Kommentar

Sichtbar, greifbar - die neue ÖH

  • 13.07.2012, 18:18

Es ist wieder da – das Progress, das Magazin der ÖH-Bundesvertretung. Zwar in kleinerem Format, dafür aber wieder vollgepackt mit Geschichten, die es sich zu lesen lohnt. Der Relaunch hat einen Grund – die ÖH-Exekutive hat gewechselt und wird über das Progress hinaus viele Änderungen in der ÖH-Arbeit liefern.

Es ist wieder da – das Progress, das Magazin der ÖH-Bundesvertretung. Zwar in kleinerem Format, dafür aber wieder vollgepackt mit Geschichten, die es sich zu lesen lohnt. Der Relaunch hat einen Grund – die ÖH-Exekutive hat gewechselt und wird über das Progress hinaus viele Änderungen in der ÖH-Arbeit liefern.

Politik, die wirkt. Service, das hilft. Service ist eine zentrale Aufgabe der ÖH. Beratung, Unterstützung, Rechtsschutz – all das werden wir euch in Zukunft noch besser bieten. Service allein genügt aber nicht, um die Situation der Studierenden langfristig zu verbessern. Deshalb müssen wir verstärkt versuchen, den Anliegen der Studierenden politisches Gehör zu verschaffen. Wir haben uns für die zwei Jahre Exekutiv-Arbeit in der ÖH-Bundesvertretung das Ziel gesetzt, die ÖH wieder sichtbar und greifbar zu machen. Wir wollen besser über unsere Arbeit informieren, und auch darüber, was auf der ÖH passiert und woran wir gerade arbeiten. Besonders wichtig ist uns, die Möglichkeit auszubauen, dass Ihr euch in Zukunft stärker in unsere Arbeit einbringen könnt – mit Ideen, Wünschen, Problemen und vielem anderen. Deshalb gibt es jetzt auch erstmals einen ÖH-Blog unter http://blog.oeh.ac.at.
Vor der Sommerpause hat die Bundesregierung noch schnell eine Änderung des Universitätsgesetzes durchgedrückt – dessen Folgen eine sehr fragwürdige Studieneingangsphase und Zugangsbeschränkungen beim Masterstudium sind. Beides muss aber noch im Senat der einzelnen Universitäten beschlossen werden – wir werden unser Bestes geben, um das Schlimmste zu verhindern.
Aktuell arbeiten wir gerade daran, dass in das Fachhochschulstudiengesetz endlich vernünftige studienrechtliche Bestimmungen aufgenommen werden – FH Studierende bewegen sich im Moment noch weitestgehend im rechtsfreien Raum, was Prüfungsrecht und Mitbestimmungsmöglichkeiten betrifft. Hier braucht es dringend Verbesserungen.

Was ist aus den Protesten zu lernen?

  • 13.07.2012, 18:18

Die Proteste der Studierenden weisen in die Zukunft, weil sie vorzeigen, was „Eigenverantwortung“ heißt; allerdings nicht im neoliberalen Sinn, dass jeder und jede für die eigene Pension vorsorgt oder eine private Krankenversicherung abschließt, sondern im besten „liberalen“ Sinn

Die Proteste der Studierenden weisen in die Zukunft, weil sie vorzeigen, was „Eigenverantwortung“ heißt; allerdings nicht im neoliberalen Sinn, dass jeder und jede für die eigene Pension vorsorgt oder eine private Krankenversicherung abschließt, sondern im besten „liberalen“ Sinn: Ein Kollektiv setzt sich für die eigenen Rechte ein und bedient damit gleichzeitig das Gemeinwohl. Denn freie, offene und chancengleiche Unis sind ein Lebenselixier der Demokratie. Das Hoffnungsmachende ist, dass die Studierenden dieses Lebenselixier nicht nur von den Verantwortlichen einfordern, sondern auch gleich selbst brauen: durch Selbstorganisation, Selbstgestaltung und Selbstumsetzung. Eigenverantwortung im besten Sinne.
Daran könnten nicht nur, sondern sollten sich auch andere gesellschaftliche Gruppen ein Beispiel nehmen: In den Schulen sollten Lernende und Lehrende die Schulen nach dem Geschmack der Lerngemeinschaft selbst gestalten, nicht nach dem Geschmack von BildungspolitikerInnen und SpitzenbeamtInnen. Die Bahn sollte von den Reisenden und den ÖBB-Bediensteten selbst organisiert werden, nicht von Proporzmanagern auf Versorgungsposten. Die Banken sollten ebenfalls von den BürgerInnen übernommen und – wie einst Raiffeisen – als Selbsthilfe organisiert werden.
Natürlich sollten Protest und Alternativen nicht dauerhaft im rechtsfreien Raum stattfinden, sondern sich den entsprechenden Rechtsrahmen ebenfalls aneignen. Ein möglicher Weg dorthin: Ein direkt gewählter Bildungskonvent könnte die Werte, Ziele und Finanzierung der Universitäten und Schulen neu festlegen und Mitbestimmung als universalen Wert und materielles Recht verankern. Analog könnten weitere Konvente für die Bahn, die Banken oder die gesamte Wirtschaft tagen.
Hätte der Souverän das grundlegendste aller Rechte: selbst Gesetze zu beschließen, dann bräuchte es weder Protest noch Besetzung, denn dann könnten wir – als Souverän – die Bildungspolitik selbst machen. Es ist der Gesellschaft zu wünschen, dass die Proteste zu dieser höheren Form demokratischer Freiheit führen.

Geduldig in die neue Zeit

  • 13.07.2012, 18:18

Sind die Jungen in Österreich – Studenten, Schüler und alle anderen – schuld an der bedrohlichen Situation am Medienmarkt und damit an der Gefährdung der Demokratie in der Zukunft? Wenn man den jüngsten Äußerungen des erfahrenen Journalisten Heinz Nußbaumer glauben möchte, dann wäre das so. Er sieht nämlich die aktuellen Probleme des Journalismus langfristig als solche der Demokratie generell.

