Kolonialismus

Koloniale Kunstabenteuer

  • 23.02.2017, 19:05
Das Leopold Museum versucht sich an der „Entdeckung“ des exotisch Anderen durch die westliche Moderne.

Das Leopold Museum versucht sich an der „Entdeckung“ des exotisch Anderen durch die westliche Moderne.
Das Resultat: schwierig. Gleich im ersten Raum, ganz in der Mitte, stehen die Mirror Masks: kleine rohe Skulpturen, die anstatt eines Gesichts grobe Spiegelsplitter zeigen. Vielleicht erzählen sie von der Schwierigkeit der Wahrheitsfindung – der Schwierigkeit, den „Anderen“ tatsächlich zu begreifen. Eine kluge Intervention, gemacht vom algerischen Künstler Kader Attia, einem der bekanntesten, die mit postkolonialen Themen arbeiten. Kader Attia, so muss man sagen, ist allerdings nur das zeitgenössische Feigenblatt in der aktuellen Ausstellung. Es geht um ein Thema, das, weil es so kolonial durchtränkt ist, einen neuen, emanzipatorischen Bearbeitungsschwung und neue, erfrischend-andere Perspektiven dringend benötigt hätte. Die Entdeckung der afrikanischen und ozeanischen Artefakte durch die europäische Avantgarde veränderte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die westliche Kunst. Sie führte de facto zu ihrer Revolutionierung, indem sie dem Kubismus auf die Sprünge half und dem Expressionismus und dem Surrealismus neue, bisher nicht gekannte Formen brachte. Bisher war das Thema ein Ausstellungs-Desiderat in Österreich, dem sich das Leopold Museum jetzt widmet, weil der Museumsgründer Rudolf Leopold auch traditionelle Kunst aus Afrika und Asien sammelte. Zu sehen gibt es nun diese eigenen Bestände, die den Werken der westlichen Moderne gegenübergestellt werden. Das Problem: der Kolonialismus, der sich in seiner Blütezeit befand, durchtränkte damals die Kunstproduktion. Die Künstler nutzten beispielsweise koloniale Strukturen für ihre Südseeabenteuer oder rassistische Völkerkundemuseen als Kunstbeobachtungsorte. Eine entsprechende Kontextualisierung findet nur begrenzt statt. Vor allem aber werden keine Schwarzen Perspektiven, keine afrikanische Moderne, (fast) keine zeitgenössische außereuropäische Kunst gezeigt. Was folgt: Die ewig gleiche, öde Story der Stereotypen. Der Westen modern, das „Andere“ traditionell, hier Kultur und dort – natürlich – Natur.

Fremde Götter. Faszination Afrika und Ozeanien, 23.09.2016 – 09.01.2017, Leopold Museum, Wien.

Paula Pfoser hat Kunst- und Kulturwissenschaften an der Akademie der bildenden Künste studiert.

Geschichte ist Geschichte?

  • 16.06.2016, 20:04
Momentan beherbergt das Volkskunde Museum eine Ausstellung über einen Teil der österreichischen Geschichte, der etwa so bekannt ist wie das Museum selbst

Momentan beherbergt das Volkskunde Museum eine Ausstellung über einen Teil der österreichischen Geschichte, der etwa so bekannt ist wie das Museum selbst: Es geht um das Leben jener Schwarzer ÖsterreicherInnen, die in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Kinder von afroamerikanischen Besatzungssoldaten und österreichischen Frauen zur Welt kamen. Die meisten von ihnen wissen bis heute wenig über ihre Eltern, da sie früh von ihnen getrennt, nach Amerika geschickt oder in Heimen untergebracht wurden. Ihre Geschichten werden in einem minimalistischen Ausstellungsdesign gezeigt, das den Blick auf das Wesentliche zulässt. In Videos wird von ihrem Leben erzählt, teils von den Personen selbst, teils von SchauspielerInnen. Dabei geht es zentral um Themen wie Zugehörigkeitsgefühl und Rassismus. Die persönlichen Erzählungen machen greifbar, wie alleine diese Kinder mit Problemen gelassen wurden, die bis heute bestehen. Gerade das zeigt die Notwendigkeit, Rassismus kontinuierlich zu thematisieren. Bereits durch dessen Thematisierung wird eine Basis geschaffen, die es erlaubt, sich reflexiv damit auseinanderzusetzen. Immer wieder macht sich im Alltag eine große Verlegenheit bemerkbar, Schwarz- und weiß-Sein offen anzusprechen.

Eine Tabuisierung erzeugt jedoch Angst und macht das Problem erst recht unlösbar. Die persönlichen Geschichten von Schwarzen ÖsterreicherInnen zu zeigen, schafft einen gelungenen Zugang, klingen diese doch – abgesehen von rassistischen Erfahrungen – genauso wie die Geschichte einer jeden anderen österreichischen Person. Die Biographien sind verschieden und ganz normal, man findet sich in Erzählungen wieder. Damit wird deutlich, dass Unterschiede nur in unseren Köpfen bestehen und von da aus bedeutsam werden. Geschilderte Erfahrungen mit Rassismus stoßen bei mir auf bloße Verwunderung und machen mich ärgerlich – damit haben die Kuratoren wohl etwas Entscheidendes geschafft: das Thema emotional spürbar zu machen. Und wenn es ihnen gelingt, den einen oder die andere nachdenklich zu machen, können wenigstens diese Menschen etwas verändern. Die Ausstellung regt zu einem offenen Diskurs an, der mir im Hinblick auf die Thematik am Wichtigsten erscheint.

„SchwarzÖsterreich. Die Kinder afroamerikanischer Besatzungssoldaten“
Kuratoren: Tal Adler, Philipp Rohrbach und Nico Wahl
Volkskundemuseum
Bis 21. August 2016

Laura Porak studiert Soziologie und Volkswirtschaftslehre.

„Did you try to find out where this comes from?“

  • 04.07.2015, 14:29

Wer sind die legitimen Besitzer_innen der Abermillionen Objekte in ethnologischen Sammlungen aus kolonialen Kontexten, die heute in europäischen Institutionen lagern? Wie können sie wem wo gezeigt werden und vor allem: wozu? Wer sollte darüber entscheiden? Ein Konferenzbericht.

