LGBTQI

Endlich sprechen Gaybies

  • 16.03.2016, 21:49
„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet.

„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet. Gus, Ebony, Graham und Matt haben zwei Dinge gemein: Sie sind zwischen zehn und zwölf Jahre alt und sie leben in einer Regenbogen-Familie. Sie sind „Gaybies“. Inmitten politischer Debatten über Ehe- und Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare, kommen in „Gayby Baby“ die Kinder selber zu Wort. progress sprach mit der Produzentin Charlotte Mars.

Gemeinsam mit Maya Newell hast du die Dokumentarreihe „Growing up Gayby“ realisiert. Jetzt habt ihr zusammen den Film „Gayby Baby“ gemacht, wo ihr Kinder begleitet, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen. Wie seid ihr zu diesem Thema gekommen?
Vor fünf Jahren wurde die Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe sehr laut und dabei ging es immer mehr um die Frage von Familie und um diese rechts-konservative Sorge, dass homosexuelle Paare, die heiraten, auch Kinder wollen. Dass das ein Problem sein könnte. Dass diese Kinder anders sein könnten. Maya und ich kennen uns schon sehr lange und fanden die Debatte extrem beleidigend. Maya hat selber zwei Mütter. Es war nicht nur ein Angriff, weil die ganze Diskussion so tat, als ob Kinder aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften noch gar nicht existieren, sondern auch, weil sich niemand die Zeit genommen hat mit den Familien, mit den Kindern zu reden. Alle haben über die Kinder, aber niemand mit ihnen gesprochen. Und da es immer lauter und richtig hässlich wurde, wollten wir dem etwas entgegnen, indem wir den Kindern zuhören.

Ja, das Thema selber ist sehr politisch. Der Film ist aber überraschend unpolitisch. War es eine bewusste Entscheidung den Film zu entpolitisieren?
Ja, absolut! Es gab so viel Hass in der Diskussion und wir wollten nicht eine weitere aufgebrachte Stimme sein. Eine Kraft des Kinos sind die Geschichten, die du erzählen kannst. Damit wollten wir uns einbringen. Viele haben sich mit Regenbogen-Familien noch gar nicht auseinandergesetzt. Und in einer Welt voller heteronormativer Bilder, ist es erfrischend, etwas anderes zeigen zu können und zu sagen, dass es diese Familien gibt und zwar schon lange. Die Geschichten im Film sind zwar nicht politisch erzählt, aber der Kontext des Films ist politisch, Maya und ich sind politisch.
Auch der Kontext eurer Screenings ist sehr politisch: Der Film wurde an Schulen in Australien verboten. Wie kam es dazu?
Der Film kam in Australien bereits 2015 in die Kinos, eine Woche vor dem jährlich stattfindenden „Wear It Purple Day“ im August. Das ist ein Tag, an dem sich junge LGBTIQ-Menschen selbst feiern. Statt einem normalen Preview wollten wir den Schulen die Möglichkeit geben, den Film an diesem Tag zu zeigen. Rund dreißig oder vierzig Schulen haben zugesagt. Einen Tag vor den Screenings landeten wir auf dem Cover einer der größten Zeitungen mit der Schlagzeile „Gay class uproar“. Am Beispiel einer Schule ging es in dem Artikel darum, dass alle Eltern aufgebracht seien, weil ihre Kinder dazu gezwungen werden, ein – wie die Zeitung es formulierte – Video über homosexuelle Erziehung, zu sehen. Das war schrecklich! Wir haben vier Jahre an diesem Film gearbeitet, vier Jahre in der LGBTIQ-Community verbracht und dann kommt diese Schlagzeile. Wir waren eine Woche lang durchgehend in der Berichterstattung. Der Premierminister von New South Wales entschied, dass der Film an Schulen in diesem Bundesstaat nicht gezeigt werden darf. Das war auch furchtbar für die Community, da die Botschaft vermittelt wurde, dass diese Familien in den Schulen nicht willkommen sind.

Wie geht es euch und auch den Familien und Kindern aus dem Film jetzt – nach dem ersten Schock?
Das ist fünf Monate her und obwohl ich persönlich und sehr viele andere durch die Reaktion verletzt wurden, ist uns mittlerweile klar, dass eine Konversation, die lange nicht geführt wurde, plötzlich geführt wurde. Es war notwendig. Auch die Familien und Kinder waren sehr großartig. Uns ging es in erster Linie darum zu schauen, wie es den Kindern aus dem Film geht, weil sie diejenigen waren, die am nächsten Tag in die Schule mussten. Aber die Kinder haben als erste gemeint, wir sollen uns keine Sorgen machen, denn es sei das Beste, was passieren konnte.

Die Kinder im Film sind alle zwischen zehn und zwölf Jahre alt. Habt ihr euch bewusst für dieses Alter entschieden?
Nein, zumindest anfangs nicht. Wir haben für den Film Menschen sehr verschiedenen Alters interviewt. Aber als sich die Geschichten, die wir im Film erzählen wollten, herauskristallisierten, wurde uns bewusst, dass das Alter zwischen zehn und zwölf sehr spannend ist. Es ist eine Art „magisches Alter“. Du hast einen Fuß in der Kindheit und den anderen im Erwachsenensein. Deine eigenen Ideen beginnen sich in dem Alter zu formen. Du fängst an, deine Eltern als Personen und nicht nur als deine Eltern wahrzunehmen – was in unserem Kontext sehr spannend ist, da auch immer klarer wurde, dass nicht die ganze Welt denkt, dass meine Familie unbedingt normal ist.

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Meiner Meinung nach kamen die Kinder im Film sehr reif und erwachsen rüber. Kann das mit den täglichen Kämpfen zu tun haben, die man als Gayby in einer heteronormativen Gesellschaft, auszutragen hat?
Ich würde nicht sagen, dass die Kids andauernd am Kämpfen sind. Das sehe ich gar nicht so. Ich glaube aber, dass viele Gaybies sehr gut kommunizieren können, weil sie seit sie sprechen können, andauernd ihre Familie erklären müssen. Daher lernten viele über Familie, aber auch über queere Politiken, zu sprechen. Gleichzeitig sind die Kinder unglaublich belastbar, was eigentlich keine Eigenschaft von Kindern sein sollte. Aber sie treten jeden Tag vor die Haustüre, wissend, dass es die Möglichkeit gibt mit Homophobie konfrontiert zu werden. Auch wenn es gar nicht so sein muss. Aber allein dieses Bewusstsein schafft eine Art Belastbarkeit, ein Bereit-Sein.