Sind die Jungen in Österreich – Studenten, Schüler und alle anderen – schuld an der bedrohlichen Situation am Medienmarkt und damit an der Gefährdung der Demokratie in der Zukunft? Wenn man den jüngsten Äußerungen des erfahrenen Journalisten Heinz Nußbaumer glauben möchte, dann wäre das so. Er sieht nämlich die aktuellen Probleme des Journalismus langfristig als solche der Demokratie generell. Was aber sollten die Jungen damit zu tun haben?
Die  Argumentationskette der Antwort verläuft so: Wenn Junge nur mehr Gratiszeitungen konsumieren und sich im Internet herumtreiben, entziehen sie langfristig jenen Medien die wirtschaftliche Grundlage, deren Aufgabe es wäre, viel Geld in kritischen Journalismus als Korrektiv unerwünschter Entwicklungen im demokratischen Gefüge zu investieren. Schließlich lamentieren eben diese Medien seit geraumer Zeit über den wirtschaftlichen Schaden, der ihnen durch Gratisprodukte und das Web entstehe und begründen ihre verschiedenen Spar- und Einsparprogramme damit.
Tatsache ist,  dass Nußbaumer recht hat, weil keine gefestigte Demokratie auf der Welt ohne kritische Medien abgesichtert werden kann. Tatsache ist aber auch, dass sich in Österreich seit ungefähr zehn Jahren – also ab einem Zeitraum, der außerhalb des Erinnerungsvermögens der meisten Studenten liegt – so etwas wie eine Interessensgemeinschaft zwischen Politik und Medieninhabern zur Zurückdrängung des kritischen Journalismus etabliert hat.
Politiker wollen es möglichst unkritisch, Verleger wollen es möglichst billig, eben weil ihre wirtschaftliche Situation unter Druck des Internet geraten ist. Die meisten von ihnen glauben, sich investigativen Journalismus, weil zu teuer, nicht mehr leisten zu können. Das alles geschah unter kräftiger Beihilfe der Gewerkschaft, die Umbrüche im Mediengeschehen einfach verschlafen und nicht rechtzeitig mit einer Änderung des Kollektivvertrages reagiert haben, der nur Privilegien aus einer ganz anderen Medienwelt absichert, den jungen Journalisten in Wahrheit aber nur Nachteile bringt.
Weil Verleger sich auf eben diese unzeitgemäßen Privilegien nicht mehr einlassen wollen, verweigern sie den Jungjournalisten die Anstellung und somit die Absicherung, die aber wiederum Voraussetzung für den Mut zur Kritik, zur demokratiepolitischen Wachsamkeit und zum Unbequemen ist.
Den Jungjournalisten ist der geringste Vorwurf zu machen. Sie versuchen nur, in einer Medienwelt zurecht zu kommen und Fuß zu fassen, die ihnen zwar eine Quantität an Zeilenproduktion, aber keine Qualität in Kompetenz und Sachkenntnis abverlangt. Die Zeit für Recherche, Vorbedingung für kritische Auseinandersetzung mit Ereignissen und Entwicklungen, wird nicht honoriert und daher auch nicht aufgebracht.
Weil es unter den genannten Bedingungen für viele junge Journalisten aber eben um das materielle Überleben geht, werden in den meisten Fällen demokratiepolitische und ethische Überlegungen zurück- oder gar verdrängt. Wenn Medieneigentümer und Medienmanager aus den verschiedensten Gründen –einige davon aus Rücksicht auf die Politik und ihre Vertreter – an investigativen Journalismus gar nicht mehr interessiert sind, werden die jungen Journalisten nicht darauf bestehen können oder wollen.
In die Pflicht sind Politik, Verlage und eben auch die Journalistengewerkschaft zu nehmen. Sie handeln seit Jahren demokratiepolitisch extrem fahrlässig und kurzsichtig.  Der Einheitsbrei mancher Nachrichtenproduktionen kann auf Dauer keine wirtschaftliche Absicherung der Produkte sein.  Politiker, die heute über den Mangel an kritischer Betrachtung ihrer Arbeit jubeln, werden ihn morgen, wenn andere an der Macht sein werden, beklagen.  Die Funktionäre der Gewerkschaft versündigen sich an der nächsten Journalisten-Generation.
Schon zeichnet sich in den angelsächsischen Ländern trotz einer viel brutaleren Medienlandschaft eine Gegenbewegung ab. Sie wird mit einiger Verspätung Österreich erreichen. Darauf sollten sich junge Journalisten vorbereiten. Dafür sollten sie mit Kompetenz und Sachkenntnis gewappnet sein. Das könnte dann ihre Zeit werden. 

Ablenkungsmanöver

  • 13.07.2012, 18:18

Wer den protestierenden Studierenden einmal wirklich zuhört, wird schnell merken, dass die Diskussion über Beschränkungen des Hochschulzuganges lediglich ein Ablenkungsmanöver ist.

