Iran

Metallica verursacht Redaktionskrise

  • 25.10.2016, 14:34
Ein iranischer Exil-Radiosender in San Francisco, dessen Werbewert durch einen Besuch der Rockband Metallica signifikant gesteigert wird, ist Schauplatz des Films „Radio Dreams“.

Ein iranischer Exil-Radiosender in San Francisco, dessen Werbewert durch einen Besuch der Rockband Metallica signifikant gesteigert wird, ist Schauplatz des Films „Radio Dreams“.

Würden die ProtagonistInnen den Namen der Stadt nicht erwähnen und wären die Straßen nicht so charakteristisch steil, könnte auch jede andere amerikanische Großstadt Ort der Handlung sein. Auf klischeebehaftete Establishing Shots wird verzichtet und gesprochen wird fast ausschließlich Farsi.

Im Zentrum der Handlung steht der zumeist als Mister Royani adressierte Chefredakteur des kleinen Senders. Der Film begleitet ihn durch jenen turbulenten Tag, als Metallica sich ankündigten, um auf Radio Pars mit der afghanischen Rockband „Kabul Dreams“ zu jammen. Die prominenten Gäste, die sehr lange auf sich warten lassen, stellen durch ihren großen Namen und die damit verbundene Attraktivität für WerbekundInnen den Sendebetrieb auf den Kopf.

[[{"fid":"2357","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Nebenbei wird Mister Royani in einer Interview-Sequenz nicht nur als Radiochef, sondern auch als reichlich einsamer Exilliterat gezeichnet. Sein Englisch reicht aus, um die Fragen des Interviewers zu verstehen – nicht jedoch, um sie seinen eigenen Ansprüchen gerecht werdend zu beantworten. Der Übersetzer scheint mit der Komplexität der Antworten überfordert zu sein. Als Mister Royani aus purer Verzweiflung dann doch versucht, auf englisch zu antworten, bringt er nur gestammelte Wortfetzen hervor, die mindestens genauso platt klingen wie die verunglückten Übersetzungsversuche. Die Szene ist zugleich hochkomisch und tieftraurig.

Nachdem Mister Royani an jenem schicksalshaften Tag aus kommerziellen Gründen bereits einen Experten für die Körperenthaarung iranischer Frauen interviewen musste, kündigt sich ein weiterer skurril anmutender Gast an. Die amtierende „Miss Iran USA“ scheint die Gunst der Stunde nutzen zu wollen, um im Schatten von Metallica etwas Fame abzugreifen.

Im Live-Gespräch mit Mister Royani stellt sie sich nicht nur als intelligent und wortgewandt heraus, sondern auch als Poetin, die gerne eines ihrer Gedichte vorgetragen hätte. Gefangen in seiner eigenen Frustration verweigert ihr Mister Royani diesen Wunsch und bricht das Interview ab.

„Radio Dreams“ ist ein Film, der sich nicht recht entscheiden mag, ob er Drama, Komödie oder skurrile Posse sein möchte. Er zeichnet seine ProtagonistInnen als Witzfiguren, schafft es aber dennoch Empathie mit ihnen zu wecken. Genau das macht den Film kurzweilig und sehenswert – auch für Menschen, die mit Metallica nicht viel anfangen können.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.

Auf in das Alter der Pflichten

  • 24.05.2016, 12:55
Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

„Willkommen, meine kleinen Engel. Von nun an müsst ihr den Hijab tragen und euch gut benehmen.“ Eine Reihe aufgeregter, neunjähriger Mädchen wird mit diesen Worten auf ihrem „Fest of Duty“ begrüßt. Nach Vorstellung der Islamischen Republik Iran befinden sich die Mädchen nun im „Alter der Pflicht“. Das „Fest of Duty“ ist ein rituelles Fest, welches die Neunjährigen über ihre Pflichten als erwachsene muslimische Frauen aufklärt. Eins, das erst nach der Islamischen Revolution erschaffen wurde und so die Aufmerksamkeit der iranischen Filmemacherin Firouzeh Khosrovani, weckte:

Es war 2005. Ich lebte und studierte zu dieser Zeit in Italien. Eines Tages sah ich im Staatsfernsehen diese Zeremonie, die an einer iranischen Volksschule durchgeführt wurde. Als ich neun war, gab es das „Fest of Duty“ noch nicht. Das heißt es wurde nicht direkt nach der Islamischen Revolution, sondern erst einige Jahre später erfunden. Ich fand es sehr spannend, wie den kleinen Mädchen gelehrt wird, dass sie von nun an den Hijab tragen müssen. Das ist sehr früh: Mit neun gibt es ja noch nichts zu verdecken.

Gleichzeitig ist es ein sehr schlaues Ritual: Mit Hilfe von Spielen, mit Vorführungen, mit sehr viel Details wird den Mädchen auf attraktive Weise gelehrt, was es heißt eine muslimische Frau zu sein. Es gibt keinen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben. Die Mädchen können in diesem Alter noch gar nicht verstehen, dass mit diesem Ritual versucht wird, ihnen ein sehr rigoroses Wertesystem beizubringen. Das hat mich alles sehr interessiert. Daher filmte ich einer diese Zeremonien und sprach mit den Kindern. Acht Jahre später kam ich zurück und sah mir das Ergebnis dieser Art des Lehrens an. Ich wollte herauszufinden wie die Mädchen nun im Teenager-Alter über Religion und ihre weiblichen Pflichten dachten.

