LGBTIQ

Coming-of-Age ohne Coming-out

  • 26.04.2017, 15:02

Eine Schule im südlichen Niederösterreich, in der Homophobie so gut wie nicht existent ist und lesbische Sexualität offen gelebt werden kann, ist der primäre Handlungsort des Films Siebzehn von Monja Art. Die Regisseurin und Drehbuchautorin wollte explizit keinen „Coming-out“-Film abliefern. Vielmehr ging es ihr darum, einen Film über Sehnsucht jenseits geschlechtsspezifischen Begehrens zu machen.

Damit ist auch bereits die Fragestellung für diese Rezension vorformuliert: Soll die Kulturindustrie eine bessere Welt zeigen oder versuchen, die traurige Realität so gut es geht einzufangen? Siebzehn entscheidet sich für ersteres, wobei zumindest in der visualisierten Gedankenwelt von Hauptfigur Paula (Elisabeth Wabitsch) die Existenz homophober Bedrohungsszenarien aufblitzt. Ohne diese kurze Sequenz, in der sie befürchtet, von den MitschülerInnen wegen eines gleichgeschlechtlichen Kusses gemobbt zu werden, müsste man dem Film wohl tatsächlich die Verharmlosung der herrschenden Verhältnisse vorwerfen. So aber schleicht sich über die Tagtraumsequenzen die Realität in den Film, während die sonstige Spielhandlung eher einem Traum gleichkommt. Ein Traum, der in den schönsten Bildern gezeichnet wird und an Emotionen andockt, die nicht nur Jugendlichen, sondern allen RezipientInnen nachvollziehbar sein dürften: Sehnsucht, Verliebtheit, Enttäuschung, Zurückweisung und Eifersucht treiben die Handlung voran.

Die Erzählstrategie jenseits des „Comingout“-Films, für die sich Monja Art entschieden hat, ist dabei durchaus legitim und lässt hoffen, dass der Film seine Wirkung beim Zielpublikum nicht verfehlt. Siebzehn würde auch als TV-Serie gut funktionieren und nicht nur über Paula sondern auch über die vielen exzellent gezeichneten Nebenfiguren möchte man eigentlich noch viel mehr erfahren.

Siebzehn (Ö 2017) ist ab 28. April im Kino.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Frisurloses FischFleisch

  • 23.02.2017, 18:29
Häh, bi? Gibt's das noch? Und wenn ja, wo sind die richtigen bi-Personen? Über fehlende Labels und Revolution bi-Style Now.

Häh, bi? Gibt's das noch? Und wenn ja, wo sind die richtigen bi-Personen? Über fehlende Labels und Revolution bi-Style Now.

„Is there a bisexual option available?“ – „No, sir, this option is no longer available since about last summer, due to several operational problems.“ Was in „The Lobster“ als düsterer Eingangsgag wirkt, ist für viele bisexuelle Personen keine Dystopie, sondern Realität. „Für mich als bi-Person interessiert sich kaum jemand besonders“, meint Anja. Die 26-jährige Soziale-Arbeit-Studentin sieht die mangelnde Aufmerksamkeit, die bi-Personen zu Teil wird, als eine Medaille mit zwei Seiten: „Positiv ist, dass man als bi-Person oft kein großes Outing hat. Negativ dagegen ist das klischeehafte Porno-Bild vieler Männer und die geringe Akzeptanz einiger lesbischer Frauen gegenüber bi-Frauen.“ Für Anja ist die Diskriminierung, die sie aus der lesbischen Szene erfährt, besonders verletzend. „Sprüche wie ‚Du bist nicht Fisch und nicht Fleisch‘, ‚Du bist irgendwas‘, ‚Jetzt sagst du, du bist bi, aber vermisst dann doch einen Mann‘ sind von lesbischen Frauen mir gegenüber oft gefallen“, so Anja.

LGT. Das Gefühl zu haben, als bi-Person weder in hetero- noch in homo-Räume zu passen, ist für viele schwierig. Sanna, 25, machte ähnliche Erfahrungen: „Bei LGBT-Treffen kamen negative Reaktionen, wenn klar wurde, dass ich bi bin. Ich persönlich muss nicht mit einem bi-Button rumlaufen, aber ich möchte als bi-Person nicht aus LGBT-Räumen ausgegrenzt und rausgedacht werden.“ Um mehr bi- Empowerment zu schaffen, startete Sanna während ihres Studiums Media and Culture Studies 2015 das Projekt „Still Loving BI“. Dafür entwickelte sie eine Kampagne mit Facebookpage, Twitteraccount und einer Superheld_innen-Fotoaktion. Neben fehlender Sichtbarkeit und Vorurteilen, gegen die bi-Personen ankämpfen, fiel Sanna im Zuge ihres Projekts auf, dass bi-Personen oft Zweifel bezüglich ihres bi-Lebens haben: „In vielen Gesprächen mit bi-Personen kam die Frage auf: Wer ist eigentlich richtig bi?“

BISEUDO. Ist eine bi-Frau, die mit einem Typen zusammen ist, oder eine Person, die auf non-binary Personen steht, überhaupt bi oder nur pseudo-bi? „Für mich heißt bi, auf mehr als ein und eventuell verschiedene Gender zu stehen. Egal, welche Gender das dann sind und welche Erfahrungen eins schon gemacht hat. Es geht darum, ob eins das Potential hat, auf verschiedene Leute zu stehen“, so Sanna. Shiri Eisner setzt sich in ihrem Buch „Bi: Notes for a Bisexual Revolution“ mit dieser von der bi-Aktivistin Robyn Ochs stammenden Definition und anderen auseinander. Sie bleibt aber nicht nur bei der Auseinandersetzung mit Stereotypen und bi-Feindlichkeit. Ausführlich arbeitet sie Monosexismus als Struktur heraus, die Personen, die auf nur ein Geschlecht stehen, privilegiert und nichtmonosexuelle Personen systematisch bestraft. Sei es, wenn es um Gesundheit, Job oder persönliche Beziehungen geht.

