Internet

Katzen, Weltraum, Kommunismus

  • 22.06.2017, 16:50
Das Internet ist nicht nur eine Fundgrube für Schminktutorials und Pornos, sondern auch für Memes. Im Jahr 2017 ist Kommunismus ein immer beliebter werdendes Thema.

Das Internet ist nicht nur eine Fundgrube für Schminktutorials und Pornos, sondern auch für Memes. Im Jahr 2017 ist Kommunismus ein immer beliebter werdendes Thema.
Angefangen bei Nyan Cat über Doge, „Charlie bit my finger“ oder Gangnam Style, das schwarzblaue oder goldweiße Kleid bis hin zum US-Neonazi Richard Spencer, der eins auf die Fresse kriegt, untermalt von „Wrecking Ball“-Memes. Sie sind allen bekannt, die das Internet für mehr als E-Mails nutzen. Spätestens wenn man zum ersten Mal „gerickrollt“ wurde, versteht man die Faszination und Anziehungskraft solcher Videos oder Bilder – es sind elaborierte Insidergags des kollektiven Internetgedächtnisses. Mal mehr oder weniger tagespolitisch, mit mehr oder weniger Gespür für Humor, nach den ersten fünf Minuten meistens extrem nervig, aber immer präsent: Das sind Memes und sie werden nicht verschwinden.

LENIN CAT. Nicht immer ist nachvollziehbar, woher ein Meme kommt und wohin es geht, wer es gemacht hat oder was das überhaupt soll. Es wird so oft wiederholt, angepasst, geremixt und aus dem Kontext gerissen, dass die Spezialist*innen von „Know Your Meme“ – eine Seite, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Memes zu katalogisieren, zu erklären und zu sammeln – es auch nicht immer schaffen, den Hintergrund oder die Urheber*innen ausfindig zu machen. Wenn man auf besagter Website nach „communism“ sucht, bekommt man nicht nur ein Ergebnis, sondern: Lenin Cat, Faux Cyrillic, Fully Automated Luxury Gay Space Communism und viele hunderte Subkategorien mehr.

Die Legende besagt, dass Kommunismusmemes durch die Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders 2015 eine breite Öffentlichkeit bekommen haben und seitdem nicht mehr aufzuhalten sind. Dass es davor schon etliche marx- und leninthematische Memes gab, ist klar. Wie das bei Memes aber nun einmal ist, hat sich 2017 durch die General Election in Großbritannien der Name und das Gesicht von Jeremy Corbyn gegenüber den Klassikern des Kommunismus (und Bernie Sanders) durchgesetzt und war somit überall präsent. Eines seiner Highlights ist der YouTube-Hit „Join Labour“, das Bild und Ton von „Join the Navy“ hernimmt, in dem aber auf die Köpfe der Village People neben Corbyn und den oben genannten Marx und Lenin auch Stalin und Mao gephotoshoppt wurden.

ŽIŽEK UND FRUCHTSAFT. Der YouTube-Kanal, auf dem dieses Video geteilt wird, heißt /leftypol/, was für Kenner*innen unschwer in der 4chan- Ecke des Internets verortet werden kann. Über 4chan sollen hier nicht viele Worte fallen, nur so viel: Richard Spencer mag 4chan. Umso irritierender, dass /leftypol/ – steht für leftist politically incorrect – dort operiert und guten Content produziert. Eine Sache muss man sich bewusst machen: Die Memes werden von Linken und Rechten gleichermaßen erstellt, doch man erkennt den Unterschied nur schwer, meist überhaupt nicht. Bei einer kleinen Umfrage unter Freund*innen fanden alle das Labourvideo lustig und niemand hätte vermutet, dass dahinter die Alt-Right steht. Das beweist hauptsächlich eines: Linke haben eben Humor.