Das Ergebnis zeigt Khosrovani am Beispiel zweier Mädchen: Auf der einen Seite, Maryam. Mit Überzeugung trägt sie den Hijab. Sie spricht viel mit Gott – vor allem wenn sie Probleme hat, die sie mit niemand anderen teilen will. Wieso sie den Tschador tragen soll, erschließt sich ihr jedoch nicht. Er ist unpraktisch, es ist zu heiß darunter: „Wer sagt, dass Gott von uns verlangt unter den härtesten Bedingungen zu leben?“ Und doch, in der Öffentlichkeit trägt Maryam wie die anderen Frauen in ihrer Familie auch, den Tschador – eine Art Umhang, der vor der Revolution verboten war.

[[{"fid":"2256","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Auf der anderen Seite, Melika: Zu Hause trägt sie bewusst keine Kopfbedeckung. Nur hin und wieder ein Baseballcappy, beim Tanzen zu Black Eyed Peas zum Beispiel. Ihre alleinerziehende Mutter wirkt wie eine gute Freundin. Melika träumt davon Schauspielerin zu werden, im Westen, denn dort gäbe es mehr Freiheiten. Gleichzeitig hadert sie mit der Frage, welche Rollen sie spielen könnte und welche nicht. Schließlich will sie, dass ihre Filme auch im Iran gesehen werden.

16-Jährige Teenager also, die egal ob mit oder ohne Hijab am Kopf, ihre eigenen Meinungen entwickeln, inklusive aller Probleme die damit einhergehen. Die beiden waren vor dem „Fest of Duty“ beste Freundinnen. Die Entscheidung einen Hijab zu tragen oder nicht war mit ein Grund, dass ihre Freundschaft auseinanderdriftete. Ob die Religion öfters zwischen Beziehungen kommt?

Früher, zu Beginn der Islamischen Revolution, war das auf jeden Fall ein größeres Thema. Heute wird es immer weniger, da die Menschen trotz unterschiedlichem Zugang zur Religion stärker im Dialog stehen. Es gab aber eine Zeit, in der die zwei Pole komplett getrennt waren.
Mir war es sehr wichtig, dass ich ein ausgewogenes Bild der beiden Familien zeige. Beim Schneiden des Films war es eine große Herausforderungen, beiden Mädchen gleich viel Raum zu geben, fair zu sein und keine der beiden unterschiedlichen Lebensweisen zu beurteilen. Mir war es auch wichtig, dass aus dem Film nicht ersichtlich wird, ob ich als Filmemacherin religiös bin oder nicht, ob ich einen Hijab trage oder nicht.

„Rough Cut“: Ein weiterer Film von Firouzeh Khosrovani. Er wurde bereits 2007 veröffentlicht. Die Kurzdoku beurteilt im Gegensatz zu „Fest of Duty“ sehr bewusst. Am Beispiel eines nach der Islamischen Revolution eingeführten Gesetzes zeigt Khosrovani, wie weibliche Körper von moralischen Institutionen kontrolliert werden: Im Namen des Anstands werden die Brüste weiblicher Schaufensterpuppen abgeschnitten, jedes Zeichen von Weiblichkeit eliminiert. „Fest of Duty“ hingegen zeigt zwei jugendliche Mädchen, die sich – zumindest zu Hause – selbst entscheiden, wie sie mit ihrem Körper umgehen. Hat sich etwas in den vergangenen Jahren geändert?

Man muss zwischen der Gesellschaft und dem Staat unterscheiden. Wenn es um den Staat geht, hat sich nichts verändert. Den Hijab im öffentlichen Raum zu tragen, ist verpflichtend. Das heißt, hier geht es nicht darum, wie man entscheidet. Es wird vom Staat diktiert. Im privaten Bereich ist es sehr wohl eine Frage der eigenen Entscheidung und hier ist eine Änderung bemerkbar. Du kannst dich dafür entscheiden, einen Hijab zu tragen, aber du kannst auch dagegen rebellieren und ihn nicht tragen. Es passiert immer öfters, dass die neue Generation mit den Traditionen ihrer Familie bricht.

[[{"fid":"2257","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer."},"type":"media","attributes":{"alt":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer","title":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer.","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Dementsprechend ist es nach wie vor nicht einfach, kritische Filme über die iranische Gesellschaft zu machen, wie sieben weibliche Filmemacherinnen aus dem Iran im Rahmen des kollektiven Filmprojekts „Profession: Documentarist“ erzählen. Eine der Filmemacherinnen ist Firouzeh Khosrovani. Gab es mit „Fest of Duty“ noch keine Probleme, haben sich bei „Rough Cut“ die Behörden bei der Filmemacherin gemeldet:

Ich habe ‚Fest of Duty‘ noch nicht im Iran gezeigt. Sollten die Behörden trotzdem auf den Film aufmerksam werden und mir Probleme machen, habe ich keine Angst. Ich kann den Film legitimieren, da ich eben nicht bewertet habe. Ich zeige kein negatives Bild des Islams. Im Gegenteil, man sieht eine offene religiöse Familie.

Bei ‚Rough Cut‘ hingegen wurde ich beschuldigt, ein negatives Bild des Irans im Ausland zu transportieren. Es war aber kein negatives Bild, sondern die Realität. Die Behörden wollten nicht, dass ich Filme über die iranische Gesellschaft mache und mich dabei auf absurde Gesetze fokussiere ­ wie im Fall der verstümmelten Schaufensterpuppen. Sie hatten Angst, dass das von den Medien außerhalb des Irans als Zensur interpretiert werden könnte. Ich antwortete ihnen: Wenn ihr so beunruhigt über absurde Gesetze seid, wieso gibt es diese Gesetze dann?

