Italien

Italien, ein Land ohne Linke.

  • 30.06.2017, 12:41
Italien war immer schon ein politisches Labor, heute greift der Neoliberalismus erneut Verfassung und ArbeiterInnenrechte an.

Italien war immer schon ein politisches Labor, heute greift der Neoliberalismus erneut Verfassung und ArbeiterInnenrechte an.

Die italienische Regierung besteht gerade aus einer Koalition zwischen Partito Democratico (PD) und Mitterechtspartei Alternativa Popolare. In den letzten Jahren wurde das Arbeitsrecht eingeschränkt und eine unternehmensfreundliche Wirtschaftspolitik betrieben. Italiens Politik hat sechs turbulente Jahre hinter sich. 2011 wurde Berlusconi gezwungen zurückzutreten, die Expertenregierung Monti wurde vom Staatsoberhaupt eingesetzt, die Wahlen 2013 brachten keine eindeutige Mehrheit und seitdem gab es drei verschiedene Ministerratspräsidenten des PD und unzählige Reformen: Arbeitsrecht (Jobs Act), Schulsystem (La Buona Scuola) und öffentlicher Dienst (Madia-Reform).

Arbeitsrecht und Prekarisierung. Die Monti-Regierung hatte die Arbeitsrechte eingeschränkt und durch den Jobs Act wurden alte Forderungen Berlusconis umgesetzt. Die Macht in der Schule wurde zentralisiert aufgelegt und die Reformen des öffentlichen Dienstes hatten das Ziel, Entlassungen von ineffizienten und fahrlässig handelnden Angestellten zu vereinfachen.

Diese Flexibilisierung hat die Situation der arbeitenden Schichten weiterhin verschlechtert, während Unternehmen von Steuerentlastungen und vom Regierungskampf gegen Gewerkschaften profitieren. Renzi galt 2013 als große Hoffnung des progressiven Lagers, um dann die Parteipolitikin der politischen Mitte bzw. Mitterechts zu verankern. Auslandsinvestoren hätten Arbeitsplätze schaffen müssen, aber bislang ist es nur bedingt gelungen, weil Probleme wie Korruption, Bürokratie und Infrastrukturen weiterhin bestehen.

Neoliberale Agenda. Die Verfassungsreform vom 4. Dezember 2016 galt als ein Wendepunkt der Innenpolitik. Die Reform der Verfassung wird seit Jahrzehnten erwartet, aber konnte nie umgesetzt werden. Wie so oft war das Thema der perfekte Bikameralismus – wenn beide Kammern gleichermaßen an der Gesetzgebung beteiligt sind –,der angeblich zu einem langsamen und ineffizienten Gesetzgebungsprozess geführt hat. Seit Anfang des Jahrhunderts wird aber massiv mittels Gesetzesdekreten regiert – rechtssetzende Akte, die sofort in Kraft treten, aber innerhalb von 60 Tagen in ein Gesetz umgewandelt werden müssen, um weiterhin aufrecht erhalten zu bleiben. Diese Akte werden von der Regierung und nicht vom Parlament erlassen und wären nur für Sonderfälle oder Krisensituationen gedacht.

Die italienische Verfassung, die als großer Kompromiss zwischen allen antifaschistischen Kräften 1948 in Kraft getreten ist, steht längst unter großem Druck, weil sie nicht mehr als zeitgemäß empfunden und als zu stark sozialistisch wahrgenommen wird. Bei der Volksbefragung 2006 scheiterte Berlusconis Versuch, ein semi-präsidentielles System zu etablieren. Sein Wirtschaftsminister Tremonti versuchte Jahre später aus Art. 41 die sozialen Aspekte herauszustreichen. Dieser besagt:„Die Privatinitiative in der Wirtschaft ist frei. Sie darf sich aber nicht im Gegensatz zum Nutzen der Gesellschaft oder in einer Weise, die die Sicherheit, Freiheit und menschliche Würde beeinträchtigt, betätigen. Das Gesetz legt die Wirtschaftsprogramme und geeignete Kontrollen fest, damit die öffentliche und private Wirtschaftstätigkeit nach dem Allgemeinwohl ausgerichtet und abgestimmt werden kann.“