Gemeinsam mit Gaybies wart ihr im australischen Bundestag. Dort hatten die Politiker*innen die Möglichkeit Fragen zu stellen. Welche Fragen sind gekommen?
Wir sind nicht mit den Kindern aus dem Film, sondern mit Erwachsenen hin. Ich kann mich nicht mehr an alle Fragen erinnern, aber wir wollten das Panel so strukturieren, dass wir langsam alle Fragen, die immer wieder kommen, durchgegangen sind. Es gibt einige wenige Fragen, die wiederholen sich: Zum Beispiel, wenn du zwei Mütter hast, kommt die Frage, ob du einen Vater vermisst. Die Leute wollen auch wissen, wie du gezeugt wurdest, ob du adoptiert bist – wie all das funktioniert. Viele fragen, ob du auf Grund deiner homosexuellen Eltern schikaniert wurdest oder wirst. Und natürlich kommt immer wieder die Frage, ob Gaybies homosexuell sind. Das klingt eigentlich sehr dumm. Aber es gibt wirklich viele Menschen, die glauben, dass es so ist.

Du hast mit Maya auch eine Firma mit dem Namen „Marla House“ gestartet zur Unterstützung weiblicher Filmemacherinnen. Ist die Branche nach wie vor männlich dominiert?
„Marla House“ haben wir eigentlich für unsere gemeinsamen Kollaborationen gestartet. „Marla“ bedeutet auf einer Aborigines-Sprache „Mädchen“. Das heißt es ist das „Mädchen Haus“, also unser Haus. Aber ja, ich bin absolut der Meinung, dass die Branche männlich dominiert ist. Das zeigen auch die Statistiken. Aber frage mich bitte nicht, wie man das...

… ändern kann?
Genau! Es gibt sehr viele Menschen, die versuchen diese Frage zu beantworten und daher gibt es auch viele verschiedene Zugänge. Meiner Meinung nach sollen wir sie alle probieren. Dabei geht es nicht nur um Frauen und Männer, sondern um LGBTIQ-Personen, aber auch um „People of Colour“. Wenn wir nur Geschichten von von weißen Männern hören und sehen, wenn nur diese kleine Gruppe repräsentiert wird, erhalten wir offensichtlich nicht das ganze Bild von Gesellschaft. Es ist wichtig, all die problematischen Systeme unserer Gesellschaft aus vielen verschiedenen Perspektiven zu zerlegen.

Valentine Auer lebt als freie Journalistin in Wien.

Mariage pour tout le monde? Ehe für Alle?

  • 17.07.2014, 20:18

Die Publizisten Tjark Kunstreich und Joel Naber haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Bewegung gegen die Legalisierung von homosexuellen Ehen und Lebenspartnerschaften in Europa beschäftigt und schrieben über die vielfältigen gesellschaftlichen und psychologischen Formen des Homosexuellenhasses rund um die „mariage pour tous“ in Frankreich. David Kirsch hat sie dazu für progress online interviewt.

Anmerkung der Redaktion:
Wir bedaueren sehr, dass es zu Unklarheiten rund um dieses veröffentlichtes und dann wieder gelöschtes Interview gekommen ist. Diese Situation war die Folge von Meinungsverschiedenenheiten in der Online-Redaktion. Dafür, dass nicht sofort eine adäquate und professionelle Vorgangsweise im Umgang damit gefunden wurde, möchten wir uns entschuldigen.

Uns ist klar, dass sich über das betreffende Interview zumindest stellenweise streiten lässt. Es spiegelt auch nicht unbedingt die (durchaus heterogenen) Meinungen der Redaktion und der ÖH wider, wie Artikel und insbesondere Interviews allgemein nicht immer die Meinung der ÖH widerspiegeln. In folgendem Punkt sind wir uns allerdings einig: Wir trauen unseren LeserInnen zu, dass sie sich eine eigene Meinung bilden können. Sie können und sollen selbst entscheiden, ob sie die Positionen der Interviewten teilen oder nicht.

Wir werden organisatorische Konsequenzen ziehen, um solche Vorfälle in Zukunft zu vermeiden. Im progress muss Platz für Meinungsvielfalt, kritische Debatten und konstruktiven Dialog sein.

Die Publizisten Tjark Kunstreich und Joel Naber haben sich in den letzten Jahren intensiv mit der Bewegung gegen die Legalisierung von homosexuellen Ehen und Lebenspartnerschaften in Europa beschäftigt und schrieben über die vielfältigen gesellschaftlichen und psychologischen Formen des Homosexuellenhasses rund um die „mariage pour tous“ in Frankreich. David Kirsch hat sie dazu für progress online interviewt.

progress online: Wann begannen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen rund um die "mariage pour tous" in Frankreich und wie entwickelten sie sich?

