Klassismus

Armut abschaffen, nicht anerkennen!

  • 22.06.2017, 16:25
Zur Schwierigkeit des Klassismus-Begriffs

Zur Schwierigkeit des Klassismus-Begriffs
Vermehrt liest man in linken Kontexten Aufforderungen, „klassistische Privilegien zu reflektieren“. Arm dürfen sich, so heißt es, nur jene nennen, die richtig arm sind; nicht jene, die bloß zu viel Geld ausgegeben haben. Nun soll nicht gesagt werden, dass es nicht immer noch ärmer lebende Menschen gibt: Das Nebeneinander der Facharbeiterin, die sich hin und wieder einen Saunabesuch leisten kann, und Menschen allerorts, die kaum genug Geld für Brot haben, ist ebenso banal wie übel. Aber: Anerkennung für diese Tatsache zu fordern, ist nicht bloß keine Kritik des Kapitalismus, sie fußt auf falschen Annahmen über Lohnabhängigkeit, Armut und Bedürfnisse.

HARTZ 4 VON LINKS. Die Hierarchisierung in Luxusbedürfnisse (nicht immer nur Nudeln mit Sauce, auch mal warme Schuhe und eine bequeme Hose) ergibt sich überhaupt erst, weil Menschen allerorts zu wenig Geld haben, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und jene streichen müssen, die nicht absolut lebensnotwendig sind. Wer diese Notsituation für die Wahrheit über Bedürfnisse und Privilegien hält, bejaht so manche verkehrte Ideologie der kapitalistischen Ökonomie; aus der neuen Handtasche an sich ergibt sich die Kategorie „Luxusbedürfnis“ nicht.

Was „wirkliche Armut“ und Privilegien ausmacht, ist einer linken Veranstaltungseinladung zu entnehmen, die jüngst verlautbarte: „Klassismus = keine Reflektion zu eigenen Privilegien haben; davon reden, ‚arm‘ zu sein, weil das Konto wegen zu vieler Ausgaben alle ist“. Hier äußert sich ein interessantes Differenzierungsvermögen zwischen arm und arm. Schließlich besteht die ökonomische Lage von allen, die jeden Monat zurück auf Los und das bestenfalls mit spärlichen Reserven müssen, auch nur darin, dass sie sich ein Leben lang um die Beschaffung von Geld kümmern müssen – also von der Hand in den Mund leben. In den Augen der Klassismus-Kritiker_innen ist diese Lage allerdings ein Privileg. Anstatt das Elend anzukreiden, als Mensch eine konstante Variable des Kapitals zu sein und mit dem Ertrag davon sein Leben bestreiten zu müssen, bejahen sie die Lebenslüge, dass es sich bei Lohn um ein geeignetes Mittel zum Bestreiten des eigenen Lebens handelt, und richten sich nicht gegen den Kapitalismus, sondern die Privilegien anderer Lohnabhängiger.

Wer davon ausgeht, dass Geld-Ausgeben das Gegenteil von Armut bedeutet, macht aus Armut eine Art Wettkampf: Wer ist noch ärmer? Ist die Frisörin nicht doch privilegiert? So findet sich immer jemand, der noch ärmer ist – die Absicht dieser Kritik ist schließlich der Vergleich. In dieser Art wird über klassistische Privilegien gesprochen: Man dürfe sie zwar haben, bloß raushängen lassen oder sich fälschlicherweise als arm bezeichnen, das passe nicht! Dieser ehrenwerte Status gebührt bloß jenen, die es „verdienen“. Ein absurder Wettkampf, der die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Massen von Leuten arm dran sind, affirmiert.

