle Ausdrucksweisen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Neben Skin wird ein Sexdate mit einem Mann über die Website Bodycontact ausgemacht; ein illustrierter, masturbierender Mann wird als Dildo verwendet bis er tot ist; eine verhaftete Frau wird von einer Polizistin in BDSM Sex verwickelt; und eine Frau vor Fahrgästen in einer Pariser Ubahnstation gefilzt .

Ausgehend von dem Film Come Together, in dem sich Mia Engberg und andere mit Handykameras beim Masturbieren und anschließendem Orgasmus selbst filmten, wurde die Idee zum Projekt Dirty Diaries geboren. Als Reaktion auf sexistische Kritiken von Männern, die die in Come Together vorkommenden DarstellerInnen als zu hässlich schimpften, wurde ein Manifest formuliert, das den Kurzfilmen in Dirty Diaries zu Grunde liegt. Es ist eine Kritik an gängigen Schönheitsidealen, dem Patriarchat und dem Kapitalismus, der einen selbstbestimmten Umgang mit der weiblichen Sexualität und Lust, auch im Porno, im Wege steht.

 

 

Wissen ist sexy Dass sich am Porno nicht nur Konservative stoßen, zeigt die rege PorNObewegung unter FeministInnen, die besonders in den 70ern diskutiert wurde. Eines der bedeutendsten Gesichter war damals die Pornodarstellerin Linda Lovelace aus dem Porno Deep Throat, einer der ersten Mainstreampornofilme, der in den USA in den Kinos gezeigt wurde. Linda Lovelace, deren bürgerlicher Name Linda Boreman war, klagte nach der Veröffentlichung des Films, mit besonderer Unterstützung der Feminstin Gloria Steinem, die Umstände an, unter denen sie den Film gedreht hatte. Sie sprach von mehrfachen Misshandlungen und minimaler Bezahlung, die angesichts dessen, dass der Film geschätzte 600 Millionen US-Dollar einspielte, unangemessen war.

Für viele FeministInnen wurden die Ausbeutung und sexuelle Gewalt im Porno als Auswirkungen des Patriarchats, zu etwas das es zu bekämpfen und zu verbieten galt. Dass Porno aber per se nicht sexistisch und böse sein muss, ist für die 29-jährige unabhängige Pornoproduzentin Åslög Enochsson Ausgangspunkt ihrer sexpositiven Arbeit. Für sie steht fest, dass man als junges Mädchen mit der eigenen Sexualität und Lustbefriedigung konfrontiert ist. Sie selbst fand zum Porno, als sie anfing mit ihrem Körper zu experimentieren. Ihren ersten Orgasmus hatte sie nicht mit ihrem Freund, sondern nach einem Mainstreamfernsehporno. “Es war sehr lehrreich und die Wahrheit ist, dass unsere Körper auf sexuelle Stimulation reagieren, auch wenn die Bilder und Körper nicht nach unserem Geschmack sind. Sex riecht wie Sex, so oder so.” Niemand ist also gefeit vor Sex. Umso wichtiger wird die Etablierung einer fundierten Wissensbasis über Sexualtität, der eigene Körper und der Umgang mit dem Körper anderer kann nicht unter den Tisch gekehrt werden. Die Sexaktivistin Laura Méritt sieht darin eine wichtige Funktion des reflektierten, feministischen Pornos: “Pornografie, also die Darstellung von Sexualität, ist Teil einer Kultur, die gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelt. Sexualität ist lernbar und wenn wir eine erotische Kultur etablieren und selbstbestimmte Sexualität fördern wollen, ist sexpostitiver Porno eine Möglichkeit. Das Private ist politisch und Wissen macht sexy.” Laura Méritt will sexpositives Angebot betonen und versucht in ihren sexualpolitischen Aktivitäten, Konditionierungen aufzulösen, die Frauen und Männer in ihrer Sexualität beschränken. Sie ist eine Stimme von vielen, die in der Zensur von erotischem Filmmaterial eine einseitige Ausrichtung der Frauenbewegung fürchtet. Denn auch in Deutschland verbreitete sich unter einer Fraktion von Feminst_innen, unter anderem auch durch die von Alice Schwarzer geführte PorNO Kampagne, die Forderung nach einem generellen Verbot von Porno.

Auch Dirty Dairies sorgte für einige Kontroversen. Vor und nach der Veröffentlichung von Dirty Diaries entzündete sich heftige Kritik an dem Umstand, dass die feministische Pornosammlung finanziell hauptsächlich über das Schwedische Filminstitut und damit staatlich gefördert wurde. Die Leiterin des Instituts Cissi Elwin Frenkel verteidigte die Förderung in einem Brief an die Schwedische Kulturministerin Lena Adelsohn Liljeroth damit, dass Dirty Diaries eine neue Herangehensweise weibliche Sexualität darzustellen aufzeigt.

Dauerständer und Wunscherfüllerin Enochsson wollte ebenfalls in Schweden als unabhängige Pornoproduzentin Fuß fassen, doch sie wurde enttäuscht. “Vier Jahre habe ich versucht in Schweden eine Produktion zum Laufen zu bringen, aber es war fast unmöglich.” Um ihrer Arbeit nachgehen zu können, zog sie nach Berlin und fand dort eine rege Aufnahme ihre Projekte. Seitdem hat sie in eineinhalb Jahren mehr Workshops, Filmdrehs, Vorträge und Ausstellungen gemacht als ihr ganzes Leben lang in Schweden. Enochsson will mit ihren Filmen den Porno für die Frauen erobern. Es ist ein Versuch die weibliche Sexualität, die auf “beschämende Weise falsch interpretiert” und “unzureichend dargestellt” wird, in den Mittelpunkt zu rücken. Mit ihrer Arbeit will sie dazu aufrufen, mehr Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen sexuellen Erfahrung zu finden. “Ich möchte, dass mehr Frauen, vor allem heterosexuelle Frauen über ihre Feuchte vom letzten Fick prahlen, als darüber wie glücklich sie ihre männlichen Partner gemacht haben.”

Auch Méritt ist überzeugt, dass im Mainstreamporno Frauen zu passiven Wunscherfüllerinnen und Männer zu “unsensiblen, irrealen Dauerständern” reduziert werden, indem eine feste Struktur der Standard-Sexpraktik, also Fellatio, die Penetration mit dem Penis in alle Öffnungen der Frau, der Höhepunkt und die Ejakulation des Mannes als Abschluss,abgearbeitet werden. “Das lässt wenig Raum für einen positiven Umgang mit dem eigenen und anderen Körper.”

Szenen aus der Dokumentation 9 to 5 - Days in Porn des deutschen Regisseurs Jens Hoffmann belegen Méritts Eindruck mit Bildern. Die Dokumentation begleitet über ein Jahr MainstreampornodarstellerInnen aus San Fernando Valley beruflich und privat. Die Stadt San Fernando Valley ist PornomacherInnen bekannt, denn sie ist der Sitz der US amerikanischen Pornoindustrie. Hier werden jährlich mehr als 10.000 Pornofilme produziert. In 9 to 5 – Days in Porn wird gezeigt, wie Sex zur Arbeit werden kann, bei der sich die ProtagonistInnen ebenfalls mit gerechter Bezahlung und gerechten Arbeitsbedingungen, Anerkennung, Ausnutzung, Machtkämpfen, Gesundheitsschutz und Gewalt am Arbeitsplatz auseinandersetzen müssen. Hinter die Kulissen eines Pornos zu blicken, ist eine seltene Möglichkeit. In9 to 5 – Days in Porn sieht man Pornodarsteller hinter der Kamera nackt in einer Reihe stehen und Hand an ihren Penis legen bis er hart und steif ist, um dann ins Set einsteigen zu können. Sobald sie aus einer Szene raus sind, wird wieder der Platz in der Reihe eingenommen, wie Ständermaschinen mit automatisierten Bewegungen. Was zu sehen ist, ist Leistungsdruck pur.  

Für Méritt sind die Umstände des Mainstreampornos Anlass genug die Pornolandschaft wieder mit einer Vielfalt zu bereichern und auf bereits bestehende Pionierinnen, wie Petra Joy, Maria Beatty oder Catherine Breillats zu verweisen. Sie und Corinna Rückart wollten dem frauenfreundlichen Erotikfilm zu mehr Öffentlichkeit verhelfen und die grundsätzliche Frage klären, was eigentlich feministischer Porno sei. Aus diesen Überlegungen heraus, entstand die Idee zu einem europaweiten, feministischen Pornofilmpreis, der 2009 unter dem Namen PorYes Award gegründet wurde. Er soll eine Umdeutung des Mainstreampornos herbeiführen, hin zu einem feministischen Porno, der Frauen vor und hinter der Kamera in den Fokus nimmt. Dass im Sinne der Vielfalt nicht nur heterosexueller Sex zum Tragen kommt, sondern auch queere Formen von Sexualität dargestellt werden, ist erwünscht. „Vielfalt und sexuelles Bewusstsein, sowie sexuelle Kommunikation sind der Schlüssel zur erotischen Kultur oder zur Integration von Sexualität in die gesellschaftliche Kultur.“ Unter diesen Bedingungen wurde auch die Produzentin von Dirty Diaries Mia Engberg ausgezeichnet.