Kunstreich und Naber: Beim Amtsantritt der Regierung Hollande 2012 hatten viele Linke und Linksliberale in Frankreich das Gefühl, dass sich alle linken Essentials in der Anpassung an die Mitte in Luft aufgelöst hatten und dass als einziges genuin linkes Projekt im Vergleich zur vorangegangenen Sarkozy-Regierung die „mariage pour tous“ verblieben war. Dieses Gesetzesprojekt bekam damit wohl für Befürworter wie Gegner der sozialdemokratischen Regierung einen starken Symbolcharakter. Daraus allein aber lässt sich die Massenmobilisierung gegen dieses Gesetz nicht erklären. Vielmehr scheint es uns so zu sein, dass mit diesem Thema die Mehrheit des rechten Spektrums endlich „ihr“ Thema gefunden hatte, das an symbolischer Kraft dem Antirassismus und Antikolonialismus der Linken gleichkommt. Es sollte unterstrichen werden, dass es bürgerliche Rechte gibt, auch innerhalb von Sarkozys UMP, die diese Gegnerschaft zur „mariage pour tous“ nicht teilen. Aber diese sind aus taktisch-politischen Gründen bei der Verurteilung dieser Massenbewegung ähnlich zaghaft wie israelfreundliche Sozialdemokraten bei der Kritik des linken Antizionismus. Und daneben geht die Begeisterung für den Hass auf die „loi Taubira“, das Gesetz zur Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare, das nach Hollandes Justizministerin Christiane Taubira benannt ist, weit ins bürgerliche Lager hinein. Die „manif pour tous“ – zu deutsch: Demo für alle –  die Aktionsbewegung, die 2013 in Frankreich den Widerstand gegen die „Ehe für Alle“ organisiert hat ist zugleich ein Klima der Enthemmung entstanden, in dem zum einen die Gewalt gegen Homosexuelle wieder hoffähig geworden ist und zum anderen ein gewisses rechtes Spektrum sich auf einmal ermutigt fühlt, sich vom linken ‚Joch des Antirassismus’ zu befreien – indem sie die schwarze Christiane Taubira mit Bananenschalen bewerfen und dabei die „quenelle“-Geste des antisemitischen und rechtsextremen Komikers Dieudonné zeigen, eine neue Variante des Hitlergrußes. Damit wird dann auch der Haken geschlagen, der die politisch rechte Identität dieser Bewegung wieder auflöst: Die „mariage pour tous“ war gewissermaßen nur der Anlass, das bürgerliche Lager, das mit Antirassismus, Antikolonialismus und Antizionismus in den letzten Jahren in der Mehrheit nie so recht zu locken war, in eine faschistische Massenbewegung einzugemeinden. Das ist geglückt.

Wie entstand die die Gegenbewegung zur "mariage pour tous", was sind ihre Besonderheiten und aus welchen Persönlichkeiten setzt sie sich zusammen?

Losgetreten hat die Bewegung Virginie Tellenne, die unter dem Namen Frigide Barjot in Frankreich als Komikerin bekannt ist. Sie gehört zu einem Spektrum, das zwischen rechtsextrem und faschistisch changiert, aber bislang sein Milieu in den verschiedenen kulturellen Erscheinungsformen antibürgerlicher Provokation gefunden hatte, die landläufig eher als ‚links’ angesehen wurde, ohne dass man sich genauer angesehen hätte, was da verhandelt wurde. In den 2000ern hatte Barjot ihr katholisches Coming Out, während sie sich zuvor als Touristin in der schwulen Sub von Paris verlustiert hatte. Mit ihrer Bewegung der „Manif pour tous“ brachte sie dann aber mehr ins Rollen, als sie selbst wahrscheinlich je zu hoffen gewagt hatte. In Gestalt des „Französischen Frühlings“ wuchs ihr ein von Béatrice Bourges geführter, offen faschistischer Flügel als Konkurrent heran, der sie inzwischen an Popularität überholt hat und effektiver als sie die Verschmelzung von Links und Rechts besorgt.

Womit wird gegen das Recht Aller auf Ehe argumentiert? Kann man Analogien zu anderen regressiven Ideologien entdecken?

Das ist schwer zu sagen, denn im eigentlichen Sinne handelt es sich nicht um Argumente, sondern um Glaubensbekundungen: etwa für den natürlichen Geschlechtsunterschied, für die Notwendigkeit von Mama und Papa, für die Natürlichkeit der Familie, der Abstammung und des Zustandekommens des Lebens ... Der psychologische Hintergrund ist unseres Erachtens, dass viele Menschen auf einmal merken, dass sie sexuelle Minderheiten brauchen, um auf sie herabblicken zu können, weil die Herrschaftsverhältnisse anders nicht zu ertragen sind. Deswegen werden folglich in der Begründung der Ablehnung der „mariage pour tous“ diese Verhältnisse affirmiert und als Garant alles wahrhaft Menschlichen beschworen. Das erinnert an die arabische Bevölkerung, die in den zwanziger und dreißiger Jahren im Mandatsgebiet Palästina Pogrome gegen Juden veranstalteten und dabei die Parole skandierten: „Die Juden sind unsere Hunde!“ Sie konnten und wollten nicht akzeptieren, dass die Juden nicht länger ihre Hunde sein würden und das zionistische Projekt ihnen die Möglichkeit ihrer eigenen Emanzipation vor Augen führte.

 

Wie ist die allgemeine Rechtslage für Homosexuelle in Frankreich momentan?

Homosexualität wurde im Zuge der Revolution in Frankreich bereits 1791 entkriminalisiert. Im 19. Jahrhundert wurde Homosexualität im Zuge der Restauration nicht wieder verboten, was Frankreich zu einem Asylland für verfolgte Homosexuelle machte – der bekannteste Asylbewerber war Oscar Wilde, der nach seiner Haftentlassung 1897 nach Paris ging. Seit 1985 gibt es eine Antidiskriminierungsgesetzgebung und seit 1999 den Pacte civil de solidarité, kurz PACS, eine Art Zivilehe, die zwischen beliebigen Menschen geschlossen werden kann. Galt der PACS zunächst als eine Art eingetragene Partnerschaft, ist er seit einigen Jahren vor allem für heterosexuelle Paare eine Alternative zur Ehe geworden, weil sie vertragliche Regelungen erlaubt, die in der Ehe nicht vorgesehen sind, und leichter zu beenden ist. Mit der Einführung der Ehe für alle, inklusive des Adoptionsrechts, im Frühjahr 2013 hat Frankreich sich dem europäischen Mainstream – mit Ausnahme der deutschsprachigen Länder – angeglichen.

Woraus speist sich die spezielle Ablehnung der Homosexualität bzw. des Rechts homosexueller Paare auf Heirat seitens rechter Organisationen in Frankreich? Was für Positionen hat die Linke in Frankreich hierbei?

