Jugendliche

Jugend hackt das System

  • 23.02.2017, 19:01
Eine der spannendsten aktuellen Jugendbewegungen hat nur am Rande mit Musik oder Politik zu tun. Jugend-Hackathons und Hackerclubs wie das „CoderDojo“ oder „Jugend hackt“ beschäftigen sich mit Technik und ihren Schnittpunkten zu Kunst und Gesellschaft.

Eine der spannendsten aktuellen Jugendbewegungen hat nur am Rande mit Musik oder Politik zu tun. Jugend-Hackathons und Hackerclubs wie das „CoderDojo“ oder „Jugend hackt“ beschäftigen sich mit Technik und ihren Schnittpunkten zu Kunst und Gesellschaft.

Junge Menschen stellen auf der Bühne eine Willkommens-App für Flüchtlinge, Software für Ampelsysteme, Inhaltsstoff-Scanner für Lebensmittel und intelligente Festival-Playlisten vor. Doch hier präsentieren sich keine Start-up-Unternehmen, sondern zumeist Schüler_innen, die das Ergebnis gerade mal eines Wochenendes Arbeit vorführen. Seit 2013 organisiert der Verein „Open Knowledge Foundation“ (OKF) zusammen mit „mediale Pfade e.V.“ Veranstaltungen speziell für technikbegeisterte Kinder und Jugendliche ab zwölf Jahren. Am Ende der jährlich in Berlin stattfindenden Hackathons soll ein fertiger Prototyp, Code oder ein Konzept vorgestellt werden. In verschiedenen Kategorien, etwa „Design“ oder „Mit Code die Welt verbessern“, wird das beste Projekt prämiert. Erfahrene Mentor_innen begleiten und beraten die Teilnehmenden während der Umsetzung, lassen ihnen aber weitgehend freie Hand.

Dabei ist Hacking mal mehr Spiel, Bastelei und Selbsterprobung, mal ist der Code aber auch die Bedienungsanleitung für das Schaffen einer besseren Welt. Mit Technik begegnen die Jugendlichen gesellschaftspolitischen Themen wie Flucht, Vertreibung und Asyl. Daneben spielen auch klassische Themen der Hackerszene wie Datenschutz und Anonymität eine Rolle, und nicht zuletzt geht es auch darum, junge Talente zu fördern und die Hacker_innen von morgen auszubilden. Die Reihe ist so erfolgreich und die Nachfrage so groß, dass seit einem Jahr Parallelevents auch in zahlreichen anderen deutschen Städten stattfinden.

FÜR EINE BESSERE WELT. Die Idee, Kinder und Jugendliche auch abseits von einem oft defizitären oder zu kurzen Informatikunterricht an den Schulen ans Gerät zu bringen, hat in den letzten Jahren mehrere Initiativen hervorgebracht. Einer der Vorreiter_ innen für Medien- und Technikbildung ist der „Chaos Computer Club“ (CCC e. V.) mit seinem seit 2007 bestehenden Projekt „Chaos macht Schule“. Das Programm, dessen Schwerpunkt vor allem auf informierter Internetnutzung statt bloßem Programmieren liegt, soll bald auch in Wien adaptiert werden. Interessierte Schulleitungen oder Lehrer_innen können sich unter der Adresse schule@c3w.at Hacker und Haecksen für das Klassenzimmer buchen. Viele lokale Hackspaces bieten zudem kostenlose Workshops speziell für Kinder an. Seit 2011 schließen sich außerdem global sogenannte „CoderDojos“ zusammen – Programmier- Clubs, auch für jüngere Kinder ab fünf Jahren, die sich mehrmals im Monat treffen. Seine Gründer rufen dazu auf, das Konzept weiterzutragen und stellen dafür auch ein Handbuch zur Verfügung.

EXPORTSCHLAGER. Das Format Hackathon findet international Anklang. In Österreich findet ein entsprechender Event vom 4. bis 6. November in Linz statt und nächstes Jahr soll es sogar in Südkorea starten. Sonja Fischbauer, die bisher das „Young Coders Festival AT“ leitete, begleitet für den österreichischen OKF-Ableger, das „Open Knowledge Forum“, die Umsetzung: „Anno 2014 hat ‚hacken‘ in Österreich noch alle verschreckt, aber auch hier verändert sich das Image des Wortes weg von etwas Bösem, zu der durchweg positiven Bedeutung, ein kniffliges Problem zu knacken. Wir wollen mit unserer Veranstaltung noch ein bisschen mehr dazu beitragen.“

Damit die Reihe auch in Österreich ein voller Erfolg wird, sucht das Projekt noch Unterstützung: „Für die Veranstaltung suchen wir Mentor_innen aus verschiedenen Sparten: Auch Designer_ innen und Projektmanager_innen können wichtigen Input liefern. Zusätzlich brauchen wir Helfende in allen organisatorischen Belangen. Und natürlich hilft uns jede Spende. Die stecken wir direkt in die Verpflegung, in die Ausstattung und die Unterkünfte für die Jugendlichen“, so Fischbauer weiter.

Wer jedoch nicht direkt mit großen Datensätzen arbeiten oder Apps schreiben möchte, kann unter ähnlichen Voraussetzungen Entwickeln lernen: Die Zahl der Game Jams steigt ständig. Auch hier bewegt man sich spielerisch an den Schnittstellen zwischen Kunst, Technik und gesellschaftspolitischen Themen. Wenn die Hackathons und CoderDojos weiter an Zulauf gewinnen, dürfen wir uns auf eine Generation freuen, die nicht nur Neugier auf die großen Fragen hat, sondern auch die richtigen Werkzeuge in der Hand hält, um sie vielleicht sogar zu lösen.