BI CLASSIC. Julia* möchte ihren Namen nicht preisgeben. Sie befürchtet ungewollt vor Familienmitgliedern und Arbeitgeber_innen als bi geoutet zu werden, falls ihr Name öffentlich wird. „Ich war im Juli auf der dritten European Bisexual Conference in Amsterdam. Dort haben mich andere Teilnehmer_innen vor Problemen am Arbeitsplatz gewarnt“, so Julia. Wenn die 23-Jährige sonst von der EuroBiCon, dem größten bi-Treffen Europas, erzählt, kommt sie ins Schwärmen: „Ich musste mich nicht einmal für meine Bisexualität rechtfertigen. Die EuroBiCon war für mich eine Bubble aus Glücklichkeit.“ Auf die Frage hin, ob dort ein „bi- Code“ zu beobachten gewesen sei, erwidert Julia: „Wie eine klassische bi-Person aussieht und lebt, war eine Frage der Konferenz. Der Schluss war jedoch: In der bi-Community gibt es keine stereotype bi-Person und wir wollen und brauchen für die Sichtbarkeit auch keine ‚eigenen‘ Codes.“ Julia sieht auch in ihrer lokalen bi-Gruppe „VisiBIlity Austria“ keine Ansätze dahingehend.

INCONSISTENT BI SLUT. Geht das überhaupt, bi leben ohne eigene bi-Frisur? Bei dem monatlichen Treffen der „VisiBIlity Austria“-Gruppe in Wien scheint das kein Thema zu sein. Die bi-Gruppe ist heterogen und groß. Zu jedem Treffen kommen zwanzig bis dreißig Leute und die Gruppe wächst. „Heute sind sechs oder sieben neue da. Dafür fehlen die alten Hasen“, schätzt ein Teilnehmer. „Die alten Hasen“ sind eine Handvoll bi-Personen, die im Sommer vor zwei Jahren „VisiBIlity“ gründeten. Das Ziel der Gruppe ist es „Netzwerk und Anlaufstelle für Bisexuelle und Pansexuelle in Österreich sowie deren Freund_innen/Angehörige/ Unterstützer_innen zu sein“. Beim Treffen sammeln die Anwesenden, „unabhängig von ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität“, Ideen für Locations für die Bi-Visibility-Day-Party, diskutieren Themen für zukünftige bi-Inputs und tauschen Lieblingsserien mit queeren Charakteren aus. Was etwas chaotisch daherkommt, ist aber auch flexibel und offen für Neues. Es gibt Picknicks, Wandertage und Spieleabende – aber auch eine gewisse Trägheit, Personen, die Deutsch als Zweitsprache sprechen, einzubinden. Die werden mit Snacks besänftigt. Dabei müssten bi-Personen nicht ruhig halten. Im Druck, der auf bi-Personen ausgeübt wird, indem sie als „unentschlossen“, „slutty“ oder „inexistent“ bezeichnet werden, zeigen sich indirekt gesellschaftliche Ängste. Gleichzeitig bedeutet dies, dass bi-Personen nicht nur das Potential haben, auf verschiedene Leute zu stehen; sie haben auch großes revolutionäres Potential. Wie Shiri Eisner schreibt: „While we address monosexism, biphobia, and bisexual erasure, we must also keep in mind that the very powers that oppress us also give us the crack through which to break the system.“

*Name von der Redaktion geändert

Marlene Brüggemann hat Philosophie an der Universität Wien studiert.

„Aus Hassrede wurden Hassverbrechen“

  • 29.11.2016, 14:26
Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder erzählt in ihrem Film „Trans X Istanbul“ über die Vertreibung von und die Gewalt gegenüber Trans*personen in Istanbul. Im Rahmen des Filmfestivals „Transition“ wurde der Film gezeigt. progress sprach mit der Filmemacherin.

Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder erzählt in ihrem Film „Trans X Istanbul“ über die Vertreibung von und die Gewalt gegenüber Trans*personen in Istanbul. Im Rahmen des Filmfestivals „Transition“ wurde der Film gezeigt. progress sprach mit der Filmemacherin.

Verbale Beschimpfungen. Gewaltvolle Übergriffe. Mord. Trans*frauen in Istanbul sind mit Hass und Vorurteilen konfrontiert. Morde von und Gewalt gegenüber Trans*frauen werden von der Polizei meist nicht untersucht. Die Filmemacherin und Aktivistin Maria Binder begleitete die in Istanbul lebende Trans*frau Ebru Kırancı in ihrem täglichen Kampf gegen eine transfeindliche Gesellschaft mit ihrer Kamera. Das Ergebnis: Trans X Istanbul – ein Film, der die Entwicklung von Hassrede zu gewaltvollen Taten bis hin zum Mord aufzeigt und dabei Verschränkungen von Politik, Gesellschaft und ökonomischen Interessen analysiert. Im Mittelpunkt des Films steht dabei die Rolle von Urbanisierungs- und Gentrifizierungsprozessen, die zur Vertreibung von Trans*frauen führen. Mittlerweile zählt auch Maria Binder zu den Unterstützer*innen des von Ebru Kırancı aufgebauten Trans*-Vereins „Istanbul LGBTT“. Ein Gespräch mit Maria Binder über die Situation von Trans*frauen in Istanbul und welche Rolle dabei die menschenverachtende Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan sowie die damit einhergehende eingeschüchterte Zivilgesellschaft spielt.

progress: Du greifst in deinen Filmen immer wieder das Thema Menschenrechte auf. In Trans X Istanbul geht es, wie der Name schon verrät, um die Rechte von Trans*frauen in Istanbul. Wie bist du auf das Thema gekommen?
Maria Binder: 2001 recherchierte ich zu Frauen in der Türkei, die verfolgt wurden, weil sie öffentlich darüber sprachen, dass sie vom Staat, also der Polizei, dem Militär vergewaltigt wurden. Im Zuge der Filmarbeiten, die ich gemeinsam mit Verena Franke gemacht habe, lernten wir die Trans*frau Hülya kennen. Sie hat als Sexarbeiterin in Istanbul gearbeitet, ist mehrfach entführt und vergewaltigt worden. In diesen Recherchen wurde uns klar, dass es Überschneidungen gibt, wie Unterdrückung von Frauen-, Trans*gender und LGBT*-Personen systematisch funktioniert. Wobei ich denke, dass es nochmal ein Unterschied zwischen Trans* und Gay gibt.