Frankreich ist ein Beispiel dafür, wie sich trotz Entkriminalisierung das Ressentiment gegen die Homosexualität halten kann. Solange die Homosexuellen, wie die Juden im Übrigen auch, die Plätze einnehmen, die ihnen zugewiesen werden, können sie damit rechnen, zu überleben und toleriert zu werden. Dafür gibt die Literatur von Marcel Proust ein beredtes Beispiel. Im Unterschied zu deutschen und österreichischen Nazis sind französische Faschisten allerdings nicht an sich homophob: Sie dulden die Homosexualität als Markenzeichen eines intellektuellen Grand-Seigneurs, der sich über Klassenschranken hinwegsetzt und sich zu Kommunismus und Faschismus gleichermaßen bekennen kann, wie ihn etwa der Schriftsteller André Gide verkörperte. Außerdem gibt es die Fraktion der katholischen extremen Rechten und die Überbleibsel des Monarchismus, die klassische konterrevolutionäre Gegenaufklärung, die die Entkriminalisierung der Homosexualität auch nach über zweihundert Jahren noch bedauern. Sie sind nicht mit den Faschisten zu verwechseln – nicht wenige von ihnen kämpften gegen die deutsche Besatzung –, ihre Gemeinsamkeit liegt jedoch darin, dass sie die Homosexualität straffrei im übertragenen Sinn nur dem Adel zugestehen wollen. In diesem Sinne argumentieren manche Intellektuelle gegen die „mariage pour tous“ mit dem Verweis auf die großen homosexuellen Dichterfürsten, was aber in dem Moment albern wird, wenn man sich auf Amerikaner wie den Dichter Walt Whitman bezieht, der eine Poetik der Individualität in der Gleichheit und der Demokratie geschaffen hat.

Eine Mehrheit der Linken hat in französisch- republikanischer Tradition die „mariage pour tous“ unterstützt. Auch linksradikale Gruppierungen, wie die verschiedenen trotzkistischen Parteien, haben sich angesichts der wachsenden rechten Bewegung schließlich für die Ehe für alle ausgesprochen. Wobei es nie eine Massenbewegung für die Ehe für alle gegeben hat – sie ist, wie in anderen europäischen Staaten und den USA, das Ergebnis des jahrzehntelangen Ringens einer klugen Lobby. Die Demonstrationen für die „mariage pour toues“ waren eine Reaktion auf die „Manif pour tous“ und die mit ihr einhergehenden Angriffe auf Homosexuelle und ihre Treffpunkte.

Daneben gibt es aber noch jene Linke, die das Rechtsinstitut der Ehe für überholt hält und nicht verstehen kann, was der Staat in privaten Beziehungen zu suchen hat. Mit ihrem Ideal der offenen Zweierbeziehung perpetuieren sie die Illusion der autonomen Linken vom kollektiven Leben jenseits von Staat und Gesellschaft – die Ideologie des Freiraums. Für sie gilt, was der neokonservative Publizist Alain Finkielkraut, der selbst die Ehe für alle ablehnt, vor kurzem in einer Fernsehsendung im Hinblick auf die liberalen Kritiker des vom französischen Innenminister Manuel Valls durchgesetzten Verbots der Auftritte des Nazi-Komikers Dieudonné diagnostizierte: „Sie wünschen sich einen Rechtsstaat ohne Staat und eine Justiz ohne Schwert.“

 

„Theater“ um Regenbogenfahnen beendet?

  • 05.07.2014, 08:32

So viele Grazer Bezirksrät_innen wie noch nie stimmten für ein Zeichen gegen Homophobie. Christoph Schattleitner blickt zurück auf die Hintergründe.

So viele Grazer Bezirksrät_innen wie noch nie stimmten für ein Zeichen gegen Homophobie. Christoph Schattleitner blickt zurück auf die Hintergründe.

Am 28. Juni ist Christopher Street Day (CSD), an dem sich weltweit Menschen für die Gleichbehandlung von Schwulen, Lesben, Transgender und Bisexuellen solidarisieren. Das ist oft eine Mischung aus Party und Protest, wie etwa in Wien bei der Regenbogenparade. Ziel ist es, auf Missstände und Diskriminierung von Homosexuellen hinzuweisen. Zwischen Ehe und Eingetragener Partnerschaft gibt es nach wie vor 40 Ungleichbehandlungen, wie Betroffene beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte feststellen ließen. Die Benachteiligungen reichen vom Adoptionsrecht über Pensionsanspruch bis hin zur Frage, wo getraut werden darf.

„Theater“ in Graz

Letzteres wurde in Graz heftig diskutiert. Bürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) wehrte sich lange gegen eine Verpartnerung von Homosexuellen im Trauungssaal des Rathauses bis der Verfassungsgerichtshof zu einer anderen Erkenntnis kam: Seit September 2013 darf nun auch im Prunksaal verpartnert werden. Mit Regenbogenfahnen soll am Christopher Street Day auf solche Ungleichbehandlungen aufmerksam gemacht werden. Anderenorts ist das bereits Routine. In Wien etwa werden wochenlang die Straßenbahnen mit kleinen Regenbogenfähnchen geschmückt, in Berlin hissen jedes Jahr alle Bezirksrathäuser die bunte Fahne. Gleiches versucht seit 2008 Gerald Kuhn, Grüner Bezirksrat des Stadtbezirks Jakomini, auch in Graz durchzusetzen. Bisher gab es um die Fahnen aber immer ein „Theater“, ärgert er sich. Die Grazer Grünen stellen Jahr für Jahr in den Bezirken, in denen sie vertreten sind, einen Antrag zum Kauf (eine Fahne kostet 14, 50 Euro) und zur Hängung der Flaggen. Das blieb nicht immer ohne Widerstand. Vergangenes Jahr stimmten etwa die Bezirksräte St. Leonhard, Mariatrost und Lend gegen den Antrag. Während die Grünen ein „massives Problem mit Homosexuellen“ (Zitat Kuhn) bei der ÖVP orteten, sorgte der bunte Stoff auch bei der SPÖ für Aufregung: Zwei der drei SPÖ-Räte im Lend wollten keine Homo-Flaggen und kassierten dafür Kritik von der Sozialistischen Jugend: „Wir sollten uns als Sozialdemokraten schämen. Das ist ein peinlicher Ausrutscher“, meinte Sebastian Pay von der SJ Graz. Heuer stimmte der Bezirk Lend einer Beflaggung zu – so wie sieben andere Bezirke. In zehn der 17 Bezirke wurden Anträge gestellt, acht gingen durch – so viele wie noch nie. „Das ist ein voller Erfolg – vor allem, weil einige Bezirke die Fahnen nicht ein, zwei Wochen, sondern den ganzen Juni lang aufhängen“, freut sich Kuhn über die Entwicklung in Richtung mehr Toleranz in der „Menschenrechtsstadt“ Graz.