Wer den protestierenden Studierenden einmal wirklich zuhört, wird schnell merken, dass die Diskussion über Beschränkungen des Hochschulzuganges lediglich ein Ablenkungsmanöver ist. Es ist der Versuch, den Streik der Studierenden zu entpolitisieren und ihn um seine wichtigsten Inhalte zu bringen: nämlich um die Kritik an der Bologna-Reform und am Universitätsgesetz (UG) 2002. Die Studierenden streiken für ein Studium, das allen einen selbständigen Wissenserwerb in der Auseinandersetzung mit Forschung ermöglicht. Darüber hinaus soll es eine Universität geben, in der die Entscheidungen wieder bei denjenigen liegen, die etwas von der Sache verstehen, nämlich Studierende und Lehrende.
Der Zorn der Studierenden hat sich angesichts der drohenden Einführung der sogenannten „Bologna-Struktur“ entzündet, das heißt eines in die Stufen „Bachelor“ und „Master“ zweigeteilten Studiensystems. Diese Einführung würde aufgrund der aktuellen Unterfinanzierung der Universitäten dazu führen, dass ein Zweiklassensystem der Bildung entsteht: mit einem billigen, stumpfsinnig verschulten Bachelor-Teil für viele und einem teuren Master-Teil für wenige, zahlungskräftige Menschen.
Weiters hat die Studierenden empört, dass sich die durch das Universitätsgesetz 2002 eingeführte, so genannte „Vollrechtsfähigkeit“ der Universitäten in der aktuellen Praxis so darstellt, dass das Ministerium den Universitäten bei den wichtigsten Entscheidungen massiv hineinregiert. Bei der Finanzierung werden die Universitäten allerdings im Regen stehen gelassen. Überdies richtet sich der Streik gegen die Tatsache, dass das UG 2002 und das Universitätsorganisationsgesetz 1993 fast jede Form der universitätsinternen Beratung und Entscheidungsfindung abgeschafft haben. Stattdessen entsteht eine straffe Befehlskette mit wirkungsvoll schwach gehaltenen Gliedern. Einzelne EntscheidungsträgerInnen, wie beispielsweise der oder die RektorIn, sind mit zu viel Macht ausgestattet, um sie überhaupt tragen zu können.
Die Reformen des letzten Jahrzehnts haben eine Unterwerfung von Forschung und Lehre unter die Kriterien der Bürokratie bewirkt. 

Der Gegenstand Lernen

  • 13.07.2012, 18:18

Ohne weiteres kann ich eine Reihe von klugen und einverständigen Bemerkungen zum Lernen machen.

Ein Gastkommentar.

Ohne weiteres kann ich eine Reihe von klugen und einverständigen Bemerkungen zum Lernen machen. Dass es nützlich ist und notwendig, dass es Spaß machen kann und Mühe bereiten, dass es lebenslänglich geschieht, dass es allgemein menschlich ist, dass aber auch Tiere selbstverständlich in der Lage sind zu lernen… Solche Sätze stehen um mich wie ein gepflegter Garten, in dem ich auf eigens dafür angelegten Wegen gehe, ohne dass ich etwas zertrete, mich etwas mit Dornen ergreift und verletzt. Ich bin unangefochten.
Dabei löst das Wort Lernen, wenn ich es nur nah genug an mich heranlasse, ein tiefes Unbehagen aus. Es heftet sich an Erinnerungen von Befehl und versuchtem Gehorsam, von Versagen und Unlust, von Schuld. Im Schacht meines Gedächtnisses sind unter dem Namen Lernen vornehmlich Erlebnisse abgelegt, in denen es mir gerade nicht gelang zu lernen, was ich sollte oder wollte. Erinnerung an Unvermögen, Verweigerung, Blockade.

Lernen als Tätigkeit. Ist Lernen also etwas, das nur sprechbar und erkennbar wird im Moment, in dem ein geplantes Ziel nicht erreicht wird, in dem eigene Strategien und Mühe entfaltet werden müssen, und das daher benennbar und erinnerbar ist zunächst als Negativerlebnis, als misslingendes Lernen.
Ich kann das nicht glauben. Ich weiß von Neugier und Lernlust. Also muss es doch in der Erinnerung, wie verschüttet auch immer, gelingende, positive Lernerlebnisse geben. Aber warum solche Vergrabung? Warum diese Unlustbesetzung des Wortes Lernen in eigener Erinnerung bei gleichzeitigem Wissen, dass Lernen gesellschaftlich zu den positiven, anerkannten, guten Tätigkeiten gehört?
Vielleicht ist es sinnvoll, von Lernen nur in Zusammenhängen zu sprechen, in denen für die Bewältigung bestimmter Praxen eigene Schritte gegangen werden müssen, Strategien ergriffen, Fähigkeiten bewusst erlangt werden– und die Hoffnung, es gäbe so etwas wie lustvolles glückliches Lernen dem Reich der Wunschphantasien zuzuschreiben? Lernen wäre demnach an Training gebunden und es gälte, erfolgreiche Programme zu entwerfen und existierende ständig zu verbessern, um den größtmöglichen Lernerfolg zu erzielen? Fähigkeiten müssen durch harte Übung erlangt werden, der Weg ist steinig, das Gehen nur durch äußeren oder/und inneren Zwang möglich. Es ist günstig, in sehr jungem Alter damit anzufangen, wenn die Menschen noch biegsam sind. »Früh krümmt sich, was ein Häkchen werden will.« Alles, was man durch freudiges Tun gleichsam im Fluge erlernt, wäre dann für eine Theorie des Lernens und entsprechende Pädagogik ebenso wenig von Interesse wie die schleichende Ein- und Unterordnung, die das Leben in herrschender Gesellschaft erbringt?
Ich bin nicht überzeugt. Aber es irritiert mich, dass mir immer weiter negative Lernerlebnisse einfallen, bis zu einem gewissen Grade zumindest, und dann der eigentliche Lernschub wie ausgelöscht ist, sodass ich aus ihm wiederum nichts lernen kann.
Ich nehme ein Beispiel aus höherem Alter, sodass kindliche Unlust und womöglicher Unwille, die Fähigkeit hier und jetzt sich anzueignen, keine Rolle spielen können, sondern ich davon ausgehen kann, dass ich als rationales Subjekt lernen wollte.