Kannst du darauf genauer eingehen?
Der Bildungshintergrund ist ein anderer. Outen sich Trans* gegenüber der Familie, ist das sichtbar. Oft verstößt die Familie Trans*personen, insbesondere Trans*frauen. Trans*frauen werden bei der Geburt männlich zugeordnet, was als das stärkere Geschlecht von der Gesellschaft gesehen wird und sie wählen dann das schwache Geschlecht. Patriarchal ist das als eine Art Entehrung der Männlichkeit definiert. Durch den Ausschluss von Trans*frauen aus der Familie, fällt die Schule weg. Es gibt einen Bruch in der Bildung. Wenn du keine Bildung hast, ist es schwierig einen Job zu finden. Und selbst wenn du Bildung hast, findest du als Trans*frau oft keinen anderen Job außer in der Sexarbeit. Schwule und Lesben haben diesen Knick in der Biographie meistens nicht so schnell. Das Coming-Out kann noch eher hinaus gezögert werden. Der Bildungsweg ist dadurch nicht so gebrochen.

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Kommen wir zurück zum Film: Im Film geht es unter anderem, um einen transfeindlichen Konflikt zwischen verschieden Hausparteien im Istanbuler Stadtteil Avcılar. Ebru spricht dabei immer wieder den Satz aus „Aber ihr ward doch Freund*innen“. Wie kann es sein, dass sich diese Freund*innenschaft in Transfeindlichkeitumgewandelt hat?
Da gab es ganz verschiedene Ebenen der Eskalation: Aus Hassrede (hate speech) wurden Hassverbrechen (hate crime). Allein die Hassrede hat dabei diverse Entwicklungen durchgemacht. Früher sind die Konfliktparteien tatsächlich zusammen gesessen, haben gemeinsam Tee getrunken. Hürriyet, die eine der Protagonist*innen des Kampfs gegen Trans* ist, hat vorher für eine Trans*frau Vorhänge gekauft und genäht. Dieser Häuserblock, um den es da geht, ist jetzt in einem Flächennutzungsplan. Als der Wert dieser Gegend stieg, hieß es, wir wollen keine Prostitution in unserem Haus. Obwohl schon davor klar war, dass hier Sexarbeiter*innen arbeiteten. Daraus wurde dann, wir wollen keine Trans*. Daraus wiederum wurde, wir haben die PKK besiegt, wir werden auch die Trans* besiegen. Die PKK ist aus deren Sicht eine Terrororganisation und wurde mit Waffen beschossen. Das heißt Trans* wurde mit Terror gleichgesetzt. Man sieht hier, wie sich Hasssprache entwickelt. Hass verstanden als systemischer und nicht als ein Gefühlsbegriff, wo verschiedene Mosaiksteine zusammen spielen und sich verschränken. Dadurch kann der Hass so eine Zugkraft entfalten. Da gehören Medien dazu, da gehört der Staat dazu. Und irgendwann kippt diese Stimmung. Die Personen, die gegen Trans* kämpfen, standen plötzlich jeden Samstag als demonstrierender Mob vor der Tür. Trans*personen wurden beim Arbeiten von Männergruppen mit Stöcken überfallen. Samen, eine alten Freund*in von Ebru, wurden Sofas vor ihrer Wohnungstür gestellt und angezündet, während sie in der Wohnung war. Ihr wurde auch in die Wohnung geschossen. Das ist Terror gegen Leib und Leben, aber auch Psychoterror. Dann kommt noch das Zusammenspiel mit der Polizei dazu, die nicht ermittelt. Stattdessen werden die Wohnungen der Trans*personen versiegelt, sie müssen ausziehen.

Du hast die Rolle der Medien angesprochen. Ebru kritisierte, dass selten über Morde an Trans*personen berichtet wird, die Gerichtsverhandlungen hinter verschlossenen Türen stattfinden. Welche Rolle spielen die Medien hier?
Viel kann ich dem nicht hinzufügen. Außer vielleicht, dass es sich nach dem Putsch erheblich verschärft hat. Es gab vorher zunehmend linke Medien, die darüber berichteten. Bis 2010 gab es eine Form von Boykott, das hat sich durch unsere Arbeit, durch die Trans*-Organisation geändert. Aber jetzt gibt es einen Rollback. Die Medien haben Angst zu berichten. Erdoğan sagte, dass sich diejenigen, die mit LGBT*-Organisationen zusammenarbeiten, schuldig machen, den Terror unterstützen.

International wird sehr wohl berichtet, dass Morde an Trans* in der Türkei zunehmen. Gibt es gar kein Bemühen von staatlicher Seite etwas zu ändern? Vor allem mit dem Hintergrund, dass die Türkei um den EU-Beitritt ansuchen will?
Vor den Wahlen, die Erdoğan wiederholen ließ, gab es Druck seitens der LGBT-Organisationen auf die Stadtverwaltungen. Es gab LGBT-freundliche Stellungnahmen vor der Wahl von der CHP und der HDP. Die Stadtverwaltungen von Beşiktaş, Kadıköy und Şişli haben uns geholfen: Anfang des Jahres ist unser Vereinssitz ausgebrannt. Die Stadtverwaltung von Beşiktaş hat uns das Geld gegeben, um den Verein wieder herrichten zu lassen. Danach hieß es von den Besitzern, dass sie uns nicht mehr haben wollen. Und warum? Weil sie es nun gewinnbringend vermieten konnten. Da verschränkt sich die Profit-Ebene mit der Politik, mit Erdoğan, der auffordert LGBT-Organisationen nicht zu unterstützen. Es ist so ähnlich wie in Cihangir. Das ist ein Istanbuler Stadtteil, der mit dem Prenzlauer Berg in Berlin verglichen werden kann. Eine Hochpreisgegend. Alles ist schick und cool, Künstler*innen sitzen rum. Vorher haben hier Trans* gewohnt, aber sie sind systematisch vertrieben worden. Das passiert überall nach dem gleichen Muster. Im Endeffekt ist das nicht typisch türkisch, sondern transkulturell: Wie jemand aufgrund eines äußeren Merkmals ausgegrenzt und das mit ökonomischen Interessen gekoppelt wird. Wenn es gleichzeitig eine starke Zivilgesellschaft gibt, dann wird das aufgefangen. Im Moment ist die Zivilgesellschaft in der Türkei aber so verängstigt, weil es diesen Mob auf der Straße gibt. Vor dem Putsch gab es politisch auch eine sehr breit aufgestellte Opposition. Durch die Kriminalisierung von der HDP ist aber einiges gebröckelt. Auf diese Form von Öffentlichkeit müsste man sich beziehen, aber die trauen sich nicht, weil die Hegemonie auf der Straße die Anderen haben. Wie auch nach der Trump-Wahl, wo sich so viele plötzlich ermuntert fühlen mit ihrer rechten Gesinnung in Wort und Tat in die Öffentlichkeit zu treten, sich wieder zu trauen. Das ist in der Türkei ganz ähnlich.