MANÖVRIERMASSE. Der Fehler, besser bezahlte Arbeiter_innen als privilegiert zu fassen, wird an der gemeinsamen Lage der mehr oder minder verarmten Lohnabhängigen nochmals deutlich: Es ist das üble Los aller Lohnabhängigen, immer wieder Bedingungen (über Ausbildung und andere Selbstoptimierung) an sich herzustellen – i n der Hoffnung, dass diese Zurichtung aufgeht und man sich zu den Glücklichen, die ihre Arbeitskraft verkaufen dürfen, zählen kann. Es ist eine Lage, in der man nicht mehr als die Manövriermasse des Kapitals ist: Student_in, Maler_in wie Arbeitslose sind davon abhängig, angestellt zu werden; ein abgeschlossenes Studium bewahrt nicht davor, seine Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Rechnen sie sich in der Kalkulation ihrer Arbeit„geber“_innen nicht, war es das mit ihrem Lohn, den sie zum Leben brauchen. Seine Höhe ist wiederum davon abhängig, wie viele andere ähnlich prekäre Gestalten dasselbe können wie man selbst, und ob diese Fertigkeit sich verwerten lässt.

Linke Aufklärung über den Kapitalismus hätte nicht nach vermeintlichen Privilegien innerhalb dieser ohnmächtigen Lage zu suchen, sondern die Gemeinsamkeit der Abhängigkeit zu betonen und zur Grundlage von Praxis zu machen. Ein Fortschritt wäre es allemal, wenn sich der Kassier und die Facharbeiterin nicht gegenseitig verachten, sondern ihre gemeinsame Lage – die der Lohnabhängigkeit – erkennen würden.

DAS PROBLEM KAPITALISMUS. Damit soll nicht bestritten werden, dass es ein sehr bitteres Los ist, etwa von Mindestsicherung leben zu müssen. Der Klassismus-Diskurs aber ist eine falsche Kritik an den Verhältnissen, die dieses Elend erzeugen. Sie reduziert Kapitalismus auf eine Ideologie zur Abwertung von Armut und abstrahiert davon, dass Armut im Kapitalismus nützlich ist. So lassen sich mit dem Hinweis auf viele Arbeitslose als potentieller Ersatz Löhne hervorragend drücken: Irgendwer wird es notgedrungen schon billiger machen! Am Existenzminimum ist man nicht wegen des Dünkels oder der Arroganz boboisierter Parteigänger_innen kapitalistischer Leistungsideale. Ebenso wenig ist der Lohn aufgrund der vermeintlichen Privilegien der noch nicht vollends Verarmten so gering: Arm ist man aufgrund seiner ökonomischen Lage. Diese ist aber nicht damit erklärt, dass die tatsächlich existierende Differenz von Normalzustand (kann sich Heizen leisten) und Ausnahme (kann sich nichtmal das leisten) gegen die Erklärung derselben Differenz gerichtet wird. Die einen sind lohnabhängig und verdienen Lohn, die anderen sind lohnabhängig, verdienen hingegen keinen oder einen sehr geringen Lohn. Die Brutalität, sonst kein Lebensmittel zu haben, sondern vollständig von der Kalkulation des Kapitals abhängig zu sein, zeichnet beide aus. Wenn linke Kritik sich einen Begriff über Armut machen will, hat sie eben diese Lage zu ergründen und zu kritisieren.

Dragana Komunizam hat Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert.

„Scheiß Akademikerkinder“

  • 14.02.2017, 20:25
Warum studentisches Klassenbewusstsein kein Grund für eine Distanzierung ist.

Warum studentisches Klassenbewusstsein kein Grund für eine Distanzierung ist.

„Die Bundesvertretung der Österreichischen HochschülerInnenschaft (ÖH) distanziert sich vom ‚Scheiß-Akademikerkinder‘-Ruf gegen die Jungen Liberalen Studierenden (JUNOS) bei einer Medienaktion am Dienstag Vormittag“, war am Dienstag Nachmittag in einer APA-Aussendung zu lesen. Als wäre diese Distanzierung alleine nicht schon abstrus genug, fühlte man sich auch noch bemüßigt, die mutmaßliche Urheberin politisch zu verorten. „Das Zitat sei von einer Vertreterin der HochschülerInnenschaft der Uni Wien, die gemeinsam mit der Bundes-ÖH an der Aktion teilnahm, gekommen“, paraphrasiert die APA die Aussage der nicht namentlich genannten Bundes-ÖH-Funktionärin.