Interview mit Sonja Fischbauer (OKF AT) und Magdalena Reiter (Jugend hackt AT, Linz)

progress: Warum sollten junge Menschen programmieren und hacken können?
Sonja Fischbauer: Weil sie damit ihre Zukunft selbst gestalten, etwas schaffen können. Coden ist Kreieren – wie Häkeln, nur mit Buchstaben, Zahlen und Zeichen. Magdalena Reiter: Außerdem ist es von großer Bedeutung, dass wir unsere technologische Zukunft nicht großen Unternehmen überlassen, sondern selbst über entsprechende Kompetenzen verfügen. Technik und Technologie haben einen sehr hohen Stellenwert in unserer Bildung, Arbeit, aber auch in unserer Freizeit eingenommen. Es wird darum für die nächste Generation wichtiger, die Grundprinzipien des Programmierens zu verstehen und im besten Fall auch den eigenen Alltag selbst verändern und gestalten zu können.

Das „Young Coders AT“-Festival wird zu einer Veranstaltung der „Jugend hackt“-Reihe.
Fischbauer: Wir starten dieses Jahr in Linz neu durch, und da sich unsere Veranstaltung inhaltlich immer schon an den Events unserer deutschen Schwesternorganisation orientiert hat, wollten wir das auch im Titel ausdrücken.

Was lernt ihr von den Kindern und Jugendlichen, was hat euch beeindruckt?
Fischbauer:
Ich bin beeindruckt vom großen Wissen mancher Jugendlicher, aber vor allem von ihrer Motivation, sich in ihrer Freizeit zu engagieren. Die gemeinschaftliche Atmosphäre ist zudem etwas ganz besonderes an Jugend-Hackathons.
Reiter: Jugendliche können oft noch ihre konkreten Bedürfnisse artikulieren und die Gründe ihrer Motivation simpel darstellen, ohne dabei die Komplexität zu reduzieren. Das beeindruckt mich sehr. Erwachsene sind da oft viel komplizierter und verlieren gleichzeitig das Auge für die Schönheit der Komplexität.

Was haltet ihr vom Informatikunterricht (IKT) an Schulen?
Fischbauer:
Ich hatte um das Jahr 2000 Informatik als Wahlfach, und ich wünschte, ich hätte mehr gelernt, als nur ein bisschen Visual Basic zu programmieren. Das hat mir damals viel Spaß gemacht, aber ich hätte mehr direkte Förderung gebraucht. So geht’s wohl vielen Mädels. Hier ist für mich die Bildungspolitik stark gefordert. Reiter: Der Informatikunterricht ist momentan natürlich sehr stark von den Lehrer_innen abhängig. Es gibt ganz tolle Pädagog_innen, die aktuelle Entwicklungen verfolgen und das Wissen darüber mitgeben wollen – aber sie sind rar. Im Großen und Ganzen gibt es einfach noch zu wenig Vorstellung darüber, wie bunt und einfallsreich Informatikunterricht oder generell technologieunterstützter Unterricht ausschauen könnte. Damit in der nächsten Generation kein „Digital Gap“ entsteht, müssten wir außerdem schon im Kindergartenalter damit beginnen und schulische und außerschulische Aktivitäten stärker miteinander vermischen.

Anne Pohl hat in Bamberg den HackspaceBackspace e.V. mitgegründet.

Körbe im Kopf

  • 29.04.2016, 17:36
Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

progress: Du bist aus der Schweiz. Warum interessierst du dich für Europa?
Jan Gassmann:
Genau aus dem Grund. In erster Linie sind wir Schweizer, dann mal Weltbürger und irgendwann vielleicht noch Europäer. Dadurch, dass die EU in einer Schieflage ist, ist die Schweiz in der angenehmen Position, sich raushalten zu können. Trotzdem sollte es eine Mitverantwortung der Schweiz geben. 1992 stimmten die Schweizer knapp gegen eine EU-Mitgliedschaft, seitdem ist dies ein Tabuthema. Die Schweizer gehören aber zum Kern Europas und ich persönlich sehe mich auch als Europäer. Ich las viel über die Krise in der EU, war aber selber nicht davon betroffen. Eine Zeit lang gab es überall Beiträge über die Jugend in der EU, dann plötzlich war das Thema uninteressant und die Artikel blieben aus. Dabei war die Krise, dort wo wir als Filmteam waren, für die Jugend total aktuell. Das war auch die Motivation, „Europe, She Loves“ zu machen.

Im Film gibt es eine starke Diskrepanz zwischen den Nachrichten, die im Radio oder Fernseher liefen und den Reaktionen der vier Paare, die du darstellst. Habt ihr beim Drehen die Nachrichten absichtlich laufen lassen?
Oft hat sich das zufällig ergeben, dass eine Nachrichtensendung lief. Es gibt diese ewige Berieselung und du nimmst die Nachrichten auch wahr, aber du kannst sie nicht richtig verarbeiten. Das was von den Medien kommt, hat einen starken Stellenwert. Gleichzeitig hat man einen kleinen Papierkorb im Kopf, wo alle diese Informationen hineingehen. Denn es sind keine Gesichter mehr dahinter, sondern nur Zahlen. Ich konnte filmen, worüber die Medien berichten. Die Gesichter hinter den Nachrichten zeigen – das war mein Thema.

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Eine Meldung ist die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssos durch einen Neonazi der „Goldenen Morgenröte“-in Athen. Woraufhin Penny und Nicolas auf eine Solidaritätsdemo für Fyssos gehen. Wie ist die politische Stimmung in den anderen Ländern, die im Film vorkommen?
In Tallinn gibt es die Spannung zwischen der russischen und der estnischen Community. Die haben sehr wenig miteinander zu tun. Die russische Minderheit will sich wieder Russland annähern, während die Esten einen Zaun an der Grenze zu Russland gebaut haben. In Dublin war vielmehr das Thema präsent, dass die alten Parteien überholt waren und es nur noch Protestparteien gab. Nach dem „Celtic Tiger“ war die Arbeiterpartei total am Boden, die Konservativen beschädigt. Dort waren einfach alle total genervt von Politik. In Sevilla waren die Bürgerbewegungen interessant. Als wir dort waren, war die Frage wichtig, ob die Bürgerbewegungen es ins Parlament schaffen würden. Es gab aber auch andere Themen. Der Bildungsminister José Ignacio Wert hatte alle Erasmus-Zuschüsse gekürzt; auch für die Studierenden, die bereits im Ausland waren. Sie mussten deswegen nach Spanien zurückkehren. Dagegen gab es auch eine Demonstration.