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Ebru wollte 2014 für die HDP Istanbul kandidieren. Das hat aber nicht geklappt. Wieso nicht?
Ebru war in der Vorwahl. Die Partei wählt dann diejenigen, die einen Listenplatz bekommen. Damals ist entschieden worden, dass keine Trans* auf eine Liste kommen soll. Stattdessen ist Barış Sulu, ein Freund von uns, auf die Liste in Eskişehir gewählt worden. Mittlerweile ist er im Exil in Berlin, weil er aufgrund seiner Kandidatur vom IS verfolgt worden ist. Im IS-Magazin wurde ein Bild veröffentlicht mit dem Aufruf zur Tötung. Im Nachhinein bin ich daher froh, dass es nicht geklappt hat. Ebru wäre heute vielleicht im Knast. Oder an einer Parteiveranstaltungen von der HDP, die immer wieder tätlich angegriffen werden, verletzt worden. Wenn man es positiv sehen will: Es war klug von der Partei, Ebru nicht noch zusätzlich zur Zielscheibe zu machen.

Ebru versucht bereits seit Jahren die türkische Gesellschaft zu verändern, natürlich insbesondere eine Besserstellung von Trans*personen zu erreichen. Hat sie in diesem Kampf auch Erfolge erreicht?
Ein großer Erfolg ist, dass wir ein Trans*-Haus für Geflüchtete aus dem Irak, dem Iran, aber vor allem aus Syrien aufbauen konnten. Das ist ausschließlich Community-finanziert und hält sich bereits vier Jahre lang. Mit Hilfe des holländischen Konsulats konnten wir auch ein Jahr lang Traumatherapie anbieten. Es fanden Workshops statt, die gleichzeitig die Funktion hatten, Gemeinschaftlichkeit zu erzeugen, weil plötzlich hast du nicht nur ein Sprachproblem, sondern Identität fängt wieder an eine Rolle zu spielen. Ein anderer Erfolg ist, dass wir Fortbildungsmaßnahmen in Form eines interaktiven Trainings für Lehrer*innen, Rechtsanwält*innen und Journalist*innen durchführen konnten.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Queere Refugees erzählen ihre Geschichte

  • 29.11.2016, 13:00
„Es gibt keine Sicherheit, keinen Schutz in Syrien... nicht einmal im Libanon. Es gibt keine Hoffnung. Alle Türen wurden in mein Gesicht geschlagen... auf jeden möglichen Weg. Ich wartete lange auf einen Hoffnungsschimmer von irgendjemanden. Oder auf jemanden der mir helfen könnte und meine sexuelle Orientierung versteht.... Aber ich wurde von der Gesellschaft zurückgewiesen.. von meinen Eltern... den Menschen... der ganzen Welt.“

„Es gibt keine Sicherheit, keinen Schutz in Syrien... nicht einmal im Libanon. Es gibt keine Hoffnung. Alle Türen wurden in mein Gesicht geschlagen... auf jeden möglichen Weg. Ich wartete lange auf einen Hoffnungsschimmer von irgendjemanden. Oder auf jemanden der mir helfen könnte und meine sexuelle Orientierung versteht.... Aber ich wurde von der Gesellschaft zurückgewiesen.. von meinen Eltern... den Menschen... der ganzen Welt.“

Knallroter Lippenstift ziert den Mund, der von dieser Hoffnungslosigkeit erzählt. Make-Up wird aufgetragen. Die Kinnpartie zittert. Im Kurzfilm „My refugee story“ erzählen LGBTIQ-Personen, die von Syrien in den Libanon flüchteten, ihre Geschichte. Sie erzählen davon, wie sie von ihrer Familie gezwungen wurden, sich auszuziehen, um der Gesellschaft zu zeigen, wie ihre Körper ausschauen. Sie erzählen, wie sie aufgrund ihrer Trans*-Identitäten von der Schule geschmissen wurden. Sie erzählen von Diskriminierungen, von Gewalterfahrungen, von Todesdrohungen, von Vergewaltigungen.

„My refugee story“ ist das Ergebnis von Workshops für geflohene LGBTIQ-Personen, die gemeinsam mit der Medienorganisation „One more Cup“ und der Initiative „Mosaic Mena“ durchgeführt wurden. Beide Organisationen setzen sich für marginalisierte Gruppen im Libanon ein. In beiden Gruppen ist der ägyptische Filmemacher und Aktivist Mohamed Nour Metwally tätig. progress erzählte er die Entstehung von „My refugee story“:

UNHCR arbeitet gemeinsam mit der Initiative „Mosaic“ an Projekten für LGBTIQ Flüchtlinge. Da kam die Idee auf. einen Film zu produzieren. Als ich zu UNHCR ging, um erste Schritte zu besprechen, fand ich mich plötzlich in einem Vortrag für LGBTIQ Flüchtlinge wieder. Ich begann mit den Personen zu sprechen, fragte sie, was sie machen wollen. Die Antwort: Wir müssen einen Film machen, weil wir von Übergriffen betroffen sind, wir müssen aufzeigen, wie sehr wir im Libanon leiden. Es ist jedoch nicht möglich, mit den Personen auf die Straße zu gehen und die Belästigungen zu zeigen. Als ich das erste Mal in den Libanon kam, sagten mir alle, ich darf keine Fotos machen. Durch die verschiedensten politischen Parteien, die teilweise stark verfeindet sind, ist das sehr schwierig im Libanon. Daher hatte ich die Idee einen Medienkompetenz-Workshop zu machen. Die Leute lernten so selber die Techniken zur Entwicklung eines Dokumentarfilms – vom Drehbuchschreiben, bis hin zu Regie und dem Schneiden. Wir begannen mit dem Schreiben von Geschichten. Wir sammelten diese Geschichten, wählten manche davon gemeinsam aus und an einem Tag drehten wir den Film.