Die Frage. Die Erinnerung ist wie ein Alptraum. Ich sitze in einem Seminar. Wie selbstverständlich ist meine Hauptkraft darauf gerichtet, nicht aufzufallen und doch aufzufallen. Es darf niemand merken, dass ich rein gar nichts weiß, kaum etwas verstehe, schon gar nicht, wozu ich es verstehen sollte, dass ich die Texte nicht durchdringend gelesen habe, nicht lesen konnte, weil sie mir nichts sagten und anderes mir mehr. Auch sitze ich hier in einem Hauptseminar, obwohl dies erst mein drittes Semester ist, weil es mir gelungen war, den Eindruck zu vermitteln, sehr klug zu sein und strebsam. Das scheint mir mit einem Mal kein so großer Erfolg mehr zu sein, sondern eine selbst gestellte Falle. Ich schreibe in jedem Semester wenigstens vier Referate und bin also fleißig, habe aber mehr und mehr den Eindruck, hauptsächlich eine Inszenierung zu betreiben, nichts wirklich zu sein und also vergeblich den Versuch zu machen, Lernbissen zu ergattern. Fieberhaft überlege ich, was ich fragen könnte. Dies scheint die hauptsächliche Erwartung zu sein, dass die Studenten Fragen stellen und so Verständnis, Wissensdurst, Interesse zeigen. Es muss mir einfach eine Frage einfallen, bevor ich plötzlich an die Reihe komme, in den Mittelpunkt rücke und jedermann sieht, dass ich nichts zu fragen weiß. Um mich herum sitzen die Studenten, es sind fast alles Männer, und daher wundere ich mich nicht, dass sie eifrig und fähig aussehen. Sie sitzen also gespannt wie Bögen und stellen Frage auf Frage: Schon gibt es eine lange Liste der Fragenwollenden, und wenn ich mich nicht jetzt melde, komme ich in dieser Sitzung überhaupt nicht mehr dran. Jede Studentenfrage ist eingebettet in einen Urstrom an Wissen. Querverweise, Namen, Bezüge – wenn mir doch auch bloß eine so intelligente Frage einfallen würde. Mein Gesicht fühlt sich von innen an, als sei es außen rot vor Anstrengung, meine Hände sind schweißnass– der Rest meines Körpers ist verschwunden, da keimt in mir eine Fragemöglichkeit.
Es ist nicht meine Frage – um zu fragen, verstehe ich zu wenig –, es ist eine mögliche Frage in diesem hochintelligenten Raum. Ich melde mich, bin die Achte auf der Liste und begebe mich in die schreckliche Zeit des gespannten Wartens, der Hoffnung, ich möge gar nicht mehr drankommen, der Gewissheit, dass es jetzt unvermeidlich ist. Ich forme elegante und gelehrte Sätze in meinem Kopf, fange immer wieder von vorn an, bis die Frage– sie ist beileibe nicht lang– jene unverwechselbare Gestalt erhält, unerhört wichtig zu klingen, klug und gelehrt, und doch sich nicht als eine zu verraten, die von mir gar nicht ausgeht, nicht auf Antwort drängt, sondern die nichts vorhat, als im Raume zu stehen und auf mich als ihre Urheberin zu verweisen und solcherart ein glänzendes Licht auf mich zu werfen, allgemeine Anerkennung, einverständiges Nicken: bedeutend. Der Punkt, an dem ich einsetzen muss, rückt näher. Immerhin ist es eine Diskussion und ich habe schon geraume Zeit überhaupt nicht mehr zugehört, worum es geht. So weiß ich, als ich endlich aufgerufen werde, nicht, ob die Frage überhaupt noch sinnvoll in den Raum passt, und ausgerechnet jetzt muss ich daran denken, damit überhaupt an Sinn und Bedeutung der Frage, und beginne zu stottern. Die auswendig gelernten wohlgeformten Sätze haben meinen Kopf verlassen. In die Leere und allgemeine Stille hinein sage ich irgendetwas und lehne mich wieder zurück, jetzt erst bemerkend, dass ich mich angespannt ganz nach vorne gebeugt hatte, und bin verzweifelt enttäuscht, dass meine Frage, die ich nicht mehr weiß, von niemandem aufgenommen und beantwortet wird. Die ganze Anstrengung war umsonst.

Privilegierte Möglichkeit. Wieder eine Lernsituation aus einem institutionellen Raum, wieder eine Erinnerung an Unsicherheit, Vergeblichkeit, jetzt Täuschung, an den Versuch, sich in die Welt zu begeben, wie es erwartet wird, aber kaum eine Erinnerung an Neugier, an die Lust des Lernens, gar an das Studium als eine privilegierte Möglichkeit, Welt zu erkunden. Vor allem heftet sich Erinnerung wieder an Leid, an Unvermögen, an Misslingen. Wie von ungefähr mischen sich in die Erinnerung Kritik an der Lernsituation, Spott über womöglich leere Worte, Bedeutung produzierende Anordnung, die anderen Studenten– jedoch bleiben dies bloße Gesten, da in der Erinnerung kein eigenes Wollen, keine tatsächliche Frage, kein Wissenszuwachs verzeichnet ist. Lernen scheint eingeklemmt zwischen individuellem Wollen, das sich aber noch nicht kennt, und gesellschaftlicher Institution, deren objektiver Sinn verschlossen bleibt, ein Ausflug in eine unerkennbare Fremde.

Auszug aus meinem Buch Lernverhältnisse. Selbstbewegungen und Selbstblockierungen, Hamburg 2003, 2.A 2007

Frigga Haug, Dr. phil. Habil. Ist Vorsitzende des Berliner Instituts für kritische Theorie.

Auf einen heißen Sommer folgt ein heißer Herbst

  • 13.07.2012, 18:18

Die österreichischen Hochschulen stehen kurz vor dem Kollaps, die Situation hat sich in den letzten Monaten noch einmal verschärft. Wissenschaftsministerin Karl zeigt keine Motivation gegen Parteifreund und Finanzminister Pröll antreten zu wollen und mehr Mittel aus dem Bundesbudget zu erstreiten. Im Gegenteil.