Übrigens: Die Stadt Graz selbst hat bis dato noch keine Regenbogenfahne gehisst. Vor dem Rathaus hing zwar die letzten Jahre eine Fahne, dies geschah aber immer auf Initiative und Rechnung der Grünen, erklärt Nicole Kuss, Pressesprecherin von Stadträtin Lisa Rücker (Grüne). Heuer verpasste man es die Fahnenmasten zu reservieren.

Leerer Fahnenmast im Volksgarten Graz im Jahr 2013. Foto: Christoph Schattleitner

Christoph Schattleitner studiert „Journalismus und PR“ an der FH Joanneum in Graz und twittert unter dem Namen @schattleitner.

Sex, Natur und Utopie

  • 25.02.2014, 14:56

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

Manu Banu und Dieter Diskovic über die Gruppe Fuck For Forest, die mit dem Dreh von Pornos den Regenwald retten will, und ihre historischen Vorgänger_innen an der Schnittstelle von Sexualität, Natur und Utopie.

„Sex ist eines der essentiellsten Dinge der Natur. Für uns hat es Sinn gemacht, unsere Natur zu nutzen, um die Natur zu schützen“, so Tommy Hol Ellingsen, Gründungsmitglied von Fuck For Forest, in einem Interview. Seit 2003 betreiben die Umweltaktivist_innen eine Homepage, auf der (häufig im Wald oder in der Öffentlichkeit gedrehte) Do-it-yourself-Pornos gegen Bezahlung angeboten werden. Das Ungewöhnliche daran: Sämtliche Einnahmen sollen Regenwald- und Wiederaufforstungsprojekten zugute kommen. Dabei wählt man Methoden, die mitunter auch auf heftigen Widerspruch stoßen. Freie, „natürliche“ Sexualität, die einerseits zu individueller Befreiung, andererseits zur Veränderung der Welt beitragen soll – dieses Konzept kommt uns bekannt vor. Wir haben uns deshalb auf die Suche nach prominenten und weniger bekannten Vorgänger_innen gemacht, die vergleichbare Utopien entwickelten oder gleich versuchten, diese Utopien zu leben.

Fuck For Forest 2008. Foto: Mutter Erde

„Edle Wilde“ in Utopia

Drehen wir die Zeit um etwa 250 Jahre zurück, in die Mitte des 18. Jahrhunderts, in dem der französische Aufklärer Jean-Jacques Rousseau die Vorstellung des „Edlen Wilden“ entwickelte.  Der „Edle Wilde“ repräsentierte ein Idealbild des von der Zivilisation unverdorbenen „Naturmenschen“ und diente als Gegenpol zur als dekadent empfundenen europäischen Gesellschaft. Parallel dazu ließ die Entdeckung des Südpazifiks durch europäische Seefahrer und teils fiktive Reiseberichte das bis heute existierende Klischee des Südseeparadieses entstehen: friedliche und herrschaftslose Gesellschaften im Einklang mit der Natur, die ihre Sexualität frei und ohne Tabus ausleben. Gegenüber dem vorherrschenden Diskurs von indigenen Gesellschaften als „Barbaren“ war dieses Bild zweifellos ein kleiner Fortschritt, dennoch handelte es sich um Stereotype und Wunschvorstellungen, die auf die Bewohner_innen der Südseeinseln projiziert wurden und deren teils sehr strengen Sexualnormen komplett ignorierten.

Der Frühsozialist Charles Fourier suchte das Paradies hingegen nicht in der Ferne: Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts entwickelte er eine Gesellschaftsutopie, für die er exakte Pläne erstellte. Fourier war der Ansicht, dass sich die menschliche Natur nicht ändern lässt, aber zumindest entfalten kann. Da die menschlichen Triebe von der bestehenden, gewalttätigen Gesellschaftsordnung unterdrückt werden, müsse man die Gesellschaftsverhältnisse der menschlichen Natur anpassen. Als Hauptquelle der Unterdrückung sah er den Handel und die monogame Ehe an. Für Fourier war die Befreiung der Arbeit nur mit gleichzeitiger Befreiung der Sexualität möglich, deshalb wollte er die Gesellschaft in selbstverwaltete Großkommunen aufteilen, die sowohl Wirtschafts- als auch Liebesgemeinschaften sein sollten. Sein Ziel war die freie Entfaltung der Individuen, eine Verbindung von Arbeit und Genuss, die die ökonomische Produktivität steigern sollte. Trotz oder wegen vieler origineller und fortschrittlicher Ideen wurde Fourier jahrzehntelang als Spinner angesehen, einige Aspekte seines Werks – etwa surrealistisch anmutende Vorschläge wie die Verwandlung des Meeres in Zitronenlimonade und essbares Gelee – machten es seinen Kritiker_innen leicht. Auch Karl Marx und Friedrich Engels lehnten den utopischen Sozialismus als unwissenschaftlich ab. Dennoch hatte Fourier posthum großen Einfluss auf eine Reihe von Utopien des 20. Jahrhunderts.