Dass „Fest of Duty“ als Film konzipiert wurde, der nur schwer von offizieller Seite kritisiert werden kann, liegt nicht daran, dass sich Khosrovani nach den Problemen rund um „Rough Cut“ entmutigen ließ. Das lässt zumindest das neue Projekt, an dem die Filmemacherin arbeitet, vermuten:

Mein neues Projekt ist weniger dokumentarisch. Ich will die Geschichte der Islamischen Revolution, aber auch der derzeitigen iranischen Gesellschaft durch meine Familie, durch die Bilder, durch eine intime Geschichte erzählen.

Ein Trailer des neuen Projektes zeigt zerrissene Familienfotos. Zerrissen wurden sie von der Mutter der Filmemacherin. Nach der Islamischen Revolution zerstörte sie alle Fotos, auf denen Frauen ohne Hijab zu sehen waren, da der Revolutionsführer Ayatollah Khomeini es verbot, Bilder zu betrachten, die Frauen ohne Hijab zeigen. Die Fotos könnten Männer erregen.

„So wurde ein Teil meiner Familiengeschichte zerrissen und ausrangiert“, erklärt Khosrovanis Stimme im Trailer „Radiograph of a Family“ und bettet abschließend die individuelle Geschichte in den Kontext der iranischen Gesellschaft ein: „Diese Geschichte ist nicht nur meine Geschichte. Es ist die Geschichte vieler iranischen Familien, deren Leben zweigeteilt wurde: vor und nach der Revolution.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

„Plötzlich verprügelte man Frauen“

  • 07.03.2014, 12:34

Sogol Ayrom (*1970) ist eine iranisch-österreichische Aktivistin, die für Frauen- und Menschenrechte im Iran kämpft. Im Interview mit progress-online erklärt sie, wieso das iranische Regime frauenfeindlich ist, unter welchen Restriktionen die IranerInnen leiden müssen und warum sie trotz allem Hoffnung hat.

Sogol Ayrom (*1970) ist eine iranisch-österreichische Aktivistin, die für Frauen- und Menschenrechte im Iran kämpft. Im Interview mit progress-online erklärt sie, wieso das iranische Regime frauenfeindlich ist, unter welchen Restriktionen die IranerInnen leiden müssen und warum sie trotz allem Hoffnung hat.

progress online: Wann und warum hast du begonnen gegen das iranische Regime zu kämpfen?

SOGOL AYROM: Ich habe im Alter von 14 Jahren entschieden, dass ich nicht mehr im Iran leben möchte. Der Grund dafür war, dass ich in diesem Alter wegen meiner unzureichenden Kopfbedeckung verhaftet und eingesperrt wurde. Später wurde ich vor einem Gericht zu 60 Peitschenhieben verurteilt, die durch einen Mann vollzogen wurden. Ob mich das eingeschüchtert hat? Nein, ganz im Gegenteil. Ich weigerte mich, mich zu unterwerfen und begann kritisch über den Islam im Allgemeinen und über die Frauenunterdrückung im Iran nachzudenken. Und ich habe mich in kleineren Gesellschaften, in der Familie und in der Schule ausgetauscht.

In diesem Alter habe ich begonnen, mich aktiv gegen dieses Regime zu positionieren. Allerdings gab es schon damals eine enorme Repression gegen Andersdenkende. Deshalb sagte ich zu mir selbst: ‚Ich will hier nicht weiterleben. Ich kann hier nicht leben. Ich möchte nicht, dass meine Töchter in diesem System aufwachsen müssen.’ Glücklicherweise hatte ich Bekannte in Frankreich, zu denen ich mittels eines Studentenvisums flüchten konnte. Mein Vater musste eine hohe Kaution für mich hinterlegen und bekam selbst ein Ausreiseverbot, um mich zu einer Rückkehr zu verpflichten. Diese Bürgschaft führte dazu, dass er niemals den Iran verlassen konnte und daher auch dort verstarb.

1979 wurde im Iran im Zuge der „Islamischen Revolution“ der Schleierzwang eingeführt. Wie war die damalige Situation?

Man sollte sich die Bilder von iranischen Universitäten vor 1979 ansehen. Wir waren genauso wie im Westen gekleidet. Wir hatten sehr viele zivile Freiheiten und niemand hatte vor der Polizei Angst. Frauen waren in allen möglichen Ämtern, sei es in Ministerien oder als Richterinnen. Wir hatten Frauen in Top-Positionen und der Schah hat das damals auch unterstützt. Frauen genossen bereits ab 1963 ihr Wahlrecht – viel früher etwa als in der Schweiz. Das kam im Zuge der weißen Revolution (Anm.: Reformprogramm, das von Schah Mohammad Reza Pahlavi durchgesetzt wurde), wo viele Freiheiten und Rechte sogar Frauen zugesprochen wurden. Frauen waren bis 1979 weitestgehend gleichgestellt, bis es hieß, dass eine islamische Regierung das ehemalige Regime übernehmen wird. Viele Aktivisten – auch linke Frauen und Männer – haben das unterstützt, oft ohne wirklich zu wissen wie das Leben in einem islamischen Staat ist. Sie haben blind mitgemacht. Natürlich ließ man zuerst verlautbaren, dass niemand dazu gezwungen werde einen Hijab zu tragen. Kaum waren sie jedoch gewählt, gab es Spezialeinheiten, die die Einhaltung der Scharia gewährleisten sollten - etwa die „Sittenwächter“ oder die „Pasdaran“.