Die österreichischen Hochschulen stehen kurz vor dem Kollaps, die Situation hat sich in den letzten Monaten noch einmal verschärft. Wissenschaftsministerin Karl zeigt keine Motivation gegen Parteifreund und Finanzminister Pröll antreten zu wollen und mehr Mittel aus dem Bundesbudget zu erstreiten. Im Gegenteil: Karl richtet ihre Energie gegen uns Studierende mit der erneuten Forderung nach Studiengebühren und droht den Universitäten mit Schließungen und Personalabbau. Wenn Karl nicht bald beginnt ihr Amt auszufüllen und sich in den Budgetverhandlungen durchsetzt, ist das Schlimmste zu erwarten. Seit dem letzten Jahr hat sich also nichts zum Besseren gewendet. In einer ersten Aktion im September, hat die ÖH-Bundesvertretung gemeinsam mit der unibrennt-Bewegung im Rahmen der Kundgebung machen-wir-uns-stark ein erstes Zeichen gesetzt – schon vor dem Semesterbeginn gingen Studierende auf die Straße und forderten lautstark einen radikalen Kurswechsel in der Bildungspolitik. Die Bundesregierung kann sich auf einen heißen Herbst einstellen. Im Rahmen der geplanten Budgetkürzungen drohen auch Einsparungen im Sozialbereich. Gerade im Bezug auf die mangelnde soziale Absicherung von Studierenden, wie auch die Ergebnisse der aktuellen Studierendensozialerhebung aufs Neue zeigen, wären Kürzungen fatal. Von ÖH-Seite versuchen wir Dich so gut wie möglich zu unterstützen, hier gibt es zwei Neuigkeiten: Sehr viele Studis sind von Studienzeitverzögerungen betroffen, weil die Unis es nicht schaffen ausreichend Lehrveranstaltungen anzubieten. Falls das auch Dich betrifft, findest du genauere Infos zur Klagemöglichkeit auf Seite 11. Ein weiterer Service-Ausbau betrifft Deine Versicherung: Als ÖH-Mitglied bist Du im Rahmen Deines Studiums automatisch haftplicht- und unfallversichert. Wir haben einen neuen Vertrag mit der Allianz abgeschlossen und die bisherigen Leistungen noch weiter ausgebaut. Mehr dazu auf www.oeh.ac.at/versicherung. Ob Ministerin Karl und ihr Kollege Pröll endlich zur Vernunft kommen, wird sich zeigen, wir Studierende werden uns auf alle Fälle keine weiteren Verschlechterungen gefallen lassen. Wir wünschen Dir trotz dieser zugegebenermaßen etwas düsteren Aussichten einen guten Start ins neue Semester.

Das Menschengeschlecht

  • 13.07.2012, 18:18

Über die Ergüsse des Thilo Sarrazin wurde in den vergangenen Wochen mehr als genug diskutiert. Mal plumper, mal gehobener, mal appetitlicher, mal unappetitlicher. Wer die Diskussion verfolgte, konnte relativ schnell feststellen: Das Interessante daran war in Wirklichkeit nicht der Inhalt von Sarrazins abgeschmackten Menschenzüchter-Thesen, sondern wie darüber diskutiert wurde, oder besser gesagt: Was die Diskussion bei wem zum Vorschein brachte.

Über die Ergüsse des Thilo Sarrazin wurde in den vergangenen Wochen mehr als genug diskutiert. Mal plumper, mal gehobener, mal appetitlicher, mal unappetitlicher. Wer die Diskussion verfolgte, konnte relativ schnell feststellen: Das Interessante daran war in Wirklichkeit nicht der Inhalt von Sarrazins abgeschmackten Menschenzüchter-Thesen, sondern wie darüber diskutiert wurde, oder besser gesagt: Was die Diskussion bei wem zum Vorschein brachte. Halten wir fest: Die Bild-Zeitung nutzte den Hype der Political Incorrectness sofort aus, um festzustellen, was man alles „wohl noch sagen dürfen“ werde. Dass dabei gefordert wird, „wer arbeitet, darf nicht der Dumme sein“, nehmen die LeserInnen des Blattes hoffentlich nicht zu wörtlich.
Die FPÖ geilte sich – wie nicht anders zu erwarten – an Sarrazins Thesen auf: Laut Hazeh Strache muss „man sich schon fast überlegen, diesem verdienstvollen Mann bei uns Asyl anzubieten“. Hierzu wäre interessant, welche neue Thesen über vererbbare Dummheit Sarrazin einfielen, wenn er mal den Hazeh-Mob am Viktor-Adler-Markt sehen würde. Sei´s drum.
Wirklich Anlass zum Aufhorchen sollte ohnehin etwas anderes geben: Wie stark Sarrazins „ethnische Thesen“ von Teilen des so genannten bürgerlichen Lagers rezipiert werden. Sarrazin schaffte es immerhin bis auf das Cover vom Spiegel. Die Ressentiments, die er schürt, finden ganz offenbar auch in Kreisen Widerhall, die Qualitätsmedien konsumieren. Und schneller als uns allen lieb sein kann, müssen wir uns nun wieder mit Fragen herumschlagen wie dieser: Ob eine junge „deutsche Akademikerin“ a priori wertvoller sein könnte als eine „ostanatolische Gebärmaschine“? Die Zeiten aber, in denen solche Fragen auch nur implizit gestellt wurden, sollten wir als Menschengeschlecht wirklich hinter uns gelassen haben.

Mehr Narren auf die Bühne

  • 13.07.2012, 18:18

Es ist alles so normal geworden.