Einmal Utopie und wieder zurück

Anfang des 20. Jahrhunderts wirbelte die Psychoanalyse um Sigmund Freud und dessen widerspenstigen Schüler Wilhelm Reich, der als Vater der sexuellen Revolution gilt, die bürgerliche Sexualmoral ordentlich durcheinander. Auch gab es einige Enklaven, in denen so etwas wie freie Liebe tatsächlich kurzfristig entstehen konnte, etwa im Berlin der 1920er, der Zeit von Varieté, Marlene Dietrich und einer ausgeprägten Lesbenkultur, oder im Russland nach der Oktoberrevolution 1917, als durch das Wirken der Volkskommissarin Alexandra Kollontaj das Eherecht gelockert, Schwangerschaftsabbruch legalisiert und kollektive Kindererziehung eingeführt wurde. Dieser kurzen Zeit der Freiheit wurde in Berlin durch den Nationalsozialismus, in Russland spätestens durch den Stalinismus ein abruptes Ende gesetzt.

Ein Revival erlebten die sexuellen Utopien in den 1960er Jahren. Es begann eine verstärkte Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus, den verbliebenen autoritären Strukturen versuchte man freie Liebe und Persönlichkeitsentfaltung entgegenzusetzen. Die Kämpfe um Bürger_innenrechte und sexuelle Freiheit gaben der Lesben- und Schwulenbewegung Auftrieb.  Parallel dazu entkoppelte die Erfindung der Antibabypille erstmals Geschlechtsverkehr von der Fortpflanzung. Es entstanden hunderte Kommunen, die das Leben in der Kleinfamilie ablehnten und eine hierarchiefreie, offene Gesellschaft etablieren wollten. Zu den bekanntesten zählten die Kommune I in West-Berlin und ab Anfang der 1970er Jahre die AA-Kommune um den Aktionskünstler Otto Muehl, die vom burgenländischen Friedrichshof ihren Ausgang nahm.

Otto Muehl übernahm Rousseaus Aufforderung „Zurück zur Natur!“ und Fouriers Visionen von sexueller Freiheit und kollektiver Lebensweise. In der „Aktionsanalyse“ sollten durch „natürliche“, frei ausgelebte Sexualität, öffentliche Selbstdarstellungen und „Körperbehandlungen“ die individuellen Schädigungen durch die Kleinfamilien-Gesellschaft – „Charakterpanzer“ genannt – überwunden werden. „Seine Mittel reichen vom Streicheln, Abschmusen, Küssen, Kitzeln, Drücken, Kneten zum Zwicken, Schlagen, Anschreien bis zum Anspucken, Speien und Anbrunzen“, wie eine Kommunardin in ihrem Tagebuch vermerkte. Zweierbeziehungen galten als Keimzelle der bürgerlichen Unterdrückung und wurden verboten, durch das Tragen von Glatzen und Latzhosen grenzten sich die Kommunard_innen sowohl vom Bürgertum als auch von den restlichen Protestbewegungen ab.

Die Kommune wollte die Gesellschaft nicht über die Ökonomie, sondern über die Sexualität verändern – diese Weltanschauung machte sie zu einer interessanten Alternative zu marxistischen Gruppen. Zur Hochzeit der Kommune gab es mehr als 600 Mitglieder sowie Zweigstellen in mehreren Ländern. Im Laufe der Jahre kippte die Basisdemokratie in ein faschistoides und streng hierarchisches System, an dessen Spitze Otto Muehl als selbsternannter Monarch stand. 1988 zerbrach die Kommune, Muehl wurde wegen sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung Minderjähriger zu sieben Jahren Haft verurteilt. Nicht nur Otto Muehl wurde die vermeintliche „Befreiung der kindlichen Sexualität“ zum Verhängnis, wie man an der Pädophilie-Debatte im letzten deutschen Wahlkampf sehen konnte.

"This is still a demo" - Regenbogenparade 2013. Foto Dieter Diskovic

Von der Abschaffung des Leibes, politischem Lesbianismus und Ökofeminismus

Die sogenannte zweite Frauenbewegung  kritisierte die vermeintliche sexuelle Befreiung jedoch als reine Befreiung der männlichen Sexualität, während es Frauen dem Zwang der permanenten Verfügbarkeit und einem „Orgasmus-Terror“ aussetzte. Auch die konservative Arbeitsteilung innerhalb der Linken wurde angegriffen.

Die radikale Feministin Shulamith Firestone richtete ihre Kritik nicht nur gegen die Kleinfamilie, sondern sah insbesondere in der Reproduktionsfähigkeit der Frau die Basis der Frauenunterdrückung. Nur die Abschaffung des biologischen (gebärenden) Körpers kann die (sexuelle) Befreiung der Frau ermöglichen, weswegen sie auch eine vehemente Befürworterin von Reproduktionstechnologien war – oder in den Worten von Claudia von Werlhof: „Ohne Leib keine Leibeigenschaft“. Firestones ideale Gesellschaft kommt also ohne biologische Familien aus, die Abschaffung der natürlichen Reproduktion soll zur sexuellen Befreiung führen.

Die Forderung nach dem Recht der Frau auf sexuelle Erfüllung war anfangs mit Heterosexualität gleichgesetzt. Durch die Festlegung der Heterosexualität als Norm wurde lesbische Sexualität nicht nur ignoriert, sondern auch als nicht „normal“ und „unnatürlich“ aufgefasst. Dies führte zum lesbischen Feminismus, der die Fragen aufwarf, ob heterosexuelles Begehren von Frauen tatsächlich natürlich sei oder ob dieses nicht in patriarchalen Gesellschaften erzwungen werde. Weibliche Homosexualität wurde weniger mit einer natürlichen Präferenz begründet, sondern als politische Praxis gelebt – unter dem Motto „Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus ist die Praxis“.

In den 1980ern entstand – beeinflusst von der Umweltbewegung – der Ökofeminismus, der einen Zusammenhang zwischen der Ausbeutung der Natur und der Frauen herstellte. Aufgrund ihrer Reproduktionsfähigkeit wurden der Frau eine besondere Nähe zur Natur und eine wichtige Rolle für die ökologische Erneuerung unterstellt. Diese Konzepte von einer „natürlichen Weiblichkeit“, die Stereotype begünstigen, konnten sich jedoch innerhalb der feministischen Theorien nicht lange halten. Bereits Mitte der 1980er entstand in der feministischen Theorie die Unterscheidung zwischen sex, dem biologischen Geschlecht, und gender, der Geschlechtsidentität, die durch Sozialisierung entsteht.