Abschottung ist also ein länderübergreifendes Thema?
Wir sind die erste Generation, die keine Limitierungen hatte. Die Vermischung und dass die Leute sich frei bewegen können, tut uns doch gut. Dass man jetzt wieder zurück muss in seine nationale kleine Nussschale und sich absperrt, das finde ich schrecklich.

Bietet ein Studium den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive?
Es ist die Frage, was du daraus machst. Die Unterschiede zeigen sich an Karo und Juan aus Sevilla. Karo hat nach dem Film doch noch einen Masterplatz in Barcelona bekommen. Sie weiß, dass sie das Studium zu Ende bringen muss. Da tut sich ein Zwiespalt auf, weil die Jungen wissen, dass sie einen Abschluss brauchen, um im Ausland einen Job finden zu können. Sie sind aber auch mit ihren Städten und ihrem Land verbunden. Diese EMigration, weil es nicht anders geht, die funktioniert für die meisten innerlich dann doch nicht wirklich. Ich würde dennoch allen empfehlen zu versuchen etwas zu studieren. Andererseits, ist da Juan, der nie studiert hat. Er machte eine Graphikerausbildung, war Gabelstaplerfahrer, Rettungsschwimmer und ist jetzt Security. Seine Eltern sind ebenfalls Securities. Juan ist talentiert, kommt aber aus einer Klasse, bei der es gar nicht zur Diskussion stand, dass er ein Studium beginnen könnte. Seine Position ist noch viel unklarer als die von Karo, weil er überall einsetzbar ist, aber keine Chance hat, sich beruflich zu definieren.

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Die Protagonist_innen arbeiten alle in prekären Jobs als Kellnerin, Tänzerin, Security oder Pizzalieferant. Siobhan und Terry aus Dublin sind arbeitslos. War Arbeit ein Thema?
Am Anfang ging ich thematisch an den Film heran. Ich dachte, die Arbeitssituation ist eigentlich das Wichtigste. Erst während dem Dreh und als ich die Paare besser kannte, habe ich gemerkt, dass die Arbeit zwar ein Teil des Films sein wird, aber ich werde nicht zehn Mal zeigen, wie jemand Pizza ausliefert.

Die Repetition, die auch harte Arbeit charakterisiert, kommt dafür in Bezug auf Sex vor.

Ist es natürlich auch. (Lacht) Normalerweise ist im Spielfilm der Sex immer ein Klimax oder der Anfang von etwas Neuem. Ich versuchte Sex in meinem Film zu demystifizieren und in einen Alltag einzuflechten. Sex als etwas, was man macht, weil er nichts kostet und man halt zusammen ist.

In „Europe, She Loves“ kommen nur heterosexuelle Paare vor. Wie hast du sie ausgewählt?
Wir casteten fast hundert Paare. Dass es die vier wurden, die im Film porträtiert sind, war eine Bauchentscheidung. Wichtig war mir auch die Kombination aus verschiedenen Paaren, deswegen wollte ich auch die estnische Familie mit Veronika und Harri. Die Idee war, die Veränderungen, die man zwischen 20 und 30 durchmacht, darzustellen. In einer Paarbeziehung sucht man gemeinsam einen Kompromiss, eine Zukunft oder eine Entscheidung. Darin spiegelt sich gut, was auch im EU-Parlament in Brüssel passiert. Die kleinen Dinge, die zu einem Zusammenleben beitragen, zeigen sich schön in der Paarbeziehung. Dass es nur heterosexuelle Paare waren, hat sich so ergeben. Außerdem hätte ich es schade gefunden, wenn man im Nachhinein immer die drei Hetero-Paare mit dem homosexuellen verglichen hätte. Da hätte ich dann gern ein schwules oder lesbisches Pärchen gewollt, das nicht noch zusätzlich ein Klischee erfüllt.

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Im Abspann spielt das Lied „Europe Is Lost“ von Kate Tempest. Ist Europa verloren?
Für mich ist der Song und das, was er sagt, im Kern sehr positiv. Alles aus dem Film ist darin kondensiert. „Europe Is Lost“ fragt auch danach, wann wir wir endlich wieder aufwachen werden. Ich glaube an Europa- Es ist schade, dass man dem Experiment EU nicht wirklich eine längere Zeit zugesteht, fünfzehn Jahre EU sind nicht lange. Ich bin aber auch nicht super Pro-EU. Es ist eine komplexe Materie, aber man muss dem Konzept eine Chance geben, dass es sich erarbeiten und sich daraus etwas ergeben kann.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Alle kriminell

  • 27.11.2014, 14:17

Habt ihr euch beim Lesen der täglichen Gratiszeitungen auch schon einmal gefragt: „Ja sind denn alle Jugendlichen in Wien kriminell und gewalttätig?“

Habt ihr euch beim Lesen der täglichen Gratiszeitungen auch schon einmal gefragt: „Ja sind denn alle Jugendlichen in Wien kriminell und gewalttätig?“

Man kann von kostenlosen Boulevardblättern vieles halten, Fakt ist: Sie werden gelesen und sie bilden Meinungen. Ob die lokale High Society, Parteiskandale oder Tierbabys, im Häppchenformat servieren Zeitungen wie heute und Österreich jeden Morgen den müden U-Bahn-Fahrenden alle relevanten Neuigkeiten. Ohne großartige Hintergrundinformationen oder kritische Würdigungen wird Meldung an Meldung gereiht – oft reißerisch, manchmal komisch, immer jedoch mit einem Ziel: Impact. Und nicht selten sind diese Blätter die einzigen Informationsquellen vieler LeserInnen. Es ist also davon auszugehen, dass – neben dem persönlichen Bild, das Menschen sich anhand ihrer Beobachtungen der Welt machen – hier Meinungen und auch Wirklichkeiten gebildet werden.