ÖVP-Aktionsgemeinschaft und JUNOS veranstalteten parallel zur von ÖH Bundesvertretung und ÖH Uni Wien organisierten Medienaktion gegen Zugangsbeschränkungen ebenfalls kleine Kundgebungen. Erstere verteilten Flyer für Zugangsbeschränkungen, zweitere inszenierten sogar eine Party, um ebendiese abzufeiern. „Juhu, keine überfüllten Hörsäle mehr!“, war auf einem Schild der JUNOS zu lesen. Was zusätzliche strukturelle Hürden für das von Liberalen zumindest zum Schein hochgehaltene Ideal der Chancengleichheit bedeuten, dürfte beim Parteinachwuchs der NEOS nicht bedacht worden sein. So feierte man defacto den Umstand, dass die Hörsäle – geht es nach den Plänen der Regierung – nicht mehr mit rauszuprüfenden ProletInnen vollgestopft sind. Man trug Partyhüte und warf Konfetti, was eine „Vertreterin der ÖH Uni Wien“ eben mit besagter „Scheiß Akademikerkinder“-Anmerkung quittierte.

2007 erschien im Mandelbaumverlag ein Sammelband, dessen Beiträge sich wissenschaftlich mit sozialer Ungleichheit im Bildungssystem auseinandersetzen. Das Buch trägt den Titel „Keine Chance für Lisa Simpson?“ und will damit auf folgenden Umstand hinweisen: Selbst eine überdurchschnittlich intelligente junge Frau, hat in Österreich, aus einer bildungsfernen ArbeiterInnenfamilie kommend, viel schlechtere Chancen ein Hochschulstudium abzuschließen als Kinder von AkademikerInnen. Die Einführung von immer mehr strukturellen Hürden spitzen dieses Missverhältnis kontinuierlich zu.

In den letzten zehn Jahren wurden aus den Studieneingangslehrveranstaltungen vielerorts STEOPs, an deren Ende Knock-Out-Prüfungen stehen. Kommissionelle Prüfungen, in deren Folge Menschen aus ihrer Studienrichtung ausgeschlossen und zwangsweise abgemeldet werden, haben stark zugenommen. Das Ende der Zulassungsfristen liegt heute im Unterschied zu früher fast ein Monat vor dem eigentlichen Semesterbeginn, was dazu führt, dass Menschen, die mit Hochschulstrukturen schlecht vertraut sind, oftmals die Deadlines verpassen und erst gar nicht mit dem gewünschten Studium beginnen können. Und als wäre das alles nicht schon schlimm genug, werden nun für immer mehr Studien Aufnahmetests eingeführt. Prüfungen, für die von privaten Instituten mittlerweile hunderte Euro teure Vorbereitungskurse angeboten werden, die sich mehrheitlich wohl auch nur ein ganz bestimmtes Klientel leisten wird.

Menschen, die nicht als scheiß AkademikerInnenkinder gelten möchten, sollten diese Umstände in der Artikulation Ihrer politischen Forderungen zumindest reflektieren. Denn auch wenn man seine ererbten Privilegien nicht einfach so ablegen kann, geht damit - gerade deshalb - gesellschaftliche Verantwortung einher. Im konkreten Fall müsste dies heißen, für offene Hochschulen zu kämpfen, die allen Menschen – unabhängig vom Einkommen und formalem Bildungsstand der Eltern – ein erfolgreiches Studium ermöglichen.

Selbst in linken ÖH-Strukturen sind AktivistInnen, deren Eltern keine Matura machen konnten, eine kleine Minderheit. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ÖH-Arbeit zumeist ehrenamtlich ist und maximal durch geringe Aufwandsentschädigungen abgegolten wird. Diese Prekarität verbunden mit der oftmals sehr hohen Arbeitsbelastung muss man sich erstmal leisten können. Mittel- und Langfristig kann sich ÖH-Arbeit - ähnlich einem erfolgreichem Hochschulstudium - sehr positiv auf den eigenen Lebenslauf auswirken, wodurch selbst linke ÖH-Strukturen die Reproduktion gesellschaftlicher Eliten eher befördern als ihr entgegenzuarbeiten. Auch deshalb ist die Distanzierung der Bundes-ÖH von der „Scheiß Akademikerkinder“ rufenden Aktivistin unangemessen und falsch.