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Das Ergebnis sind sehr intime Geschichten, die von verschiedenen Formen von Gewalt und Diskriminierung gegenüber LBGTIQ Flüchtlingen erzählen. Es sind Eindrücke, die auch vom UNHCR bestätigt werden. So sind laut dem UN-Flüchtlingshochkommissariat LGBTIQ Flüchtlinge mit Gewalt und sexuellem Missbrauch vonseiten der „refugee community“ ebenso konfrontiert wie von der eigenen Familie. Diskriminierung und Belästigungen gehen von staatlichen als auch von nicht-staatlichen Organisationen aus. Dies zeigt eine Studie, in der UNHCR weltweit 106 Asylbehörden im Zeitraum Juli 2014 bis Mai 2015 zum Thema queere Flüchtlinge befragte. Eines der Ergebnisse: Obwohl 64 Prozent der Behörden angaben, mindestens eine Maßnahme im Aufnahme- oder Registrierungsprozess zu haben, die sich speziell an LGBTIQ Personen richtet, berichten trotz dem Wissen um Diskriminierung und Gewalt gegenüber queeren Flüchtlingen nur 14 Prozent von der Einrichtung sicherer Schutzzonen. Zudem seien die Befragungen im Asylverfahren oft unsensibel, unangebracht. Der Film ist ein kleines Puzzlestück wie der letzte Punkt – zumindest im Libanon – geändert werden könnte, erzählt Metwally:
Im Libanon wurde der Film nicht öffentlich gezeigt. Er wird als Toolkit für Schulungen zu sexueller Orientierung und Genderidentitäten verwendet. Besucht werden diese Schulungen von Vertreter*innen verschiedener NGOS, von Sozialarbeiter*innen, Sachbearbeiter*innen – von allen, die mit queeren Refugees in Berührung kommen. Der Film wurde sehr gut aufgenommen, weil vielen dieser Personen ein persönlicher Zugang zu LGBTIQ Personen fehlt. Durch das Aufzeigen verschiedener Arten von Diskriminierung mit denen LGBTIQ Personen konfrontiert sind, erhalten sie erstmals Einblick in die Probleme und beginnen zu verstehen.

So hoffnungsvoll zeigt sich der Film jedoch nicht unbedingt. „Als ich mich endlich mit meiner Identität auseinander gesetzt und alles verarbeitet habe, traf ich nach wie vor auf Ablehnung und Zurückweisung von den Menschen, sie lehnten meine gesamte Existenz ab“, erzählt eine* der Protagonist*innen des Films. Das war der Punkt an dem sie die Hoffnung verlor – sowohl in Syrien als auch im Libanon.

Laut den Erfahrungen von Metwally gibt es trotzdem Unterschiede zwischen Syrien und dem Libanon, wenn es um LGBTIQ-Personen geht. Der Libanon sei offener. Stattdessen ist dort der Rassismus, insbesondere gegenüber Menschen aus Syrien ein großes Problem. „Es gibt einen Groll zwischen den beiden Ländern, weil Syrien den Libanon vor langer Zeit besetzte. Dadurch kommt eine Ebene des Rassismus gegenüber syrischen Flüchtlingen dazu“, erzählt Metwally. Die untragbare Situation für LGBTIQ-Personen in Syrien hat sich erst mit dem Krieg zum Schlechten gewandelt. Ob der Filmemacher und Aktivist an eine erneute Änderung in der MENA-Region (Middle East & North Afrikca) glaubt?

Ich denke, dass die Bildung diesbezüglich eine große Rolle spielt. Bevor ich in den Libanon kam, wusste ich nichts über Gender Studies. Als ich herkam, besuchte ich Schulungen zu Menschenrechten, zu sexuellen Orientierungen, zu Genderidentitäten. Ich lernte verschiedene Begriffe kennen. Ich lernte, dass es einen riesigen Unterschied zwischen Geschlecht und Sexualität gibt. So ging es auch vielen meiner Freund*innen, die von Algerien, von Tunesien oder auch vom Libanon nach Ägypten kamen, um Gender Studies zu studieren. All diese Personen und auch ich können ihre Gesellschaften, ihre Familien, durch das Wissen, das sie erlangt haben, positiv beeinflussen. Wenn man mit diesem Wissen spricht, kann man zu mehr Akzeptanz und Verständnis beitragen. Denn Stigma wird vom Nicht-Wissen produziert. Die Gesellschaft lehrt uns nur bestimmte Geschlechterrollen. Sie lehrt uns nicht, dass diese geändert werden können. Durch Bildung, durch das Sprechen über diese Dinge, beginnen die Menschen verschiedene Identitäten mehr zu akzeptieren.

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Derzeit ist es eines der Probleme noch die Unterbringung in den Zielländern. Viele der vom UNHCR befragten Behörden berichteten, dass die Akzeptanz von LGBTIQ-Personen in den Unterkünften niedrig sei, insbesondere in großen Camps. Auch Metwally kennt diese Problematik vom Libanon.
Es gibt kaum Personen, die in einer geeigneten Unterkunft wohnen. Hinzu kommt das Rassismus Problem im Libanon. Es gibt verschiedene Regionen, die unterschiedlich – je nach Religion – kategorisiert sind. Christ*innen werden getrennt, Muslim*innen werden getrennt und innerhalb der jeweiligen Regionen gibt es wieder Trennungen. Das heißt, auch LGBTIQ Flüchtlinge werden nach diesen Merkmalen untergebracht.

Er ist sich jedoch bewusst, dass es auch in Europa Aufholbedarf in der Unterbringung von queeren Flüchtlingen gibt:
Du kannst geflüchtete LGBTIQ Personen nicht in eine heterosexuelle Unterkunft geben. Viele der Personen kommen nach Europa und erwarten hier ein besseres Leben, erwarten Zugehörigkeit, „gay prides“, usw. Dann kommen sie in eine Flüchtlingsunterkunft und damit in eine Gesellschaft von der sie eigentlich flüchteten. Daher braucht es unbedingt individuelle Unterbringungsmöglichkeiten.

 

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Intergeschlechtlichkeit – Eine malträtierte und tabuisierte Vielfalt.

  • 22.06.2016, 11:17
Von der erdrückenden Unfreiheit des Zwei-Geschlechter-Systems.