Mehr Sex Eine kritische Frage bleibt, ob der feministische Porno in eine erotische und sexualisierte Form von Kunst übergeht. Auch wenn diese Szene wie eine erotische Performance wirkt, lässt sich darüber streiten, wie viel der Kurzfilm Skin in Dirty Diaries mit Kunst zu tun . Méritt ist der Meinung, dass Porno nicht strikt getrennt werden sollte vom herkömmlichen Spielfilm und spricht sich für mehr Sexszenen in diesem aus. Dem französischen Film La vie d’Adèle – chapitres 1&2 (Blau ist eine warme Farbe) von Abdellatif Kechiche, der auf Grunde der darin vorkommenden Sexszenen zwischen den Protagonistinnen Adéle und Emma kritisiert wurde, steht Méritt eher positiv gegenüber. “In Blau ist eine warme Farbe werden Klischees, auch lesbische Klischees reproduziert, aber immerhin ist lesbischer Sex zu sehen und auf dem Hintergrund der französischen Debatte um Homosexualität ist das ein großer Schritt, daher ja auch die Auszeichnung in Cannes.” Dass sich die Darstellerinnen aber oft zu Szenen gedrängt und sich beim Drehen der Sexszenen unwohl fühlten, darf nicht unerwähnt bleiben. Die Unklarheit der Anforderungen an die Schauspieler_innen macht es schwierig eine Gleichsetzung von Porno und Spielfilm durchzuführen. Enochsson will ihre Pornoproduktion strikt von Kunst getrennt verstanden sehen. Für sie ist das Produzieren von Pornos eine sehr soziale Angelegenheit. Die Vermutung liegt nahe, dass in einer reflektierten und einvernehmlichen feministischen Pornoproduktion die Gefahr des Missbrauchs sinkt. Das, was Enochsson zum Schluss des Gesprächs mit progress online über Porno sagt, zeigt in der Klarheit ihrer Aussage Wirkung: “Porno ist niemals Missbrauch. Wenn es Missbrauch ist, dann ist es nur Missbrauch.” Es ist zugleich eine Kampfansage und ein Weg zu einem neuen Verständnis von Porno.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien.

 

 

Feministische Pornotips von Åslög Enochsson und Laura Méritt:

Dirty Diaries, Mia Engberg

Heterosexuell: Anna Span

Queer: Courtney Trouble

Punk Rock: Burning Angel

BDSM (Bondage and Discipline, Domination and Submission, Sadism and Masochism): Maria Beatty

Makelovenotporn.tv

Kink.com

 

What is love?

  • 15.04.2014, 09:36

Ein Versuch gegen den normativen Strich zu lieben

Die Liebe ist ein seltsames Spiel beschloss Connie Francis schon 1960. 1993 fragte sich Haddaway What is love? und hatte keine Antwort parat. 2008 kommt Amanda Palmer der Liebe mit den Zeilen I google you whenever I'm alone and feeling blue näher. Die Liebe ist in der Populärkultur ein zentrales Thema. Aber auch in der Wissenschaft bleibt die Liebe schwammig und wird unterschiedlich theoretisiert: Niklas Luhmann verbindet die Liebe mit den romantischen Begriffen des symbolisch generierten Kommunikationsmediums und Eva Illouz braucht über 400 Seiten um sich der Frage Warum [moderne] Liebe weh tut soziologisch zu nähern. Kein Wunder, dass mensch sich bei all diesen  Vorschlägen und Thesen wie Liebe zu sein hat, wie und was sie ist, wie eine Beziehung funktioniert oder funktionieren sollte und welchen Stellenwert Sex, aber auch Freund_innenschaft dabei hat, verwirrt wird. Mir geht es zumindest so. Ich versuche mich trotz der Verwirrung abseits vorgegebener Normen mit den Themen Beziehung, Liebe und Sexualität auseinander zu setzen. Zumindest in meinem Kopf. Denn ja: als Anfängerin im Bereich „alternative Beziehungskonzepte“, wie ich all meine Gedanken zu diesem Thema[1] zusammenfasse, ist und bleibt die Liebe für mich höchst seltsam. Vor diesem Hintergrund kann der vorliegende Text auch als verschriftlichte Manifestation eines großen Fragezeichens betrachtet werden. Dabei halte ich es wie Haddaway und spare die Antworten eher aus.

 

 

Womit also beginnen? Kaum mit einer Definition von der Liebe. Ich glaube da eher an die Liebe, zwar als ein Gefühl, aber auch als ein Konstrukt – wie so vieles kontextabhängig, kulturell und historisch wandelbar oder wie es im Manifest der Anti-Liebe  heißt: „DIE Liebe gibt es nicht. […] In der Geschichte der Menschheit gab es verschiedene Vorstellungen und Konzepte von Liebe, die von einer rein funktionalen Zweckliebe über die platonische Liebe bis zur romantischen Liebe von heute reicht. Dazwischen gab es sicherlich auch viele verschiedene Ideen und Konzepte von Liebe, die völlig abweichend zu den vorherrschenden Vorstellungen waren. Von DER Liebe zu sprechen [...], ist deshalb absurd.“ Und nun? Was hat es mit diesem schönen und viel zu oft auch schmerzhaften Gefühl auf sich? Jenes Gefühl, das uns nächtelang wach hält und Amanda Palmer folgend wohl auch den ein oder anderen geliebten Namen googeln lässt? Ich schlage vor, Liebe einfach als ein vielschichtiges und komplexes Gefühl zu verstehen, das sich unterschiedlich ausdrücken kann, mit Körperlichkeit verbunden sein oder intellektuelle oder emotionale Zuneigungen beinhalten kann; aber auch ein Gefühl, das nicht von der Vereinnahmung einer kapitalistischen Marktlogik sowie von Normalisierungen gefeit ist. Ein Gefühl, welches auch in Machtstrukturen verwoben ist. Wieso wird in den zitierten Liedern, in zahlreichen Serien, im Hollywood-Kino aber auch in der boomenden Ratgeberindustrie von der romantischen Liebe ausgegangen, welche nur innerhalb einer (gesellschaftlich diktierten heteronormativen) Zweierbeziehung gelebt werden kann? Warum braucht es als Basis dafür die sogenannte Treue? Es scheint so, dass Liebe, wie eine Ware, nur in geringen Mengen verfügbar ist, dass sie begrenzt ist und erst durch Exklusivität wertvoll wird. Nur ich, und sonst keine_r darf die Sexualität des_der Partner_in besitzen. Dringt hier nicht der kapitalistische Gedanke des unbedingten Haben-Müssens bis in unsere Gefühlswelt und unsere erotischen Phantasien ein?

 

 

Wollen wir Eva Illouz Glauben schenken, müssen wir hier mit einem eindeutigen „Ja“ antworten. Ihr zufolge ist die sexuelle Attraktivität in Bezug auf Beziehungen und Begehren erst durch die Konsumkultur eine der zentralen Ebenen auf der Liebesangelegenheiten ausgetragen werden: „Die Konsumkultur machte das Begehren zum Zentrum der Subjektivität, während sich die Sexualität in eine Art allgemeine Metapher des Begehrens verwandelt.“ Was wäre also, wenn ich mich von der Utopie verabschiede, dass all meine Bedürfnisse von einer Person alleine abgedeckt werden können? Das Schlimmste, – so zumindest in meiner Vorstellung – das passieren könnte, wäre unterschiedlichste Arten intensiver Beziehungen zu gewinnen: Ich könnte mit einer Person einen tiefgehenden intellektuellen Austausch genießen, mit einer  anderen verschiedene sexuelle Phantasien leben, mich wieder anderen emotional hingeben – weil es mit je einem anderen Menschen auf einer anderen Ebene am Besten funktioniert und nur selten mit einer auf allen Ebenen. Also versuche ich mich von der RZB-Doktrin, von dem Gedanken des „Egal wie – Hauptsache ich besitze!“ zu lösen und ignoriere nicht, dass eine RZB vielleicht gar nicht mehr so klappt wie ich es mir einreden will; versuche damit Christiane Nösingers Dystopie zu entgehen, versuche mit meinem Partner oder meiner Partnerin nicht zu Menschen zu werden, „[...] die wie Steine nebeneinandersitzen, die in Pizzerien verzweifelt das Besteck streicheln, um sich nicht anschauen und miteinander sprechen zu müssen.“ Auch das Problem der Eifersucht könnte durch das Verabschieden von RZBs gelöst werden. Sind wir nicht mehr abhängig von den Gefühlen und der Bestätigung einer Person um unser Selbstwertgefühl durch den Blick des Einen oder der Einen zu erhöhen, ist vielleicht auch die Angst vor Veränderungen nicht mehr so groß, können neue soziale Erfahrungen des Gegenübers nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung gesehen werden.

 

 

Gut, wenn nicht so, wie dann? Schon wieder ein ganz großes Fragezeichen. Aber dennoch: Das Auseinandernehmen und Reflektieren von Beziehungsnormen ist ein hilfreicher Schritt für mich. Freund_innenschaften, Affären, Paarbeziehungen im Sinn der RZB, Verwandtschaftsbeziehungen sind normalisiert. Sie werden in einen prädiskursiven Bereich verlagert und scheinen daher von Natur aus klar abgesteckt. Es ist festgelegt, welche Zuneigung, welche Berührung, welche Worte in welchen Beziehungen als angebracht gelten. Mensch denke auch hier an die zahlreichen Ratgeber_innenbücher, die uns die Regeln der verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen näher zu bringen versuchen. Ist es unmöglich sich diesen Regeln, den gesellschaftlichen Liebeskonventionen und -codes zu widersetzen und offen zu lassen, was verschiedenste Begegnungen für mich und mein jeweiliges Gegenüber beinhalten können, aber niemals müssen? Was ist wenn ich jemanden streichle ohne ihn oder sie zu küssen?  Wenn ich mit jemandem einfach nur Händchen halten will ohne dass ich und wir und unser Umfeld uns als Paar begreifen? Wenn ich mit jemandem ficke ohne kuscheln zu wollen? Es gäbe vielleicht keine normalisierte und dadurch auch hierarchisierte Abfolge von Berührungen und Zuneigungen mehr, keine Festlegung wo und vor allem wie wir beginnen müssen jemanden zu lieben und vielleicht könnte es auch nicht mehr wichtig sein, wie viele Menschen welchen Geschlechts wir lieben oder sexuell attraktiv finden.