Plötzlich verprügelte man Frauen, oder man bewarf sie mit Säure, wenn sie kein Kopftuch trugen. Das hatte natürlich zur Folge, dass viele aus Angst das Kopftuch getragen haben. Mir Hossein Mussawi, 1981 und 2009 iranischer Premierminister, ein angeblicher „Reformer“, hat damals ein Gesetz beschlossen, das die Kopftuchbekleidung nur noch in grauer, dunkelblauer, schwarzer oder brauner Farbe erlaubte. Ich kann immer noch nicht verstehen, wieso man sich von ihm Besserung erhoffte.

Sogol Ayrom berichtet David Kirsch über ihr Leben im Iran. Foto: Christopher Glanzl

Du hast erwähnt, dass die Menschen nach 1979 sehr viel Angst gehabt hätten. Gab es damals bereits Proteste gegen den Schleierzwang?

Am Anfang schon. Ich kann mich noch gut erinnern, dass sogar viele Frauen, die bereits vor 1979 das Kopftuch freiwillig trugen – da hatte man ja noch eine Wahl – gegen diesen Zwang mitprotestiert haben. Das hat allerdings nur Verhaftungen und noch mehr Unterdrückung hervorgebracht, weil  unsere Männer damals geschwiegen und nicht mitgemacht haben.

Du meinst, dass man die Frauen damals alleine gelassen hat?

Ja, sie wurden alleine gelassen. Jedoch gibt es seit jeher unter den iranischen Frauen einen starken Zusammenhalt. Das Regime hat es niemals geschafft sie völlig zu kontrollieren, weil die Frauen sich immer wieder auf verschiedenste Art und Weise gewehrt haben. Sie haben immer einen Weg gesucht – trotz des Hijabs – sich schick und modern zu kleiden. Die größte aktive Oppositionsgruppe im Iran waren immer schon die Frauen. Man hat ihnen schließlich die Möglichkeit genommen über ihr Leben zu entscheiden. So ist es auch Shirin Ebadi (Anm.: bekannte Menschenrechtsaktivistin und Nobelpreisträgerin) geschehen. Sie war vor 1979 Richterin, später hat man sie zur Anwältin herabgestuft.

Natürlich haben viele Frauen für ihre Arbeitsplätze und ihre Posten gekämpft, um weiterhin aktiv in der Gesellschaft mitzuwirken. Der Grund, wieso das Regime es nicht geschafft hat, den Iran in ein Land wie Saudi-Arabien umzuwandeln, war der Widerstand der Frauen.

Der Widerstand der Frauen ist also heute noch sichtbar, da diese immer wieder Wege finden, um sich dem Sittenkodex zu entziehen.

Das sind oft total ausgefallene Ideen. Die iranischen Frauen sind kreativ. Obwohl sie immer wieder erniedrigt, geschlagen und verhaftet werden, wenn sie erwischt werden. Sie nehmen all das trotzdem immer wieder in Kauf, weil sie sich einfach nicht den Mullahs beugen wollen. Bereits während der Grünen Bewegung (Anm.: Protestwelle im Iran 2009), als das 30-jährige Schweigen durchbrochen wurde, waren die Frauen in dieser Bewegung an vorderster Front.

Wie du schon erwähnt hast, schien es 2009 so, als wäre eine Art Umsturz im Iran möglich. Was lief damals schief?
Die Bewegung wurde von den westlichen Staaten alleine gelassen. Einerseits wurde der nicht weiter definierte Wunsch nach Veränderung - den diese Bewegung dargestellt hat -, so interpretiert als hätte man bloß gewollt, dass Moussawi die Wahl gewinnen sollte. In den Reihen der Protestierenden waren jedoch nicht nur Reformisten, sondern auch viele, die einen regime change forderten. Die breite Masse war bereit dieses Regime zu stürzen. Wenn ich mit vielen Leuten rede, die vor 5 Jahren mitdemonstriert haben, höre ich oft, dass diese es Moussawi nicht verzeihen, dass er ihnen befohlen hat, nach Hause zu gehen und Ruhe zu bewahren. Am 25. Bahman (Anm.: persische Bezeichnung für den Monat vom 21. Januar bis 19. Februar) hätten wir dieses Regime stürzen können. Die Bewegung dachte, Moussawi würde deren Rücken stärken, aber die Enttäuschung war sehr groß als er offiziell gesagt hat:  „Islamische Regierung kein Wort mehr oder weniger“.

Der Protest hat sich aber wieder gelegt, da das Regime diese Niederlage nutzte, um Zeit zu gewinnen und sich zu mobilisieren. Aber die Bewegung ist immer noch da. Bloß wollen diese Leute davon ausgehen können, dass die westlichen Staaten sie unterstützen und sie möchten wissen, wogegen sie auf die Straße gehen. Sie wissen aber, dass sie dieses Regime nicht weiter haben wollen. Es soll nicht wie damals 1979 sein, wo es nur darum ging, dass der Schah gehen solle und es egal war, was danach kommt. Das haben wir aus der Geschichte gelernt.

"Es soll nicht wie damals 1979 sein, wo es nur darum ging, dass der Schah gehen solle und es egal war, was danach kommt. Das haben wir aus der Geschichte gelernt". Foto Christopher Glanzl

Wie ist die gesetzliche Lage für Frauen heute und mit welchen Restriktionen haben sie zu kämpfen?