Linke und Rechte machen sich über den marxistischen Philosophen Slavoj Žižek lustig, und obwohl die Gründe unterschiedlich sein mögen, sitzen beide Seiten vor dem Bildschirm und lachen über Interviewschnipsel, in denen er zusammenhanglos und mit vielen Schimpfworten über Pornographie oder Fruchtsaft redet – oder wie er aus einem Gartenschlauch trinkt. Der Kern aller Gags bei den Kommunismusmemes ist aber deutlich politischer. Es geht um die großen Probleme der Welt, Kapitalismus, Armut, working poor und Klimawandel. Und die Lösung all dieser Probleme ist extrem einfach und naheliegend, nur niemand will es wahrhaben: KOMMUNISMUS! Rechte können darüber lachen, weil sie es absurd falsch finden. Linke lachen darüber, weil sie es für absurd richtig halten.

WELTRAUMKOMMUNISMUS. Am deutlichsten wird dieser verworrene Konnex zwischen politischem Interesse, Humor und Absurdität bei der Phrase „Fully Automated Luxury Gay Space Communism“. Nicht nur wollen wir™ nicht mehr arbeiten müssen (= fully automated) im gemeinschaftlichen Wohlstand (= luxury), sondern soll das Ganze auch mit Auflösung der Geschlechter (= gay) im Weltraum (= space) passieren. Dies ist eine schöne Weiterentwicklung des Antifaspruchs „Wir wollen nicht nur ein Stück vom Kuchen, wir wollen die ganze Bäckerei!“. Denn wenn wir ehrlich sind, ist die Forderung nach Kommunismus schon schwer genug zu erfüllen, ohne ihn gleich in den Weltraum zu verlagern.

Wahrscheinlich ist das der Grund für das Erstellen dieser Memes. Die politische Lage sieht für Kommunist*innen nicht rosig aus. Das Internet begleitet uns durch den (Arbeits)Tag und wenn man schon am PC hocken muss und lohnarbeitet, kann ein Bild mit einem süßen Hund, der auf seinem Halstuch Hammer und Sichel trägt, den Tag schöner machen. Ob Hundebilder dabei helfen werden, den Kommunismus herbeizubeschwören? Wohl kaum. Ist das Ganze nur ein Abwehrmechanismus der Psyche, um darüber hinwegzukommen, dass wir™ alle wohl nie in den Genuss kommen werden, im Kommunismus leben zu dürfen? Vielleicht.

Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies an der Universität Wien.

Der Überwachungsstaat, das Gras und das Internet

  • 05.07.2016, 14:12
Technologien subtiler Überwachung sind im Drogengeschäft genauso omnipräsent wie aggressive Razzien. Ein Dealer erzählt, wie diese Formen der Kontrolle jenseits offensiver Repressionen seinen Alltag beeinflussen.

Technologien subtiler Überwachung sind im Drogengeschäft genauso omnipräsent wie aggressive Razzien. Ein Dealer erzählt, wie diese Formen der Kontrolle jenseits offensiver Repressionen seinen Alltag beeinflussen.

Wie in einem schlechten Film reagiert Alex,* als plötzlich die Polizei vor seiner Tür steht. Nein, die Beamten dürften nicht reinkommen. Er weiß, dass ihm vermutlich nur wenige Minuten bleiben, Beweise zu vernichten. Hektisch stopft der Student mehrere Kilo Gras in den Spülkasten der Toilette und verbrennt das Verpackungsmaterial, Anbaustation und sämtliche Pflanzen auf der Dachterrasse – 2000 Euro hätte Alex mit der zerstörten Ware noch verdienen können, die schuldet er jetzt Mo,* seinem Lieferant.

„Alex tauchte für mehrere Tage ab, da wusste ich, dass etwas nicht stimmt“, erzählt Mo, der sich selber durch das Dealen seit vier Jahren sein Studium in Wien finanziert. Um die fünfzig feste Kund*innen beliefert er, Alex hat er sich ins Team geholt, weil die Nachfrage so groß wurde. „In diesen drei Tagen hatte ich richtig Schiss, schließlich führen seine Spuren eindeutig zu mir.“ Mit Spuren meint Mo Telefonate, SMS, Besuche mit großen Rucksäcken. Bewegungs- und Kommunikationsabläufe, bei denen mittlerweile nicht nur Dealer*innen davon ausgehen, dass sie permanent aufgezeichnet, überwacht und ausgewertet werden.