 

Die Lösung all dieser Gedanken (und somit eine mögliche Antwort) könnte lauten: „Ja, wo ist'n das Problem? Kannste ja eh machen was du willst.“ Und sehen wir mal vom gesellschaftlichen Druck ab, könnte mensch ja tatsächlich einfach tun. Aber hej: nur weil ich versuche RZBs den Rücken zuzukehren, bedeutet dies nicht, dass meine verinnerlichten Vorstellungen von und Erwartungen an Beziehungen sich in Luft auflösen. Die Theorie ist klar und einleuchtend für mich, aber neige ich nicht trotzdem zu dem, was „alle“ haben (wollen)? Auch wenn ich noch so viele Bücher à la „The ethical slut“ lese, macht das zwar Spaß; die tatsächliche Umsetzung ist und bleibt trotzdem schwierig. Habe ich nicht trotzdem Lust, mich mal in die Arme einer anderen Person legen zu können, der ich vollkommen vertraue – egal auf welcher Ebene? In einem offenen Lernprozess, der andauert und meine eigentlich nur sehr gering vorhandene Geduld stark auf die Probe stellt, versuche ich der  Kommunikation einen großen Stellenwert einzuräumen; meine eigenen Bedürfnisse mit Freude, aber auch mit Schrecken zu entdecken, diese auch mitzuteilen; eingefahrene Verhaltensmuster heraus zu filtern und immer wieder neu zu hinterfragen; zu experimentieren; der Versuch für mich zu klären womit ich mich wohl fühle, welche Beziehungen mir auf welcher Ebene guttun, welche Menschen welche Bedürfnisse abdecken können. Erst dann ist es vielleicht möglich, gegen einen (hetero-)normativen Strich zu kuscheln, zu lieben, zu küssen, zu ficken, die Liebe als etwas Seltsames hinzunehmen und die Frage What is love? unbeantwortet zu lassen.

 

 

Valentine Auer studiert Theater-, Film- und Medientheorie und ist
Redakteurin der Zeitschrift Paradigmata.

Carlotta Weimar studiert Internationale Entwicklung und illustriert
nebenbei.

 

Links und Lesetipps:

alek und die katrina von fremdgenese: Die Romantische Zweierbeziehung. Beleuchtung einer trotzigen linken Praxis. http://www.copyriot.com/sinistra/magazine/sin05/rzb.html [20.03.2014]

Arsen 13: Manifest der Anti-Liebe. http://ainfos.de/sectionen/crimethinc/Anti-Liebe.html [24.08.2012]

Illouz, Eva (2012): Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Projektwerkstatt Reichskirchen Saasen: Beziehungsweise frei.  http://www.projektwerkstatt.de/gender/texte/a5_beziehung.html [20.03.2014]

Rösinger, Christiane (2012): Liebe wird oft überbewertet. Ein Sachbuch. Frankfurt a. Main: Fischer.

Tost, Gita: Nehmen wir einmal an... Probleme bürgerlicher Zweisamkeit und deren Überwindung. http://www.graswurzel.net/241/liebe.shtml [20.03.2014]

 

Sich zu verlieben, heißt Souveränität einzubüßen

  • 14.04.2014, 10:58

Es ist nicht so einfach, wie manche es gerne hätten. KritikerInnen, Konservative wie FeminstInnen, stießen sich daran und taten es ab - als literarisch zu schlecht, zu pornografisch, zu sexistisch. Das Etikett Mamiporno klebt fest auf den Seiten von Shades of Grey. Die israelische Universitätsprofessorin Eva Illouz hat sich in Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey  dem Phänomen Shades of Grey aus soziologischer Sicht gewidmet und ist dabei auf so einiges Unerwartetes gestoßen. 

Wunscherfüller - Bestseller

Illouz Thesen bauen auf der Voraussetzung auf, dass Bestseller soziales Unbewusstes verschlüsselt sichtbar machen und in dem Sinn Zeitmarken gesellschaftlicher Begehren sind. Ein Verkaufsprinzip, das lukrativ ist. In diesem Sinn scheint die Kommerzialisierung des Buches, als literarische Erfüllung kollektiver Wünsche, ganz im Zeichen des Kapitalismus zu stehen. Eine kalkulierte Verkaufsmasche nach der bekannten Formel: Sex sells, nur eben diesmal ein bisschen härter nach der Kunst des BDSM (Bondage and Discipline, Domination and Submission, Sadism and Masochism).

Illouz entgegeht in dem schmalen Band diesem ersten, vereinfachten Blick. Dass Shades of Grey bei weitem den gängigen erotischen Groschenroman übertrifft, zeigen seine Verkaufszahlen. Weltweit wurde die Trilogie Shades of Grey 70 Millionen Mal gekauft und das vor allem von Frauen. Im Vergleich dazu: der Roman Der kleine Prinz  von Antoine Saint-Exupéry wurde 80 Millionen Mal verkauft.

Ausgehend von der Skurrilität der Auflagezahlen und dem besonderen Interesse der Frauen an den Romanen, bietet Illouz eine differenziertere und überzeugendere These als das „Mamiporno“-Vorurteil an. Sie nimmt die Ansprüche der Leserinnen ernst und untermauert ihre These zum Erfolg von Shades of Grey unter anderem mit Fakten zu dessen Entstehungsgeschichte.

Gefesselte Autonomie

Der erste Band Fifty Shades of Grey wurde auf einer Fanpage zu Stephanie Meyers Twilight Saga von den Fans abgetestet und mitgeneriert. E. L. James, die Autorin von Shades of Grey, veröffentlichte dort unter einem Pseudonym erstmalig ihren Roman als Fanfiction und integrierte UserInnenvorschläge mit in die Geschichte ein. Shades of Grey ist ein UserInnen-generierter Content,  sozusagen ein kollektiver AmateurInnenroman. Illouz sieht darin eine unkonventionelle Form mit dem konventionellen Inhalt einer Liebesgeschichte zu einem Werk verdichtet.

Ausgehend davon ist Illouz überzeugt, dass eben nicht das Erotische/Pornographische ausschlaggebend für die breite Resonanz der Frauen ist, vielmehr schwingt in der sadomasochistischen Beziehung zwischen den Hauptcharakteren Christian Grey und Anastasia Steele mit, wie es um unsere heterosexuellen Beziehungen in der Spätmoderne steht.

Shades of Grey als verschlüsselter Ratgeber und Selbsthilferoman vermittelt den LeserInnen ein Gefühl von Lösungen. Die Triologie gibt scheinbar Antworten auf die Frage, wie heterosexuelle Paare in einer Zeit in der der Feminismus noch in der Entwicklung ist in ihren Beziehungen zu Sicherheit gelangen. Illouz klagt hier den Feminismus nicht moralisch an, sie zeigt vielmehr auf, dass das Aufbrechen von traditionellen Geschlechterrollen mit einer Unsicherheit einhergeht, auch in der Sexualität der Frauen. Wie ist es um die Frauen in der Spätmoderne bestellt? Illouz Antwort lautet: Ja, sie sind autonomer, aber paradoxerweise bleibt laut Illouz der Wunsch nach sexueller Befreiung in der Unterwerfung. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet der Feminismus nach Illouz Auffassung, der nichts weniger versucht als „die Natur ihres [der Frau, Anm. d. Red.] Begehrens (und des Begehrens der Männer) zu verändern.“ Die Frauen stecken in einem Dilemma der Emanzipation, die Befreiung die listig nach den Fesseln fleht. Die Sextoy-Industrie gibt Shades of Grey Recht. Nach der Veröffentlichung explodierten der Vertrieb von Sexspielzeugen wie Vaginalkugeln oder Handschellen, später von eigenen Shades of Grey Sextoy-Packages. Die Praktiken des BDSM sehen vor, dass die Rollen des/der Dominaten und des/der Unterwürfigen strikt verteilt und eingehalten werden, damit sich ein Ort der fixen Autonomie einstellt.

 

 

Ausserhalb der Kammer der Qualen

Die Sphäre des Sex findet dadurch die begehrenswerte Enge der Definition die sich aber außerhalb der „Kammer der Qualen“ mit dem Abklingen des Rausches verflüchtigt. Was bleibt ist ein Abschätzen von Absichten. Serieller Sex oder monogame Liebesbeziehung?

Ab da wird es erst richtig knifflig. „Sich zu verlieben, heißt Souveränität einzubüßen“, schreibt Illouz in der Mitte des Buches und stellt uns spätestens ab hier vor eine harte Entscheidung. Liebe und Leidenschaft oder Souveränität? Begehren oder Autonomie? Dass es aber praktisch kein Entweder-Oder ist bezeugt, dass monogame Beziehungen noch immer eher die Regel als die Ausnahme sind. Für Illouz bewegen sich Beziehungen in ihren Kämpfen und Verhandlungen zwischen Souveränität und Leidenschaft.