Im Iran sind die Gesetze grundsätzlich sehr frauenfeindlich. Als Frau ist man eine Bürgerin zweiter Klasse. Denn du kannst als Frau nicht einfach einen Pass bekommen, ohne dass dein Mann oder dein Vater dir dafür die Genehmigung erteilt. Auch im Scheidungsrecht werden Frauen stark benachteiligt. Beruflich ist es für Frauen sehr schwierig hohe Ämter zu bekleiden. Die Frauen geben aber nicht auf und im Iran gibt es einen sehr hohen Anteil an Studentinnen. Natürlich würden die Kleriker die Studentinnen am Liebsten nach Hause schicken, aber das können sie nicht einfach so machen.

Grundsätzlich verhält sich die iranische Jugend ja versteckt widerständig. Verbotene Dinge, die man tun möchte, muss man im Untergrund machen. Homosexuelle Jugendliche etwa, sind gezwungen ihre Homosexualität im Untergrund auszuleben. Es soll beispielsweise eine Art moderne Parallelgesellschaft in Teheran geben.

In iranischen Großstädten sind Frauen und Männer viel offener zueinander als in manchen Dörfern, in denen ja weniger Studierende leben. Umso höher der Bildungsgrad ist, desto geringer sind die Restriktionen, denen die Frauen unterworfen sind. Die iranischen Untergrundpartys, die du angesprochen hast, gab es bereits zu meiner Zeit. Wir mussten uns zu Hause treffen und wir wurden natürlich oft verhaftet. Aber das konnte uns nicht abhalten. Sobald wir aus der Untersuchungshaft entlassen wurden, planten wir die nächste Party. Das Regime dachte bisher immer, dass die Kinder der Revolution die Wächter der Revolution bleiben würden. Man hat aber vergessen, dass durch das Internet die ganze Wahrheit ans Licht kommen kann, denn die iranische Jugend informiert sich. Ein Blick in das Fotoalbum der Familie reicht schon und es springen ihnen Fotos von ihren Eltern entgegen, die ein sicheres, freies und glückliches Leben hatten. Natürlich gab es auch früher nicht so viel politische Freiheit. Aber wenn man bedenkt, dass damals Leute im Gefängnis saßen, die als politische Gefangene galten und die heute in der Regierung sitzen - Khamenei, Rafsanjani – all die sollten meiner Meinung nach wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden. Für die meisten im Iran ist das, was sie jetzt erleben, einfach unerträglich und viele fragen deshalb auch vorwurfsvoll ihre Eltern: „Warum habt ihr eine Revolution gemacht?“ Die iranische Jugend sieht sich selbst als eine  „verbrannte Generation“.

Zurück zu deiner Frage: Ich kann mich noch daran erinnern, dass meine Nachbarn zwei homosexuelle Männer waren, die zusammen in einem Haus lebten. Man akzeptierte das. Die Akzeptanz der Homosexualität fand während der 1970er Jahre auch im Iran statt. Nach der Revolution war das jedoch gegen die islamischen Gesetze und wurde somit zu einem Hinrichtungsgrund. Deshalb flüchten Homosexuelle in den Untergrund. Momentan ist die Homosexualität immer noch ein Tabu im Iran. Das hindert jene Menschen aber nicht, sich dazu zu bekennen – nur müssen sie in der Öffentlichkeit dazu schweigen. In deren Familien und in den eigenen vier Wänden wird diese aber oft akzeptiert. 

Du meinst also, dass das Private der einzige selbstbestimmte und freigestaltete Raum im Iran ist?

Genau so ist es. Früher hat man sich in Cafes und Bars getroffen. Da man sich heute nicht mehr draußen treffen kann, passiert das alles in den eigenen vier Wänden.

Gehen wir in das Jahr 2013. Anlässlich der Wahl von Hassan Rohani zum Präsidenten des Iran hoffte man lange, dass dieser nun einige Veränderungen umsetzen würde. Was kann sich die iranische Frauenbewegung und die Jugend von ihm erwarten?
Warum Hassan Rohani an die Macht gekommen ist, hat einen einfachen Grund. Das islamische Regime hat gemerkt, dass seine Säulen wackelig sind. Ich bezeichne Rohani oft als einen schlauen Fuchs, der sich nach außen gut zu verkaufen weiß. Das Regime hat sich lediglich in der Darstellung geändert, nicht aber  im Inhalt. Die Zahl der Hinrichtungen, die in den ersten sechs Monaten der Präsidentschaft von Rohani durchgeführt worden sind, ist doppelt so hoch, wie jene während der letzten sechs Monate von Ahmadinejads Amtszeit. All die Wahlversprechen von Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und Meinungsfreiheit sind natürlich nicht eingehalten worden. Vor kurzem wurde eine iranische Zeitung geschlossen, weil ein Artikel in ihr Kritik an der Steinigung von Frauen geübt hatte und die Kleriker behaupteten, dass der Artikel gegen die islamischen Sitten verstoßen würde. Ich bin hinsichtlich Rohani sehr skeptisch. Meiner Ansicht nach hat das Regime nur einen Weg gefunden um seine wackeligen Säulen, die 2009 bereits beinahe am Stürzen waren, zu festigen. Mit dem kürzlich geschlossenen Atom-Abkommen mit dem Westen hat der Iran nun eine wohlwollende Presse bekommen. Meine Sorge sind aber die Frauen- und Menschenrechte, die im Iran so völlig außer Acht gelassen werden, dass man es nicht mehr nur als Menschenrechtsverletzungen abkanzeln kann, sondern als Verbrechen an der Menschlichkeit. Doch gerade auf diese wird vergessen.