Wer sind die legitimen Besitzer_innen der Abermillionen Objekte in ethnologischen Sammlungen aus kolonialen Kontexten, die heute in europäischen Institutionen lagern? Wie können sie wem wo gezeigt werden und vor allem: wozu? Wer sollte darüber entscheiden? Ein Konferenzbericht.

Nicht zuletzt die Konflikte rund um die Etablierung des „Humboldt-Forums“ im rekonstruierten Berliner Stadtschloss haben die Diskussionen über Sammlungen aus kolonialen Kontexten in ethnologischen und anthropologischen Museen in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum in eine breitere Öffentlichkeit getragen.

Die Legitimität dieser Sammlungen und der sie beherbergenden Institutionen an sich wird zunehmend in Frage gestellt. Damit wird ein Prozess fortgesetzt, der schon zu Zeiten der Dekolonisierung erhebliche Veränderungen in akademischen Diskursen und musealen Repräsentationen mit sich brachte: Kämpfe gegen eurozentristische Herrschafts- und Deutungsansprüche resultierten in der Hinterfragung einer objektiven Perspektive, die als weiß, bürgerlich und männlich dekodiert wurde. Ethnologische Museen stellen hier einen Kristallisationspunkt der Konstruktion des „Eigenen“ und „Fremden“ dar.

Manche Häuser scheinen von dieser Kritik bis heute vollkommen unbehelligt zu bleiben. Viele haben sich – mit unterschiedlich starker inhaltlicher Veränderung –  in den letzten Jahrzehnten umbenannt und einer Transformation verschrieben, so wie jüngst auch das Weltmuseum Wien. Bei einer Konferenz zur Positionierung ethnologischer Museen im 21. Jahrhundert, ausgerichtet von der Volkswagen Stiftung und dem Deutschen Museumsbund, waren Mitte Juni einige Größen der internationalen Museumsszene ethnologischer und anthropologischer Sammlungen ins Schloss Herrenhausen in Hannover eingeladen, um aktuelle Fragen zur Provenienzforschung, zu internationaler Zusammenarbeit, Restitutionsprozessen und Ausstellungspraxen zu diskutieren, sowie Perspektiven für die Zukunft auszuloten.

Wie Wilhelm Krull (Volkswagenstiftung) in seiner Begrüßung anmerkte, waren dazu Menschen aus mehr als 20 Nationen angereist. Zehn von 23 Präsentationen wurden jedoch aus weißer deutscher Perspektive gehalten, vier weitere aus weißer österreichischer und schweizerischer.

DIE FRAGE DER LEGITIMITÄT. Die Konferenz war spezifisch den Sammlungszugängen aus Kolonialzeiten gewidmet. Interessanterweise hoben vor allem jene Vortragenden, deren Haltung „ihren“ Sammlungen gegenüber als konservativ im doppelten Wortsinn bezeichnet werden kann, den kolonialen Kontext besonders hervor.

So hieß es bei Wiebke Ahrndt, Vizepräsidentin des Deutschen Museumsbundes und Direktorin des Übersee-Museums Bremen sowie Ko-Organisatorin der Konferenz: „Museum professionals have to admit that they very often do not know how exactly individual objects found their way into the museum. None of them would say that every piece was acquired legitimately. But why should we believe that every piece was stolen? Yes, the colonial system caused structural asymmetries and deep injustices. But were all non-Europeans always unable to make a good deal because of this?“
Ähnlich Herrmann Parzingers (Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz) Erwähnung des Kolonialismus in seiner Präsentation der Pläne für das Humboldt-Forum: „Of course the history of the collections is a colonial one and this will be presented, but it is also a history of research.“ Der koloniale Kontext wird hier zum Zugeständnis, die Selbstverständlichkeit desselben zur rhetorischen Figur: Dass die Mehrheit der Objekte ohne adäquate Dokumentation und unter (nicht nur) strukturellen Unterdrückungsverhältnissen in die Sammlungen gelangten, wird als Gemeinplatz dargestellt, um Relativierungen anzuschließen.

Dem entgegen schienen diejenigen, deren Museumsarbeit tatsächlich die historischen Bedingungen zum Ausgangspunkt nimmt, weniger darum bemüht, die (Il)legitimität der Aneignungen zu diskutieren. In den Präsentationen von Nanette Jacomijn Snoep (Staatliche Kunstsammlungen Dresden und Ethnographische Sammlungen Sachsen), Adriana Muñoz (Värlskulturmuset Göteborg) oder Mauricio Estrada Muñoz (Musée d´Ethnographie de Genève) stand vielmehr die gesellschaftspolitische Verantwortung der Institutionen heute im Vordergrund. Hier bildete das Wissen um sexistische, rassistische, klassistische Machtverhältnisse und die eigene Eingebundenheit in postkoloniale Verhältnisse den Ausgangspunkt zur Entwicklung diverser Strategien, mit den Sammlungen zu arbeiten – im Versuch, mit dieser Arbeit auch an Machtverhältnissen inner- und außerhalb der Institutionen zu rütteln. Zugleich wurden (koloniale) Aneignungspraxen in diesem Zusammenhang sehr wohl problematisiert.

ZUSAMMENARBEIT. Auch im Sprechen über mögliche oder etablierte Kollaborationen mit sogenanntenSource Communities“, mit Expert_innen aus Gesellschaften, von denen sich Objekte in den Sammlungen befinden, zeigten sich erhebliche Unterschiede im Selbstreflexionsvermögen der Vortragenden.

So sprach etwa Parzinger von „Dialogen“ bei Workshops: „We travelled a lot, we were not only in Vancouver, (…) we also went to Australia, New Zealand, Africa, Sao Paulo…and we will again do a workshop in Africa.” Zugleich wurde er nicht müde zu betonen, dass die „Integration” der betreffenden Leute von Berlin aus besonders schwierig sei, weil sie tausende Kilometer weit weg seien. Auch wenn er später zugab: „The world is already around us as well, I mean in Berlin there live not only Turks, there are more than 180 nations“. Seine Kollegin Viola König (Ethnologisches Museum Berlin) stellte am letzten Tag der Konferenz jedoch noch einmal klar: „We don´t have diaspora communities connected to our collections in Berlin”. 