Im Gegensatz zur Romantik, in der das Subjekt in der Unterordnung in eine Beziehungseinheit bis zur Selbstauflösung verstummt, steht in der Spätmoderne das Subjekt, das sich in einer ständigen Selbstprüfung zu sich selbst verhält, im Mittelpunkt. Wie viel Macht bin ich bereit aufzugeben? In einem Interview mit PROGRESS zu ihrem Buch Warum Liebe wehtut, antwortete Illouz auf die Frage, ob Leidenschaft in der Lage ist herrschaftliche Beziehungen zu unterwandern: „Es [die Bereitschaft zur Leidenschaft, Anm. d. Red.] ist eine Form der Emotionalität, die weniger reflexiv und weniger beschäftigt mit dem eigenen Wohlergehen ist.” Ihrer Meinung nach “sollten wir wieder Spaß an Leidenschaft haben und weniger ängstlich dabei sein.” Kurz: Die Ängste abstreifen und leidenschaftlich loslegen. In einer Gesellschaft, die von einer Therapiekultur überschwemmt wird und ein Gefühl von Bestätigung durch andere ständig einfordert, zu widerstehen.

Eva Illouz
Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
Taschenbuch, 88 Seiten, 8,30 EUR

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien.

siehe auch dazu: Aufhören, uns die Schuld zu geben - ein Interview mit Eva Illouz

 

Einmal Flirten zum Mitnehmen

  • 04.04.2014, 09:46

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Facebook stirbt. Das kann man heute mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit behaupten. Ob das nun in drei oder zehn Jahren der Fall sein wird, spielt keine Rolle. Fakt ist, dass der jüngste Rettungsversuch des Social Networks die Übernahme von WhatsApp ist. Der Deal droht nun aus Datenschutzgründen zu platzen. Die 19 Milliarden, die Zuckerberg für Whatsapp hinzulegen bereit ist, bestätigen aber: Mobil ist sexy. Das zeigt auch ein Blick auf die Hypes um diverse andere Smartphone-Applikationen wie Instagram, Snapchat, Telegram und Tinder. Besonders letzteres erfreut sich erstklassiger Mundpropaganda. Die Dating-App hat im vergangenen Jahr von L.A. aus einen Siegeszug über den gesamten Globus hingelegt und dabei auch Österreich nicht ausgelassen. Neben ähnlichen Angeboten wie Lovoo, Badoo oder Grindr (die Mutter der Dating-Apps aus der Schwulenszene), ist Tinder der absolute Kassenschlager - würde es was kosten. Ende Jänner war die App laut AppAnnie Ranking auf Platz 1 der meistgeladenen Lifestyle Apps und auf Platz 10 aller geladenen Apps in Österreich. „It’s like real life, but better“, so der Slogan der App, bei dem potenzielle „Matches“ in deiner räumlichen Nähe gesucht werden. Gewünschtes Geschlecht, Alter und maximale Entfernung zum „Match“ werden voreingestellt und schon scannt der Dating-Radar die Umgebung. Da das Ganze mit dem Facebook-Account verbunden ist, sieht man bei der Auslese, die Tinder für einen trifft, Profilfotos, gemeinsame Facebook-Freunde und ein paar Interessensangaben. Ein Wisch nach links bedeutet „Nicht interessiert“, ein Wisch nach rechts „Interessiert“. Erst wenn beide Nutzer sich zufällig gegenseitig „geliked“ haben, werden sie informiert und der Chat freigeschaltet.

 

 

Der Sachbearbeiter. Michael braucht im Schnitt drei Sekunden, um sich zu entscheiden in welche Richtung er ein Foto wischt. Michael ist 35 und gehört damit zu den älteren Usern. Eine amerikanische Studie vom Mai 2013 besagt nämlich, dass mobile Dating-Apps vor allem bei 25- bis 35-Jährigen einschlagen. Michael ist seit einem Jahr auf Tinder. Das Aussortieren der virtuellen Vorschläge ist „wie ein Stapel Akten, den ich wie ein Sachbearbeiter abarbeite“, sagt er. Romantisch klingt das nicht, aber zumindest ehrlich. Michael chattet mit zwei bis drei Frauen pro Woche. Mit 20 Prozent trifft er sich dann auch, vorzugsweise am Wochenende mit Option auf eh schon wissen. Denn einer Beziehung ist er zwar nicht abgeneigt, aber „Luftschlösser bauen sollte man auch nicht.“ Einer der größten Vorteile zum ‚realen Flirten’ - da sind sich Michael und die Tinder-Gründer einig - ist das gegenseitige Liken bevor es überhaupt zur Kommunikation kommt. Dieser Trick eliminiert das Risiko einer Abfuhr. „Die Angst vor Zurückweisung ist eine der größten Ängste der Menschen und eng verknüpft mit der Verlust- und Trennungsangst, die existenzielle Implikationen hat. Eine App, die diese Ängste kontrollieren kann, ist natürlich sehr attraktiv“, sagt Psychologe Dr. Anton Laireiter von der Uni Salzburg. In Michaels Worten: „So abgebrüht kannst’ gar nicht sein, dass dir ein Korb nichts ausmacht.“ Der andere Vorteil, mit dem Tinder sich rühmt, ist die Verknüpfung mit dem Facebook-Account: User könnten sich nicht beliebig als Calvin Klein-Models ausgeben, da sie die Fotos ihres Facebook-Profils verwenden müssen. Doch wer sagt eigentlich, dass auf Facebook nicht geschummelt wird? Auch hierzu hat Michael einschlägige Erfahrungen bei einem Date gemacht: dank Photoshop hatte das Profilbild der Dame nur wenig mit ihrem wirklichen Aussehen zu tun.

Lass dich anschauen. Aber ist es wirklich nur das Äußere, das zählt? Apps wie Tinder, bei denen die kurze Durchsicht einer Handvoll Fotos als Entscheidungsbasis genügt und die virtuelle Kontaktaufnahme bestimmt, suggerieren das. Diese Oberflächlichkeit ist aber nicht (allein) als Auswuchs unserer modernen Selfie-Gesellschaft zu verstehen. Laut Psychologe Dr. Laireiter ist sie ein natürliches Auswahlkriterium des Homo Sapiens: „Die Entscheidung ‚like’ vs. ‚not like’ liegt beim Menschen im Millisekundenbereich – egal ob ein Auto, eine Handtasche oder ein anderer Mensch betrachtet wird. Die ‚rationale Entscheidung’ ist bei uns immer noch deutlich unterentwickelt. Erst im Laufe des Kennenlernprozesses werden die sogenannten inneren Werte und Lebensauffassungen wichtiger.“ Gesichter spielen dabei laut Laireiter eine hohe, aber oft täuschende Rolle: „Das Problem bei Gesichtern ist, dass sie für Präferenzentscheidungen sehr wichtig sind, aber notwendige Informationen wie Habitus, Stimme, Sprache oder Ausdruck noch vorenthalten.“ Ob nun virtuell oder real, die äußere Erscheinung ist nicht nur wichtig für die Partnersuche, sondern auch Objekt eines ständigen Vergleichs (Stichwort: Hot or not). Patricia Groiss, Saferinternet.at-Trainerin für Jugendliche, beobachtet, dass in diesem Zusammenhang unser Selbstbewusstsein nach außen gestiegen und nach innen gesunken ist: „Bisher standen wir immer nur im Vergleich mit Menschen, die wir treffen, durch das Internet vergleichen wir uns mit der ganzen Welt und für viele drängt sich die Frage auf: Warum sollte mich jemand nehmen, wenn’s die anderen auch alle gibt?“ Weil das Tinder-Prinzip also einerseits natürlich und ehrlich, aber andererseits doch etwas einseitig ist, gibt es einige Versuche anderer App-Hersteller, die Tinder-Kritiker_innen einzufangen: Sie nutzen zwar auch die Ortungsfunktion, ‚matchen’ aber aufgrund gemeinsamer Interessen und Lebenseinstellungen. Eine der skurrileren Apps ist Snoopet, bei dem Hundebesitzer verbandelt werden sollen. „Travelling the globe for prince charming“ verspricht wiederum der Radar von Twine Canvas, einer auf Interessen bezogenen, aber noch sehr ausbaufähigen App, bei der die Fotos erst angezeigt werden, wenn beide Seiten einverstanden sind. Schräges Extra: Im Chatfenster werden passend zu den Interessen des virtuellen Gegenübers Eisbrecher-Sätze wie „Do your friends like Quentin Tarantino as well?“ vorgeschlagen.

Darf ich bitten? Zurück zu Tinder: Alex hat die App „nur so zur Gaudi“ heruntergeladen. Ernst genommen habe sie das Ganze nicht, betont die 23-Jährige. Aber egal ob am Handybildschirm oder in der Bar, sie selbst würde nie den ersten Schritt machen: „Frauen erwarten, dass der Mann zuerst schreibt. Das ist beim Fortgehen ja auch so.“ Auch Michael bestätigt das alte Rollenbild: „Von den Frauen kommt nie was. Es bin immer ich der, der ‚Hallo, wie geht’s?’ schreibt.“ Neue Dating-Technologie bedeutet also nicht auch Fortschritt in Sachen Geschlechterklischees. Psychologe Laireiter kann da nur zustimmen: „Auch wenn wir in einer sexuell und gendermäßig liberalen Gesellschaft leben, sind die Geschlechtsrollen beim Dating noch relativ konservativ. Die Frau selektiert, der Mann muss anfangen.“ Was außerdem auffällt, ist die Hemmschwelle, vor allem bei Frauen, zuzugeben auf einer Dating-Plattform zu sein. Aktiv auf der Suche (vor allem nach Sex) zu sein, ist für Männer anscheinend immer noch akzeptabler und natürlicher. Wohl gerade deshalb versucht sich Tinder öffentlich nicht als Dating-Plattform, sondern als soziales Netzwerk darzustellen. Für Alex etwa war die blitzschnelle, simple Installation von Tinder ein Schritt, den sie als genügend unverfänglich empfunden hat – anders als eine Anmeldung bei einer klassischen Partnerbörse.