Von der erdrückenden Unfreiheit des Zwei-Geschlechter-Systems.

Identität, Geschlecht und Sexualität sind weltweit ausschlaggebende Faktoren in allen Gesellschaften – Institutionen, Wissenschaften, Rechtsordnungen, Bildungssystem und Religionen sind darauf aufgebaut. Unsere gesellschaftliche Dichotomie lässt sich kinderleicht auf zwei corpora zusammenfassen und definieren. Auf der einen Seite haben wir die Frau und auf der anderen den Mann. Natürlich findet man immer wieder leichte definitorische Abweichungen, doch das sind die starren vorherrschenden Normen der Geschlechter und Geschlechtsidentitäten, die von unseren Gesetzbüchern wahrgenommen werden. Und das bei rund 7,39 Milliarden Menschen. Ich wiederhole: 7.390.000.000 Menschen. Diese triviale Sicht auf Körperlichkeit und Wahrnehmung spiegelt sich konzentriert auf juristischer, aber verstärkt auch auf medizinischer Ebene, was für zahlreiche Menschen, die nicht der Norm entsprechen, imponderables Leiden verursacht.

WAS IST INTERGESCHLECHTLICHKEIT? Intergeschlechtlichkeit ist ein Überbegriff für Menschen, deren körperliche Geschlechtsmerkmale die willkürlich gesetzten Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ überschreiten. Es kann sich hier um chromosomale, anatomische und/oder hormonelle Geschlechtsmerkmale handeln. Deswegen kann auch nicht von einem bestimmten intergeschlechtlichen Körper die Rede sein. Es gibt ihn einfach nicht: Diversität ist das Stichwort. Darüberhinaus kann auch nicht von einer Geschlechtsidentität gesprochen werden. Die meisten intergeschlechtlichen Menschen definieren sich als Mann oder Frau, viele aber auch als Inter*, Trans* oder anderes.

Intergeschlechtlichkeit wird manchmal bereits bei der Geburt eines Kindes festgestellt, manchmal in der Pubertät – wenn diese anders verläuft als erwartet, und manche erfahren davon, wenn ein unerfüllter Kinderwunsch besteht und nach einer medizinischen Lösung gesucht wird. Bei sehr viele Menschen bleiben intergeschlechtliche Merkmale ein ganzes Leben lang unbemerkt. Schätzungen gehen davon aus, dass 1,7 Prozent der Bevölkerung intergeschlechtlich ist, d. h. auf die derzeitige Weltbevölkerung berechnet kommen wir zu der Zahl von ca. 125.630.000 Menschen. Das sind 125.630.000 Gründe, das bestehende Zwei- Geschlechter-System zu beseitigen und ein Gesellschaftsmodell der Inklusion einzuführen.

Tobias Humer ist Obmann und Mitbegründer von VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich), Teil des unabhängigen Netzwerkes Plattform der Intersex Österreich ist. Tobias hat sich dazu bereit erklärt, seine Geschichte zu erzählen.

progress: Wie hast du über deine Intergeschlechtlichkeit erfahren und wie ist dein familiäres Umfeld damit umgegangen?
Tobias Humer: Meinen Eltern wurde sehr früh mitgeteilt, dass ich kein ,normales‘ Mädchen sei und dass meine Entwicklung beobachtet werden sollte. Sie waren deshalb einige Male bei Ärzt_innen und im Krankenhaus. Sie haben sich stets sehr unwohl gefühlt, weil ich ständig rumgereicht und von zahlreichen Mediziner_innen als Sensation betrachtet wurde. Ihnen wurde verordnet, jedes Jahr ins Krankenhaus zu gehen, doch sie entschieden sich dagegen, was eigentlich ziemlich gut war. Leider wurde meine Intergeschlechtlichkeit danach aber verschwiegen. Es wurde nie darüber geredet. Das Tabu war so stark, dass auch ich es nicht schaffte, darüber zu sprechen, obwohl ich mir meines „Anders-Seins“ recht früh bewusst war. In der Pubertät begann mein Körper dann, sich immer weiter von der weiblichen Norm zu entfernen und es wurde immer schwieriger für mich, nicht aufzufallen. Es gab niemand, mit dem ich darüber sprechen konnte und ich wusste auch von niemandem, di*er so war wie ich. So entschied ich mich mit vierzehn Jahren, mich umzubringen.

ALLES WAS ANDERS IST, IST KRANK. Inter* Menschen sind einer steten Pathologisierung und Stigmatisierung ausgesetzt, die irreversible Schäden mit sich bringen. Die Medizin klassifiziert diese Vielfalt als „Störung der Geschlechtsentwicklung“ (disorders of sex development, DSD) was sich gut in der Auflistung im ICD (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) niederschlägt, wo bis 1992 auch Homosexualität als Krankheit gelistet war. Je nachdem wie der Wissensstand der Mediziner_innen ist, werden die Eltern von zwischengeschlechtlichen Kindern aufgeklärt – ihnen wird aber fast immer geraten, sich für ein Geschlecht zu entscheiden. Ist die Entscheidung gefallen, wird zum Skalpell oder zu Hormonen gegriffen: Eine zu große Klitoris wird verkleinert, ein zu kleiner Penis vergrößert, künstliche Vaginas werden angelegt, Hormone oder Pubertätshemmer verabreicht und oft auch eine Kombinationen solcher Methoden angewandt. Die Liste ist lang. Die meisten Eingriffe, die bei zwischengeschlechtlichen Kindern und Jugendlichen durchgeführt werden, sind medizinisch nicht notwendig und somit rechtswidriger Natur, weil sie die Integrität und Autonomie des Kindes schädigen, doch unter dem Begriff „Heilbehandlungen“ stellen sie Ausnahmen dar. Diese Eingriffe ziehen in fast allen Fällen leidvolle und irreversible Konsequenzen nach sich, wie z.B. Zeugungsunfähigkeit (Sterilisation), lebenslange Abhängigkeit von künstlicher Hormontherapie, Sensibilitätsverlust, aber auch starke Traumata und Depressionen. Studien vergleichen die psychischen Folgen solcher Behandlungen mit denen von sexuellem Missbrauch und anderen schweren Misshandlungen. Dennoch ist dies auch in österreichischen OPRäumen gängige Praxis: alles unter dem Deckmantel der „Heilung“.