Das Publikum während des Votrages von Viola König. Fotograf: Ludwig Schoepfer

Weniger drastisch ignorant, aber in der Überzeugung, dass es heute keine ungleichen Machtverhältnisse mehr zwischen ihr als Kuratorin eines deutschen ethnologischen Museums und den Nachfahren von bei Völkerschauen ausgestellten Samoaner_innen gäbe, berichtete Hilke Thode-Arora (Museum Fünf Kontinente München) von ihren Recherchen auf Samoa. Die dort gesammelten Informationen zur Perspektive der Samoaner_innen auf ihre Teilnahme an den Völkerschauen und ihre Strategien zur Nutzung derselben für ihre Zwecke schienen in Thode-Aroras Darstellung leider zur Relativierung kolonialer Machtverhältnisse eingesetzt zu werden. Etliche andere Präsentationen – zum Beispiel jene von Adriana Muñoz und Anthony Shelton (Museum of Anthropology Vancoucer), aber auch von Michael Kraus (Abteilung Altamerikanistik Bonn) –  zeigten hingegen positive Beispiele langjähriger Kollaborationen auf unterschiedlichen Ebenen: als Berater_innen, Ausstellungsgestalter_innen, Partner_innen in der Durchführung von Community-Veranstaltungen und Weiterbildungen. Dabei beschrieb Andriana Muñoz ihre Position als in stetiger Ausverhandlung begriffen; als in Argentinien sozialisierte Kuratorin habe sie sich immer auch als Aktivistin verstanden – als Kuratorin in einem schwedischen Museum stelle sich ihre Rolle je nach Kontext neu dar.

INTERVENTIONEN UND KONTROVERSEN. Die gab es leider trotz der sehr heterogenen Vortragsinhalte wenige. Es war zwar sogar eine „Interjection“ geplant gewesen – von dem Politikwissenschaftler und Aktivisten Joshua Kwesi Aikins – doch sagte dieser kurzfristig ab. Zu Recht würde man meinen, denn so zeigte sich, dass provokante Fragen fast ausschließlich den wenigen (Schwarzen) Teilnehmer_innen überlassen blieben, die aus Ländern angereist waren, die massiv von Raub kultureller Güter für europäische ethnologische Sammlungen betroffen waren und sind.

Indra Lopez Velasco, Beatrix Hoffmann, Karoline Noack, Limba Mupetami, Clara Himmelheber, Michael Kraus und Emmanuel Kasarhérou als Chair bei der Session zu Kooperationen. Fotograf: Philip Bartz

Ihre Fragen in Bezug auf konkrete Provenienzen bzw. die Bemühungen, die von den jeweiligen Institutionen in Bezug auf die Klärung der Herkunft bestimmter Objekte (oftmals mit unzureichender Kontextualisierung on display) ausgegangen seien, wurden immer mit ausweichendem Verweis auf die fehlenden Ressourcen und gleichzeitiger Beteuerung der Notwendigkeit zur Recherche beantwortet. Limba Mupetami (Museum Association of Namibia) stellte ein Projekt vor, das auf diese Situation mit Eigeninitiative antwortet: Das Africa Accessioned Project, das in europäischen Sammlungen nach Objekten aus vier afrikanischen Ländern sucht – Botswana, Namibia, Zambia, Zimbabwe – um zumindest Wissen um sie und potentielle Forschung über sie zu ermöglichen.

Und so lassen sich denn auch neben all den möglichen komplexen Strategien und Herausforderungen, die sich in Bezug auf die Arbeit mit ethnologischen und anthropologischen Sammlungen zeigen, wohl doch zwei recht einfache Beobachtungen machen: Erstens, eine eigentliche Kernaufgabe der Museen, die sorgfältige Auf- und Bearbeitung ihrer Sammlungsbestände, inklusive Herkunftsort und Bedeutung, wurde und wird nicht erfüllt. Oder wie Caroline Mutahanamilwa Mchome (Ministry of Natural Resources and Tourism, Tanzania) es formulierte: „The museums just don´t seem to be doing their job“. Zweitens braucht es personelle Veränderungen in den Museen: Die „Communities of Origin“ müssen auch die „Communities of Authority“ werden und dafür bezahlt werden.

Podcasts der Vorträge werden Ende Juli hier abrufbar sein.

 

Sophie Schasiepen ist Kulturwissenschafterin und arbeitet derzeit an ihrer Dissertation zur Repatriierung von Klaas und Trooi Pienaar.

 

Postkolonial sind wir noch lange nicht

  • 02.12.2014, 15:30

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Wer ist eigentlich Deutsche_r, wer Berliner_in? Wer schreibt Geschichte und wer gestaltet sie? Wer ist sichtbar und wer nicht? Wessen Erleben erhält Aufmerksamkeit und Raum?

Zu solchen Fragen lädt, in Anspielung auf das berühmte J.F. Kennedy-Zitat „Ich bin ein Berliner“, die Ausstellung „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ der Galerie SAVVY Contemporary - The Laboratory of Form-Ideas ein. Kuratiert wird sie von dem Pariser Schriftsteller, Dozenten und Kunstkritiker Simon Njami, dessen Schwerpunkt auf zeitgenössischer afrikanischer Kunst liegt.

Zum Auftakt der Ausstellung wählt SAVVY den 130. Jahrestag der Kongokonferenz („Berliner Konferenz“). Auf Einladung von Bismarck teilten ab dem 15.11.1884 vierzehn primär europäische Kolonialmächte Afrika untereinander auf. Unter Ausschluss der afrikanischen Bevölkerung besiegelten sie mit der Unterzeichnung der „Kongoakte“ die endgültige Ausbeutung und Kolonialisierung des afrikanischen Kontinents. Zynischerweise konnte durch die Konferenz der Frieden unter den Großmächten gesichert werden, entsprechend harmonisch teilten diese sich einen Kuchen, der ihnen nicht gehörte.