Kommentar

Es ist alles so normal geworden. Man nimmt es für normal, dass die Freiheitlichen die Rassengesetze früherer Terrorzeiten fortschreiben wollen. Es ist normal geworden, dass man eine hermetische sozialdemokratische Stadtverwaltung für nahezu perfekt ausgibt, die den Integrationsgedanken heute erst als Neuigkeit entdeckt. Es wundert niemanden, dass Christsoziale die Schwächsten der Gesellschaft, die ohnehin am Boden liegen, noch mit Zwangsarbeit traktieren wollen. Es ist normal geworden, dass Grüne, die exzentrische und originelle Alternativen entwickeln sollten, vor lauter Begierde platzen, endlich im  Mainstream mitregieren zu dürfen.
Wer annähme, die Friktionen in den Basisstrukturen der Grünen Alternative in Wiens unkonventionelleren Bezirken sei so etwas wie konstruktive Narretei, der irrt: Sie sind nach Art der Altparteien vom Apparat manipuliert; und hier manifestiert sich die verhängnisvolle Normalisierung auch dieser Partei, in der Rankünen machtpolitisch-personeller Art Inhalte zu ersetzen beginnen. Wo sind die Zeiten, dass wahrhaftige Querköpfe als Chaoten, als Kommunisten, als Schädlinge beschimpft wurden – ja, als Schädlinge für die betuliche Bürgerruhe eines ungemein reichen Gemeinwesens, das mit  seinen Ressourcen gesellschaftlich, ökonomisch und umwelttechnisch wuchern könnte.
Könnte. Es zu tun sich aber weigert; radikale Ansätze als Gefährdung fürchtet; Originale zu Spinnern macht und die Narretei lähmender Besitzstandswahrung zur wünschenswerten Normalität erklärt, statt die wahren Exzentriker, die Kreativen, die dynamischen Narren und deren Phantasie und Visionen zum Leitmotiv zu machen. Eine der schönen und lebenslustigen Städte Europas führt einen hässlichen und lustfeindlichen Kampf mit sich selbst. Die reichste Millionenstadt des Kontinents findet nicht zu genug Witz, ihre ethnisch-sprachliche Vielfalt zu einem kulturellen Feuerwerk zu bündeln: Wo ist der Stolz auf die geniale Mixtur des Wiener Blutes? Die sollte die Krieger um das Stadtschicksal inspirieren, statt der Angstkomplex um seine Reinheit: Die „Reinrassigen“, ob ethnisch oder ideologisch und welcher Spezies auch immer, waren noch immer die Tumben, Faden, Uninteressanten. Mehr intelligente Bastarde, mehr Narren auf die Bühne!

Der Autor ist Österreich-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung.

ÖH unter Verdacht

  • 13.07.2012, 18:18

Der Überwachungsstaat nimmt immer beängstigendere Auswüchse an. Drei ehemalige ÖH-FunktionärInnen werden in einer Datenbank des Verfassungsschutzes als ExtremistInnen geführt. Ein kommentar

Der Überwachungsstaat nimmt immer beängstigendere Auswüchse an. Drei ehemalige ÖH-FunktionärInnen werden in einer Datenbank des Verfassungsschutzes als ExtremistInnen geführt. Ein kommentar

Am 22. Dezember 2010 organisierte die ÖH-Bundesvertretung gemeinsam mit AktivistInnen der #unibrennt-Bewegung anlässlich der Kürzungen bei der Familienbeihilfe eine Protestaktion im Parlament. Eine Aktion mit schweren Folgen, denn seither ist unter anderem das gesamte ehemalige ÖH-Vorsitzteam in der Datenbank zur Abwehr gefährlicher Angriffe und krimineller Verbindungen, kurz EDIS des Bundesverfassungsschutzes gespeichert, als AktivistInnen der Gruppe 2-EX (Extremismus).

Parlamentsprotest. 19 Personen entrollten mitgebrachte Transparente, warfen Flyer und ließen die Abgeordneten mit Parolen wie „Wir sind hier und wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut!“ wissen, was sie von den geplanten Sparmaßnahmen im Zuge des neuen Budgets halten. Die Sitzung des Nationalrats wurde für drei Minuten unterbrochen, die AktivistInnen vom Sicherheitspersonal des Parlamentsvon der BesucherInnentribüne geholt und ihre Daten aufgenommen. Unmittelbare Konsequenzen der Aktion waren ein Hausverbot über die Dauer von 18 Monaten, das von der Parlamentsdirektion verhängt wurde, sowie eine Verwaltungsstrafe in der Höhe von 70 Euro wegen Störung der öffentlichen Ordnung für alle Beteiligten. Doch damit nicht genug. Einige Monate nach der Aktion stellten elf der 19 Personen ein Auskunftsbegehren an das Innenministerium, um zu erfahren, welche Daten über sie gespeichert wurden. Fünf Personen, darunter das ehemalige Vorsitzteam der ÖH-Bundesvertretung Sigrid Maurer, Thomas Wallerberger und Mirijam Müller erhielten Auskunft über ihre Eintragung in die EDIS-Datenbank mit der Speicherdauer von zehn Jahren. Als Rechtsgrundlage und Speichergrund wurde die Abwehr von kriminellen Verbindungen angegeben. Laut Gesetz besteht diese, sobald sich drei oder mehr Menschen mit dem Vorsatz zusammenschließen, fortgesetzt gerichtlich strafbare Handlungen zu begehen, wozu Verwaltungsübertretungen eindeutig nicht zählen.

Weitreichende Folgen. ÖH-FunktionärInnen, sprich VertreterInnen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, die von allen Studierenden demokratisch gewählt wird, werden aufgrund einer friedlichen Protestaktion und bloßen Verwaltungsübertretung vom Verfassungsschutz als ExtremistInnen angesehen und in dessen Extremismusdatenbank geführt. Der Verfassungsschutz sieht also hinter der Protestaktion eine kriminelle Verbindung und verdächtigt die betroffenen ÖH-FunktionärInnen als Mitglieder dieser Verbindung. Ein derartiger Verdacht hat weitreichende Folgen für die Betroffenen, denn er ermächtigt die Polizei zahlreiche Überwachungs- und Ermittlungsmaßnahmen einzuleiten, ohne dass diese einer gerichtlichen Kontrolle unterliegen. Unter anderem darf die Polizei gegen die Betroffenen verdeckt ermitteln, Bild-, Video- und Tonaufzeichnungen an öffentlichen Orten, bzw. durch Verwanzung von ErmittlerInnen auch an privaten Orten, erstellen sowie sämtliche abrufbare personenbezogenen Daten ermitteln und weiterverarbeiten. Momentan kann weder bestätigt noch ausgeschlossen werden, ob derartige Maßnahmen gegen die ÖH-FunktionärInnen und AktivistInnen eingeleitet wurden. Der Überwachung von regierungskritischen Personen steht, wie dieser Fall klar zeigt, nichts im Weg: und das ohne richterlichen Beschluss, ohne staatsanwaltschaftliche Genehmigung, ohne dass ein konkreter Verdacht begründet werden muss, die ermittelnden BeamtInnen schulden niemandem Rechenschaft.