Welche Erfahrungen hast du mit Ärzt_innen gemacht?
Nach meinem Suizidversuch haben meine Eltern den Hausarzt gerufen, der mir eröffnet hat, dass es viele Menschen wie mich gibt und dass es ,eine Lösung‘ gibt für mein Problem – zwei Wochen später saß ich alleine vor einem Chirurgen, der mich fragte, ob ich ein Leben als Mann oder als Frau weiterführen möchte, wobei mir suggeriert wurde, dass es leichter wäre, eine Frau aus mir zu machen. Nochmal zwei Wochen später hatte ich eine kosmetische Genitaloperation hinter mir und kurz darauf war ich kastriert und bekam Östrogen. Alles ohne psychotherapeutische Unterstützung, ohne fundierte Aufklärung, und ohne mir zu erklären, dass ich auch so bleiben kann wie ich bin. Für ein paar Jahre habe ich dann versucht, diese Frau zu werden, die ich anscheinend sein sollte. Irgendwann wurde mir jedoch klar, dass sich das alles sehr falsch anfühlt. Mit 22 bin ich dann nach Berlin gezogen und hab dort das erste Mal in meinem Leben andere Inter* kennengelernt und begonnen, meine persönliche Geschichte in eine größere Geschichte einzuordnen. Eine Geschichte der Pathologisierung und Unsichtbarmachung von intergeschlechtlichen Menschen.

WIE KAM ES DAZU? Wenn wir einen Rückblick wagen, wie es historisch zu diesem krampfhaften Impuls der operativen Eingriffe gekommen ist, ist diese Entwicklung weniger rätselhaft als es scheint: Der amerikanische Psychologe und Sexologe John Money galt ab den 50ern bis in den 90er Jahre als wahre Instanz bezüglich Intergeschlechtlichkeit. Er setzte folgende drei Handlungsschritte für den Umgang mit normabweichenden Genitalien durch, die von der medizinischen Fachwelt, einhergehend mit der wachsenden Popularität der plastischen Chirurgie, aufgegriffen und angewendet worden sind: • die frühzeitige Geschlechtszuweisung, • die operative Angleichung in den ersten Lebensmonaten bis -jahren sowie • die Geheimhaltung der Diagnose, der Eingriffe und der Hormoneinnahmen. Gemäß der zynischen Aussage „it’s easier to dig a hole than to build a pole“ wurden Betroffene mehrheitlich in Mädchen „umfunktioniert“. Der Penis oder die Klitoris eines Kindes durfte nicht mehr als zwei Standardabweichungen von der Norm haben.

Hast du jemals versucht, die Ärzt_innen zu kontaktieren, die dich operiert und betreut haben?
„Ich habe den damals zuständigen Endokrinologen (Hormonspezialist) kontaktiert und mich mit ihm getroffen, und ihm auch klargemacht, wie unzufrieden ich mit der mir widerfahrenen Behandlung bin. Er reagierte darauf sehr respektvoll und zeigte sogar Reue – und überreichte mir dann fast meine gesamte Krankenakte, was wirklich selten ist. Oft fragen Inter*Personen nach ihren Akten und bekommen eine banale Ausrede wie „die Papiere sind leider bei einem Brand zerstört worden“. Als ich später meinen Personenstand ändern wollte, hat mir dieser Arzt dann auch einen Brief geschrieben, in dem er geschildert hatte, dass ich eigentlich ein Mann sei. Mit diesem Brief hatte ich am Standesamt in kürzester Zeit einen männlichen Eintrag – was mir klar vor Augen geführt hat, welche Definitionsmacht die Medizin hat."

HOFFNUNGSSCHIMMER. Wenn wir einen Blick über unseren Tellerrand wagen, findet man bisher zwar kaum Länder, die diese medizinische Praxis unterbinden, aber bereits viele, die zumindest im Personenstand mehr als nur zwei Geschlechter zulassen. In Australien und Neuseeland zum Beispiel ist der Passeintrag mit einem „dritten Geschlecht“ versehen, der mit einem „X“ gekennzeichnet ist. In Nepal dagegen wird dieser Eintrag mit einem „O“ festgehalten. Das „O“ steht hierbei für „others“ und das „X“ für zwischengeschlechtlich.

Im Dezember 2010 nahm sich der Deutsche Ethikrat der Debatte an und veröffentlichte eine 200-seitige Stellungnahme. Was die Politik daraus gemacht hat, ist eher problematisch. 2013 ist die Gesetzesnovelle des Personenstandsgesetzes in Kraft getreten. Sie besagt, dass die Angaben freigelassen werden müssen, wenn das Geschlecht des Neugeborenen nicht eindeutig männlich oder weiblich ist, was einem Zwangsouting gleichkommt und die Eltern erst recht unter Druck setzt. Zusätzlich würde man Inter*Personen alles andere als gleichgestellt sehen, da sie nach dieser Novelle als geschlechtslos dargestellt werden. Als wahrlich avantgardistisch zeigte sich jedoch Malta. Im April 2015 wurde das „Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics Act 2015“ in Kraft gesetzt. Dieses Gesetz manifestiert die juristische Anerkennung von Trans*- und Inter*Personen und schützt sie umfassend vor Diskriminierung. Darüber hinaus ist Malta das erste Land, welches medizinische Eingriffe bei zwischengeschlechtlichen Säuglingen kriminalisiert.

Was hältst du von den letzten juristischen Veränderungen?
Dass der Deutsche Ethikrat sich der Sache angenommen hat, war grunsätzlich gut. So wie es jedoch die deutsche Politik umgesetzt hat, ist der Schuss nach hinten losgegangen. Wir als VIMÖ begrüßen allerdings das neue maltesische Gesetz und arbeiten daran, dass Ähnliches bald auch in Österreich passiert. Das Gesetz stützt sich auf drei Säulen: Erstens wurden geschlechtsverändernde Eingriffe bei Kindern und Jugendlichen verboten. Zweitens gibt es neben männlich und weiblich nun eine dritte Option für den Geschlechtseintrag, und dieser ist leicht und unbürokratisch zu ändern. Und drittens wurde das Antidiskriminierungsgesetz ausgeweitet, sodass auch Inter*Personen ganz klar vor Diskriminierung geschützt sind. Was in Malta in Kraft getreten ist, ist eine wahre Revolution.