BIG BROTHER IST TOT. Durch das Narrativ einer Gesellschaft, die nach Sicherheit verlange, rechtfertigen Firmen und staatliche Institutionen die allumfassende Datenakkumulation vom Einkaufsverhalten über die Urlaubspräferenzen bis hin zum Versicherungsstatus. Jede*r ist Teil der Massenüberwachung und damit a priori verdächtig. Nur durch völlige Transparenz können sich die Individuen von diesem Verdacht befreien: „Ich hab ja nichts zu verbergen“ heißt es oft, wenn Menschen breitwillig Informationen in sozialen Netzwerken preisgeben. Einstellungen wie diese begünstigen eine subtilere Form der massenhaften Datenerhebung, - Auswertung und –Kontrolle, die wesentlich auf der Teilhabe der Individuen selbst beruht.

„Big Brother“ als beobachtende und im Ernstfall strafende Instanz wird damit obsolet. Stattdessen treten Kontrollmechanismen in Kraft, die der Soziologe Zygmund Bauman als „Liquid surveillance“ bezeichnet. „Flüssige Überwachung“, deren Techniken nicht mehr auf das Verhalten Einzelner abzielen, sondern Abweichungen mithilfe von Rastern und Algorithmen aus einem Strom von Daten errechnen. Im Alltag kann sich das im Vergleich zu disziplinarischen Formen der Überwachung freiheitlicher anfühlen, als es eigentlich ist. Für das Drogengeschäft stellt diese subtile Überwachung ein spezielles Risiko dar.

Zwar habe er sich in sieben Jahren Dealen kein einziges Mal observiert gefühlt, „trotzdem wächst mit jedem Tag das Paket aus Spuren, das ich hinterlasse und damit die Wahrscheinlichkeit, morgen hochgenommen zu werden“, sagt Mo. Er ist deshalb sehr vorsichtig geworden: Ein Kurzzeit-Handyvertrag unter falschem Namen, kein Kontakt mit Kund*innen online und ganz bestimmte Codes, wie vor einem Deal am Telefon kommuniziert wird. Unter fünf Gramm lohnt sich für Mo der Verkauf nicht. Sich „auf einen Kaffee treffen“, bedeutet also „bring mir fünf Gramm mit“, zwei Kaffee sind zehn Gramm und so weiter. „Am Anfang ist die Kommunikation immer mit Schwierigkeiten verbunden, wenn die Terminologien noch nicht geklärt sind. Menschen passieren Fehler. So etwas wie Nachzahlen, Vorstrecken oder nur die Hälfte an Gras kaufen wollen ist mit der Bier-Metapher schwer auszudrücken.“ Die Codes variieren auch je nach Klientel: Student*innen bestellten häufig eher zwei Bücher statt Bier oder Kaffee.

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Er wirkt entspannt, während er über seinen Job redet. Auf die Frage, ob seine technischen Geräte verschlüsselt seien, zuckt er mit den Schultern und erwidert: „Welchen Unterschied würde das machen?“ Das tägliche Risiko gehöre zu den Arbeitsbedingungen seines Jobs. Sobald er das Gefühl hat, ein*e Kund*in sei nicht mehr vertrauenswürdig, täuscht er Probleme mit der Lieferung vor und löscht die Person aus seinem Telefonbuch.