Gibt es eine natürliche Sexualität?

Insbesondere die Theorien von Michel Foucault brachten die Vorstellung einer „natürlichen“ Sexualität ins Wanken. Laut Foucault sind unsere heutigen Vorstellungen von Sexualität im 18. und 19. Jahrhundert entstanden, als moderne Staaten begannen, sich für die Reproduktion der Bevölkerung – und damit für ihre Sexualität – zu interessieren. Diese vom Staat betriebene „Bio-Politik“ äußert sich u.a. in Form von Abtreibungsgesetzen, Gesundheitsmaßnahmen oder Geburtenstatistiken. Sexualität ist also historisch und sozial konstruiert und immer mit Machtverhältnissen verbunden. Es gibt daher auch keine naturgegebene „männliche“ oder „weibliche“ Sexualität. Die Philosophin Judith Butler übernahm diesen Gedanken und ging einen Schritt weiter: Butler sieht weder gender noch sex als naturgegebenen an. Das biologische Geschlecht bzw. die Zweigeschlechtlichkeit wird durch die vorherrschende Zwangsheterosexualität hervorgebracht – und hat mit Natur nichts zu tun. 

Dem naturalistischen Modell wurden aber auch zahlreiche kultur- und sozialanthropologische Studien entgegengesetzt. Sie konnten zeigen, dass Sexualität in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich konzipiert wird – es gibt also eine Vielfalt von Sexualitäten anstatt einer natürlichen Sexualität.

Sex sells... Foto: Dieter Diskovic

Was bleibt?
Die sexuelle Revolution hat nachhaltige Spuren hinterlassen, unzählige Tabus und Schranken sind gefallen. Während jedoch die Promiskuität der beruflich erfolgreichen Menschen der Mittel- und Oberschicht gefeiert wird, gilt dies weniger für Menschen der Arbeiter_innenklasse (man vergleiche den Glamour-Sex von Sex and the City und die Figur der Vicky Pollard in Little Britain). Auch ist das neoliberal-kapitalistische System weit davon entfernt, sich von Änderungen der Sexualmoral gefährdet zu fühlen. Vielmehr wurden die subkulturellen Strömungen vereinnahmt, die Sexualität zum großen Geschäft. Gerade die Vorstellung von einer authentischen oder natürlichen Sexualität findet sich in unzähligen Kursen und Ratgebern wieder – die freie Sexualität ist zu einem Markenprodukt geworden.

Auch von einer „Generation Porno“ ist die Rede, also von jungen Menschen, die durch die ständige Verfügbarkeit von pornographischem Material mit den übertriebenen Inszenierungen der Pornoindustrie aufwachsen und dadurch einem sexuellen Leistungsdruck unterliegen. Vermarktbarkeit und Leistungsdruck – damit haben sich die Vorstellungen von Sexualität an die Paradigmen der gegenwärtigen Ökonomie angepasst. Die Kämpfe sexueller Minderheiten um vollständige Anerkennung und Gleichstellung können auf der einen Seite Erfolge vorweisen, auf der anderen Seite ist in vielen Ländern ein reaktionärer Backlash wahrnehmbar, etwa in Spanien, wo das Abtreibungsgesetz wieder verschärft werden soll oder in Russland, wo „homosexuelle Propaganda“ in der Öffentlichkeit verboten wurde. Experimente mit kollektiver Sexualität dienen mittlerweile eher der Selbstfindung oder als hedonistisches Vergnügen. Die Propagierung einer „natürlichen“ Sexualität als gesellschaftsverändernde Praxis hat hingegen ihre politische Relevanz verloren.

 

Manu Banu und Dieter Diskovic studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

 

God loves Uganda

  • 22.12.2013, 12:41

Im Rahmen des Menschenrechtsfilmfestivals This Human-World stellte Regisseur Roger Ross Williams seinen neuen Dokumentarfilm „God Loves Uganda“ vor. Ein Film über den Einfluss der amerikanischen christlichen Rechten auf die ausufernde gesellschaftliche und politische Homophobie in Uganda.

Im Rahmen des Menschenrechtsfilmfestivals This Human-World stellte Regisseur Roger Ross Williams seinen neuen Dokumentarfilm „God Loves Uganda“ vor. Ein Film über den Einfluss der amerikanischen christlichen Rechten auf die ausufernde gesellschaftliche und politische Homophobie in Uganda.

Uganda ist ein Land, in dem beinahe 50% der Menschen jünger als fünfzehn Jahre alt sind, 85% einer christlichen Glaubensgemeinschaft angehören und das tendenziell pro-westlich eingestellt ist. Diese Fakten machen den kleinen ostafrikanischen Staat zu einem strategisch wichtigen Ziel für evangelikale Missionare aus den Vereinigten Staaten. Während viele von ihnen den Kampf um streng christlich-konservative Werte in den USA für verloren halten, sehen sie in Uganda das Potential für einen christlichen Gottesstaat. Nach dem Sturz des Diktators Idi Amin im Jahr 1979 entstand ein Machtvakuum, das bald von evangelikalen Kirchen gefüllt wurde.