 

Florian Wagner ist als Sohn einer gelernten Einzelhandelskauffrau aufgewachsen. Er studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien, wo er sich oft über scheiß AkademikerInnenkinder ärgern musste. Als progress-Redakteur ist er seit zwei Jahren Teil der ÖH-Bundesvertretung und ärgert sich noch immer.

„Immerhin hab’ ich das Semesterticket“

  • 25.03.2015, 19:19

Die akademische Welt – eine Spielwiese der Entfaltung und Horizonterweiterung? Vielleicht, wenn du die Szene-Codes kennst. Paula Balov darüber, was an der Uni wirklich zählt.

Die akademische Welt – eine Spielwiese der Entfaltung und Horizonterweiterung? Vielleicht, wenn du die Szene-Codes kennst. Paula Balov darüber, was an der Uni wirklich zählt.

„Freuen Sie sich aufs Studieren,“ sagte die Frau vom Jobcenter, als ich frisch nach dem Abi (die deutsche Matura, Anmerkung der Red.) bei ihr landete: „Es wird die schönste Zeit Ihres Lebens.“ Ähnliches hörte ich auch von Freund_innen und Verwandten. Ich freute mich tatsächlich darauf, immerhin wurde sie mir von allen Seiten schmackhaft gemacht. Die Leute bezogen sich dabei nicht auf Ermäßigungen oder das Semesterticket, sondern auf diese ach so freie – nein, die freieste Form des Lernens, auf die unzähligen Perspektiven, die sich ergeben würden, blablabla.

Meine Erwartungen an die Universität waren bescheiden. Ich dachte, in einem Seminar geht es in erster Linie ums Lernen, darum eine Atmosphäre zu schaffen, in der jede_r seine_ihre Ideen und Probleme einbringen kann und hoffentlich mit dem Gefühl rauskommt: „Geil, ich hab was kapiert, ich hab einen Zusammenhang erkannt, ich habe die und die Fragen gefunden, die ich spannend finde…“

STATTDESSEN: Jede Menge akademischer Szene-Codes. Wer drückt etwas verschwurbelter aus? Wer macht mehr Namedropping? Wer kennt die richtigen Schlagwörter? Wer hat Marx gelesen? Aus meiner Motivation mich an Seminaren zu beteiligen, wurde zurückhaltendes in der Ecke Sitzen, weil ich mich nicht dumm fühlen wollte.

Ich bin Mittelschichtskind und als solches in vielerlei Hinsicht privilegiert. Es gibt jedoch einen Punkt, in dem ich nicht so privilegiert bin: Sprache. Deutsch habe ich erst in der Grundschule gelernt und wegen meiner (Aus-)Sprache nicht ernst genommen zu werden, war lange Alltag für mich. („Wie süß, solche Fehler machen nun mal ausländische Kinder!“)
Auch wenn meine Eltern studiert haben und ich mit meinem Vater am Mittagstisch über Beuys und Postmoderne philosophierte, haben wir das nie auf Angeberdeutsch getan. Mein Vater hat alltägliches Mazedonisch geredet und ich auf einem mazedonisch-kroatisch-deutschen Mix. Im Vordergrund stand das Verständnis. Ich war also mit dem geisteswissenschaftlichen Kauderwelsch nicht so vertraut wie meine Kommiliton_innen aus mehrheitsdeutschen, akademischen Familien.

Ich sah mit der Zeit ein, dass ich, um komplexe Zusammenhänge zu erfassen, nicht um Fachwörter und theoretische Konzepte herumkomme und diese auch sehr hilfreich sein konnten. Ich sah und sehe jedoch nicht ein, dass dieser zwar hilfreiche, aber auch oft überflüssige Sprachstil, zusammen mit einer elitären Performance, die Eintrittskarte in die akademische Welt bildet.