Ich schau nur Ein weiteres Charakteristikum der App lässt sich also feststellen: Tinder fühlt sich nicht wie eine Dating App an. Und vielleicht ist das ihr großes Erfolgsgeheimnis. 96% der User sollen vor Tinder noch nie eine andere Dating App genutzt haben. Es trauen sich also auch die, die sich normalerweise nicht trauen. „Meet new friends, chat, socialize“ (Badoo), „Tinder is how people meet“, „Express yourself and meet interesting people“ (Twine Canvas) sind Slogans, die jeder beliebigen sozialen Plattform zugeordnet werden könnten. Flirten darf sich also nicht wie Flirten und Dating nicht wie Dating anfühlen. Unverbindlich, praktisch und amüsant soll die Suche, die nicht wie eine Suche wirken soll, sein. Da ist eine Online-Anmeldung bei einer Partnerbörse inklusive psychologischem Text schon viel expliziter. Caroline Erb, Psychologin bei Parship, sieht die Apps daher nicht als Konkurrenz zu klassischen Partnerbörsen. Abgesehen davon, dass die Altersgruppe bei Parship & Co höher ist und die meisten dieser Websites kostenpflichtig sind, haben deren Kunden laut Erb eine andere Herangehensweise: „Bei Parship geht es um langfristige Beziehungen. Die Apps sprechen eher Leute an, die flirten, Leute kennen lernen und vielleicht Affären beginnen wollen.“ Klar kann Mann oder Frau auch über eine App den Menschen fürs Leben kennenlernen. Fakt ist aber laut dem Psychologen Anton Laireiter, dass es in Europa einen deutlichen Trend hin zu mehr unverbindlichen, kürzeren Beziehungen gibt: „Internationale Studien haben herausgefunden, dass vor allem in West- und Zentraleuropa unsichere Bindungsstile in dieser Altergruppe (Anm. bis 35) zunehmen.“

Dating 3.0 Laut der Mobile-Dating Marktstudie 2013 wurden bis zum Januar 2013 in Österreich 972.000 Dating-Apps heruntergeladen. Und das war noch vor Tinders Sprung über den großen Teich. Die Nachfrage ist da, und es ist nur eine Frage der Zeit bis sich andere Technologien zum noch vereinfachteren, noch unkomplizierteren Kennenlernen etablieren und das Handy-Flirten überholen. Die To Go-Mentalität wird wohl bleiben, sei es mit oder ohne Smartphone. Saferinternet.at-Trainerin Patricia Groiss sieht allgemein eine Entwicklung in Richtung Technologie am Körper, sei es Kommunikation von Uhr zu Uhr mithilfe von Smart Watches oder automatisierte Gesichtserkennung. Tinder & Co sind erst der Anfang einer beschleunigten, zweckdienlichen und zwanglosen Tendenz, wenn es um menschliche Begegnungen geht. Ob das hot or not ist, liegt bei jedem/r Einzelnen.

 

Elisabeth Schepe

 

Online-Dating ist eine Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform

  • 14.02.2014, 23:08

Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

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Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

progress: Du hast zu Beginn dieses Jahres einen Selbstversuch gestartet, bei dem du, unter anderem, auf den Konsum von Pornographie oder Online-Datingplattformen verzichtest. Du dokumentierst deine Erfahrungen seither auch auf einem Blog. Wie ist es dazu gekommen?

Gregor Schmidinger: Ich habe gemerkt, dass Pornographie Auswirkungen auf mein Sexualleben gehabt hat. Zuerst war mir gar nicht klar, dass Pornographie daran Mitschuld war. Pornos sind im Internet ja quasi unbegrenzt verfügbar. Als ich in die Pubertät gekommen bin, wurde das Internet gerade zum Massenmedium. Dadurch habe ich relativ schnell die Pornographie entdeckt. Vor allem wenn man schwul ist und in einem 1.800 Seelendorf lebt, ist das die einzige Möglichkeit die eigene Sexualität zu erforschen. Irgendwann wird es dann aber zur Gewohnheit und dadurch wird natürlich die eigene Wahrnehmung verändert. Und so ist dann das Projekt entstanden. Ich hab mich auch gleich dazu entschieden, dass über einen Blog öffentlich zu machen. Seither bekomme ich relativ viele Rückmeldungen. Das ist auch ein sehr breites Phänomen, über dass sich wenige reden trauen, weil es etwas sehr intimes und mit Scham behaftet ist.

progress: Wie ist es dir seither mit deinem Selbstversuch gegangen?

Schmidinger: Zu Beginn war ich super motiviert. Die ersten paar Tage sind recht gut gegangen, dann hatte ich einmal einen Durchhänger. Nach zwei bis drei Wochen ist es dann aber relativ einfach gegangen. Mir ist es auch zwei dreimal passiert, dass ich wieder abgerutscht bin, da muss man sich dann halt wieder herausholen. Das Bedürfnis des täglichen Pornoschauens ist aber mittlerweile komplett weg. Das Projekt wird auch sicher länger als ein Jahr dauern. Schön langsam komme ich in einen emotionalen Bereich hinein, den ich sehr spannend finde. Gerade beschäftige ich mich mit den Funktionen von sexuellen Phantasien. Pornographie ist am Ende ja nichts anderes, als eine visualisierte Version einer sexuellen Phantasie.

progress: Hast du eine konkrete Vorstellung davon, wohin das Projekt gehen soll?

Schmidinger: Es ist eine Reise, ein Prozess, ein entdecken was passieren wird. Aber eigentlich geht es mir um eine selbstbestimmte und selbstbewusste Sexualität. Weg vom Fremdbestimmten, also Bilder die einem über die Medien, Filmen und so weiter sagen, wie etwas zu sein hat. Je mehr ich mich damit beschäftige und darüber lese, desto mehr merke ich erst wie schambehaftet Sexualität in unserer Gesellschaft eigentlich wirklich ist. Dabei stelle ich mir die Frage ob das wirklich so sein muss und was anders wäre wenn es nicht so wäre

progress: Welche Erfahrungen hast du mit Dating-Plattformen im Internet gemacht?

Schmidinger: Angefangen habe ich damit als ich ungefähr 16 war. Ich glaube braveboy.de (die es heute nicht mehr gibt, Anmk.) war das erste, was ich ausprobiert habe. Ich hatte immer wieder Phasen in denen ich gar nicht auf diesen Plattformen unterwegs war, ansonsten war ich aber eigentlich relativ regelmäßig auf Seiten wie Gayromeo oder zum Schluss auch Grindr – das sind auch die klassischen Plattformen, für schwule Männer zumindest. Mittlerweile habe ich damit aber komplett aufgehört. Auf Online-Dating, in dem Sinne wie es gemeint war, habe ich mich aber nie wirklich eingelassen. Sehr selten habe ich mich mit Leuten getroffen. Die Treffen waren meistens enttäuschend. Man hat ein gewisses Bild und einen Beschreibungstext von der Person im Kopf. Und alle wissen, dass sie die besseren Bilder nehmen und die interessanteren Sachen schreiben sollten. Das führt zu vielen blinden Flecken in Bezug auf die andere Person, die man dann mit seinen eigenen Wünschen ausfüllt - dessen ist man sich vielleicht nicht automatisch bewusst. So entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen darüber, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, entsteht ein Spalt zwischen der eignen Erwartung und der Realität. Das Gegenüber hat dann kaum eine Chance diese Erwartungen zu erfüllen. Das war bei mir bei fast allen Treffen der Fall. Zwei oder drei positive Erfahrungen habe ich aber schon auch gemacht.

progress: Dating-Plattformen werden ja ganz unterschiedlich genutzt, von der Beziehungssuche, Zeitvertreib oder Chatten bis hin zur Suche nach Sexdates. Wie hast du die Plattformen verwendet?

Schmidinger: Eine Beziehung habe ich aber nie wirklich gesucht, gehofft vielleicht. Für mich das online-daten mit unter auch etwas von einem interaktiven Porno. Wenn man etwa entsprechend Bilder austauscht oder in eine gewisse Richtung schreibt. Meinen Freund habe ich zwar ursprünglich auf Grindr zum ersten Mal gesehen, ich muss aber gestehen, dass sich das Interesse damals nicht über die Oberflächlichkeit hinaus entwickelt und schnell verlaufen hat. Zufällig haben wir uns dann einmal persönlich getroffen und dann war mein Interesse plötzlich voll da. Das ist ein gutes Beispiel, wäre es nur über Grindr gegangen, wäre aus uns wahrscheinlich nie etwas geworden. Es fehlen auf diesen Plattformen auch einfach viele wichtige Informationen, das haptische, die Gestik, wie jemand spricht, der Tonfall.

progress: Kritisiert wird an den Dating-Plattformen ja mitunter auch, dass ein starker Ranking- und Effizienzgedanke der damit einhergeht. Wie siehst du das?