Hobbys: Rauben und Raufen?

Studien, wie etwa die Diplomarbeit „Öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung über Kinder und Jugendliche. Am Beispiel Salzburger Tageszeitungen“ von Edwin Feichter (2002) widersprechen dem Eindruck, dass Zeitungen in Jugendlichen ein neues Feindbild fänden. Die Fachkräfte der Wiener Jugendarbeit nehmen dies allerdings anders wahr, wie sich in einem internen Fachgespräch im Mai 2014 zeigte. Zwischen September 2013 und Mai 2014 habe ich die Berichterstattung am Beispiel des Wien-Ressorts der Tageszeitung heute über Jugendliche beobachtet. Ich habe 119 Artikel, in denen es um Jugendliche oder Teenies ging, gelesen und  ausgewertet.

Jugendliche in Wien sind – wenn es nach dem Boulevard geht – Serientäter, Räuber, Spielsüchtige, Gauner, Dealer, brutale Schlägertypen, Taschendiebe, feige DiebInnen, Täter, Angreifer, haben keine Hemmschwellen und so weiter und so fort. Dies ist keine Übertreibung, die hier aufgezählten Begriffe wurden 1:1 aus den analysierten Artikeln übernommen. Mehr als drei Viertel aller im angegebenen Zeitraum erschienenen Artikel berichten von jugendlicher Straffälligkeit. Diese bezieht sich zu über 90 Prozent auf Eigentumsdelikte, körperliche Gewalt und die Androhung ebendieser. In 35 der 119 Artikel wiederum werden zudem Jugendliche als Opfer von Raub und Gewalt durch Gleichaltrige oder junge Erwachsene dargestellt. Illustriert werden die Artikel häufig mit Symbolbildern von Messern und Schusswaffen. Die vermeintliche Bedrohlichkeit jugendlicher StraftäterInnen wird somit auch grafisch verankert. Nur ein Viertel aller Artikel bespricht lebensweltliche Aspekte, politische Entwicklungen und Anliegen sowie arbeitsmarkt- und ausbildungsbezogene Themen.

Für die Wahl dessen, was hier als „jugendlich“ verstanden wird, wurde keine soziologische Definition herangezogen, sondern einerseits alle Erwähnungen von „Jugend“, „Teenager“ und dergleichen verwendet, andererseits als Obergrenze das 21. Lebensjahr gewählt, da junge Erwachsene bis zu dessen Vollendung einige Vorteile im Strafrecht genießen. Soziologische oder juristische Hintergründe sind der Medienberichterstattung jedoch herzlich egal. Da werden im Zusammenhang sexueller Gewalt gegen Jugendliche erwachsene Männer als „Burschen“ bezeichnet – über eine Strategie der verbalen Verharmlosung solcher Übergriffe könnte man sicher einiges sagen. Strafunmündige Minderjährige werden als „Jugendliche“ und somit als strafmündig eingestuft. Der Altersgrenzbereich von 19 bis 21 wird nur sehr selten als „jugendlich“ oder „junge Erwachsene“ bezeichnet.

Überflüssige Justiz

Mit der Berichterstattung von heute wird die Justiz überflüssig: Die Wortwahl „Täter“, „Räuber“ etc. vorverurteilt junge Menschen massiv und lange bevor ein Schuld- oder Freispruch gefallen ist. Die deutsche Studie „Gewalttätigkeit bei deutschen und nicht deutschen Jugendlichen – Befunde der Schülerbefragung 2005 und Folgerungen für die Prävention“ weist nach, dass die Etikettierung „Verbrecher“ Auswirkungen auf unterschiedliche Bereiche des zukünftigen Lebensweges, wie z.B. die Eingliederung in den Arbeitsmarkt hat und dazu führen kann, erneut in kriminalisierbare Situationen zu geraten. Prävention ist jedoch nicht Auftrag und Anliegen der medialen Öffentlichkeit.

Besonders pikant wird es mit der Veröffentlichung von Fahndungsfotos. Gesetzlich verbriefte Persönlichkeitsrechte wie Ehre, Ruf, Unschuldsvermutung, Privatsphäre, Identitätsschutz von StraftäterInnen, Opfern und Verdächtigen, Resozialisierung, Schutz vor verbotenen Veröffentlichungen und Recht am eigenen Bild werden obsolet, wenn Fahndungsmeldungen vorliegen. Identifizierende Berichterstattung muss übrigens amtlich veranlasst und mit dem Einverständnis der Betroffenen geschehen. Zwar nennt das Gesetz die Notwendigkeit der  einzelfallbezogenen Abwägung der schutzwürdigen Interessen (Persönlichkeitsrechte) von TäterInnen gegen die Interessen der Öffentlichkeit, die im Falle der Fahndung nach Minderjährigen und jungen Erwachsenen sich aus so genannten „anderen Gründen“ ergeben. Dem Blog des Österreichischen Zeitschriften und Fachmedien-Verbands zufolge sind diese in etwa aufgrund des Umstandes, dass Medien ihre  Funktion als „public watchdog“ nur durch die Preisgabe der Identität einer Person erfüllen können, gegeben.

Während medial also ein Anstieg jugendlicher Delinquenz nahe gelegt wird, spricht die gerichtliche Kriminalstatistik vom Gegenteil, denn die tatsächlichen gerichtlichen Verurteilungen jugendlicher Angeklagter sind rückläufig. Dies inkludiert im Übrigen auch so genannte Schuldsprüche ohne bzw. unter Vorbehalt der Strafe. Das bedeutet, man wird schuldig gesprochen, es wird aber keine Strafe verhängt bzw. eine Probezeit auferlegt.

Wer ist schuldig?