Stell dir vor, du stehst morgens auf und denkst: „Geil, gleich Blockseminar Postcolonial Studies!“, und hast ungelogen übertrieben viel Bock zu lernen. Und eine halbe Stunde nach Seminarbeginn fühlst du dich so klein, dass du am liebsten wieder in dein Bett kriechen würdest.

SO ERGING ES MIR OFT. Als würden mir ständig Leute reinwürgen, wie viele Defizite ich habe: Indem sie z.B. das, was ich gerade gesagt hatte, in Akademisch übersetzten, ehe es als Unterrichtsbeitrag gewertet wurde. Rhetorik und Performance sind das A und O. Wie naiv von mir zu denken, dass es ums Lernen gehen würde.

„Immerhin habe ich das Semesterticket“, dachte ich oft. Und Uni-Freund_innenschaften. Aber auch an denen ist Elite- und Leistungsdenken nicht vorbeigegangen: Einmal hat mich eine Kommilitonin eingeladen mit ihr und einer Dozentin Kaffee trinken zu gehen. Wir sprachen über ein Seminar, das wir im ersten Semester besucht hatten. „Du hast die Texte nie gelesen, oder?“, sagte sie schmunzelnd-herablassend vor der Dozentin. Doch, hatte ich. Aber ich hatte viele – trotz Fleiß und Mühe – nicht verstanden und nicht gerade den Eindruck, dass in dieses Seminar ein Raum gewesen wäre darüber zu sprechen. Zu oft wurde ich seltsam angeguckt, wenn ich Verständnisprobleme äußerte, so ein Ach-wie-süß-die-ist-zu-blöd-das-zu-checken-Blick. Ich fühlte mich bloßgestellt und als faul abgestempelt, auch noch direkt vor der Dozentin.

Ein anderes mal bin ich nach längerer Zeit wieder zu einem Seminar gekommen. Ich hatte neuen Mut getankt, es endlich mit dem Studieren hinzukriegen. Nach dem Unterricht fragte mich eine Kommilitonin, ob ich noch irgendwohin mitkommen könnte. „Nein, ich bin auf dem Sprung“, sagte ich. „Ach was, ich kenn dich doch! Du bist nie auf dem Sprung!“, kommentierte diese und meinte eigentlich: Du bist doch so ne schlechte Studentin, was wirst du schon großartig zu tun haben? Nee, is klar, ich sitz den ganzen Tag zu Hause und feil’ mir die Fußnägel, im Gegensatz zu ihr, die schon ihr ich weiß nicht wievieltes Praktikum in China gemacht hat.

MIT FICK-DICH-BLICK und Scheuklappen geisterte ich durch die Uni, bis ich mir sagte: So kann das nicht weitergehen. Also, was habe ich gemacht? Den nächsten Fehler: Geh mal zu den Gender-Studies, da ist es bestimmt anders! Lol. Ist die Rede von Klassismus und Hindernissen an der Uni, die durch Sprache und elitäre Performance produziert werden, siehst du weit und breit nur nickende Köpfe. Und dann geht es unbehelligt weiter mit schwer lesbaren Texten von Lann Hornscheidt (Wer braucht schon Absätze?) und Wortverschwurbelung vom Feinsten: „Akademische Entpositionierungen und paradoxe Entkomplexisierungen durch Intersektionalität“. Puh.