ES LEBE BIG BROTHER. Im Gegensatz zum Dealen auf der Straße, wo autoritäre Überwachung à la Big Brother noch in Form von Razzien und Polizeigewalt funktioniert, wird für Dealer*innen wie Mo erst die Schnittstelle von Massen- und Individualüberwachung zur Gefahr. Da, wo nach einem vagen Verdacht plötzlich Datenpakete als umfassende Beweise abgerufen werden können, weil jemand aus dem Netzwerk ihn verraten hat oder selber hochgenommen wurde. Schneller als nach langwierigen Prozessen der Individualüberwachung kann Big Brother dann plötzlich vor der Tür stehen, begünstigt durch mangelnde Restriktionen der Vorratsdatenspeicherung oder die bereitwillige Weitergabe von Metadaten aus sozialen Netzwerken. Auch begünstigt durch partizipative Kommunikationsformate, die permanent dazu anregen, den digitalen Fingerabdruck zu vergrößern und einer vermeintlichen Norm anzupassen, die auf teilen, liken und posten beruht. Eine Überwachung, die so lange unsichtbar bleibt, bis Abweichungen von dieser vermeintlichen Norm erkennbar werden.

Was genau diese Abweichung in Alex Fall gewesen sein könnte, wusste Mo zum Zeitpunkt der drohenden Hausdurchsuchung bei seinem Kollegen nicht. Das Gefühl, selbst vielleicht schon mehrere Monate beobachtet worden zu sein, sei jedoch beklemmender, als jede Körperdurchsuchung, die er bis jetzt über sich ergehen lassen musste. „In diesem Moment kannst du nicht mehr klar denken. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten ist alles nachweisbar. Ich hatte schon im Kopf, wie ich das meinen Eltern erzählen soll“, erinnert er sich.

Nach vier Tagen dann die Entwarnung: Alex Nachbarn erzählen ihm, dass im Haus eine Straftat begangen worden sei, die Polizei hätte deshalb mit allen Nachbar*innen sprechen wollen. Zu dem Zeitpunkt hat Alex bereits sein gesamtes Gras vernichtet. Für den Schaden wird er mehrere Monate weiter dealen müssen. Ob er danach damit aufhört, bezweifelt Mo: „So wie ich arbeite, in Cafés und von zu Hause aus, habe ich den entspanntesten Job der Welt. Ich habe mir die besten sieben Jahre meine Lebens damit finanziert, wenn ich jetzt ein paar Monate ins Gefängnis müsste, wäre das fast schon ein fairer Deal“, dann überlegt er kurz und fügt hinzu „obwohl, scheiße wäre es trotzdem.“

Eva Hoffmann studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Uni Wien.

* Die Protagonist*innen dieses Textes möchten anonym bleiben.

Schauen, was ich kann

  • 25.06.2015, 10:43

Natalie Ofenböck ist eine der beiden Stimmen des #oehwahlfahrts-Jingles und Ohrwurms „Hallo“ von Krixi, Kraxi und die Kroxn. progress hat mit ihr über Aufwecklieder, Tastatur-Klack-Geräusche und Katzenkalender gesprochen.

Natalie Ofenböck ist eine der beiden Stimmen des #oehwahlfahrts-Jingles und Ohrwurms „Hallo“ von Krixi, Kraxi und die Kroxn. progress hat mit ihr über Aufwecklieder, Tastatur-Klack-Geräusche und Katzenkalender gesprochen.

progress: Gehst du tatsächlich jeden Tag in den Prater?
Natalie Ofenböck: Nein. (lacht) Aber ich bin schon oft dort, ich wohne ja nicht weit weg. Ich mag den Prater sehr gerne, den Grünen wie auch den Wurstelprater.

Krixi, Kraxi und die Kroxn sind nicht drei Freund_innen, sondern 17 Menschen: Wie funktioniert das als Bandprojekt?
Bei der ersten CD haben wir zu zweit bzw. zu dritt Lieder geschrieben und aufgenommen. Später erst haben wir Leute eingeladen, ihnen unsere Lieder vorgestellt und dann hat jeder dazu gemacht, was er wollte oder konnte. Irgendwann waren wir dann bei 17. Aber bei keinem Lied haben alle 17 mitgemacht. Wir hatten kein einziges Konzert, wo alle dabei waren. Einmal  waren wir 16.