Die analysierten Artikel zur Delinquenz sind stereotyp organisiert: Die Tat wird zur Person, sprich nicht ein Mädchen stahl etwas, sondern eine Diebin wurde ertappt. Nicht ein Bursche brach in ein Geschäft ein, sondern ein Einbrecher wütete in Hernals. Dazu werden oft das Alter sowie der Vorname angeben. Kriminalität jedoch ist keine Be- sondern eine Zuschreibung. Menschen sind nicht kriminell, sondern werden durch die Gesellschaft dazu gemacht und handeln kriminell.

Während die heute sich überraschenderweise mit Herkunftsbezeichnungen und daran hängenden  Stereotypen in den meisten Fällen zurückhaltend zeigt, ist es an dieser Stelle interessant, die Kommentare der Onlineausgabe anzuschauen: die LeserInnen finden immer einen Anlass zu rassistischen Beschimpfungen. Während die „TäterInnen“ oftmals weder verurteilt noch amtsbekannt sind, hat die Öffentlichkeit hier bereits ihr Urteil gefällt: Die AusländerInnen sind an allem schuld. So üben die LeserInnen auch Kritik an der Zurückhaltung des Zeitungsmediums ihrer Wahl: „Wenn hier in diesem Bericht auch die Nationalität der Täter stünde, dann wäre es klar!!!!“ kommentiert etwa wuffi55 am 05.05.2014 einen Artikel über einen Raub. Auch Abschiebe-Fantasien sind an der Tagesordnung.

Jugendliche mit Migrationshintergrund sind eine „erfundene“ Gruppe, anhand welcher Bilder von Verwahrlosung und Gewalt inszeniert werden. Kollektive Vorstellungen über MigrantInnen werden mit Fantasien über Kriminalität vermengt –Jugendliche bilden eine ideale Projektionsfläche. Kriminalstatistisch lässt sich recht leicht nachweisen, dass Menschen mit Migrationshintergrund  nicht tatsächlich öfter abweichend handeln. Die Abweichung von MigrantInnen wird von der autochtonen Bevölkerung und den Strafverfolgungsorganen jedoch anders wahrgenommen und es wird auf sie besonders sensibel reagiert.

Die herrschende Meinung über straffällige Jugendliche ist freilich nicht allein Sache der Medien. Diese selektieren jedoch Themen und bestimmen mit, wann und wie über etwas gesprochen wird. Damit machen Medien Politik. PolitikerInnen beziehen auch Wissen aus Medien und setzen es im politischen Diskurs ein. Die daraus resultierenden Debatten werden wieder in den Medien gespiegelt – man nennt dies den politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf.

Kriminalstatistisch lässt sich recht leicht nachweisen, dass Menschen mit Migrationshintergrund  nicht tatsächlich öfter abweichend handeln. Die Abweichung von MigrantInnen wird von der autochtonen Bevölkerung und den Strafverfolgungsorganen jedoch anders wahrgenommen und es wird auf sie besonders sensibel reagiert.

Was tun?

Öffentlichkeit ist ein genuin demokratisches Element, abgesichert von Grundrechten wie Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit. Journalismus ist dabei die leistungsfähigste Art und Weise, Öffentlichkeit durch Informationsvermittlung und Meinungsbildung zu schaffen und zu formen. Wie alle Berufe ist Journalismus Wettbewerbsbedingungen unterworfen, guten Nachrichtenwert besitzen reißerische Artikel.

Die Stadt Wien inszeniert sich selbst gerne als „Jugendhauptstadt“. Hier betreuen 26 Vereine mit rund 1.000 MitarbeiterInnen an 79 Standorten junge Menschen. Es gilt also auch für die Jugendarbeit als Interessenvertretung hier aktiv zu werden. Die Kinder- und Jugendanwaltschaft (KJA) schlägt vor, binnen 24 bis 48 Stunden mit einer Presseaussendung auf tendenziöse Berichterstattung und Veröffentlichung von Bildern, die dem Recht der Wahrung des eigenen Bildnisses widersprechen, zu reagieren. Dieses Schreiben sollte zumindest an die APA (Austria Presse Agentur) geschickt werden und gegebenen Falls auch an weitere Zeitungen.

Und auch jenseits des professionellen Auftrags sich für junge Menschen einzusetzen, gilt die Aufforderung der kritischen Öffentlichkeit für alle LeserInnen des täglichen Wahnsinns: Niemand ist verpflichtet zu glauben, was in den Zeitungen geschrieben steht.

 

Eva Grigori studiert Soziale Arbeit an der FH St. Pölten und lebt in Wien.

100 % rassistisch

  • 18.05.2014, 22:21

Spätestens mit ihrer Aktion gegen die Refugees in der Wiener Votivkirche letztes Jahr, erlangte die „Identitäre Bewegung“ hierzulande mediale Aufmerksamkeit. Ein Buch legt nun die Ideologie und Strategien der neuen Rechtsextremen offen. progress traf die Autor_innen Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl zum Interview.

Spätestens mit ihrer Aktion gegen die Refugees in der Wiener Votivkirche letztes Jahr, erlangte die „Identitäre Bewegung“ hierzulande mediale Aufmerksamkeit. Ein Buch legt nun die Ideologie und Strategien der neuen Rechtsextremen offen. progress traf die Autor_innen Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl zum Interview.

progress: Entgegen ihrer Selbstdarstellung als politisch in der Mitte stehend, charakterisiert ihr die Identitären in eurem Buch als Jugendbewegung der Neuen Rechten. Was bedeuten die Begriffe „identitär“ und „Neue Rechte“?

Bruns: Die Alte Rechte hat eindeutig einen biologistischen Rassismus an den Tag gelegt, sich antisemitisch positioniert, etc. Das war nach dem Holocaust verpönt und in dieser Form nicht mehr möglich.

Strobl: Die Neue Rechte versucht durch neue Kommunikationsstrategien subtiler zu wirken. Typisch ist die „Salamitaktik“, also Positionen erst nach und nach preis zu geben.