What was behind it all? Filipa Cesar - The Embassy (Video). Foto: Kristin Lein

„Kolonialmächte, die sich um die Karte des Afrikanischen Kontinents herum versammelten, wie um ein Schachbrett“ (Kurator Simon Njami)

Als Kennedy seine Botschaft 1963 an das geteilte Berlin richtete, ging es ihm um den Abbau von Grenzen und die Überwindung nationalistischer Beschränkungen. „Wir sind alle Berliner 1884 - 2014“ fragt, wie im Angesicht von wachsendem Nationalismus und Rassismus in Europa deutsche Identität und europäische Nationalitäten heute definiert werden können sowie welche historischen und zeitgenössischen Bindungen und Parallelen es zu Afrika gibt. Dabei nimmt sie aktiv den Part des ewig „Anderen“ und Ausgeschlossenen ein, die Ausstellung gehört den Kolonialisierten und ihrer Perspektive.

Sammy Baloji etwa legt für sein Werk „Mémoire“ die Minen der Union Miniére du Haut katanga in Lumbashi und Aufnahmen schwarzer und weißer Kolonialfotografen übereinander und schafft so vielschichtige Fotomontagen. Sie verweisen auf ein Europa, dessen Großmächte in einem Kampf um „Fortschritt und Wachstum“ den Grundstein für die Globalisierung legen, was auch die systematische Ausbeutung der afrikanischen Bevölkerung sowie ihren Ressourcen und Rohstoffen bedeutet. Die deutsche Koloniallobby und Großunternehmer starteten 1884 mit der Einführung sogenannter „Schutzgebiete“, die ihnen die Verwaltung und „Entwicklung“ der betroffenen Gebiete erlaubte. Größenwahnsinnige Projekte wurden angestoßen, auch der Kolonialhandel erlebte damit einen Boom. Assimilation, Versklavung und Massenmorde, wie etwa an den Herero und Nama in Südwestafrika, waren dabei ein bloßer Wirtschaftsfaktor im Streben nach Profit, wissenschaftlich- technischem Fortschritt und dem Auf- und Ausbau der Vormachtstellung.

Mansour Ciss dagegen zeigt mit „Laboratoire Déberlinisation“ seine Vision eines wohlhabenden, friedlichen Afrikas, das souverän über eigene Ressourcen verfügt und frei seine Zukunft gestalten kann. Seine fiktive Währung „AFRO“ nimmt mit bunten Geldscheinen und der „AFRO Express Card“ Gestalt an und zeigt wie die finanzielle und politische Selbstbestimmung aussehen könnte. Sein Projekt soll dabei auch den Dialog zwischen Süd- und Nordafrika und über die aufgezwungenen, künstlichen Reißbrettgrenzen hinaus anregen.

Wenn Keramikteller mit einzelnen Körperteilen darauf trophäenartig aufgehängt werden, kann das als Hinweis auf die bis heute andauernde Exotisierung, Sexualisierung, Verwertung und Kommerzialisierung Schwarzer Menschen, ihrer Körper und Arbeitskraft verstanden werden. Dreizehn davon hat Bili Bidjocka aufgereiht. Seine Dekonstruktion des letzten Abendmahls „Dis-ambiguation“ thematisiert Missionierungen und christliche Doppelmoral.

Solche Lücken im deutschen Kollektivgedächtnis will das Projekt „Colonial Neighbours“ von SAVVY Contemporary füllen, das ein Archiv kolonialer Geschichte und Gegenwart werden soll und auch über die Ausstellung hinaus besteht. Erinnerungsstücke, Alltags- und Gebrauchsgegenstände, wie Fotoalben,Tagebücher, Briefe, Sammelalben werden sowohl digital als auch dinglich gesammelt und dokumentiert. Das Archiv zeigt auf, dass der Kolonialismus nicht „irgendwo weit weg“ stattgefunden hat, sondern eine Praxis und Ideologie war, die von der deutschen Bevölkerung gelebt und geschätzt wurde. Vier Millionen Unterschriften zur Verhinderung aus der Bevölkerung gingen ein, als die Versailler Verträge das Ende der deutschen Kolonien besiegelten.

Blick auf Kunst von Cyrill Lachauer. Bilder im Hintergrund: Ausschnitte aus Mémoire von Sammy Baloji. Foto: Kristin Lein

„Während die Berliner Konferenz die Umrisse des afrikanischen Kontinents modifizierte, änderte sie dabei auch Europa.“ (Kurator Simon Njami)

130 Jahre sind kaum ein weltgeschichtlicher Lidschlag und so zeigen sich kolonialistische Spuren nach wie vor. Eine „Entkolonialisierung“ gab es nie. Möbel und Dekoration im „Kolonialstil“ können im Internet bestellt werden, Cafés begrüßen uns mit „Schwarzen Dienern“ im Eingangsbereich, Logos und Slogans mit rassistischen Karikaturen und dem auch in einer österreichischen Süßspeise noch geläufigen M-Wort prangen in Supermarktregalen. Viele Forschungsinstitute und Museen haben koloniale Wurzeln und stellen noch heute romantisierte Werke rund um „tapfere Entdecker“ und Raubkunst aus. Noch immer sind zahlreiche Straßen und Plätze nach Kolonialherren benannt, der Menschenrechtsaktivist und Politologe Joshua Kwesi Aikins kennt sie. Bei seinen Stadtführungen durch Berlin zeigt er diese Spuren, beispielsweise im „afrikanischen Viertel“ im Wedding oder dem May-Ayim-Ufer in Kreuzberg.

Wer deutsch ist, ist weiß und wer in Deutschland weiß ist, ist deutsch. Soweit zumindest die Auffassung der weiß-deutschen Mehrheitsgesellschaft. Die damit verbundenen Privilegien basieren nicht auf einer gottgegebenen natürlichen Ordnung der Dinge, sondern auf Ausbeutung und Unterdrückung. Der weiße Mann erlangte seine Macht durch Massenmorde, Apartheid, Kolonialisierung und Rassentheorien. Er erhält sich seine Vormachtstellung durch umfassende Rassismen und den Neokolonialismus.