Du und Nino aus Wien tretet öfter zu zweit auf. Ihr habt auch die Krixi,-Kraxi-und-die-Kroxn-Lieder geschrieben. Wie kommt ihr auf so unkonventionelle Ideen wie „Hallo“ oder  „Käfer“?
Mit „Käfer“ hab ich begonnen, um Nino aufzuwecken, weil er nicht aufwachen wollte. Irgendwann dann haben wir daraus ein ganzes Lied gemacht. Und „Hallo“ war das erste Lied, das wir gemeinsam gemacht und aufgenommen haben. Das haben wir an einem traurigen Tag geschrieben.

Das Artwork zur CD „Die Gegenwart hängt uns schon lange zum Hals heraus“ hast du gemacht. Im Booklet findet man dein Zitat „Das Fröhlichste das ich je machte.“ Warum?
Weil alles so spontan passiert ist. Ich arbeite sonst ewig an Dingen und das war viel leichter. Auch weil so viele Leute dazu beigetragen haben und es so gut funktioniert hat. Wenn ich allein arbeite, dauert es ewig und ich mache ständig Verbesserungen. Bei dem Projekt haben wir ein Lied geschrieben und es am nächsten Tag aufgenommen. 

Du bist ja nicht nur bei Krixi, Kraxi und die Kroxn dabei, sondern hältst auch Lesungen, arbeitest mit Stoffen und illustrierst. Siehst du dich als interdisziplinäre Künstlerin?
Ich will einfach schauen, was ich alles kann. Oder ob ich das kann. Ich finde Zeichnen, Schreiben und das Mit-Stoffen-Arbeiten sehr ähnlich. Bei Kleidung war es so, dass es mich lange nicht interessiert hat, ob sie tragbar ist. Für mich war es eher Bildhauerei, nämlich, dass man etwas formt – nur eben am Körper. Es ging mir eher darum zu schauen, welche Formen und Farben es gibt. Das, was dabei herausgekommen ist, war dann oft nicht etwas, was man so im Alltag trägt. Bei den Sachen, die ich im Studium gemacht habe, war es mir nicht wichtig, dass es zumindest angenehm zu tragen ist, sondern, dass es eher eine Art Bild wird.

Welches Studium war das?
Das  Bachelorstudium  Mode in Hetzendorf in Wien. Zuvor habe ich ein Jahr in Antwerpen Mode studiert. 

War das für dich als Künstlerin eine Ergänzung oder eine Herausforderung?
Alle Studien, die ich begonnen habe, habe ich gemacht, um eine bestimmte Art von Lernen kennenzulernen. In Hetzendorf war es sehr zeitintensiv, weil es sehr schulisch und mit Anwesenheitspflicht war. Aber ich wollte nähen und mich mit Mode beschäftigen, auch theoretisch.

Unter kkkatzenadvent.com findet man von dir detailreiche  und  animierte  Illustrationen. Hast du an jede Kunstform  verschiedene Ansprüche?
Die Katzenzeichnungen sind eher so wie einen schnellen Text zu schreiben oder ein schnelles Lied zu machen. Aber wenn man ein Kleidungsstück macht, braucht es viel mehr Vorbereitung und Änderungen. Aber beim Zeichnen oder Schreiben passiert alles viel mehr im Moment, das ändert sich dann oft auch nicht mehr. Zumindest bei den Katzenzeichnungen oder den Texten.

Deine Texte sind manchmal sehr assoziativ, dann gibt es wieder ganz andere wie: „man muss die liebe umpolen. die liebe die zäh ist wie trockene kaugummifäden.“  Wie schreibst du?
Diese aneinandergereihten Wörter oder Assoziationsketten sind mit einer Art Rhythmus in meinem Kopf geschrieben. Das geht sehr schnell und das lass ich dann auch so. Es gibt aber natürlich andere Texte, zum Beispiel Strophen, wo man auch reimt. Ich finde man kann ganz gut mit einer Tastatur schreiben, weil das ein Klack-Geräusch macht. Das finde ich angenehm. Da kommt ein Rhythmus zustande.