Witzigerweise schiebe ich mit diesem Text gerade auf, den ersten Satz meiner Bachelor-Arbeit niederzuschreiben. Ich bin den ganzen Tag dagelegen und habe mich selbst fertiggemacht: „Warum traust du dir so wenig zu?“ Dann ist es mir wieder eingefallen: Weil ich in der Uni gelernt habe, dass ich defizitär bleibe, was auch immer ich tue. Aber hey, ich habe es fast bis zur Bachelor-Arbeit geschafft und bin dafür verhältnismäßig unverbittert. Und ich habe eine Sache, die mich antreibt, weiterzumachen: Trotz. Gut für mich. Schlecht für die, die kein Mittelschichtsprivileg und keinen akademischen Hintergrund haben, die deutsch noch später gelernt haben – oder noch lernen, für die 300 Euro Studiengebühren sehr viel Geld sind und, die es vielleicht nicht bis zur Bachelor-Arbeit schaffen. Wahrscheinlich dürfen sie sich später noch anhören, sie seien „bloß faul“ gewesen. Zum Kotzen.

 

Paula Balov studiert Regionalstudien Asien/ Afrika an der Humboldt-Universität zu Berlin. Dieser Text erschien zuerst auf herzbrille.wordpress.com, wo sie regelmäßig über Feminismus und Ex-Jugoslawien aus postmigrantischer Perspektive schreibt und Kurzfilme veröffentlicht.

Me, my selfie and I

  • 25.03.2015, 18:37

Viraler Netztrend und Kunstgenre: Selfies sind präsenter denn je. Und politischer als erwartet.

Viraler Netztrend und Kunstgenre: Selfies sind präsenter denn je. Und politischer als erwartet.

Das Selbstbildnis ist kein Phänomen des Internetzeitalters. Schon in der Antike dokumentierten Künstler_innen ihre eigene Existenz durch Zeichnungen, Skulpturen oder Fotografien. Sei es die feministische und kommunistische Malerin Frida Kahlo oder die bis nach ihrem Tod unentdeckte Straßenfotografin Vivian Maier: Weltweit reißen sich Museen um ihre anspruchsvollen und spannenden Werke. Von weißen Typen wie Vincent van Gogh möchte ich gar nicht erst anfangen. Subjekt und Objekt zugleich, ein Spiegel des Selbst. Das sind die künstlerischen Funktionen von Selbstportraits – oder wie sie heute genannt werden: Selfies.

POLITISCHES SELBSTPORTRAIT. Die Produktion von Selbstportraits ist eine politische Intervention, die häufig unverstanden bleibt. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Gewalt gestützt wird: Das Patriarchat, Hetero- und Cisnormativität, rassistische und klassistische Strukturen und eine eurozentrische Erzählweise von Geschichte und Geschehen prägen sie. Was wiedergegeben wird, ist stark gefiltert, privilegierte Stimmen werden verstärkt. Die Lebensrealitäten marginalisierter Personen werden so schon seit Jahrtausenden unsichtbar gemacht, ihre Überbleibsel vernichtet. Klingt scheiße, ist aber so. Aber so muss es nicht weitergehen. Dank technischem Fortschritt sind Milliarden von Menschen mit Kameras und Internetzugang dafür ausgestattet, sich in die Geschichtsschreibung einzumischen. Selfies stellen eine Gefahr für dieses auf Lügen basierende System dar, denn sie dokumentieren die Lebensrealitäten von Personen, die sonst nur durch Fremdzuschreibungen repräsentiert werden. Sie sind der Beweis dafür, dass diese Personen existierten und existieren.

Selfies erzeugen in vielfacher Hinsicht Macht. Zum einen durch die selbstbestimmte Repräsentation, zum anderen auch auf fototheoretischer Ebene. Wenn Roland Barthes die Fotografie mit dem Tod vergleicht – nicht zuletzt auch aufgrund der Sprachmetaphorik des Schießens eines Bildes, aber auch aufgrund des Einfrierens eines Moments –, dann sind Selbstportraits mit Suizid vergleichbar. Das Gefühl, über das Wie, Wann und Wo Kontrolle zu erlangen, bringt die sich selbst abbildende Person in eine Machtposition. Sowohl beim Suizid als auch beim Selfie wird den Akteur_innen Egoismus vorgeworfen. Pluspunkt des Selfies: wenig Destruktivität, optional viele schöne Filter.