Schmidinger: Ja, man geht ja auch sehr systematisch vor. Zuerst schreibt man einmal alle Leute an und dann sortiert man nach und nach aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Alles andere würde wahrscheinlich auch zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich kenne jemanden der, wenn er von jemanden angeschrieben wird, der kleiner ist als 180 cm ist, schreibt er nicht zurück. Es funktioniert halt sehr Schemenhaft, es ist ein bisschen so wie einen Katalog durchblättern. Das fühlt sich sehr kapitalistisch an, weil es so Maßgeschneidert ist und alles andere, das was es eigentlich ausmacht, die feineren Informationen, die fehlen halt komplett.

progress: Glaubst du hat Online-Dating generell einen Einfluss darauf wie wir nach Beziehungen suchen und sie leben?

Schmidinger: Also wenn, dann glaube ich, dass es nur zu einer Extremisierung führt. Ich glaube, dass Online-Dating nur die Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform aber auch aus unserem kulturellen Verständnis von Beziehungen ist. Beziehungen sind in unserer Gesellschaft austauschbar. Das wird ja auch serielle Monogamie genannt – wir sind zwar monogam aber immer nur hintereinander. Problematischer finde ich noch, dass wir einen suchen der uns alles geben kann und zwar für Immer. Diese Perversion des eigentlich ursprünglichen romantischen Gedankens: wir idealisieren nicht mehr den Alltag und einen, Gott sei Dank, nicht perfekten Menschen, sondern suchen stattdessen das Ideale in einer nicht perfekten Welt. Das führt natürlich unweigerlich zu konstanter Enttäuschung. Online-Dating bietet sicher viele Möglichkeiten. Es kann einen aber auch lähmen, weil es immer jemanden gibt, dessen Profiltext noch ausgeprägter ist oder der ein noch hübscheres Profilbild hat.

progress: Anderseits, und das hast du ja bereits angeschnitten, kann es doch auch eine gute Möglichkeit für etwa LGBTQ-Jugendliche bieten.

Schmidinger: Sicher auf alle Fälle. Ich finde auch nicht, dass Online-Dating per-se schlecht ist, es ist halt ein Werkzeug, und es kommt stark darauf an wie man es nützt. Trotzdem glaube ich, dass Online-Dating dazu führt dass man überhöhte Erwartungen und falsche Vorstellungen bekommt. Wenn man es richtig nutzt, hat es sicher auch positive Seiten, gerade wenn man aus einem kleinen Ort kommt und niemanden kennt. Aber es gibt halt auch diese anderen Aspekte daran.

progress: Deine bisherigen Kurzfilm-Projekte haben sich unter anderem mit Themen rund um Sexualität und Beziehung beschäftigt. Du arbeitest gerade an deinem nächsten Filmprojekt. Worum wird es gehen?

Schmidinger: Das Thema ist Illusion, Phantasie, Gegenrealität. Es geht eigentlich ein bisschen um Desillusionierung und die dadurch entstehende Reifung. Im Grunde ist es ein bisschen so eine “coming of age“-Geschichte. Die Handlung dreht sich um die erste Liebe, um zwei Charaktere: der eine hat eine eher verzehrte Wahrnehmung auf Sexualität, sehr stark geprägt durch Pornographie, der andere hat eine stark verzehrte Wahrnehmung von Liebe, geprägt romantische Komödien und Lieder und so weiter. Beide treffen aufeinander und erleben eine Desillusionierung durch ihre Beziehung. Da kommt dann die Watschn der Realität, was oft natürlich nicht angenehm ist. Ich versuche ein wenig zurück zu dem ursprünglichen Gedanken der Romantik zu kommen. Monogamie probiert etwas zu konservieren, was nicht konservierbar ist.

progress: Ist Sexualität für dich eines der Kernthemen, wenn es um dein Filmschaffen geht?

Schmidinger: Eigentlich nicht aber es sind die Themen die mich zurzeit beschäftigen. Die Themen für meine Filme sind die Themen, die mich in meiner derzeitigen Lebensphase beschäftigen. Diese werden sich auch über die Jahre mit mir verändern.

progress: Wann wird der Film zu sehen sein?

Schmidinger: Ich bin gerade am Schreiben, die Produktion wird frühestens nächsten Sommer beginnen. Wenn alles gut geht ist 2015 realistisch.

 

Zur Person: Der 28 Jährige Gregor Schmidinger konnte bisher unter anderem mit den Kurzfilmprojekten „The Boy Next Door“, „Der Grenzgänger“ und Homophobia auf sich aufmerksam machen. Derzeit studiert er Drehbuch an der University of California Los Angeles (UCLA).

 

Das Interview führete Georg Sattelberger. Er Studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Hier gehts zum Artikel: Romantik zwischen Suchfiltern

Die Liebe als Gegenstück zur Rationalisierung

  • 14.02.2014, 20:41

Online-Datingplattformen werben mit dem Versprechen auf Intimität und der Aussicht auf den richtigen Match. Ein Angebot, dass in den vergangenen Jahren zunehmende Beliebtheit erfahren hat. Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge von der Universität Frankfurt hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Im Interview mit dem progress erklärt Dröge, woher die Faszination für diese Form der PartnerInnensuche kommt und wie das mit unseren modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen verflochten ist.

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Online-Datingplattformen werben mit dem Versprechen auf Intimität und der Aussicht auf den richtigen Match. Ein Angebot, dass in den vergangenen Jahren zunehmende Beliebtheit erfahren hat. Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge von der Universität Frankfurt hat sich im Rahmen eines Forschungsprojekts mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Im Interview mit dem progress erklärt Dröge, woher die Faszination für diese Form der PartnerInnensuche kommt und wie das mit unseren modernen Lebens- und Arbeitsverhältnissen verflochten ist.

progress: Sie haben sich wissenschaftlich mit dem Thema Online-Dating beschäftigt. Warum entscheiden sich so viele Menschen für diese Variante der PartnerInnensuche?

Kai Dröge: Für eine Person, die einsam ist und sich eine Beziehung wünscht, hat das Internet viele Verlockungen: Es bietet eine schier unerschöpfliche Auswahl potentieller Partnerinnen und Partner und die Möglichkeit, hier anonym und unbeobachtet durch FreundInnen und KollegInnen erste intime Bande zu knüpfen. Datingplattformen versprechen darüber hinaus, dass man erst durch sie endlich den ‚perfect match‘ finden kann, weil man auf Basis der Informationen in den Profilen alles herausfiltern kann, was nicht zu den eigenen Vorlieben passt. Außerdem kennt inzwischen fast jede/r jemanden, der oder die im Netz die Liebe gefunden hat.

Allerdings erweisen sich viele der genannten Vorzüge mit der Zeit als Bumerang: Wir sehen in unserer Forschung immer wieder, dass die Anonymität nicht selten zu Unverbindlichkeit führt, dass ein hundertprozentig ‚passendes‘ Gegenüber eher Langeweile als emotionale Erregung hervorruft und dass die gigantische Auswahl schließlich Ermüdung und Abstumpfung erzeugt, die die Bindungsfähigkeit der AkteurInnen grundsätzlich untergraben kann. Wir sind nicht Wenigen begegnet, die schon seit Jahren im Netz vergeblich auf der Suche sind, und bei denen sich inzwischen einiges an Frust angesammelt hat. Trotzdem können sie oft schwer davon lassen, denn von den Versprechungen des Netzes geht auch eine große Faszination aus.

progress: Woher kommt der weit verbreitete Wunsch nach Romantik, der romantischen Liebe?

Dröge: Die romantische Liebe ist in der modernen Gesellschaft zum dominanten Beziehungsideal geworden und hat sich, trotz aller Veränderungen im Bereich von Liebe und Paarbeziehung in den letzten 150 Jahren, bis heute als sehr resistent erwiesen. In der Soziologie der Liebe wird argumentiert, dass dies einen systematischen Grund hat: Gerade weil Rationalisierung und Individualisierung in unserer Gesellschaft immer weiter um sich greifen, wird die Liebe als eine „Gegenwelt“ dazu immer wichtiger. Das romantische Ideal mit seiner Betonung von Irrationalität, wechselseitiger Verschmelzung und zweckfreier Hingabe bietet genau dieses Kontrastprogramm. Aber natürlich wird die Liebe dadurch mit extrem hohen Erwartungen aufgeladen: Sie soll all das kompensieren, woran wir in der modernen Gesellschaft leiden. Bei dieser Überforderung ist es kein Wunder, dass Beziehungen heute oft nicht mehr sehr lange halten.

progress: Viele Online-Plattformen versprechen nicht nur authentische Erfahrungen, sie verlangen von ihren NutzerInnen auch authentisch zu agieren. Was bedeutet Authentizität in diesem Kontext?

Dröge: Authentizität im Sinne von Ehrlichkeit und Offenheit ist für unser modernes romantisches Liebesideal von zentraler Bedeutung. Im Internet wird das noch einmal wichtiger, weil der Körper und die nonverbale Kommunikation als Wirklichkeits- und Authentizitätsgaranten zunächst einmal fehlen.

Allerdings gibt es immer ein gewisses Problem, wenn das Authentizitätsideal auf eine Wettbewerbssituation trifft: Dies gilt in der modernen Arbeitswelt, wo die Subjekte ganz sie selbst und trotzdem optimal angepasst sein sollen. Und dies gilt auch auf Online Dating Plattformen, wo man sich direkt in Konkurrenz zu abertausenden anderen Mitgliedern bewegt. Da ist der Weg zu ein wenig Selbstoptimierung nicht weit – allerdings ohne dass die Leute bewusst lügen würden, das kommt nach unserer Erfahrung eher selten vor. Allerdings: Auch außerhalb des Netzes zeigt man am ersten Abend ja nicht gerade seine schlechtesten Seiten.

progress: Sie weisen darauf hin, dass Emotionsarbeit auf diesen Plattformen eine entscheidende Bedeutung zukommt – sowohl für NutzerInnen als auch auf die BetreiberInnen. Wie ist Emotionsarbeit in diesem Kontext zu verstehen?