M(atteo) wie Machtrausch Der Finanzberater JP Morgan hatte sich schon 2013 offen für einen Umbau der Staatsform und eine Reform der Verfassung geäußert, 2016 wurde eine Verfassungsreform geplant. Ähnlich wie bei der Verfassungsreform 2006 sollte der Ministerratspräsident gestärkt, das perfekte Zweikammernsystem abgeschafft und der Senat in eine Kammer der Regionen umgewandelt werden. Die stimmenstärkste Partei hätte die absolute Mehrheit der Sitze im Parlament bekommen – ohne ein starkes Oppositionsrecht vorzusehen. Die fehlenden checks and balances hätten dazu führen können, dass die Regierung Staatoberhaupt und Verfassungsrichter (ein Drittel davon werden vom Staatsoberhaupt selbst ernannt) hätte stellen können. Herabwürdigung von Kritikern und populistische Aussagen zu den Folgen der negativen Abstimmung ersetzten die Debatte. Am 4. Dezember 2016 bekam das „Ja“ nur knapp 40 Prozentder Stimmen. Viele WählerInnen haben auch eher gegen Renzi als gegen die Reform gestimmt.

Wenige Monate nach seinem Rücktritt wurde Renzi erneut von der Parteibasis mit 70 Prozent Vorzugsstimmen gewählt und arbeitet nun an seiner Rückkehr. Die Partei wird jetzt bloß als instrumentum regni benutzt, obwohl sie 2007 als großer politischer Kompromiss zwischen den katholisch-progressiven und den postkommunistischen Kräften ins Leben gerufen wurde. Renzi verändert die Partei sehr tief: viele Kernpunkte von Berlusconis Programm wurden umgesetzt und ihre historische Wählerschaft betrogen. Der ex-linke Flügel hat inzwischen die Bewegung Movimento Progressisti e Democratici gegründet, die laut Wahlumfragen nicht über 3 Prozent geschätzt wird.

Matteo Renzi ist ein talentierter Performer. Er bezog sich kommunikationstechnisch auf Obama, Blair und Macron, übernahm aber auch wesentliche Aspekte Berlusconis Regierungsstils. Dadurch verschob sich der gesellschaftliche Diskurs nach rechts und davon profitierten(Rechts)Populisten wie Salvini und Grillo, die angeblich eine Kooperation bei der nächsten Wahl anstreben. Somit entpuppte sich das „weder rechts noch links“ des M5S als ein bloßes Mittel, um Stimmen aus den linken Lager zu ködern und gleichzeitig einen rechtspolitischen Kurs zu betreiben.

Matteo Da Col hat Politikwissenschaft und Translation an der Universität Wien studiert und arbeitet als Übersetzer.

 

Glück im Unglück

  • 13.07.2012, 18:18

Das Wiener Filmmuseum würdigt mit seinem Jänner-Schwerpunkt Dino Risi und die Commedia all’italiana eine Lebenseinstellung, die das Unglück der Welt nicht relativiert, sich davon aber auch nicht verrückt machen lässt. Eine Analyse.

Das Wiener Filmmuseum würdigt mit seinem Jänner-Schwerpunkt Dino Risi und die Commedia all’italiana eine Lebenseinstellung, die das Unglück der Welt nicht relativiert, sich davon aber auch nicht verrückt machen lässt. Eine Analyse.

Das Filmmuseum in Wien wurde im Jänner gestürmt. Beinahe vor jeder Vorführung spielten sich an der Kassa hektische Szenen ab. Die Karten waren viel zu schnell weg, die sich drängenden BesucherInnen wurden ersucht, doch bitte Reservierungen vorzunehmen. Was zog die Menschen an? Diese Frage kann auf den ersten Blick leicht beantwortet werden: Der Filmschwerpunkt Dino Risi und die Commedia all’italiana schaffte es, das Publikum zu unterhalten, zu belustigen und zu begeistern. Italienischer Film von den späten 1950er Jahren bis tief hinein in die 1970er. Es gab Vorführungen, in denen die ZuseherInnen durchgehende 120 Minuten nicht zur Ruhe kamen. Szene für Szene folgte ein Gag dem nächsten, die Leinwand wurde zur Dirigentin eines Lachkonzerts. Am Ende konnten sich einige das Lachen sogar dann nicht verkneifen, wenn es in Wirklichkeit keinen Grund dafür gab. 