Interview mit Tobias Humer von VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich)
vimoe.at
plattform-intersex.at

Carmela Migliozzi studiert Deutsch und Italienisch auf Lehramt an der Universität Wien.

Dünne Dialoge

  • 18.06.2016, 13:54
OMG, eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition!

OMG eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition! Die deutsche Illustratorin Sarah Barczyk erhielt 2014 das Egmont-Comic-Stipendium und zeichnete die Geschichte von Kai, der trans ist. Ganz ohne Probleme kommt die Geschichte aber nicht aus: Kais Eltern sind vorerst uneinsichtig und dann verliert er auch noch eine Freundin. Trotz Kais Unbeirrtheit, sind es die Momente des Zweifels, die den Charakter erst persönlich machen: der ersten Besuch beim Therapeuten („Aber was, wenn er sagt, ich sei psychisch krank“), der eigenen dicken Körper („Warum sind die ganzen Transmänner immer sportlich oder schlank?“), die Wahl der passenden Umkleide („Mh. Umkleide…Oje, da hab ich noch gar nicht dran gedacht.“).

Leider ist das aber schon alles, was den_die Leser_in am Charakter fesselt. Die abgehackten Dialoge wirken eher wie schlechte Übersetzungen, denn wie authentische Gespräche. Auch inhaltlich stellt sich bald heraus, dass ein kritischer Ansatz mit Geschlecht umzugehen keine Rolle in „Nenn mich Kai“ spielt. Was für Kai zählt, ist so gut wie möglich als „echter“ Kerl durchzugehen. Da gehört auch das richtige Bro-Verhalten in Männergruppen und Mackertum (gegenüber Frauen_) dazu. Und wer weiß besser wie das funktioniert als Kais Freund, der Cis-Mann Marko. Er zeigt Kai wie Mann-Sein geht: „Du gehst viel zu feminin. So geht das! Schön O-Beine machen und locker schwingen!“ Ähm, ok?

Im Vordergrund der Graphic Novel steht das Bedürfnis einen programmatisch-geraden Weg darzustellen dessen Anfang in Barczyks Zeichnungen symbolisch platt im Flowerfresh-Deo-noch-sanfter liegt und mit einem 48-Men-Power-Deo endet. So klar wie die Geschlechterrollen in „Nenn mich Kai“ verteilt sind, so geradlinig ist auch Barczyks Zeichenstil in Schwarz-Weiß: Für Schattierungen, Grautöne und das Dunkel der Tiefen bleibt wenig bis kein Platz. Im Missy Magazin-Interview erklärt Barczyk ihre Zielgruppe seien eher unwissende Cis-Personen, wie sie bis vor Kurzem selbst eine war. Was als eine noble Idee daherkommt, ist in der Ausführung leider nur ein oberflächlicher Cis-Blick auf Transition und Geschlechterstereotypen geworden. Das Stipendium zu dem Thema wäre bei einer Trans-Person wohl besser aufgehoben gewesen.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Sarah Barczyk: Nenn mich Kai
Egmont Graphic Novel
80 Seiten
15,50 Euro

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

­Coming Out in der Schule?!

  • 25.05.2016, 23:44
Nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für Lehrer*innen ist die Frage nach der sexuellen Orientierung bzw. Identität ein Thema am Arbeitsplatz Schule.

Nicht nur für Schüler*innen, sondern auch für Lehrer*innen ist die Frage nach der sexuellen Orientierung bzw. Identität ein Thema am Arbeitsplatz Schule.

Lesbischen, schwulen, bisexuellen und queeren Lehrer*innen und anderen Bildungsarbeiter*innen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, werden nach wie vor große Vorbehalte entgegengebracht. Obwohl die rechtliche Situation eine einigermaßen große Sicherheit bietet, Beratungsstellen bei Problemen und Mobbingfällen bereitstehen, sind offen queere Lehrer*innen nach wie vor die Ausnahme. Es ist ein Widerspruch, dass es einerseits Projekte für Schüler*innen zu nicht-heteronormativen Lebensweisen gibt, die nicht-hetero oder cissexuelle Lehrkraft in punkto Sichtbarkeit jedoch die große Ausnahme darstellt.

Die Tabuisierung dieser Themen führt auf mehreren Ebenen zu Problemen. Erstens trifft sie Kinder und Jugendliche, die sich in ihrer geschlechtlichen Entwicklung nicht mit den vorhandenen Normen identifizieren, denn sie bleiben mit ihren Fragen und Positionen allein. Nicht selten hat dieses Orientierungsvakuum negative Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung der Heranwachsenden. Zweitens bedeutet eine Tabuisierung nicht-heteronormativer Lebensweisen die Vielfalt gesellschaftlicher Wirklichkeit nicht kennen zu lernen und in Folge keinen selbstsicheren Umgang damit zu finden. Verständnis für Differenzen und Anerkennung der realen gesellschaftlichen Diversität wären Teile des staatlichen Bildungsauftrags.

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Schließlich kann die genannte Tabuisierung zu einer erheblichen Belastung von Lehrkräften selbst führen, die homo-, bi-, trans- oder intersexuell leben. Das Coming Out ist nicht nur für Schüler*innen einfacher, wenn sie Unterstützungsstrukturen, Austauschmöglichkeiten und role models zur Verfügung haben. Auch für Eltern, aber vor allem für Lehrer*innen sowie angehende Pädagog*innen ist dies der Fall.

Deshalb wurde in Wien die offene Gruppe „EDUqueer. LGBTIQ Lehrpersonen in Österreich“ gegründet. Im Rahmen der monatlichen Treffen sind einerseits Austausch über Erfahrungen und Strategien möglich, andererseits auch politische Bewusstseinsbildung – etwa im Sinne der Selbstermächtigung.

Die Treffen finden jeweils am dritten Dienstag im Monat um 18 Uhr im Gruppenraum der Türkis Rosa Lila Villa (6., Linke Wienzeile 102, 1. Stock) statt.

Die nächsten Termine vor der Sommerpause sind der 17. Mai und der 28. Juni 2016. Weitere Informationen und Kontaktmöglichkeiten gibt es auf unserer Facebookseite und auf unserer Homepage: www.eduqueer.at