Das heißt du kannst das 10-Finger-System?
Nein. So schnell bin ich auch nicht. (lacht)

Viele deiner fragmentarischen Werke, Wortspiele und Katzenskizzen publizierst du auf Facebook, Tumblr und auf deiner Webseite. Ist das Internet für dich Möglichkeit oder  Einschränkung?
Ich bin mir nicht sicher. Natürlich ist es eine Möglichkeit, dass Leute das sehen und mitbekommen, was du machst. Zum Beispiel der Katzenkalender würde ohne Internet  nicht  funktionieren. Dann ist es schon gut, aber sonst finde ich es auch ein bisschen seltsam, dass Sachen so schnell nach außen gehen können ohne einen Rahmen. Ich poste auch gar nicht so viel, weil ich mir oft auch nicht so sicher bin, ob ich das sofort teilen will.

„Fräulein Gustl“ als Buch mit Hörspiel tendiert da eher in die analoge Form.
Da wollten Lukas Lauermann, Raphael Sas, Stefan Sterzinger, Nino und ich was Fertiges in der Hand haben. Das ist was anderes als einen Text zu posten. Etwas in physischer Form zu haben, finde ich allgemein besser. Aber das ist eine Kostenfrage. Damals ging  das, weil wir einen Verlag gefunden hatten.

Kannst du uns eine Wortassoziation machen? salzlackengedächtnisse händigen mir die brühe aus. salzaugen. salzorgane. salzorganisten. salzprinz. spiegelsalz. augentracht. spitzenwerk. fliegendreck. zwirbelspeck. spielkatze. zwischenmagen. kitzelkatze. schmirgelkatze, kastenpratze. (gekürzt)

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

OK Computer

  • 24.06.2015, 19:38

Kann sich wer an die Zeit erinnern, als man in einem Chat anwesend („online“) sein musste, um Gespräche lesen zu können? Aktuelle und vergangene Schmankerl aus dem Internet of Things.

ABER NATÜRLICH. Beim Wort „Technik“ denken wir zuerst an Maschinen, Computer und schwere, komplizierte Apparate. Abstrakte Gerätschaften, die der Natur und der Menschlichkeit fremd sind oder gar gegenüberstehen. Kopfhörer wachsen bekanntlich nicht auf Sträuchern und bislang gelang es niemandem, ein Rudel Hochöfen in freier Wildbahn zu beobachten. Aber die Übergänge zwischen Natur, Kunst und Technik waren stets fließend. Was wir heute Bionik nennen – die Umsetzung biologischer Erkenntnisse in technischen Anwendungen – gibt es, seit sich Menschen von ihrer Umwelt bewusst zu unterscheiden lernten. Der modernen Bionik haben wir etwa den Klettverschluss oder auch Computerdisplays, welche die Lichtbrechung auf Schmetterlingsflügeln imitieren, zu verdanken. Technik ist ohne Natur nicht zu denken und ohne Menschen schon gar nicht: Der Begriff leitet sich vom altgriechischen tšcnh („techne“) ab, was so viel wie Handwerk oder Kunstfertigkeit bedeutet. Stricken, Kopfrechnen, Muffinsbacken - das sind alles menschliche Techniken, um sich die Natur anzueignen, nützlich, verständlich oder schmackhaft zu machen. Und jede ist eine Kunst für sich.

ENTFREMDUNG FÜR ALLE. Der Ausdruck „Mensch mit Behinderung“ ist irreführend. Er suggeriert, dass die Erfahrung von Hinder nissen im Alltag eine Eigenschaft der Menschen selbst wäre und keine Sache ihres Umfelds. Worin besteht etwa die Behinderung einer Rollstuhlfahrerin an der Universität, wenn ihr bauliche Maßnahmen einen uneingeschränkten Zugang ermöglichen? Hat ein Hörbeeinträchtigter größere Schwierigkeiten, Adornos Geschwurbel über die Entfremdung zu verstehen? Durch die Digitalisierung unserer Kulturgüter lassen sich Inhalte multimedial aufbereiten und mit Computern kann multimodal interagiert werden. Die Einhaltung von Standards der Barrierefreiheit im Webdesign ist dabei nur ein Etappenziel: Unter den Schlagwörtern „Design für Alle“ oder „Universelles Design“ werden langfristige Konzepte und Lösungen der umfassenden Inklusion gesammelt. Anwendungen, Systeme und Geräte sollen so gestaltet werden, dass möglichst viele User_innen mit den verschiedensten Fähigkeiten und Bedürfnissen sie einfach und sicher benützen können.