Die dramatische Wende. Das Fröhliche und Lustige stand bei den Filmen aber immer nur scheinbar im Vordergrund. Bei nicht wenigen scheint es, als ob der Humor beim Publikum Blockaden abtragen soll, um empfänglich für die eigentliche, tiefere Botschaft zu machen. „Risis Filme zeigen meist eine Fröhlichkeit, die sich ins Dramatische verkehrt“, schreibt der Spiegel mit Recht. Das Fröhliche fällt dann dem Dramatischen in Form des Lebens mit all seinen Unzulänglichkeiten zum Opfer.
Warum aber reißen sich Scharen von Menschen darum, vierzig bis sechzig Jahre alte Filme zu sehen, in denen lockerer Spaß zum Drama wird? Was für eine Aktualität tragen diese alten Streifen in sich, die die ZuseherInnen zu fesseln vermag? Diese Fragen führen uns zum zweiten, genaueren Blick: Auf diesen zweiten Blick ist die Frage nach dem Erfolg des Jänner-Schwerpunkts des Filmmuseums nicht mehr ganz so einfach zu beantworten. Womöglich ist es an dieser Stelle wichtig zu wissen, dass der 2008 in Rom verstorbene Risi nicht nur Regisseur und Drehbuchautor, sondern auch Psychiater war.
Ein Psychiater, der mit seinen Filmen darstellt, dass kleines Glück oft gar nicht so klein und auch in einer unglücklichen Welt möglich, ja notwendig ist. Risi zeigt, dass es vielleicht im falschen Leben tatsächlich kein richtiges gibt, aber dass wir uns davon besser nicht verrückt machen lassen sollten. 

Intensives Leben. Risi zeichnet das Bild eines Nachkriegs-Italiens mit all seinen Unzulänglichkeiten und Ungerechtigkeiten. Er nimmt die ganz großen Themen seiner Zeit ins Visier: Es geht um die Kluft zwischen (zumeist) durchtrieben und sinister dargestellten Bourgeoises und den Besitzlosen, um Korruption, Verbrechen, den Faschismus und seine (ungenügende) Bewältigung und den rapiden wirtschaftlichen Aufschwung jener Jahre. Und sehr oft handeln die Filme ganz einfach von den Beziehungen zwischen Mann und Frau in einem patriarchalen Italien, das so klare Geschlechterrollen vorgab, dass ihnen letztlich niemand entsprechen konnte.
Aber zwischen all diesen Brüchen, Widersprüchen und Ungerechtigkeiten tauchen in Risis Filmen Menschen auf, die darum kämpfen, ihren Stolz nicht zu verlieren und ihre Rolle zu finden. Sie sehen die Ungerechtigkeit und die eigene Unzulänglichkeit, aber sie sehen auch, dass es keinen Sinn hat, auf das Gesehene mit Hass zu reagieren. Risi macht aus dem Leben mit all seinen Baustellen eine eigene Ästhetik des Seins, die von den ProtagonistInnen laut und lebendig und oft genug auch rabiat gelebt wird. Dabei werden alle Italien-Klischees bedient, für die die Italiener und Italienerinnen so weit über ihre Staatsgrenzen hinaus bekannt und beliebt sind. Kurz: Der Drang zum intensiven Leben.  
Natürlich geht das nicht immer gut. Viele der Film-Charaktere sind zum Scheitern verurteilt. Sie scheitern direkt vor den Augen des Publikums, werden dabei für Verhältnisse bestraft, für die sie nichts können. Aber Risis Verdienst ist es, genau an diesem Punkt des Scheiterns zu zeigen, dass nicht alles verloren ist. Die hätten es auch irgendwie schaffen können, ein Schlupfloch finden können, das es in Italien immer gibt – die Frage lautet nur wo. Ein paar dieser Schlupflöcher hat das Filmmuseum mit seinem Risi-Schwerpunkt nach Österreich geholt. Das ist schön, denn wir können sie gut brauchen.