Glösel: Der Begriff „identitär“ wird von den Gruppen selbst nicht definiert, er ist eher eine Projektionsfläche für diverse Sehnsüchte. „Identitär“ bleibt so zwar schwammig, ist gleichzeitig aber auch unverbraucht, unbelastet und selbstbejahend.

Was unterscheidet die Identitären von herkömmlichen rechtsextremen oder neonazistischen Gruppierungen?

Strobl: Identitäre haben ihr Vorbild in CasaPound aus Italien. Das ist eine Bewegung, die Codes und Aktionsformen, wie Hausbesetzungen oder Flashmobs, aus dem linken politischen Spektrum übernimmt und Stilmittel der modernen Werbeindustrie verwendet. Mit dem klassischen Rechtsextremismus verbindet man ja eher militantes Auftreten. Die Jugendbewegung der Neuen Rechten hingegen ist viel weichgezeichneter, jünger und popkultureller.

Glösel: Aktionismus ist ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal, weil Identitäre ihre Öffentlichkeit selber herstellen. Anders als Player_innen der Alten Rechten beharren sie nicht auf Anonymität, sondern inszenieren sich als Celebrities.

Bruns: Oberflächlich grenzen sie sich außerdem von Rassismus ab. Einer ihrer Sprüche lautet „0 % Rassismus, 100 % identitär“. Das ist ein Versuch, aus der rechtsextremen Schmuddelecke rauszukommen und junge Menschen anzusprechen, die sich als in der politischen Mitte stehend definieren.

Strobl: Dabei ist diese sogenannte Mitte erfunden. In der Vorstellung von Verfassungsschutz und Parteien ist sie normativ positiv und erstrebenswert. Sie wird einem gleichermaßen negativ besetzten links- und rechtsextremen Rand gegenübergestellt. Anhand der Neuen Rechten sieht man gut, dass so ein Extremismuskonzept nicht haltbar ist.

Wo können die ideologischen Bezugspunkte und politischen Einstellungen der Identitären verortet werden?

Bruns: Ein wesentlicher Eckpunkt ihrer Ideologie ist der Ethnopluralismus. Dabei gehen sie von verschiedenen, in sich homogenen Ethnien aus, deren Vermischung immer Konflikte auslöse. Die Konsequenz dieses originär neurechten Konzepts wäre weltweite Apartheid, um das Bedrohungsszenario des Verlustes der Identität abzuwehren.

Strobl: Identitäre propagieren auch einen krassen antimuslimischen Rassismus, damit stehen sie der Alten Rechten in nichts nach.

Glösel: Auch ihr Heterosexismus und ihr biologistisch aufgeladenes Geschlechterbild sind nichts Neues. Sie bieten auch lediglich Männern eine Identifikationsfläche und konstruieren ein soldatisches Männlichkeitsbild.

Bruns: Ein weiterer markanter Eckpunkt der Neuen Rechten ist, dass alle mit der 68er-Bewegung verbundenen Errungenschaften und Begriffe – zum Beispiel „political correctness“ oder Emanzipation – große Feindbilder sind.

Wie wollen die Neuen Rechten intervenieren?

Bruns: Identitäre fallen durch Aktionen auf, die nicht viel kosten, die leicht und schnell zu organisieren sind und die man filmen und ins Internet stellen kann. Sie bringen sich zum Beispiel bei Protesten gegen Asylwerber_innenheime ein.

Strobl: Ihr Ziel ist es, auf den vorpolitischen Raum einzuwirken. Mithilfe dieser „metapolitischen“ Strategie sollen der öffentliche Diskurs und Meinungsbildner_innen beeinflusst werden.

Glösel: Wir haben versucht zu zeigen, dass es der Neuen Rechten um den Aufbau einer Gegenkultur geht. Bei den Identitären merkt man das daran, dass sie ein ganzes Repertoire, das von einem eigenen Verlag bis hin zu einer eigenen Ästhetik reicht, aufgebaut haben.

Warum spricht die Identitäre Bewegung vor allem Student_innen und Schüler_innen an?

Glösel: Das liegt an ihren Themen, an der Weise, wie sie diese ansprechen und an den Mitteln, die sie dazu verwenden. Viele junge Erwachsene sind erstmals mit sozialen Unsicherheiten konfrontiert. Identitäre greifen genau das auf, allerdings ohne profunde Kritik am ökonomischen System. Ihre aktionistische Ausrichtung und ihre Medien ermöglichen es, schnell mitzumachen.

Strobl: In Gruppierungen wie den Identitären ist es außerdem sehr leicht, dem eigenen Rassismus und den eigenen Vorurteilen Raum zu geben, ohne sich vor sich selbst rechtfertigen zu müssen. Identitäre Aktivist_innen haben sicher nicht das Gefühl, bei den Stiefelnazis gelandet zu sein. Trotzdem können sie gegen dieselben Feindbilder hetzen.

Warum sollten wir die Identitäre Bewegung nicht einfach ignorieren?

Strobl: Historisch war es noch nie besonders sinnvoll Rechtsextremismus zu ignorieren. Man muss sich vor Augen halten, dass jene, die mehr Ressourcen haben und sich in bürgerlichen Kreisen bewegen, oft gefährlicher sind als diejenigen, die man sofort als Rechtsextreme erkennt.

Glösel: Die Identitären schaffen sich ihre Öffentlichkeit selbst, sie zu ignorieren würde ihren Handlungsspielraum vergrößern. Außerdem sehe ich ein Auftreten gegen Identitäre als Möglichkeit gegen das Extremismuskonzept des Verfassungsschutzes zu arbeiten. Wir wollen zeigen, dass Rechtsextreme immer von der Ungleichheit von Menschen ausgehen und gegen Marginalisierte agitieren. Das unterscheidet sich diametral von dem, wofür Linke auftreten. Wer links und rechts ständig gleichsetzt, übersieht das und ist dann völlig überrascht, dass es Bewegungen wie die Identitären gibt.