Illustration: Veronika Lambertucci

BIS SPÄTER. Kann sich wer an die Zeit erinnern, als man in einem Chat anwesend („online“) sein musste, um Gespräche lesen zu können? Können sich die Jüngeren vorstellen, wie chaotisch das war, wenn sich ständig Leute mit „re“ wieder im Chatroom anmeldeten und ihn mit „cu“ verließen? Gruppenchats auf Facebook, WhatsApp und ähnlichen Diensten kennen keine An- oder Abwesenheit. Und ein „Ich bin jetzt übrigens da“ wird eher wenig Rückmeldung auf Twitter generieren. Auf techniktagebuch.tumblr.com finden sich viele Erinnerungen an die Gepflogenheiten überholter Technologien, von über 100 Autor*innen, chronologisch archiviert und auch für die Generation Touchscreen verständlich. Die meisten Einträge sind aber ohnehin aus der Zeit nach 2010, hat doch die Schriftstellerin Kathrin Passig den Blog erst 2014 erstellt. In 20 Jahren wird das interessant sein, verspricht sie. Mal sehen, ob das World Wide Web bis dahin zum Filterbubble-Dorf geworden ist und im Cyberspace wieder brav  gegrüßt werden muss.

VIELFLIEGER_INNENPROGRAMM. Ada Lovelace, die am 10. Dezember 1815 geboren wurde, kümmerte sich nicht um den Wunsch ihres Vaters, dass sie ein „prächtiger Sohn“ werden solle. Mit zwölf beschloss sie nach langer Krankheit, sie wolle fliegen, studierte Vögel und begann ein Jahr später damit, Flügel zu entwerfen. Sie begeisterte sich vor allem für Mathematik und Musik, nannte sich aber auch Metaphysikerin. Heute ist sie uns als erste Programmiererin der Geschichte bekannt. Doch die Rechenmaschine, für die sie ihren berühmten Algorithmus schrieb, wurde nie gebaut. Bedeutsamer war vermutlich ihr Versuch einer „poetical science“: Sie erkannte das Potential solcher Rechenmaschinen, träumte von Möglichkeiten, die weit über Zahlenspiele hinausgingen, und legte sowohl mathematisch als auch ideell den Grundstein für die heutige Informatik. Erst 100 Jahre nach ihrem frühen Tod 1852 erreichten Computer die Leistung, mit der sie rechnete. Ihren Traum vom Fliegen hatte sie wohl nie ganz aufgegeben.

EINHORNBLUT UND PAPIERSTAU. Es gibt Geräte, die den allgemeinen technischen Fortschritt einfach ignorieren. Während in den  letzten Jahrzehnten Computer tausende Male schneller, Internetverbindungen kabellos und Kameras digital geworden sind, scheinen Drucker die lebenden Fossilien des Büroalltages zu sein. Kein Tag, an dem nicht ausgetrocknete Tintenpatronen (deren Wert nur knapp unter dem von Einhornblut liegen kann) oder ein Papierstau für wutverzerrte Gesichter und Hasstiraden auf sozialen Netzwerken sorgen.

Und selbst wenn mechanisch alles läuft und der Drucker sich entscheidet, das teure Spezialpapier ausnahmsweise mal nicht in tausend Fetzen zu zerkleinern, druckt er stattdessen nur kryptische Botschaften aus Sonderzeichen. Zugegeben: Drucker sind komplizierte mechanische Geräte, die mit einer Vielzahl an Papieren und Formaten zurechtkommen sollen. Wetterfühlig sind sie auch noch: Zu hohe oder zu niedrige Luftfeuchtigkeit lässt die Blätter aneinan derkleben, der Papierstau ist die logische Konsequenz. Aber es gibt Hoffnung: Bis zum papierlosen Büro kann es nur noch ein paar Jahrzehnte dauern.