Noch heute profitieren die ehemaligen Kolonialmächte von den errichteten Strukturen und erhalten Rassismen und ökonomische Abhängigkeiten aufrecht. Noch heute herrscht ein koloniales Denken und Handeln vor, wie beispielsweise das Bild von „ungebildeten Wilden“ aufzeigt, die vom Westen missioniert und mit Segnungen der Technik ausgestattet werden müssen. Das zeigt sich auch am aktuellen Beispiel Ebola, das als „afrikanisches“ Problem dargestellt wird, obwohl im Jahr 2014 nur vier der 54 Staaten des Kontinents betroffen sind. Auch werden westliche „Hilfeleistungen“ anhand einer dargestellten Unfähigkeit seitens der betroffenen Länder legitimiert. Informationen über afrikanische Initiativen, wie etwa die ASEOWA der Afrikanischen Union, und über die Länder, die sich dem Thema adäquat selbst annahmen, sind nicht bis in unsere Nachrichten vorgedrungen.
Noch heute nützen Entwicklungs-, Subventions- und Reparationspolitiken vor allem dem Westen. Noch heute existiert kaum ein Unrechtsbewusstsein oder ein Streben nach Aufarbeitung. Postkolonial ist bloß das Datum, Europa noch lange nicht.

Zur Ausstellung:

„Wir sind alle Berliner“
15.11.2014-11.1.2015
SAVVY Contemporary Berlin
Richardstraße 20
12043 Berlin-Neukölln

savvy-contemporary.com

 

Anne Pohl macht hauptberuflich politische Kommunikation, ist Gründerin von feminismus101.de und schreibt bei herzteile.org.

"Das nennen wir konkrete Politik"

  • 03.07.2014, 14:16

Zulema Quispe und Julieta Ojeda sind Aktivistinnen des feministischen und anarchistischen Kollektivs Mujeres Creando in La Paz, Bolivien. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit und den Kampf um das Recht auf Abtreibung.

Zulema Quispe und Julieta Ojeda sind Aktivistinnen des feministischen und anarchistischen Kollektivs Mujeres Creando in La Paz, Bolivien. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit und den Kampf um das Recht auf Abtreibung.

Seit 2005 wird Bolivien unter Präsident Evo Morales sozialistisch regiert. Neben Agrarreformen und der Verbesserung der Situation von Kokabauern und -bäuerinnen stehen vor allem die Rechte der indigenen Bevölkerung im Mittelpunkt der politischen Debatte. Trotz einzelner Gesetzesänderungen zur Stärkung der Rechte von Frauen sehen die Feministinnen von Mujeres Creando darin ein Problem, dass Abtreibung in Bolivien nach wie vor ein strafrechtliches Delikt ist.

progress: Wie hat das Projekt Mujeres Creando begonnen?

Julieta: Mujeres Creando wurde vor ungefähr 21 Jahren von María, Julieta und Mónica gegründet - unter anderem auf Grund der Erfahrungen, die sie in traditionellen linken Gruppen gemacht hatten, wo Frauen in der politischen Agenda einen zweitrangigen Platz einnehmen, weil das politische und revolutionäre Subjekt das Proletariat ist. Das politische Subjekt „Frau“, Indigenas oder Jugendliche haben dort keine eigene Stimme.

Deshalb beschlossen sie, eine eigene, heterogene Bewegung zu starten: eine feministisch-anarchistische und autonome Bewegung, unabhängig von politischen Parteien und NGOs und ohne sich der jeweiligen Regierung unterzuordnen. Wir wollten nicht Erfahrungen wiederholen, wie sie an anderen Orten oder auf internationaler Ebene gemacht wurden, wo viele Feministinnen elitäre Gruppen bilden, oder solche, denen nur eine bestimmte soziale Schicht,  eine indigene oder kulturelle Gruppe oder Frauen einer bestimmten Altersgruppe angehören. Das spiegelt sich im gesamten Prozess von Mujeres Creando wider: Hier beteiligen sich Frauen aus indigenen Sektoren, Frauen aus Verbänden und Gewerkschaften, Sexarbeiterinnen, lesbische Gruppen, Haushaltsarbeiterinnen und Frauen, die Schuldnerinnen von Mikrokrediten sind.

Zu welchen Themen arbeitet ihr?

Julieta: Es gibt sehr konkrete Thematiken, die zum Beispiel mit Abtreibung, feministischer Selbstverteidigung oder Gewalt zu tun haben. Ein Arbeitsbereich ist etwa die Beratung zum Thema Abtreibung. Wir sind der Meinung, dass Information Frauen Sicherheit gibt, weil sie erlaubt, Entscheidungen zu treffen, die sicherer sind für den eigenen Körper und die eigene physische Integrität. Wir organisieren auch Selbstverteidigungskurse . Ein eigenes Büro beschäftigt sich mit Anzeigen in Zusammenhang mit männlicher Gewalt. Betroffene Frauen werden rechtlich beraten und bekommen Unterstützung , zum Beispiel auch bei Scheidungen. Das nennen wir konkrete Politik.

In der Einleitung eurer Broschüre zum Thema Abtreibung heißt es, „Pachamama, du weißt, dass Abtreibung Jahrtausende alt ist”. Könnt ihr etwas über die Geschichte der Abtreibung in Bolivien erzählen?

Julieta: Eine Compañera, Carina Aranda, hat viel zu Abtreibung in der vorkolumbianischen Zeit gearbeitet. Sie schreibt in der Broschüre, dass Abtreibung eine Praxis ist, die es in verschiedenen Kulturen der Welt gibt. In Bolivien wurde sie sowohl vor der Kolonialisierung sowie danach angewandt. Sie wirft auch auf, dass in den indigenen Kulturen und in ländlichen Gesellschaften Abtreibung praktiziert wird. Das erscheint uns besonders  wichtig, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der der Diskurs vorherrscht, dass gewisse Praktiken, wie Homosexualität, Abtreibung oder sogar Prostitution und Sexismus, erst mit der Kolonialisierung zu uns gekommen seien. Es gibt eine ganze Reihe von Mythen und Vorstellungen, die keine, unter Anführungszeichen, wissenschaftliche Basis haben.

Carina Aranda führt außerdem das Thema Infantizid ein und behandelt es ohne Moralismen und Vorurteile. Feministinnen sollten sich mit Infantizid auseinandersetzen, weil dadurch aufgezeigt wird, dass Muttersein nichts Angeborenes oder Natürliches in uns Frauen ist. Es ist nicht so, dass wir, das neue Wesen, den Embryo, lieben, kaum haben wir ihn empfangen. Auf gewisse Weise wird dadurch das ganze Thema des Mutterinstinktes entmythisiert.