Ein Freund von mir hat vor kurzem eine passende Anekdote für die momentane Situation geliefert: Das iranische Regime ist wie ein Zelt. In der Mitte gibt es eine Säule: das ist Ayatollah Khamenei. Es gibt viele verschiedene Säulen rundherum, die zur Instandhaltung der mittleren Säule dienen. Das können dann die Frauenrechte und der Kopftuchzwang, die Exekutionen, die Presse- oder Meinungsfreiheit sein. Was wir in den letzten 35 Jahren versucht haben, war die mittlere Säule zu attackieren. Nun versucht man die anderen Säulen, die das ganze Zelt halten, zum Einsturz zu bringen. Ich glaube, dass es zu einigen Änderungen kommen wird. Denn die Machthaber können nicht mehr ausschließlich die Hardliner-Linie nachverfolgen, schon alleine aus strategischen Gründen nicht. Die Menschen werden von einer Säule zur nächsten Säule wandern und am Ende wird von diesem Mullah-Regime nichts mehr übrig bleiben, weil die Menschen Säkularismus wollen. Das wird das Ende des Gottesstaates im Iran sein - und zwar für immer.

Wieso hat man im Westen einen dermaßen verzerrten Blick auf die islamische Welt? Trotz all der grassierenden Frauenfeindlichkeit in den muslimischen Ländern wird am Weltfrauentag der Iran kaum erwähnt.

Der Iran war vor 1979 ein säkularer Staat. Frauen hatten einen Platz in der Gesellschaft. Sie waren in dieser sogar sehr aktiv. Es gibt bereits seit langer Zeit eine Frauenbewegung im Iran. In anderen muslimischen Ländern, die von Anfang an muslimische Staaten waren, etwa Qatar, Saudi Arabien, Sudan, wurden die Frauenbewegungen von der Geburtsstunde der Nation an unterdrückt. In Ländern wie der Türkei, die eigentlich säkulare Staaten sind, in denen jedoch immer wieder die Islamisten die Oberhand gewinnen und dabei immer repressiver werden, wird auch die Frauenbewegung wieder stärker werden. Die Frauen werden aktiver und wehren sich gegen diese fundamentalistischen Gesetze wie etwa in Ägypten oder im Libanon. Nicht, dass die Frauen in anderen muslimischen Ländern nicht unglücklich wären und es gerne anders hätten. Sie haben allerdings kaum eine Möglichkeit ihre Stimme zu erheben. Der Westen sollte untersuchen, warum in diesen anderen Ländern keine Frauenbewegung entstanden ist. Es ist klar, der Islam, so wie er in diesen Ländern geführt wird, ist nun einmal eine frauenfeindliche Religion.

Sogol Ayrom ist immer ihren eigenen Weg gegangen. Selbst die iranischen Revolutionswächter konnten sie nicht einschüchtern. Foto: Christopher Glanzl

Du setzt dich ja bereits seit langer Zeit für Frauenrechte ein. Was kann ein politisch aktiver Mensch unternehmen, um die Frauenrechte im Iran zu stärken?

Ich setze mich allgemein für Menschenrechte ein. Aber dadurch, dass ich eine Frau bin, kann ich natürlich auch die Stimme meiner iranischen Mitbürgerinnen im Ausland sein. Was ich mir wünsche ist, dass dieser Kopftuchzwang verschwindet. Die Frau soll entscheiden, ob sie eines tragen möchte oder nicht. Dafür setzen wir uns ein. Vor kurzem habe ich ein Video gesehen, in dem eine junge Frau ohne Kopftuch auf der Straße gegangen ist. Das hat für Jubel gesorgt. Doch das traut sich noch kaum jemand. Aber wenn diese Tabus verschwinden, werden wir das häufiger sehen.

Zudem sind die Gesetze im Iran sehr frauenfeindlich und Frauen besitzen nur halb so viel Vermögenswerte wie ihre Männer. Im Falle einer Erbschaft bekommt die Tochter der Familie die Hälfte von dem, was der Bruder erbt. Frauen haben überhaupt keine Scheidungsrechte. Das bewirkt, dass viele Frauen in gewalttätigen Familien bleiben und keine Möglichkeit zur Flucht haben. Immer mehr Frauen bleibt nur die Prostitution als Ausweg, wenn die Eltern oder der Gatte verstorben sind. Denn es gibt keine Frauenhäuser im Iran und Frauen werden sehr leicht zu Drogenopfern. Das sind die Dinge, für die ich mich einsetzen möchte. Was wir aber alle können, ist sich gegen Unterdrückung einzusetzen, „nein“ zu sagen und unermüdlich für das, woran wir glauben, zu kämpfen!

 

David Kirsch studiert in Wien und schreibt auf exsuperabilis.blogspot.com

 

 

Minderjährig, allein und auf der Flucht

  • 23.12.2012, 19:24

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

„Mein Zimmer aufräumen und mich mit Freunden treffen“, antwortet Amel* auf die Frage, was sie an diesem Samstag noch vorhat. Aus der Küche strömt der Geruch von gebratenen Zwiebeln, laute Popmusik dröhnt durch den Gang. Ein paar Jugendliche sind gerade damit beschäftigt, das gemeinsame Essen vorzubereiten. Im angrenzenden Aufenthaltsraum tippt ein Mädchen auf der Tastatur eines Laptops, ein anderes malt ein Bild. Doch bereits beim Betreten des Hauses in der Braunspergengasse im zehnten Wiener Gemeindebezirk wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Wohngemeinschaft für Jugendliche handelt. Eine weiße Kamera, die vor dem Eingang montiert ist, überwacht das Geschehen vor dem Gebäude. Bevor der Portier das Öffnungssignal für die Haustüre freigibt, nimmt er eine Gesichtskontrolle vor.