Dröge: Es geht hier darum, genauer zu verstehen, wie die digitale Ökonomie der Gegenwart eigentlich funktioniert und wie sich im Internet die Quellen der Wertschöpfung verschieben. Die simple Frage, womit Datingplattformen ihr Geld verdienen, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Die Grundfunktionalität dieser Plattformen - ein persönliches Profil, eine Suchfunktion, ein internes Nachrichtesystem - ist vielerorts im Netz auch kostenlos zu haben. Warum sollte man dafür 30 oder 40 Euro im Monat zahlen? In unseren Interviews wurde deutlich: Die Leute entscheiden sich nur dann für eine kostenpflichtige Mitgliedschaft, wenn sie sich davon bestimmte emotionale Erlebnisse und Beziehungen versprechen. Die emotionale Erlebnis- und Beziehungsqualität macht also den eigentlichen ökonomischen Wert einer Plattform aus. Allerdings sind es ja die Nutzerinnen und Nutzer selbst, die diesen Wert auch produzieren: durch eine attraktive Selbstdarstellung, durch die Qualität und Quantität ihrer emotionalen Interaktionen, etc. Sie leisten also gewissermaßen emotionale Arbeit, die einen ökonomischen Wert generiert, und zahlen gleichzeitig dafür, diesen Wert konsumieren zu dürfen - kein schlechtes Geschäftsmodell.

In der Internetforschung spricht man hier von „Prosumption“, also einer Vermischung von Produzenten- und Konsumentenrolle. Auch YouTube produziert ja seine Videos nicht selbst. Die Bedeutung der Emotionen und der emotionalen Arbeit war in diesem Kontext allerdings bisher nicht untersucht, deshalb haben wir uns damit etwas eingehender beschäftigt.

progress: Handelt es sich bei der PartnerInnensuche im Netz nicht einfach um eine Konsequenz davon, wie Beziehung als Institution gemeinhin verstanden wird?

Dröge: Wie schon erläutert, entwirft das romantische Liebesideal ja gerade eine Gegenwelt zur modernen Marktvergesellschaftung. Dass dieses Ideal in unserer Kultur heute immer noch so prominent ist zeigt, dass sich die Menschen eine nicht marktförmige Liebe zumindest wünschen und erhoffen.

Aber natürlich ist unsere Beziehungswelt heute nicht frei von Konkurrenz, von strategischem Kalkül und anderen Elementen einer ökonomischen Rationalität. Online Dating verstärkt dies teilweise noch, indem es eine Art Online-Shopping-Plattform entwirft, wo Personen anhand standardisierter Merkmale vergleichbar gemacht werden und sich somit gewissermaßen Marktpreise bilden lassen. Dennoch: Wenn diese marktförmigen Elemente zu sehr in den Vordergrund traten, so wurde das von unseren InterviewpartnerInnen fast ausnahmslos als Problem gesehen und nicht etwa begrüßt. Von der Liebe aus dem Katalog sind wir also noch weit entfernt. Außerdem bietet das Netz auch ganz andere Erfahrungen: Eine tiefe Emotionalität, wechselseitige Selbstoffenbarung und Intimität beispielsweise, die stark romantische Züge tragen. Dass die mediale Distanz die Gefühle bisweilen intensivieren kann, wissen wir ja schon aus den romantischen Briefromanen des 18. und 19. Jahrhunderts. Deshalb haben wir das Internet auch einmal als „neoromantisches Medium“ bezeichnet.

progress: Es werden immer wieder Studien veröffentlicht, die belegen wollen, dass PartnerInnenschaften, die online gefunden wurden länger halten würden. Wie schätzen Sie diese Studien ein?

Dröge: Diese Studien werden häufig von den Betreiberfirmen selbst in Auftrag gegeben und finanziert. Entsprechend tendenziös fällt dann die Interpretation der Ergebnisse aus. Die mir bekannten Zahlen zeigen aber immerhin, dass Beziehungen, die im Internet begonnen haben, im Durchschnitt nicht schneller auseinandergehen als andere auch. Dies widerspricht dem gängigen Vorurteil, das Netz sei eigentlich nur für One-Night-Stands zu gebrauchen.

progress: Kann Online-Dating generell einen Einfluss darauf haben, wie wir uns Beziehungen vorstellen und sie leben?

Dröge: Online Dating hat sich in den letzten Jahren stark verbreitet. Außerdem werben die Plattformen offensiv damit, dass sich nur mit ihrer Hilfe eine optimale, passgenaue und damit auch letztlich glücklichere Partnerschaft erreichen lässt. Wie ich schon erläutert habe, sind gegenüber diesen Werbeversprechen einige Zweifel angebracht. Aber natürlich wirft die öffentliche Präsenz des Themas bei vielen, die nicht dabei sind, die Frage auf, ob sie nicht etwas verpassen. Es geht hier letztlich um das alte Glückversprechen der modernen Technologie, die unserer Leben einfacher, besser und effizienter machen soll. Aber wie wir wissen, wirkt dieses Glücksversprechen in vielen Bereichen heute nicht mehr so ungebrochen wie noch von 40 oder 50 Jahren. Auch hinsichtlich der Segnungen des Internets für unser Liebesleben gibt es eine Menge Zweifel in unserer Gesellschaft. Welche Wirkkraft dieses Modell letztlich entfalten kann, ist daher heute noch schwer abzusehen.

progress: Bietet Online-Dating nicht aber auch Vorteile etwa  für LGBTQ-Jugendliche in ländlichen Regionen, oder schüchterne Menschen?

Dröge: In vielen Szenen, die vom heteronormativen Standard abweichen, hat das Internet große Veränderungen bewirkt. Einmal, weil sich hier leichter Treffpunkte auch für geographisch verstreut lebende Gleichgesinnte schaffen lassen. Wichtiger aber ist noch, dass die Anonymität des Netzes eine Art geschützten Raum schafft, der Experimente mit der eigenen Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung begünstigt. Schüchtern sollte man im Netz allerdings nicht gerade sein, sonst geht man in der Masse eher unter. Und wer nur versteckt hinter dem Computer zu markigen Sprüchen in der Lage ist, wird so kaum zu einem erfüllten Liebesleben kommen.

 

Zur Person:

Der Sozialwissenschaftler Kai Dröge ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt und Dozent an der Hochschule Luzern. „Online Dating. Mediale Kommunikation zwischen romantischer Liebe und ökonomischer Rationalisierung”, war der Titel des Forschungsprojektes, im Rahmen dessen er und sein Kollege Oliver Voirol dem Phänomen Online-Dating beschäftigt haben. Das Projekt war eine Kooperation des Instituts für Sozialforschung der Universität Frankfurt und der Universität von Lusanne in der Schweiz.

 

Das Interview führte Georg Sattelberger. Er studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

 

Der Blog zum Forschungsprojekt: http://romanticentrepreneur.net

Hier gehts zum Atikel: Romantik zwischen Suchfiltern
 

Romantik zwischen Suchfiltern

  • 14.02.2014, 19:34

Immer mehr Menschen suchen die Liebe im Internet. Der Alltag auf diesen Plattformen bewegt sich zwischen Rationalität und ersehnter Intimität.

Immer mehr Menschen suchen die Liebe im Internet. Der Alltag auf diesen Plattformen bewegt sich zwischen Rationalität und ersehnter Intimität.

Die Verheißung einer Industrie:„Ist das wofür wir leben, das Größte wovon wir träumen, wirklich so schwer zu finden? Jetzt den passenden Partner finden!“ Mit diesem Spruch wirbt eines der größten und zugleich ältesten Online-Dating-Services im deutschsprachigen Raum: Parship. Ein Slogan und zugleich Sinnbild für eine ganze Branche, die Singles helfen will den „idealen Match“ zu finden. Portale wie Elitepartner, Friends-Scout24 oder OkCupid machen ihren KundInnen Hoffnung auf baldige Zweisamkeit
– und zwar effizient, mit möglichst wenig Aufwand und das bequem von zu Hause oder unterwegs. Können sie diese Versprechen einlösen? Und verändert der Online-Datingmarkt die Art und Weise, wie wir Beziehungen denken, fühlen und leben?

Basierend auf vorgeblich wissenschaftlichen Tests sollen die PartnerInnenvermittlungen im Internet den „perfekten Match“ ermöglichen. Wer sich auf Parship anmeldet, füllt zuerst circa 30 Minuten lang einen Fragebogen über Beziehungsvorstellungen, Selbsteinschätzung und Lebensplanung aus. Ist das eigene Profil dann angelegt, werden einem/r sogleich jene UserInnen gemeldet, deren Antworten den eigenen am nächsten kommen. Ohne einen Mitgliedsbeitrag bezahlt zu haben, der sich bei den größten Anbietern auf stattliche 30- 60 Euro pro Monat beläuft, sind die potentiellen Traumfrauen und -männer aber nur auf verpixelten Bildern zu sehen. Ob kostenpflichtig oder nicht, die meisten Plattformen bieten ihren NutzerInnen Suchfilter an, mittels derer sie die Profile der anderen Online-DaterInnen sortieren können, ganz nach den eigenen Bedürfnissen: nach Alter, sexueller Orientierung, Hobbies oder Monatseinkommen. Damit soll die Suche nach potentiellen PartnerInnen effizienter und einfacher werden.