Unter welchen Bedingungen und mit welchen Methoden wird in Bolivien heute abgetrieben?

Zulema: Das ist von der finanziellen Situation abhängig. Der Großteil der Frauen, die keine finanziellen Mittel haben, führt unsichere Abtreibungen durch. Wenn du eine sichere Abtreibung haben willst, musst du um die 3.000 Bolivianos zahlen. Wenn du kein Geld hast, kannst du sogar um 160 Bolivianos mit Tabletten abtreiben, was aber wahrscheinlich nicht funktionieren wird. Im Falle eines chirurgischen Eingriffs in einem der Spitäler, die nicht die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, glaube ich, machen sie dir den Eingriff auch um 600 oder 400 Bolivianos. Sie bieten dort auch Tabletten an.

Julieta: Natürlich, ist das von deinen finanziellen Mitteln abhängig. Wir verlangen die Straffreistellung, weil sie einen demokratischen Zugang zu Gesundheit und bessere Bedingungen für alle Frauen bedeuten würde.

In Zusammenhang mit dem Kampf um die Straffreistellung von Abtreibung fordert ihr, dass der Staat einen kostenlosen Zugang ermöglicht?

Julieta: Es gibt mehrere Optionen. Abtreibung könnte legalisiert werden oder sie könnte straffrei gestellt werden. Wenn wir von Straffreistellung sprechen, sprechen wir auch davon, dass sie ein Thema des öffentlichen Gesundheitswesens sein muss. Der Staat soll sehr wohl Verantwortung übernehmen, aber nicht notwendigerweise durch eine Legalisierung der Abtreibung und indem er die Bedingungen festschreibt, unter denen Frauen abtreiben. Die Frauenbewegung selbst sollte das erarbeiten.

Ihr setzt euch also für die Straffreistellung und nicht für die Legalisierung ein, weil ihr nicht wollt, dass sich der Staat zu viel in die Angelegenheiten von Frauen einmischt?

Julieta: Ja. Für uns geht es nicht nur darum, Rechte zu erkämpfen. Das ist ein wichtiger Teil, aber von einer feministischen Perspektive aus wollen wir klarmachen, dass wir das Recht haben, als Frauen selbst über unsere Körper zu entscheiden, egal ob es um Mutterschaft oder Abtreibung geht. Es geht darum, sich dieses Recht, das uns in der Geschichte weggenommen wurde, wieder anzueignen.

Wie ist die rechtliche Situation im Moment? Gibt es Fälle, in denen abgetrieben werden darf?

Zulema: Das Strafgesetzbuch stellt Abtreibung unter Strafe, aber sie ist straffrei bei Vergewaltigung, wenn eine Fehlbildung des Fötus besteht, bei Inzest, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist und im Falle von Entführung mit Vergewaltigung, auf die keine Eheschließung folgt. In allen anderen Fällen stehen darauf zwei Jahre Gefängnis.

Was ist die Position der Regierung und Evo Morales gegenüber Abtreibung?

Zulema: Dieses Jahr gab es eine interessante Debatte zum Thema. Eine Abgeordnete thematisierte die Straffreistellung von Abtreibung, einige andere Abgeordnete schlossen sich ihr an. Aber der Präsident meinte sinngemäß, er könne keine Meinung zu dem Thema abgeben, weil er nicht Bescheid wisse, gleichzeitig denke er, abzutreiben bedeute, jemanden zu töten.

Julieta: Das Thema Abtreibung wird oft nur sehr oberflächlich behandelt. Häufig dient es dazu, andere Debatten unter den Teppich zu kehren. In diesem Fall erscheint es mir so, als hätten sie ausprobieren wollen, was passiert, wenn man Abtreibung thematisiert. Aber es ist nach hinten losgegangen, weil es eine sehr starke Reaktion seitens der katholischen Kirche und seitens konservativer Sektoren gab, inklusive einiger Sektoren, die der Regierung nahestehen. Es gab aber eine viel positivere Reaktion seitens der Gesellschaft; zumindest die Bevölkerung von La Paz hat meines Erachtens auf offenere Weise reagiert. So wurde auch Raum für Diskussion und Mobilisierung geschaffen.

Die Regierung nutzt den identitären indigenen Diskurs stark aus. Was haltet ihr von diesem Diskurs?

Zulema: In erster Linie ist die Regierung meiner Meinung nach einem Obskurantismus desUrsprünglichen“ verfallen:  Alles Ursprüngliche ist gut, vor der Kolonialisierung gab es keine Abtreibung und keinen Sexismus – vor der Kolonialisierung war das hier angeblich ein Paradies. Die Regierung versucht diesen Zustand wieder herzustellen. Es kommt mir nicht so vor, als würde sie diesen Diskurs ausnutzen. Vielmehr hat sie ihn selbst immer geführt. Jene Frauen, wie die Bartolina Sisas (Anm. d. Red.: Zusammenschluss bolivianischer Bäuerinnen, benannt nach der Freiheitskämpferin), die gegen Abtreibung sind, wissen sehr wohl, dass es sich dabei um eine Praxis handelt, die es immer schon gegeben hat. Trotzdem sind alle diesem Diskurs verfallen, dass früher nicht abgetrieben wurde.

Julieta: Das Thema der Verteidigung des Lebens, also die Vorstellung, dass alles Leben ist, dass alles von der Pachamama (Anm. d. Red.: zentrale Gottheit in der mittleren Andenregion) kommt, das ist eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise dessen, was Leben und die Verteidigung der Natur oder der Umwelt ist. Ich glaube, das sind Fundamentalismen, die vor allem indigenistische Theoretiker_innen mit der Zeit begründet haben. Es gibt jedoch Untersuchungen, die aufzeigen, dass zum Beispiel die Aimara-Frauen, wenn sie abtreiben, keine Schuld fühlen, weil ihre Beziehung zur katholischen Kirche und zu Gott eine andere ist. Sie können viel offener und viel eher ohne Vorurteile über Abtreibung sprechen. Sie betrachten sie als Teil des Kreislaufs des Lebens. Das Thema Schuld wurde ihnen nicht so eingeimpft, wie anderen Frauen.