Alle sind verdächtig. Seit im Sommer erneut die Diskussion rund um die Abwehr von Terrorismus und dementsprechende Antiterrorgesetze entflammt ist, bastelt die Regierung an neuen Gesetzen, die nun kurz vor der Beschlussfassung stehen. In diesem Paket werden die Befugnisse der Sicherheitsbehörden noch weiter ausgeweitet – künftig sollen sie ohne konkreten Verdacht auch gegen Einzelpersonen ermitteln können. So reicht es zukünftig, sich mündlich, schriftlich oder elektronisch in irgendeiner Form positiv zu Gewalt gegen verfassungsmäßige Einrichtungen oder Belangen verfassungsfeindlich zu äußern, um dem Verfassungsschutz zu ermöglichen, diverse Überwachungsmaßnahmen einzuleiten. Die Polizei darf ohne gerichtliche Kontrolle sogenannte Bewegungsprofile auf Basis von Handystandortdaten, die von Handyunternehmen abgefragt werden, erstellen. Auch der Einsatz von Peilsendern wird zukünftig möglich, Besetzungen dürfen ohne Räumungsverordnung beendet werden, und was gerade politisch aktive Menschen stark betrifft, ist die zukünftige Möglichkeit der erweiterten Gefährdungsanalyse bei Delikten des Staatsschutzes. Bei dieser werden personenbezogene Daten in einer Analysedatenbank gesammelt und weiterverarbeitet, um als Ausgangspunkt für weitere Maßnahmen zu dienen. Dadurch sollen Menschen vom Verfassungsschutz auf ihre „Staatsfeindlichkeit“ und Gefährlichkeit geprüft werden, ohne dass dieser dabei irgendwelchen Auflagen unterliegen würde – nicht einmal die Zustimmung des oder der Rechtsschutzbeauftragten ist vorgeschrieben. Datenbanken werden international vernetzt, die gespeicherten Daten mit denen aus anderen Ländern abgeglichen und ausgetauscht.

Rechtstaat adé. Wenn Menschen aufgrund einer harmlosen Protestaktion im Parlament als ExtremistInnen und die ÖH als kriminelle Verbindung verdächtigt wird, wird Strafbarkeit auf Meinungsäußerungen verlagert. Es kommt so zu einer Abkehr vom Individualstrafrecht, hin zur Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen, Meinungsäußerungen und der Zugehörigkeit zu Gruppen/Vereinigungen. Parallel dazu kommt es durch ständig neue Überwachungsmöglichkeiten, die Sammlung sensibler Daten und deren fehlende bzw. mangelnde Kontrolle zu massiven Einschnitten im Privatleben, im Rechts- und Datenschutz und bezüglich der Unschuldsvermutung. Gerade NGOs und Menschen, die politische Entscheidungen nicht unkommentiert stehen lassen wollen und aktionistisch auf Missstände aufmerksam machen, sind von diesen Änderungen betroffen und können leicht Ziel von Ermittlungen werden. Mögliche Folgen derartiger Gesetze konnten beim Tierschutzprozess beobachtet werden. Die seit Jahren schrittweise erweiterten Kompetenzen der Sicherheitsbehörden schaffen einKlima, in dem sich jedeR BürgerIn potentiell kriminell oder staatsfeindlich fühlen muss. Mit dem vorgeschlagenen Terrorpaket der Regierung bewegen wir uns noch einen Schritt weiter in Richtung Sicherheitsstaat und entfernen uns von den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit.

 

Gutes Leben statt Wachstumswahn

  • 13.07.2012, 18:18

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Von der Wachstumskritik zur solidarischen postwachstumsökonomie. Ein Kommentar von Matthias Schmelzer und Alexis J. Passadakis.

Die Weltwirtschaftskrise verläuft wie ein Schwelbrand, flackert erst hier und dann dort auf. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das ist kein Wunder, denn Krisen gehören zur Normalität der kapitalistischen Ökonomie, wie ein Blick in die Geschichtsbücher schnell verrät. Und bis sich eine Krise vom Kaliber der Großen Depression der 1930er Jahre voll entfaltet hat, dauert es seine Zeit. Schließlich liegt der Kollaps der Lehmann Bank erst zwei Jahre zurück. Gleichzeitig wirft die Doppelkrise des fossilistischen Weltenergiesystems ihre verheerenden Schatten voraus. Die Fluten im Sommer dieses Jahres in Pakistan demonstrierten dramatisch die Folgen der Klimaerwärmung. Und Ressourcenkriege wie im Irak oder die Straßenproteste in Mosambique gegen hohe Lebensmittel- und Energiepreise Anfang September deuten an, wie sich Energie- und Rohstoffverknappung und das baldige Erreichen des Fördermaximums von Öl (Peak Oil) auswirken könnten.