 

 

Die Geister der Geisterstadt

  • 13.07.2012, 18:18

Vor einem Jahr hat ein Erdbeben die italienische Stadt L’Aquila zerstört. Der Wiederaufbau geht zäh bis gar nicht voran. Wie sich die AquilanerInnen ihre Stadt zurück erschleichen.

Vor einem Jahr hat ein Erdbeben die italienische Stadt L’Aquila zerstört. Der Wiederaufbau geht zäh bis gar nicht voran. Wie sich die AquilanerInnen ihre Stadt zurück erschleichen.

"Dal silenzio al silenzio“ steht über dem Eingang des Theaters von L’Aquila – oder dem, was davon übrig ist. Gegenüber befinden sich die Ruinen der ehemaligen Schule, kaputte Fenster, bröckelnde Fassade. Wo vor einem Jahr Kinder aus dem Unterricht gelaufen kamen, ist heute kein Mensch mehr. Nach dem Beben mussten die AquilanerInnen ihre Stadt verlassen. Auf den Theatereingang haben sie die Höllentor-Verse aus Dantes Göttlicher Komödie geschrieben: „Durch mich geht man hinein zur Stadt der Trauer, durch mich geht man zu dem verlorenen Volke.“
Bis auf einen ausgewiesenen Weg zum Hauptplatz darf die Stadt niemand betreten. Ein zwei Meter hoher Metallzaun umgibt die zerstörte Stadt, die von SoldatInnen mit Maschinengewehren bewacht wird. Sie streifen die Absperrungen entlang, lehnen gelangweilt an ihren Fahrzeugen oder rauchen Zigaretten. Sie sollen dafür sorgen, dass kein Mensch zu den Ruinen von L’Aquila vordringt.

Die BewohnerInnen kehren zurück. An diesem Nachmittag durchbricht aber das Klappern von Stöckelschuhen die gespenstische Stille von L’Aquila. Um die Ecke kommt eine Frau mit schicker Sonnenbrille, ihre Hände in einen braunen Trenchcoat gesteckt. Flotten Schrittes geht sie auf den Metallzaun zu, blickt sich zweimal um und zieht den Zaun ein Stück zu sich. Dann zwängt sie sich wie selbstverständlich durch die schmale Lücke zwischen Absperrung und Hausmauer, putzt sich ihren Mantel ab und klappert weiter die verlassene Straße entlang. Frau Gennaioli geht „nach Hause“.
Genau ein Jahr ist es her, dass das Erdbeben im Zentrum Italiens die Stadt L’Aquila zerstört hat. Ein Jahr wartet die beschauliche Stadt auf dem Hügel der Abruzzen im eigenen Schutt darauf, aufgeräumt zu werden. 308 Menschen sind in der Nacht, als die Erde bebte, ums Leben gekommen. Frau Gennaioli und ihre Familie hatten Glück: Ihre Wohnung in der Via dei Sali blieb verschont.
Aus dem Fenster der alten Erdgeschoßwohnung winkt Großvater Gennaioli, wenige Sekunden später kommt die Tochter um die Ecke gebogen. Sie
und ihre Mutter küssen sich und fallen sich um den Hals. Da pfeift der Großvater leise durch die Finger und deutet schnell zum anderen Ende der Straße. Ein Soldat in knallgelber Warnweste blickt die Straße zu ihnen hinunter. Sofort springen die beiden in das kühle Stiegenhaus ihrer Wohnung. Leise lachen sie, als der Großvater sie mit einer Flasche Grappa in Empfang nimmt.