Bruns: Wir wollen Identitäre nicht über-, aber sicher auch nicht unterschätzen. Es ist uns wichtig, aufzuzeigen, dass diese Bewegung nicht harmlos ist. Sie kommt aus demselben Lager wie die NPD, die Pro-Bewegung in Deutschland oder die FPÖ. Dass die Identitären weichgezeichneter auftreten, ändert nichts an ihrer rechtsextremen Ideologie.

Das Interview führte Sonja Luksik.

 

 

Minderjährig, allein und auf der Flucht

  • 23.12.2012, 19:24

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

„Mein Zimmer aufräumen und mich mit Freunden treffen“, antwortet Amel* auf die Frage, was sie an diesem Samstag noch vorhat. Aus der Küche strömt der Geruch von gebratenen Zwiebeln, laute Popmusik dröhnt durch den Gang. Ein paar Jugendliche sind gerade damit beschäftigt, das gemeinsame Essen vorzubereiten. Im angrenzenden Aufenthaltsraum tippt ein Mädchen auf der Tastatur eines Laptops, ein anderes malt ein Bild. Doch bereits beim Betreten des Hauses in der Braunspergengasse im zehnten Wiener Gemeindebezirk wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Wohngemeinschaft für Jugendliche handelt. Eine weiße Kamera, die vor dem Eingang montiert ist, überwacht das Geschehen vor dem Gebäude. Bevor der Portier das Öffnungssignal für die Haustüre freigibt, nimmt er eine Gesichtskontrolle vor.

Seit 2005 befindet sich in diesem Haus die WG Refugio, eine Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), die von der Caritas betreut wird. Hier finden Jugendliche, die zumeist auf sich allein gestellt aus unterschiedlichen Krisenregionen der Welt nach Österreich gekommen sind, bis zur Volljährigkeit ein neues Zuhause. Eine von ihnen ist die 16-jährige Amel, die mit ihren beiden Brüdern aus Afghanistan geflüchtet ist. Seit einem halben Jahr leben alle drei in der Wohngemeinschaft. Amel trägt ein lockeres Kopftuch aus durchsichtigem Stoff, ihre langen schwarzen Haare sind zu einem losen Zopf zusammengebunden. Trotz der kalten Jahreszeit trägt sie türkise Flipflops aus Plastik.

Taliban-Terror. Beim Reden löst sich eine Seite des Kopftuches immer wieder und fällt auf ihre rechte Schulter. Amel rückt es behutsam zurecht. „Für die Taliban sind wir keine richtigen Moslems, weil meine Mutter als Krankenschwester gearbeitet hat und ich zur Schule gehen durfte“, sagt sie. „Die Taliban wollen, dass sich die Mädchen fürchten und das Haus nicht verlassen.“ Sie  verschränkt ihre Arme, schlägt ihre Beine übereinander und erzählt, dass sie gemeinsam mit Freundinnen auf dem Heimweg von der Schule war, als zwei Personen auf Motorrädern neben ihnen Halt machten. Sie begannen Flüssigkeit auf die Mädchen zu spritzen. Im ersten Moment dachte Amel, es sei ein Jungenstreich und man wolle sie mit Wasser necken. Doch dann sah sie überall Blut, ihre  Haare und Teile ihres Körpers brannten.

Seit diesem Tag wagte auch sie es nicht mehr, in die Schule zu gehen. Während Amel von ihrem Heimatland erzählt, gerät ihr Redefluss immer wieder kurz ins Stocken. Ihr Blick ist dann suchend und ihr Mund formt sich zu einem schüchternen Lächeln. „Es  tut mir leid, aber manchmal vergesse ich Dinge auch einfach“, sagt sie. Das Regime der Taliban beschreibt Amel als ein  gnadenloses, gegen das Polizei und Regierung machtlos sind. Angst und Terror sind täglicher Begleiter der meisten AfghanInnen. Amels Vater war als Geschäftsmann in der Holzindustrie tätig und arbeitete mit den AmerikanerInnen zusammen. Die Taliban haben ihn und einen ihrer Brüder getötet. Kurz darauf ist ihre Mutter nach Europa geflüchtet, wo sie sich heute aufhält, weiß niemand. Da ihre Brüder den ganzen Tag arbeiteten, war Amel ab diesem Zeitpunkt immer alleine zu Hause. Die Angst, getötet oder entführt zu werden, war allgegenwärtig.

Wenig später half ein Onkel, der in Kabul lebt, die restlichen Habseligkeiten der Familie zu verkaufen, um an Geld für eine Flucht zu kommen. Wie lange diese tatsächlich gedauert hat, weiß Amel nicht mehr. „Ich denke es waren drei bis vier Monate, aber ich bin mir nicht sicher. Wir haben in dieser Zeit nicht darüber nachgedacht, wie lange wir schon unterwegs sind. Wir haben einfach nur  gebetet“, sagt Amel.

So wie Amel und ihren Brüdern geht es vielen. Im Jahr 2011 haben laut Angaben des Bundesministeriums für Inneres (BMI) mehr als 1100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Österreich erreicht. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, Pakistan und  Somalia. Die Jugendlichen fliehen vor Krieg, Verfolgung, Hunger oder Vertreibung. Im Jahr 2012 wurde bis September bereits jeder zehnte Asylantrag in Österreich von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gestellt. „Das sind alles Überlebende, die es  hierher schaffen“, sagt Elina Smolinski, Betreuerin in der WG Refugio. Gerade Jugendliche seien in einer sehr verletzlichen Situation,  wenn sie alleine unterwegs sind – besonders die Mädchen. Bis sie es nach Österreich schaffen, sind sie oft monatelang unterwegs.

Doch was im Moment fehlt, sind ausreichend geeignete Unterbringungsplätze für die Jugendlichen. Zwar hat sich die Situation für  unbegleitete Minderjährige laut Smolinski seit der Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen im Jahr 2004 verbessert, das Problem sei aber, dass es in den vergangenen Jahren immer Schwankungen gegeben habe. Darum ist es auch nie vorhersehbar,  wie viele Plätze benötigt werden.