Seit 2005 befindet sich in diesem Haus die WG Refugio, eine Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), die von der Caritas betreut wird. Hier finden Jugendliche, die zumeist auf sich allein gestellt aus unterschiedlichen Krisenregionen der Welt nach Österreich gekommen sind, bis zur Volljährigkeit ein neues Zuhause. Eine von ihnen ist die 16-jährige Amel, die mit ihren beiden Brüdern aus Afghanistan geflüchtet ist. Seit einem halben Jahr leben alle drei in der Wohngemeinschaft. Amel trägt ein lockeres Kopftuch aus durchsichtigem Stoff, ihre langen schwarzen Haare sind zu einem losen Zopf zusammengebunden. Trotz der kalten Jahreszeit trägt sie türkise Flipflops aus Plastik.

Taliban-Terror. Beim Reden löst sich eine Seite des Kopftuches immer wieder und fällt auf ihre rechte Schulter. Amel rückt es behutsam zurecht. „Für die Taliban sind wir keine richtigen Moslems, weil meine Mutter als Krankenschwester gearbeitet hat und ich zur Schule gehen durfte“, sagt sie. „Die Taliban wollen, dass sich die Mädchen fürchten und das Haus nicht verlassen.“ Sie  verschränkt ihre Arme, schlägt ihre Beine übereinander und erzählt, dass sie gemeinsam mit Freundinnen auf dem Heimweg von der Schule war, als zwei Personen auf Motorrädern neben ihnen Halt machten. Sie begannen Flüssigkeit auf die Mädchen zu spritzen. Im ersten Moment dachte Amel, es sei ein Jungenstreich und man wolle sie mit Wasser necken. Doch dann sah sie überall Blut, ihre  Haare und Teile ihres Körpers brannten.

Seit diesem Tag wagte auch sie es nicht mehr, in die Schule zu gehen. Während Amel von ihrem Heimatland erzählt, gerät ihr Redefluss immer wieder kurz ins Stocken. Ihr Blick ist dann suchend und ihr Mund formt sich zu einem schüchternen Lächeln. „Es  tut mir leid, aber manchmal vergesse ich Dinge auch einfach“, sagt sie. Das Regime der Taliban beschreibt Amel als ein  gnadenloses, gegen das Polizei und Regierung machtlos sind. Angst und Terror sind täglicher Begleiter der meisten AfghanInnen. Amels Vater war als Geschäftsmann in der Holzindustrie tätig und arbeitete mit den AmerikanerInnen zusammen. Die Taliban haben ihn und einen ihrer Brüder getötet. Kurz darauf ist ihre Mutter nach Europa geflüchtet, wo sie sich heute aufhält, weiß niemand. Da ihre Brüder den ganzen Tag arbeiteten, war Amel ab diesem Zeitpunkt immer alleine zu Hause. Die Angst, getötet oder entführt zu werden, war allgegenwärtig.

Wenig später half ein Onkel, der in Kabul lebt, die restlichen Habseligkeiten der Familie zu verkaufen, um an Geld für eine Flucht zu kommen. Wie lange diese tatsächlich gedauert hat, weiß Amel nicht mehr. „Ich denke es waren drei bis vier Monate, aber ich bin mir nicht sicher. Wir haben in dieser Zeit nicht darüber nachgedacht, wie lange wir schon unterwegs sind. Wir haben einfach nur  gebetet“, sagt Amel.

So wie Amel und ihren Brüdern geht es vielen. Im Jahr 2011 haben laut Angaben des Bundesministeriums für Inneres (BMI) mehr als 1100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Österreich erreicht. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, Pakistan und  Somalia. Die Jugendlichen fliehen vor Krieg, Verfolgung, Hunger oder Vertreibung. Im Jahr 2012 wurde bis September bereits jeder zehnte Asylantrag in Österreich von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gestellt. „Das sind alles Überlebende, die es  hierher schaffen“, sagt Elina Smolinski, Betreuerin in der WG Refugio. Gerade Jugendliche seien in einer sehr verletzlichen Situation,  wenn sie alleine unterwegs sind – besonders die Mädchen. Bis sie es nach Österreich schaffen, sind sie oft monatelang unterwegs.

Doch was im Moment fehlt, sind ausreichend geeignete Unterbringungsplätze für die Jugendlichen. Zwar hat sich die Situation für  unbegleitete Minderjährige laut Smolinski seit der Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen im Jahr 2004 verbessert, das Problem sei aber, dass es in den vergangenen Jahren immer Schwankungen gegeben habe. Darum ist es auch nie vorhersehbar,  wie viele Plätze benötigt werden.