Das Erdbeben. Seit einem Jahr ist die Wohnung quasi unberührt. Die Familie ist nur einige Male seit der verheerenden Nacht heimlich heimgekehrt, um zu putzen. In der Spüle liegen Schwamm und Geschirrspülmittel, die Töpfe sind geordnet, auf dem Regal neben dem Esstisch liegen die Zeitungen von damals. 5. April, der Tag vor dem Erdbeben. „Wir hatten großes Glück“, erzählt Frau Gennaioli. „Um elf in der Nacht hatte die Erde bereits einmal stark gebebt, das hat vielen Menschen in L’Aquila das Leben gerettet.“ Sie flüchteten auf die Straße, die Gennaiolis überhaupt raus aus der Stadt. Die Familie besitzt ein zweites Haus etwa 20 Minuten außerhalb L’Aquilas. Um 3:32 Uhr fesselten sie die Erdstöße buchstäblich an ihr Bett. Niemand hat sich getraut, sich zu bewegen. Doch der eigentliche Schock kam erst tags darauf, als sie zurück in ihre Stadt kamen. „L’Aquila war eine einzige weiße Schlange, die langsam hin und her kroch.“ Der Schutt, die Asche, dazwischen blutüberströmte Menschen. „Wir waren umgeben von einem Geruch, den wir noch nie gerochen hatten und den wir wohl auch nie wieder riechen werden.“
Frau Gennaioli zeigt die hölzerne Kommode, die sie selbst babyblau gestrichen hat, das Schlafzimmer ihrer Kinder, die beide in diesem Haus mit ihrem Studium fertig wurden. Jeder Schritt, jeder Handgriff der Familie Gennaioli ist über Jahrzehnte erprobt. Das ist ihr Haus, hier sind sie zuhause.

Die Berlusconi-Häuser. Daran ändern auch die in Windeseile erbauten, erdbebensicheren Ersatzhäuser um L’Aquila nichts. Früher lebten etwa 80.000 Menschen in der Stadt, heute sind es 20.000, die sich am Rand der Stadt ein neues Haus schenken haben lassen. Silvio Berlusconi wusste politisches Kapital aus dem Erdbeben zu schlagen. Mit Steuergeldern ließ der ehemalige Bauunternehmer das neue L’Aquila, „L’Aquila 2“, aus dem Boden stampfen. In jeder einzelnen Wohnung wartete gekühlter Champagner auf die neuen HausbewohnerInnen, mit bis zu € 1.500 Taschengeld im Monat wurde den Menschen sofort geholfen. Währenddessen verfällt das alte L’Aquila. „Man muss Berlusconi allerdings lassen: Er hat es geschafft, binnen einen Jahres eine neue Bleibe für 80.000 Menschen zu organisieren“, sagt Frau Gennaioli.

„Wir wollen unsere Stadt zurück.“ Doch viele AquilanerInnen werden unruhig. Während die Gennaiolis in ihrer alten Wohnung Erinnerungen austauschen, füllt sich langsam der Hauptplatz mit den AquilanerInnen, die heute am Jahrestag des Bebens zurückkehren und ihrem Unmut freien Lauf lassen: „Wir wollen unsere Stadt zurück“, steht auf dem großen Transparent am Piazza del Duomo. Für sie geht der Wiederaufbau viel zu langsam voran, sie wollen endlich heimkehren. Tatsächlich wurden im vergangenen Jahr nur einige wenige Häuser renoviert, bezeichnenderweise als erstes die zwei Banken am Hauptplatz. Einige AquilanerInnen leben noch immer in Hotels an der Adriaküste. „Verwendet die Steine neu: Das L’Aquila von gestern für das L’Aquila von morgen!“, fordern sie auf einem anderen Transparent. Ein älterer Italiener schüttelt nur den Kopf, wenn er nach seiner Stadt befragt wird. „Es ist ein Desaster. Eine militarisierte Stadt und kein Geld zum Wiederaufbau.“
In der Nacht zum 6. April werden sich 25.000 Menschen zum Gedenken versammeln, für einen Tag kehrt Leben in die Stadt zurück. Doch schon am Morgen, nach den Gedenkveranstaltungen werden hier wieder nur die SoldatInnen zurückbleiben, die darauf aufpassen, dass Menschen wie die Gennaiolis nicht in die verbotene Stadt eindringen. Das wird sie aber nicht davon abhalten, es trotzdem zu tun.