AUFMERKSAMKEITSSCHREI MY ASS. Auf der Popkultur-Plattform jezebel.com entfachte Erin Gloria Ryan Ende 2013 die Debatte, ob Selfies nicht eher Produkte aufmerksamkeitshungriger Jugendlicher als Empowermentstrategien seien. Solche Aussagen sind Ausdruck privilegierter Positionen – das merkte auch der_die Blogger_in Loan Tran an: „What a lot of these articles don’t talk about is the way desirability are defined. Many of these articles leave out what selfies do and have done for people of color, queer and trans people, fat folks, disabled folks and all of us living at the intersections of those identities.“ Das vermeintliche Gieren nach Aufmerksamkeit verwechsle Ryan mit dem Bedürfnis nach Bestätigung innerhalb einer Community, in der eben nicht oberflächlich-lookistische Bemerkungen, sondern ermächtigendes Anerkennen und Sehen vorherrschen. Davon abgesehen ist es völlig legitim, in Eitelkeit und Selbstgefälligkeit zu versinken. Die Abwertung dieser Eigenschaften ist häufig sexistisch, denn in der Regel sind es Frauen*, deren Äußeres zwar immer überragend sein soll, aber bloß mit Bescheidenheit zur Schau zu stellen ist. Ganz nach dem Motto: „I’m sexy and I kind of know it but I’m just going to pretend that I don’t, otherwise everyone is going to mistake me for a shallow bitch.“ Das Tabu ist hier die Darstellung selbstbewusster Frauen* und entlarvt, dass diese Geisteshaltung scheitert, sobald Frauen*, queere Personen, People of Color, Schwarze Personen, disableisierte und dicke_fette Personen sich selbst lieben.

Klassisch sind auch klassistische Diskreditierungen von Selfies. Auf Twitter begegnete mir neulich ein Foto von einem T-Shirt mit der Aufschrift „Less selfies, more books“. Hä? Die Journalistin Ella Morton kommentierte ganz korrekt: „I think you mean ‚fewer selfies‘ there, champ. If you’re going to be a snob, do it properly.“

Woher die Dichotomie von Selfies vs. Büchern kommt, kann ich mir nicht erklären. Lesen Menschen, die gerne Selfies machen, etwa keine Bücher? Wer „book selfies“ googelt, wird unter den ersten Treffern auf eine ganz gewiefte Kandidatin stoßen: Kim Kardashian. Die schlägt nämlich beide Fliegen mit einer Klappe und veröffentlicht dieses Jahr ihr Buch „Selfish“, gefüllt mit nichts anderem als Selfies. Auf 352 Seiten. Und jetzt, Hater?

MACHT UND ERMÄCHTIGUNG. Nicht alle Menschen haben das Privileg, visuell auf eine positive und empowernde Art repräsentiert zu werden. Gerade marginalisierte Gruppen werden, wenn überhaupt, sehr stereotyp dargestellt. Vorbilder aus den Medien sind so vielfältig wie 356 Tage im Jahr Toastbrot: ziemlich weiß.

Die Devise heißt also: Do it yourselfie. Fotografiere dich selbst, verbreite dein Material über alle Kanäle, zeige der Welt, dass du existierst. Zeige deiner Community, dass du existierst. Zeige den beschissenen Reklamen, die dich immer wieder unsichtbar machen, dass du existierst. Auf diese Art können Menschen selbst bestimmen, auf welche Art sie repräsentiert sein möchten und entfliehen den diktierenden Blicken Privilegierter, zum Beispiel dem „Male Gaze“. Selfies können brechen, was Schönheitsnormen propagieren: Einerseits können sie zeigen, dass Menschen nicht normschön sein müssen, um schön zu sein. Andererseits illustrieren sie auch, dass Schönheit an sich nicht erstrebenswert ist. Nicht alles muss schön sein, um existieren zu dürfen oder um Akzeptanz und Respekt zu ernten. Wenn die Selbstliebe so groß ist, dass alle Hater beleidigt sind und sich bedroht fühlen, wurde alles richtig gemacht.

 

Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft an der Uni Freiburg und arbeitet als Online-Redakteurin beim Missy Magazine.