 

Mehr Informationen zur Arbeit und den Veröffentlichungen von Mujeres Creando sind auf http://www.mujerescreando.org/ zu finden.

 

Das Interview führten Carmen Aliaga und Isabel Rodríguez.

 

 

„Rassismus ist gut integriert“

  • 24.06.2014, 19:22

Die Sozialwissenschafterin und Aktivistin Araba Evelyn Johnston-Arthur forscht über institutionellen Rassismus und Widerstand in Österreich. Im Interview erklärt sie, warum Hochschulen und Bildung dabei eine wichtige Rolle spielen.

Die Sozialwissenschafterin und Aktivistin Araba Evelyn Johnston-Arthur forscht über institutionellen Rassismus und Widerstand in Österreich. Im Interview erklärt sie, warum Hochschulen und Bildung dabei eine wichtige Rolle spielen.

Als die Aktivisten Kwame Toure (vormals Stokely Carmichael) und Charles Hamilton in den 1960ern in den USA das Konzept des institutionellen Rassismus prägten, benannten sie jene Dimensionen von Rassismus, die Kameras nicht einfangen können. Sie zeigten auf, dass sich Rassismus nicht in isolierten Gewalttaten des Ku-Klux-Klans erschöpfte, sondern rassistische Strukturen fest in der Mitte der Gesellschaft verankert sind. Araba Johnston-Arthur zeigt, dass das Konzept bis heute nicht an Aktualität eingebüßt hat.  

progress: Im Jahr 2000 hast du geschrieben, dass ein Bewusstsein für die Realität von Rassismus in Österreich erst am Anfang steht. Hat diese Aussage noch immer Gültigkeit?

Araba Johnston-Arthur: Gerade im österreichischen Kontext wird nach wie vor oft hartnäckig verleugnet, dass es Rassismus überhaupt gibt. Wenn man dann doch von Rassismus spricht, dann herrscht meist eine individualisierte Auffassung davon vor: Rassismus wird auf einzelne Ereignisse und individualisierte Gewaltakte reduziert. Dabei wird auch häufig klassistisch argumentiert: Rassismus sei ein Problem der ModernisierungsverliererInnen und der ungebildeten ArbeiterInnen. Er wird damit auf die „Anderen“ projiziert und nicht als gut in der Mitte der Gesellschaft verankerte, alle Institutionen – Justiz, Polizei, Schule etc. – durchwirkende Realität verstanden.

Gleichzeitig müssen sich Schwarze Menschen und People of Color täglich angesichts der vielschichtigen Realität von Rassismus behaupten. Hier gibt es sehr wohl diesbezügliches Wissen. Die Frage ist also, von wessen Bewusstsein wir sprechen, es gibt hier nämlich einen krassen Kontrast. Vor diesem Hintergrund ist das Benennen von institutionellem Rassismus an sich schon ein zentraler Akt des Widerstands, weil damit ein sehr mächtiges Schweigen gebrochen wird. Audre Lorde (Anm. d. R.: Schwarze US-amerikanische Literaturwissenschafterin und Schriftstellerin) betonte, dass wir unsere Unterdrückung nicht bekämpfen können, solange wir sie nicht benennen.  

Welche Dimensionen hat institutioneller Rassismus an österreichischen Hochschulen?

Zunächst stellt sich die Frage, wer überhaupt Zugang zu den österreichischen Hochschulen hat. Wenn wir an die frühe Trennung in Gymnasium und Hauptschule denken, oder daran, wer in die Sonderschule geschickt wird, werden eine Reihe historisch gewachsener klassistischer und rassistischer Ausschlussmechanismen sichtbar. Darüber hinaus kommt den Universitäten als umkämpftes Repräsentationssystem eine wichtige Rolle zu. Welche Art von Wissen wird an den Universitäten vermittelt und institutionalisiert? In Frankreich beispielsweise wollte man 2005 gesetzlich festschreiben, dass Universitäten und Schulen die positive Rolle des französischen Kolonialismus zu vermitteln haben. Dagegen gab es heftige Proteste.

Es geht nicht nur um Fragen des Zugangs, sondern auch um interne Hierarchien.

Generell sind wir rassifizierten „Anderen“ nach wie vor häufig nur als Forschungsobjekte sichtbar, als politische Subjekte und Forschende hingegen viel zu unsichtbar. Es gibt in dieser Hinsicht Veränderungen, aber das sind noch zarte Pflänzlein. May Ayim (Anm. d. Red.: afro-deutsche Schriftstellerin) hatte 1986 große Schwierigkeiten, eineN ProfessorIn für die Betreuung einer Magisterarbeit in Pädagogik über Rassismus in Deutschland zu finden. Dahingehend hat sich bis heute nicht viel verändert, auch im österreichischen Kontext nicht. Wichtig finde ich in diesem Zusammenhang auch die Kritik der Historikerin Fatima El-Tayeb bezüglich der dominanten Rezeption von postkolonialer Theorie: Auch im deutschsprachigen Raum wird mittlerweile einiges aus dieser Perspektive dekonstruiert, aber die unbequemen, vor der eigenen Nase liegenden Machtverhältnisse, die auch in unseren Universitäten herrschen, werden selten thematisiert.

An den Universitäten scheint institutioneller Rassismus in der eigenen Institution kaum Thema zu sein. Woran liegt das?

Natürlich wacht die Universität nicht eines Tages auf und beschließt sich mit ihrem eigenen strukturellen Rassismus zu beschäftigen. Die Frage ist, aus welcher Perspektive wir das betrachten. Rassismus ist in den Hörsälen durchaus ein Thema für all jene, die sich angesichts des rassistischen Status quo behaupten müssen. In der Wahrnehmung der Mehrheit existiert dieser Status quo aber einfach nicht. Es gab und gibt aber durchaus oft diesbezügliche individuelle und kollektive Interventionen. Beispielsweise haben sich Studierende of Color organisiert, um gegen Ausschlüsse auf struktureller Ebene und für politische Mitbestimmung an österreichischen Universitäten zu kämpfen.

Du selbst hast dein Studium in Ghana, England und Österreich absolviert, jetzt forschst du in den USA. Inwiefern unterscheiden sich die Situationen an den unterschiedlichen Hochschulen?