Faschistisch und revolutionär

  • 13.07.2012, 18:18

Eine faschistische Kleingruppe in widersprüchlichem Gewand gewinnt immer mehr Einfluss in Italien.

Eine faschistische Kleingruppe in widersprüchlichem Gewand gewinnt immer mehr Einfluss in Italien.

Im Jahr 2003 besetzte eine Gruppe von NeofaschistInnen ein Gebäude in Rom, das sie nach dem Dichter Ezra Pound, einem Verfechter Mussolinis, Casa Pound (CP) nannten. Sie berufen sich auf den italienischen Bewegungsfaschismus der 1920er-Jahre, den sie zu modernisieren versuchen – mit beunruhigendem Erfolg: Das Haus beherbergt heute über 20 italienische Familien und die Casa Pound ist mit über 2.000 eingeschriebenen Mitgliedern bereits in 14 Städten in ganz Italien vertreten. Unterstützt wird sie von ihrem intellektuellen Arm, dem Blocco Studentesco.

Weder links noch rechts. Die Einteilung des politischen Spektrums in links und rechts betrachten die NeofaschistInnen als veraltet: Weder links noch rechts, sondern „faschistisch-revolutionär“ sei die CP. Die Dinge werden selbst in die Hand genommen, Parteien und Gewalt nach außen hin abgelehnt. Im Zentrum ihres Programmes steht die Einheit der italienischen Nation und der Erhalt der Kernfamilie.

Ewiggestriges in poppigem Gewand. Ordentlichkeit und das Verbot von Waffen und Drogen innerhalb der CP sollen ein seriöses Bild vermitteln. Der Öffentlichkeit präsentiert die Casa Pound ein breites kulturelles Angebot. Rechtsrockkonzerte gehören ebenso dazu wie ein Radiosender und Theaterstücke. Außerdem wird zu Flashmobs, Demos und klassischen NGO- und Charity-Tätigkeiten aufgerufen. Ihre Bildsprache bedient sich antisemitischer Sujets, die allerdings auch aufgrund ihrer weiten Verbreitung in linken Kreisen für viele nicht unmittelbar auf rechtes Gedankengut hinweisen. In den politischen Kampagnen der CP wird neben dem „Aussaugen“ Italiens durch „Mietwucher“, „Raffgier“ und das personifizierte Böse, verkörpert von ImmobilienspekulantInnen („Vampire“), auch alles angeprangert, was die italienische Kernfamilie bedroht (Homosexuelle, FeministInnen, illegalisiert lebende MigrantInnen). Mit diesen widersprüchlichen Positionen will sich die CP in die in Mode gekommenen Grassroots-Bewegungen eingereiht wissen.

So gewaltfrei und bürgerlich sich die CP nach außen hin auch geben mag, so sehr widersprechen die Fakten dieser Selbstdarstellung. Der studentische Zweig der CP, der Blocco Studentesco, schreckt nicht vor Gewalt zurück: 2011 wurde bei Studierendenprotesten in Rom ein Demonstrationszug linker SchülerInnen und StudentInnen angegriffen. Auch der Attentäter, der im Dezember 2011 in Florenz zwei senegalesische Händler auf offener Straße erschoss und drei weitere schwer verletzte, stand in enger Verbindung zur Casa Pound. Letztere versuchten in den Tagen nach dem Mord auf ihrer Homepage ihr angekratztes Image wieder herzustellen, indem sie jede Verbindung zum Täter leugneten und diesen als irren Einzeltäter hinstellten. Gleichzeitig wird der grausame Mord in einschlägigen Internetforen und Facebookgruppen als HeldInnentat dargestellt. Dass solche Strategien des Leugnens nach wie vor aufgehen, liegt weniger am Geschick einer Organisation wie der CP, als vielmehr an der Akzeptanz rechtsextremer Ideologien in weiten Teilen Europas.