Angesichts der Desaster, die das derzeitige Akkumulationsmodell (accumulare, lat.: anhäufen) des finanzmarktgetriebenen Kapitalismus mit sich bringt, hat gegenwärtig eine Renaissance des Nachdenkens über andere ökonomische Systeme, über Leben und Wirtschaften ohne Wachstum, begonnen. Trotz der multiplen Krise sitzen allerdings die neoliberalen PropagandistInnen von „rationalen“ und „effizienten“ (Finanz-) Märkten weiterhin fest im Sattel. Lernkurve = sehr flach. Dementsprechend ist „mehr Wachstum“ die Parole aller Regierungen, um aus der Krise herauszukommen und insbesondere die Banken zu retten. Und welche Relevanz eine tatsächliche Bearbeitung der Klimakrise für die meisten Regierungen hat, ist an dem Kollaps der Klimaverhandlungen im vergangenen Dezember in Kopenhagen abzulesen: Keine Große. Dass ein auf Wachstum basiertes Wirtschaftssystem an ökologische Grenzen stoßen wird, ist allerdings spätestens seit Anfang der 1970er Jahre ein Allgemeinplatz. „Jeder, der glaubt, dass exponentielles Wachstum auf eine begrenzten Planeten unendlich weitergehen kann, ist entweder ein Verrückter oder ein Ökonom“, sagte in diesem Kontext Kenneth Boulding (1910–1993), selbst Mitglied der Ökonomenzunft und ehemals Präsident der einflussreichen American Economic Association.
Trotzdem greifen viele als Alternativmodell zum Casino-Kapitalismus auf die bis Ende der 1970er Jahre vorherrschenden so genannten keynesianischen Politikrezepte zurück. Der britische Ökonom John M. Keynes hatte in den 1930er Jahren eine ökonomische Entwicklungsweise skizziert, die auf hohen Löhnen, stabilen sozialen Sicherungsystemen und massiven öffentlichen Investitionen beruhte, um so die Basis für eine breite Massennachfrage zu schaffen. Ganz im Gegensatz also zum neoliberalen Modell, welches Niedrigstlöhne, Prekarisierung und mit Hilfe von Steuersenkungen für die Reichen nur ausgetrocknete öffentliche Haushalte im Angebot hat. Unbestritten boten keynesianische Strategien für viele Bevölkerungsgruppen einen Ausweg aus der Armut und einen angenehmen Lebensstandard – zumindest wenn man im Norden des Globus lebte und nicht im Süden, der schlicht billige Rohstoffe zu liefern hatte. Der Journalist Gerald Fricke fragt noch einen Schritt weiter: „War eigentlich früher, als der goldene Keynesianismus noch funktionierte, alles besser? Als man noch für sein Auto arbeitete, mit dem man dann zur Arbeit fuhr, um für sein Auto zu arbeiten, mit dem man dann wieder zur Arbeit fuhr, auf Straßen, die Papa Staat fleißig baute und Scheiß auf die Umwelt? Natürlich nicht, aber manchmal glaubt man‘s irgendwie fast.“

Einen ansatzweise kohärenten Versuch einer korrigierenden Weiterentwicklung bemühen sich (öko-) keynesianische Ansätze zu skizzieren – mit Hilfe von Regulierungskonzepten und Investitionen in zum Beispiel erneuerbare Energien und Bildung. Angesichts der Dimension der Verwerfungen der Weltwirtschaft und der Zerstörungen der Biosphäre greifen sie jedoch zu kurz. Ein Abschied vom Wachstumswahn wird nicht gewagt. Im Gegenteil: es geht gerade um die Dynamik eines neuen, „grünen“ oder „nachhaltigen“ Wachstumszyklus. Eine solidarische Gesellschaft, die ohne die Nutzung eines imperialen UmweltraumS (Öl aus Kuwait, Kohle aus Kolumbien, Soja aus Brasilien etc.) auskommt und darauf zielt, Bedingungen zu schaffen, die allen weltweit die Verwirklichung sozialer Rechte ermöglicht, wird es allerdings ohne den Schritt in eine Postwachstumsökonomie kaum geben können. Denn die imperiale Lebensweise, das fossilistische Produktionsund Konsummodell, das sich in den entwickelten Ökonomien des globalen Nordens durchgesetzt hat, ist  nicht verallgemeinerbar, auch nicht durch technischen Fortschritt. Zum Beispiel lassen sich die im Norden notwendigen CO2-Reduktionen um 95 Prozent bis 2050 nicht bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum erreichen. Die technischen (Effizienz-) Innovationen, die den notwendigen Grad von absoluter Entkopplung von BIP-Steigerung bei gleichzeitigem massivem Sinken des Naturverbrauchs ermöglichen, sind nicht möglich. Der Ausweg: Eine zunächst deutlich schrumpfende und sich dann auf einem ökologisch tragfähigen Niveau stabilisierende Ökonomie.

Inzwischen gibt es eine Reihe wissenschaftlicher Tagungen, es werden laufend neue Artikel und Bücher veröffentlicht und die Diskussion wird von aktivistischen Klima- Aktionscamps bis in Parteien geführt. Dabei besteht zum einen die Gefahr, dass zwar die richtigen Fragen gestellt, die daraus folgenden weit reichenden Antworten aber gescheut werden. Schließlich würde der ernsthafte Versuch eine Postwachstumsökonomie zu denken und durchzusetzen, grundsätzliche Prinzipien von Wirtschaft und Gesellschaft umstoßen, insbesondere das Profitprinzip. Zum anderen besteht die Gefahr falscher, unsolidarischer Antworten: Einige Neoliberale – in Deutschland zum Beispiel Meinhard Miegel – sind inzwischen zu Wachstumskritikern geworden. Ihre Formel ist simpel: Wegen ökologischer Grenzen muss die Ökonomie schrumpfen, und auf diesem Wege kann man praktischerweise den Sozialstaat auch schrumpfen und das Rentenalter erhöhen. So kann Wachstumskritik zur Legitimaton von Armut benutzt werden, statt Umverteilung und soziale Gleichheit als Bedingung für eine schwierige Transformation zu fordern.

Besonders in Südeuropa gibt es seit einigen Jahren eine sehr lebendige Diskussion, die sowohl lokal in Netzwerken solidarischer Ökonomie verankert ist, als auch transnational vernetzt über die internationalen Degrowth Konferenzen (Paris 2008, Barcelona 2010) stattfindet. In Frankreich gibt sich diese Bewegung das Label décroissance – frei übersetzt „Ent-Wachstum“ (engl. degrowth), als der aktive Prozess der Rücknahme von Wachstum und Schrumpfung hin zu einer solidarischen Postwachstumsökonomie. Nur in einer solchen ist die Zukunft, die Verwirklichung sozialer Rechte und ein gutes Leben weltweit für alle möglich. Es geht daher darum, grundlegende Alternativen zu denken und diese in konkreten Kämpfen zuzuspitzen.

Blog: www.postwachstum.net

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