Gleich nach der Matura war ich ein Jahr an der Universität in Legon in Ghana. Das war für mich sehr wichtig. Dort habe ich unter anderem gelernt, dass auch die Frage der Ressourcen und Infrastruktur eine strukturelle ist und mit neokolonialen Verhältnissen in Zusammenhang steht. Wir mussten dort zum Beispiel Bücher von ghanesischen Autor Innen aus London bestellen. An der Uni in London habe ich gelernt, wie aktuell die Glorifizierung des eigenen britischen Kolonialismus und die Tabuierung von Rassismus in diesem Zusammenhang noch immer sind. Mein Entschluss, meine Dissertation nicht in Wien, sondern an der Howard University, einer historisch Schwarzen Universität in Washington DC, zu schreiben, hat wiederum viel damit zu tun, dass ich in Howard nicht immer wieder argumentieren muss, dass Rassismus überhaupt existiert, sondern mich auf die Analyse seiner Mechanismen und die damit zusammenhängenden Schwarzen Widerstände konzentrieren kann.

Welche konkreten Maßnahmen wären aus deiner Sicht im Kampf gegen institutionellen Rassismus an den Hochschulen zu setzen?

Zentral ist hier zunächst das Wissen über den Status quo von Rassismus an den Hochschulen selbst. KollegInnen und ich haben in Zusammenarbeit mit den Gleichstellungsarbeitskreisen eine Zeit lang Workshops zu institutionellem Rassismus an verschiedenen Unis gemacht. Leider werden die verschiedenen Diskriminierungsmechanismen aber oft in Konkurrenz zueinander gesehen: also (Hetero-)Sexismus vs. Rassismus vs. Klassismus. Tatsächlich verstärken sie sich jedoch gegenseitig. Wir müssen verschiedene Diskriminierungssysteme in ihrer Gleichzeitigkeit verstehen, weil man sonst die Lebensrealität der Menschen, die in den Hochschulen arbeiten und studieren, verkennt. Wie Audre Lorde sagt: „There is no such thing as a single-issue struggle because we do not live single-issue lives.”

An der Akademie der bildenden Künste in Wien versucht man derzeit eine antidiskriminatorische Betriebsvereinbarung umzusetzen. Dabei geht es auch darum, Diskriminierung als strukturelles Problem zu bekämpfen und Mehrfachdiskriminierung sichtbar zu machen. Gleichzeitig frage ich mich, inwieweit der Kampf gegen institutionellen Rassismus nicht einer ist, der die Ebene von Maßnahmen sprengt.

Rassismus wird wie Migration in Österreich oft als neues Phänomen gesehen. Du zeigst auf, dass Rassismus in Österreich aber eine lange Geschichte hat.

Nehmen wir zum Beispiel den Mainstream-Diskurs über Migration und Flüchtlinge. Als immer mehr Flüchtlinge aus dem Osten kamen, gab es zunächst Sympathie. Das änderte sich, als zunehmend rumänische Flüchtlinge kamen und viele davon Roma waren. Nun wurden uralte Rassismen bemüht, die weit zurückgehen. So war zum Beispiel Maria Theresia in Europa federführend in Sachen repressiver Gesetzgebung gegen Roma und Sinti. Diese Geschichte wird aber unsichtbar gemacht. Das Gleiche gilt für das gegenderte rassistische Wissen, das über Schwarze Menschen vorherrscht: die angebliche Aggressivität Schwarzer Männer, die pathologisierte Sexualität Schwarzer Frauen – damit wird etwas aufgewärmt, was eine lange Geschichte hat. In Österreich tut man so, als wäre das alles ganz neu, weil man keine Kolonien in Afrika hatte. Österreich ist aber Teil eines gesamteuropäischen kolonialen Denksystems und diese Bilder sind tief im populären Bewusstsein verankert. Wir finden sie in der Oper, in der Literatur, in den Mehlspeisen, in unseren Redewendungen und so weiter. Und das bleibt nicht auf der Ebene der Sprache, sondern ist Teil einer sozialen Praxis. Diese Stereotype spiegeln sich in vielen Amtshandlungen der Polizei wider: Schwarzes Objekt, besonders gefährlich, mehr Polizei verlangt. Rassistische Gewalt wird so gerechtfertigt. Und das ist nicht auf Österreich beschränkt. Diese zum Teil tödlichen Mechanismen sind global wirksam.

Wie siehst du die aktuellen Auseinandersetzungen in Österreich rund um die Verwendung des N-Wortes?

Man sieht hier wieder einmal, dass Rassismus meist als etwas verstanden wird, was hauptberufliche RassistInnen aus dem rechten Eck betreiben. Damit wird verwischt, wie tief Rassismus in der Gesellschaft verankert ist.

Faszinierend ist, dass Rassismus und die Kritik daran, zu solchen Anlässen columbusartig immer wieder neu entdeckt werden. Kritik an Rassismus wird von verschiedenen MigrantInnencommunities, Schwarzen Menschen und People of Color aber schon seit Jahrzehnten formuliert und gelebt. Meist wird das aber schlicht ignoriert. Wenn Kritik dann doch Gehör findet, ist interessant, wie reagiert wird. In Österreich ist dann immer sofort von einer Political-Correctness-Hysterie die Rede. Damit werden Rassismus und die Kritik daran auf eine sprachliche Ebene reduziert. Es geht aber um einen strukturellen Gesamtzusammenhang. Aktuell hat Pamoja, die Bewegung der jungen afrikanischen Diaspora in Österreich, die Verwendung des N-Worts und die Praxis des Blackfacing bei den Wiener Festwochen kritisiert. In dem Statement von Pamoja geht es überhaupt nicht um Political-Correctness. Vielmehr wird die Kritik im Kontext einer größeren Realität von strukturellem Rassismus gegenüber Schwarzen Menschen geübt. Bei dieser Auseinandersetzung geht es auch um Definitionsmacht: Wer darf definieren, was rassistisch ist und was nicht? Und wer ist überhaupt in der Position zu sprechen?

Außerdem ist es in einem Land wie Österreich, wo so viel Antisemitisches und Rassistisches sagbar ist, absurd von einer Political Correctness-Hysterie zu sprechen. Rassismus ist in Österreich gut integriert.