„Kill the Gays“ - der Hass auf nicht-heterosexuelle Lebensentwürfe

Der US-amerikanische Regisseur Roger Ross Williams hatte bereits einige Jahre in Zimbabwe seine Oscar-gekrönte Kurzdokumentation „Music by Prudence“ gedreht, als er den enormen Einfluss des fundamentalistischen Evangelismus auf dem Kontinent und die daraus entstandene Intoleranz gegenüber andersgläubigen und homosexuellen Menschen bemerkte. Obwohl es etliche afrikanische Staaten gibt, die eine noch strengere Gesetzgebung gegen Homosexualität haben, entschied er sich für Uganda, das wegen der geplanten* Verabschiedung der Uganda Anti-Homosexuality Bill – gemeinhin auch „Kill the Gays Bill“ genannt – im Mittelpunkt der internationalen Aufmerksamkeit stand.
Für „God Loves Uganda“ folgt der vierzigjährige Regisseur einer Gruppe junger Mitglieder des  „International House of Prayer“ auf ihrer ersten Auslandsmission, bei der Andersgläubige bekehrt, Homosexuelle geheilt und einheimische Missionare ausgebildet werden sollen. „Ich glaube, sie sind einfach fehlgeleitet, sie glauben, dass Gott sie lenkt. Aber wenn man sich mit ihnen hinsetzt, sind sie echt nett. Das war mir wichtig, diese Leute nicht zu verteufeln.“ Weitere Protagonist_innen sind Lou Engle, ein führender Kopf der amerikanischen evangelikalen Rechten, Pastor Scott Lively, Autor des Buches „The Pink Swastika - Why and How to Defeat the Gay Movement“, in dem Homosexuellen die Schuld am Nationalsozialismus gegeben wird, sowie der ugandische Pastor Martin Ssempa, der durch seine fanatischen und bizarren Reden bereits zu einer Youtube-Berühmtheit geworden ist („Eat da Poo Poo“).
Roger Ross Williams lässt die Schlüsselfiguren ausführlich in Interviews und scheinbar beiläufigen Gesprächen zu Wort kommen, er zeigt sie bei ihren Bekehrungsversuchen, Predigten und beim ekstatischen Zungenreden. Die mitreißenden Bilder und die extremistischen Statements der Protagonist_innen sprechen für sich und machen jeden Off-Kommentar überflüssig. Manche Szenen haben durchaus humoristisches Potential, etwa wenn Pastor Martin Ssempa vermeintlich typisch schwule Praktiken anhand von SM-Bildern vorführt, das Lachen bleibt einem jedoch spätestens in der Kehle stecken, wenn die Gesichter seiner fanatisierten Kirchengemeinde in das Blickfeld der Kamera rücken. Oder, wie es ein Bürgerrechtler ausdrückt: „Wenn sie in Uganda predigen, dürfen sie nicht vergessen, dass die Leute hier das Gesetz in die eigene Hand nehmen“.

Während der Zeit des Filmdrehs wurde der prominente Schwulenaktivist David Kato mit einem Hammer erschlagen, nachdem eine ugandische Zeitung die Fotos, Namen und Adressen von hundert angeblich homosexuellen Menschen veröffentlicht hatte. Bei Katos Begräbnis, einem traurigen Höhepunkt des Films, kommt es zum Eklat, als ein anglikanischer Priester das Wort ergreift und gegen Homosexualität wettert. Nach einer Auseinandersetzung wird ihm das Mikrofon entrissen, die Predigt wird schließlich von einer weiteren Schlüsselfigur des Films, Bischof Christopher Senyonjo, der wegen seines Kampfes für LGBTI-Rechte bereits exkommuniziert wurde, gehalten.

Unafrikanische Homosexualität?

Dabei war die Situation in Uganda für nicht-heterosexuelle Lebenskonzepte bereits wesentlich besser. Jahrzehntelang wurden Schwulenbars toleriert, die Buganda, die größte Ethnie Ugandas, hatte sogar einen offen schwulen König. Die geplante Uganda Anti-Homosexuality Bill sieht die Todesstrafe für gewisse homosexuelle Aktivitäten vor, Angehörige und Freunde müssten mit sieben Jahren Gefängnis rechnen, wenn sie Homosexuelle nicht denunzieren. Dieser Gesetzesentwurf geht auf eine Initiative amerikanischer Evangelikaler zurück. Vor allem Pastor Scott Lively, der in den USA eher als wenig einflussreicher Sonderling gilt, hat in Uganda ein neues Betätigungsfeld entdeckt. Er hielt im Parlament von Uganda eine vierstündige Rede, in der er vor den Gefahren der Homosexualität warnte. Bei der Wahl seiner „Argumente“ war er nicht wählerisch: das Hauptziel der „homosexuellen Lobby“ ist die Zerstörung der ugandischen Gesellschaft durch die Rekrutierung und „Homosexualisierung“ von Kindern.
Aber auch in einer anderen Hinsicht hat der Einfluss der amerikanischen Evangelikalen fatale Auswirkungen. In den neunziger Jahren hatte Uganda mit 18% die höchste AIDS-Rate Afrikas. Durch ehrgeizige und kostenintensive Aufklärungsprogramme der amerikanischen und ugandischen Regierung unter dem Motto „Abstinenz, Treue und Kondome“ konnte die Zahl bis zum Jahr 2000 auf erstaunliche fünf Prozent gesenkt werden. Unter George W. Bush wurde dieses Projekt aus ideologischen Gründen geändert: die Bewerbung von Kondomen wurde mit dem Einfrieren von staatlichen Fördergeldern geahndet, der Fokus lag nun ausschließlich auf Abstinenz – ein Konzept, das die Lebensrealität der Menschen ignoriert und das ehemalige Vorzeigeland der AIDS-Bekämpfung weit zurückwarf.

Regisseur Roger Ross Williams. Foto: Dieter Diskovic.

Laut Regisseur Roger Ross Williams ist Uganda für die amerikanischen christlichen Fundamentalist_innen bloß ein Testlauf für eine Ausweitung der Missionierung auf andere afrikanische Staaten. Umso wichtiger ist die Aufklärung über diese international nur wenig bekannte Entwicklung. „God Loves Uganda“ wurde auf die Oscar-Shortlist für die beste Dokumentation 2014 gesetzt. Ein Erfolg ist Roger Ross Williams nicht nur wegen der aufklärerischen Effekte zu wünschen, sondern auch, weil ihm mit „God Loves Uganda“ ein fesselnder und zugleich verstörender Film gelungen ist, der die Zuseher_innen noch lange nach dem Filmende beschäftigt.

* Nachtrag: Nach jahrelanger Debatte wurde am 20. Dezember 2013 der Uganda Anti-Homosexuality Bill verabschiedet. Statt mit der geplanten Todesstrafe werden homosexuelle Handlungen mit lebenslanger Haft bestraft.

 

Der Autor (geb. 1979), lebt in Wien. Er hat Kultur- und Sozialanthropologie studiert und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.