Oberflächliche Kriterien Erste Erfahrungen mit der gezielten PartnerInnensuche im Netz hat der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger in seiner Jugend gemacht. Der heute 28-Jährige ist in einer kleinen Gemeinde in Oberösterreich aufgewachsen und hat mit 16 sein erstes Profil auf braveboy.de angelegt. Bis Anfang 2013 war er regelmäßig auf Dating- Seiten unterwegs, zuletzt vor allem auf Gayromeo und der Dating-App Grindr. Schmidinger kennt sich also aus mit der Alltagskultur auf diesen Seiten. „Es funktioniert sehr schemenhaft, man geht sehr systematisch vor und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein“, sagt er. Getroffen hat sich Gregor Schmidinger nur selten mit Personen, die er aus dem Netz kannte. Wenn doch, dann war das für ihn meist eine Enttäuschung. „Man hat ein gewisses Bild im Kopf. Es entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, unterscheiden sich oft die eigenen Erwartungen von der Realität. Es fehlen im Netz einfach bestimmte Informationen, wie etwa das Haptische, die Gestik, wie jemand spricht.“

Wie NutzerInnen mit dem Versprechen der Dating-Plattformen umgehen, hat der Sozial- und Kulturwissenschafter Kai Dröge von der Universität Frankfurt in den Blick genommen. Allgemein liegt für Dröge der Grund dafür, dass die romantische Liebe zum dominanten Beziehungsideal geworden ist, in der zunehmenden Rationalisierung und Individualisierung. „Natürlich wird die Liebe dadurch mit extrem hohen Erwartungen aufgeladen: Sie soll kompensieren, woran wir in der mo- dernen Gesellschaft leiden“, erklärt er. Zwar sei auch unsere Beziehungswelt abseits des Internets von ökonomischer Rationalität durchzogen, Online-Dating verstärke diese Tendenz aber noch, „indem es eine Art Online-Shopping-Plattform entwirft, wo Personen anhand standardisierter Merkmale vergleichbar gemacht werden und sich somit gewissermaßen Marktpreise bilden lassen“.

Prosumer der Liebe. Daran verdienen die Dating-Plattformen nicht schlecht. 2011 hat die Dating-Industrie im EU-Raum einen Umsatz von 811 Millionen Euro erwirtschaftet. Die BritInnen haben dabei mit 211 Millionen Euro am meisten ausgegeben, dicht gefolgt von den Deutschen mit 203 Millionen. Dabei sind es die NutzerInnen selbst, die das eigentliche Business der Plattformen betreiben. Wer sich auf einer Dating-Plattform registriert, tut dies „in der Erwartung auf emotionale Erlebnisse und Beziehungen“, erklärt Dröge. „Die Nutzerinnen und Nutzer selbst produzieren diesen Wert: durch eine attraktive Selbstdarstellung oder durch die Qualität und Quantität ihrer emotionalen Interaktionen.“ Diese Vermischung von ProduzentInnen- und KonsumentInnenrolle wird in der Internetforschung als „Prosumtion“ bezeichnet. Auch die Anzahl der NutzerInnen ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Allein im deutschsprachigen Raum hat sich die Zahl der aktiven NutzerInnen zwischen 2003 und 2012 versiebenfacht. Rund um das eigentliche Geschäftsmodell der Dating-Plattformen haben sich außerdem weitere Geschäftszweige entwickelt: Mittlerweile gibt es ein umfassendes Angebot an Ratgeberliteratur darüber, was es braucht, um online den perfekten Match zu finden. Auch zahlreiche Blogs und Videos erklären, wie das eigene Profil optimiert werden kann und worauf es bei der Selbstdarstellung in Bild und Text ankommt.

Kai Dröge hat sich auch mit den Auswirkungen der Anonymität auf Dating- Plattformen beschäftigt. Zwar sind auf manchen Portalen ausdrücklich Klarnamen erwünscht, teils werden diese sogar verlangt, die Regel sind sie allerdings noch nicht. „Wir sehen in unserer Forschung immer wieder, dass die Anonymität häufig zu Unverbindlichkeit führt“, erklärt Dröge, wie sich ein vermeintlicher Vorzug von Online-Dating letztlich negativ auf das Bindungsverhalten der NutzerInnen auswirken kann. Darüber hinaus ist Dröge auch auf weitere Nebeneffekte der angeblichen Vorteile von Dating- Plattformen gestoßen: Der perfekte Match führe etwa „eher zu Langeweile als zu emotionaler Erregung“.

Spiel mit Identitäten. An einem perfekten Match war die erfahrene Online-Daterin Anne Kran* aber ohnehin nie interessiert. Sie hat sich ihr erstes Profil vor rund zehn Jahren zugelegt und seither einige Plattfor- men ausprobiert. Zunächst hat sie sich zum Zeitvertreib registriert, dann aber schnell gemerkt, dass sie am Spiel mit Identitäten Spaß findet. Mittels verschiedener Benutzerinnennamen hat sie jeweils unterschiedliche Aspekte ihrer Person hervorgehoben, dabei aber nie Falschangaben gemacht. Ab und an hat sie sich auch mit Leuten offline getroffen, woraus sich manchmal auch längere Freundschaften entwickelt haben. Beziehungen hat sie über Dating-Seiten aber nie gefunden. Zwei ihrer PartnerInnenschaften haben sich zwar tatsächlich über Kontakte in Online-Musikforen entwickelt, allerdings war sie dort zunächst nur aufgrund ihrer Leidenschaft für Musik aktiv. Unterschiede zwischen Online- und Offline-Dating sieht sie nicht. „Es gibt doch auch Lokale, die richtige Fleischmärkte sind. Genügend Events sind darauf ausgelegt, dass du jemanden mit nach Hause nimmst.“ Mittlerweile ist Kran kaum noch auf Dating- Seiten unterwegs, waren es früher noch ein paar Stunden pro Tag, so sind es heute nur mehr ein paar Minuten.

Gregor Schmidinger hat sich vom Online-Dating sogar ganz verabschiedet. Vor gut einem Jahr hat er einen Selbstversuch gestartet, bei dem er unter anderem auf den Konsum von Pornographie und den Besuch von Dating-Seiten verzichtet – seine Erfahrungen damit veröffentlicht er auf einem eigens dafür geschaffenen Blog. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass das auch so ein komisches Spiel ist: Du schaust, ob du ihn haben kannst und wenn du ihn hast, dann ist er eigentlich gar nicht mehr interessant.“ Das Profil seines nunmehrigen Freundes hat er zuerst auf Grindr gesehen, sein Interesse habe sich aber damals nicht über das Oberflächliche hinausentwickelt und schnell verlaufen. Erst als sich die beiden offline begegnet sind, hat es gefunkt. Seinen Selbstversuch sieht er bisher als Erfolg: Er habe kein Interesse, wieder ein Dating-Profil anzulegen. Dennoch fügt er hinzu, dass Dating-Plattfor- men etwa für LGBTQI-Jugendliche, besonders im ländlichen Raum, eine gute Möglichkeit seien, Kontakte mit Gleichgesinnten zu knüpfen.

Geisterdate oder echte Intimität? Damit den Dating- Services nicht allzu viele NutzerInnen dauerhaft abhanden kommen, erweitern diese stetig ihr Angebot. In den vergangen Jahren boomen unter anderem Dating-Apps. Mitunter wählt der Dating-Markt aber auch fraglichere Strategien, um NutzerInnen bei Laune zu halten. Sogenannte Internet- Kontaktmarkt-SchreiberInnen werden gezielt dazu eingesetzt, NutzerInnen mit Hilfe gefälschter Profile auf Seiten mit Mitgliedsbeiträgen zu locken oder dort zu halten.

Einfallsreich ist aber auch so mancheR Online-DaterIn. Aus Unzufriedenheit mit den Matching-Algorithmen der Dating-Seiten hat die amerikanische Unternehmerin und Autorin Amy Webb die Vorgangsweise anderer NutzerInnen penibel beobachtet. Schließlich entwickelte sie ihr eigenes Punktesystem, mit dessen Hilfe sie online ihren jetzigen Ehemann gefunden hat. Ihre Ergebnisse hat sie in dem Buch „Data, A Love Story“ veröffentlicht. Wer besonders geschäftig oder faul und zudem zahlungskräftig ist, kann die Suche nach dem perfekten Match aber auch ganz outsourcen und auf Ghost-Dating zurückgreifen. Dabei zahlen NutzerInnen andere dafür, das Alltagsgeschäft auf den Plattformen für sie zu erledigen, also potentielle Dates zu suchen, Nachrichten zu schreiben und gegebenenfalls eine Verabredung zu arrangieren. Nur das tatsächliche Date jenseits des Internets wird schließlich persönlich bestritten.

Trotz aller Bedenken und Absurditäten, die Online-Dating mit sich bringt, glaubt aber auch Kai Dröge nicht, dass wir in absehbarer Zeit die komplett durchrationalisierte Liebe aus dem Netz erleben werden: „Von der Liebe aus dem Katalog sind wir noch weit entfernt. Außerdem kann das Netz durchaus auch ganz andere Erfahrungen bieten: eine tiefe Emotionalität, wechselseitige Selbstoffenbarung und Intimität, die stark romantische Züge tragen können.“

*Angaben zur Person wurden von der Redaktion geändert.

 

Georg Sattelberger studiert Internati- onale Entwicklung an der Universität Wien.

Hier gehts zum Interview mit Kai Dröge