Erstaufnahme. In der WG Refugio leben momentan acht Mädchen und acht Jungen. Alle besuchen Deutschkurse oder Schulen.  Früher hatte die Caritas zwei Wohngemeinschaften in Wien, eine musste jedoch geschlossen werden, weil Wien die Quotenplätze   übererfüllt hat. „Dass die Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht einmal annähernd ausreichend sind, sieht man an der momentanen Situation in Traiskirchen“, sagt Smolinski. Dorthin kommen die Jugendlichen, bevor sie an die Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgeteilt werden. Im Moment müssen in Traiskirchen über 500 unter 18-Jährige ausharren,  ohne Zugang zu sozialpädagogischer oder psychologischer Betreuung. Darunter auch unter 14-Jährige, obwohl der  Grundversorgungs- Koordinationsrat im Dezember 2011 festgehalten hat, dass unbegleitete Flüchtlinge unter 14 Jahren nicht in die Erstaufnahmezentren Traiskirchen oder Thalham überstellt werden sollten. Stattdessen sollen sie in Heimen oder Wohngemeinschaften in jenem Bundesland untergebracht werden, in dem sie angehalten wurden und die von den dort ansässigen Jugendwohlfahrtsträgern betrieben werden.

Auch Amel hat drei Monate in Traiskirchen verbracht. Eine Zeit, an die sie sich nicht gerne zurückerinnert, denn „Traiskirchen ist hart.“ Sie erzählt von überbelegten Zimmern, Konflikten mit anderen Flüchtlingen, zu wenig Essen und einer unzureichenden medizinischen Versorgung.

Fremdbestimmtes Alter. Außerdem wurde für Amel in Traiskirchen ein neues Geburtsdatum festgelegt. Nach einer Reihe medizinischer Untersuchungen wurde ihr Alter auf 16 Jahre angesetzt. Laut eigenen Angaben ist sie erst 15. Trotzdem respektiert sie die Entscheidung: „Mir ist es egal, ob ich 15, 16, 17 oder 18 Jahre alt bin, solange ich hier die Möglichkeit bekomme, ein gutes Leben zu führen“, sagt sie und erzählt, dass sie selbst viele Menschen in Österreich viel jünger schätzt. „In Afghanistan arbeiten Kinder schon im Alter von acht Jahren, darum sehen sie im Gesicht auch viel älter aus.“

Smolinski erzählt, dass die Altersbegutachtung für die Jugendlichen eine große Belastung sei. „Sie erleben das als sehr einschüchternd. Es manifestiert sich dadurch, dass ihnen nicht geglaubt wird.“ Außerdem sei es für einen jungen Menschen, der  viele Veränderungen durchgemacht hat und auf der Suche nach seiner Identität ist, verunsichernd, wenn vom Staat ein neues Geburtsdatum festgelegt werde. Auch Herbert Langthaler von der Asylkoordination Österreich stellt die Brauchbarkeit der Methode  in Frage und zweifelt an ihrer ethischen Vertretbarkeit. „Wir haben mehrmals vorgeschlagen, dass in diese rein medizinische, physische Untersuchung auch soziale, gesundheitliche und psychologische Aspekte hineingebracht werden“, sagt Langthaler. Eine Volljährigkeitserklärung hat zudem erhebliche Konsequenzen für eineN MinderjährigeN. Beispielsweise darf er/sie nicht mehr in  einer Betreuungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnen. Viele müssen dann ihre Ausbildung abbrechen und werden in abgelegene AsylwerberInnenheim überstellt, wo es keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.

Kein Schutz. Obwohl unbegleitete minderjährige Flüchtlinge rechtlich besser gestellt sind und besser betreut werden, stehen die Chancen auf permanentes Asyl schlecht. Bislang wurde ihnen zumeist ein subsidiärer Schutz gewährt, eine Art zeitlich befristetesAsyl, um das immer wieder neu angesucht werden muss. Doch auch dieses wird laut Langthaler in letzter Zeit immer seltener ausgestellt. Abschiebungen nach Afghanistan oder Somalia können aber nicht durchgeführt werden, weil die Botschaftenkeine Heimreisezertifikate ausstellen. Die Folge ist, dass die Flüchtlinge schlecht versorgt und ohne Chance auf eine Arbeit oder eine andere Beschäftigung in Österreich bleiben. Auch Amel hat bereits ihren Antrag auf Asyl eingereicht, bisher aber keine Antwort bekommen. Eigentlich müsste das Bundesasylamt innerhalb der ersten sechs Monate eine Entscheidung treffen. Diese Frist wird laut Smolinski aber kaum eingehalten.

Durchschnittlich beträgt die Wartezeit auf die erste Entscheidung ein bis zwei Jahre, sie mündet meist direkt in ein Berufungsverfahren. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, sind die meisten Flüchtlinge, die als Minderjährige nach Österreich gekommen sind, bereits volljährig. Die lange Wartezeit schürt die Ängste der Jugendlichen. „Ich habe Angst, aus dem Land geworfen zu werden und dann zu sterben oder an einen 60-jährigen Mann verkauft zu werden“, sagt Amel.

Zwei Klassen. Neben den lang andauernden Verfahren gibt es auch bei der finanziellen Unterstützung Handlungsbedarf. Die Tagsätze für die Betreuung und die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurde seit dem Jahr 2004 nicht angehoben. Für Smolinski existiert zwischen österreichischen Jugendlichen ohne Eltern und unbegleiteten minderjährigen  Flüchtlingen noch immer eine Ungleichbehandlung. „Da gibt es klar eine Zweiklassengesellschaft“, so Smolinski. Das bestimme auch den Alltag der Jugendlichen, denn sie leben an der Armutsgrenze. Doch kein Grund für Amel, den Mut zu verlieren. Trotz allem sagt sie: „Das Leben ist so schön. Für mich ist es hier, als würde ich eine neue Familie bekommen.“

*Name von der Redaktion geändert.

Die Autorin Elisabeth Mittendorfer ist freie Journalistin in Wien.