Erstaufnahme. In der WG Refugio leben momentan acht Mädchen und acht Jungen. Alle besuchen Deutschkurse oder Schulen.  Früher hatte die Caritas zwei Wohngemeinschaften in Wien, eine musste jedoch geschlossen werden, weil Wien die Quotenplätze   übererfüllt hat. „Dass die Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht einmal annähernd ausreichend sind, sieht man an der momentanen Situation in Traiskirchen“, sagt Smolinski. Dorthin kommen die Jugendlichen, bevor sie an die Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgeteilt werden. Im Moment müssen in Traiskirchen über 500 unter 18-Jährige ausharren,  ohne Zugang zu sozialpädagogischer oder psychologischer Betreuung. Darunter auch unter 14-Jährige, obwohl der  Grundversorgungs- Koordinationsrat im Dezember 2011 festgehalten hat, dass unbegleitete Flüchtlinge unter 14 Jahren nicht in die Erstaufnahmezentren Traiskirchen oder Thalham überstellt werden sollten. Stattdessen sollen sie in Heimen oder Wohngemeinschaften in jenem Bundesland untergebracht werden, in dem sie angehalten wurden und die von den dort ansässigen Jugendwohlfahrtsträgern betrieben werden.

Auch Amel hat drei Monate in Traiskirchen verbracht. Eine Zeit, an die sie sich nicht gerne zurückerinnert, denn „Traiskirchen ist hart.“ Sie erzählt von überbelegten Zimmern, Konflikten mit anderen Flüchtlingen, zu wenig Essen und einer unzureichenden medizinischen Versorgung.

Fremdbestimmtes Alter. Außerdem wurde für Amel in Traiskirchen ein neues Geburtsdatum festgelegt. Nach einer Reihe medizinischer Untersuchungen wurde ihr Alter auf 16 Jahre angesetzt. Laut eigenen Angaben ist sie erst 15. Trotzdem respektiert sie die Entscheidung: „Mir ist es egal, ob ich 15, 16, 17 oder 18 Jahre alt bin, solange ich hier die Möglichkeit bekomme, ein gutes Leben zu führen“, sagt sie und erzählt, dass sie selbst viele Menschen in Österreich viel jünger schätzt. „In Afghanistan arbeiten Kinder schon im Alter von acht Jahren, darum sehen sie im Gesicht auch viel älter aus.“

Smolinski erzählt, dass die Altersbegutachtung für die Jugendlichen eine große Belastung sei. „Sie erleben das als sehr einschüchternd. Es manifestiert sich dadurch, dass ihnen nicht geglaubt wird.“ Außerdem sei es für einen jungen Menschen, der  viele Veränderungen durchgemacht hat und auf der Suche nach seiner Identität ist, verunsichernd, wenn vom Staat ein neues Geburtsdatum festgelegt werde. Auch Herbert Langthaler von der Asylkoordination Österreich stellt die Brauchbarkeit der Methode  in Frage und zweifelt an ihrer ethischen Vertretbarkeit. „Wir haben mehrmals vorgeschlagen, dass in diese rein medizinische, physische Untersuchung auch soziale, gesundheitliche und psychologische Aspekte hineingebracht werden“, sagt Langthaler. Eine Volljährigkeitserklärung hat zudem erhebliche Konsequenzen für eineN MinderjährigeN. Beispielsweise darf er/sie nicht mehr in  einer Betreuungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnen. Viele müssen dann ihre Ausbildung abbrechen und werden in abgelegene AsylwerberInnenheim überstellt, wo es keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.

Kein Schutz. Obwohl unbegleitete minderjährige Flüchtlinge rechtlich besser gestellt sind und besser betreut werden, stehen die Chancen auf permanentes Asyl schlecht. Bislang wurde ihnen zumeist ein subsidiärer Schutz gewährt, eine Art zeitlich befristetesAsyl, um das immer wieder neu angesucht werden muss. Doch auch dieses wird laut Langthaler in letzter Zeit immer seltener ausgestellt. Abschiebungen nach Afghanistan oder Somalia können aber nicht durchgeführt werden, weil die Botschaftenkeine Heimreisezertifikate ausstellen. Die Folge ist, dass die Flüchtlinge schlecht versorgt und ohne Chance auf eine Arbeit oder eine andere Beschäftigung in Österreich bleiben. Auch Amel hat bereits ihren Antrag auf Asyl eingereicht, bisher aber keine Antwort bekommen. Eigentlich müsste das Bundesasylamt innerhalb der ersten sechs Monate eine Entscheidung treffen. Diese Frist wird laut Smolinski aber kaum eingehalten.

Durchschnittlich beträgt die Wartezeit auf die erste Entscheidung ein bis zwei Jahre, sie mündet meist direkt in ein Berufungsverfahren. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, sind die meisten Flüchtlinge, die als Minderjährige nach Österreich gekommen sind, bereits volljährig. Die lange Wartezeit schürt die Ängste der Jugendlichen. „Ich habe Angst, aus dem Land geworfen zu werden und dann zu sterben oder an einen 60-jährigen Mann verkauft zu werden“, sagt Amel.

Zwei Klassen. Neben den lang andauernden Verfahren gibt es auch bei der finanziellen Unterstützung Handlungsbedarf. Die Tagsätze für die Betreuung und die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurde seit dem Jahr 2004 nicht angehoben. Für Smolinski existiert zwischen österreichischen Jugendlichen ohne Eltern und unbegleiteten minderjährigen  Flüchtlingen noch immer eine Ungleichbehandlung. „Da gibt es klar eine Zweiklassengesellschaft“, so Smolinski. Das bestimme auch den Alltag der Jugendlichen, denn sie leben an der Armutsgrenze. Doch kein Grund für Amel, den Mut zu verlieren. Trotz allem sagt sie: „Das Leben ist so schön. Für mich ist es hier, als würde ich eine neue Familie bekommen.“

*Name von der Redaktion geändert.

Die Autorin Elisabeth Mittendorfer ist freie Journalistin in Wien.