ENDLOSE GEOMETRIE. Lange kannte die Mathematik nur glatte geometri- sche Flächen und Formen: Kreise, Rechtecke, Zylinder und so weiter. Berge sind allerdings keine idealtypischen Pyramiden und realistische Bäume lassen sich nur schwer mit Lineal zeichnen; die Welt wird von rauen Oberflächen dominiert. Benoit Mandelbrot erkannte dies nicht als erster, brachte aber ein klein wenig Ordnung ins Chaos. Nach einer kurzen Uni-Karriere landete er 1958 bei IBM, wo seine unkonventionellen Ideen Anklang fanden und vor allem berechnet und visualisiert werden konnten. 1975 prägte er den Begriff der Fraktale, das sind natürliche oder mathematische Phänomene, die aus sich immer wiederholenden Mustern bestehen.

Daraus ergeben sich nicht nur psychedelische Bilder, sondern viel banalere Dinge: von Antennen in Smartphones über CGI-Landschaften in Filmen und Videospielen bis hin zur medizinischen Datenanalyse – die Anwendungsmöglichkeiten von fraktaler Geometrie scheinen so endlos wie die Mandelbrotmenge selbst.

Me, my selfie and I

  • 25.03.2015, 18:37

Viraler Netztrend und Kunstgenre: Selfies sind präsenter denn je. Und politischer als erwartet.

Viraler Netztrend und Kunstgenre: Selfies sind präsenter denn je. Und politischer als erwartet.

Das Selbstbildnis ist kein Phänomen des Internetzeitalters. Schon in der Antike dokumentierten Künstler_innen ihre eigene Existenz durch Zeichnungen, Skulpturen oder Fotografien. Sei es die feministische und kommunistische Malerin Frida Kahlo oder die bis nach ihrem Tod unentdeckte Straßenfotografin Vivian Maier: Weltweit reißen sich Museen um ihre anspruchsvollen und spannenden Werke. Von weißen Typen wie Vincent van Gogh möchte ich gar nicht erst anfangen. Subjekt und Objekt zugleich, ein Spiegel des Selbst. Das sind die künstlerischen Funktionen von Selbstportraits – oder wie sie heute genannt werden: Selfies.

POLITISCHES SELBSTPORTRAIT. Die Produktion von Selbstportraits ist eine politische Intervention, die häufig unverstanden bleibt. Wir leben in einer Gesellschaft, die von Gewalt gestützt wird: Das Patriarchat, Hetero- und Cisnormativität, rassistische und klassistische Strukturen und eine eurozentrische Erzählweise von Geschichte und Geschehen prägen sie. Was wiedergegeben wird, ist stark gefiltert, privilegierte Stimmen werden verstärkt. Die Lebensrealitäten marginalisierter Personen werden so schon seit Jahrtausenden unsichtbar gemacht, ihre Überbleibsel vernichtet. Klingt scheiße, ist aber so. Aber so muss es nicht weitergehen. Dank technischem Fortschritt sind Milliarden von Menschen mit Kameras und Internetzugang dafür ausgestattet, sich in die Geschichtsschreibung einzumischen. Selfies stellen eine Gefahr für dieses auf Lügen basierende System dar, denn sie dokumentieren die Lebensrealitäten von Personen, die sonst nur durch Fremdzuschreibungen repräsentiert werden. Sie sind der Beweis dafür, dass diese Personen existierten und existieren.

Selfies erzeugen in vielfacher Hinsicht Macht. Zum einen durch die selbstbestimmte Repräsentation, zum anderen auch auf fototheoretischer Ebene. Wenn Roland Barthes die Fotografie mit dem Tod vergleicht – nicht zuletzt auch aufgrund der Sprachmetaphorik des Schießens eines Bildes, aber auch aufgrund des Einfrierens eines Moments –, dann sind Selbstportraits mit Suizid vergleichbar. Das Gefühl, über das Wie, Wann und Wo Kontrolle zu erlangen, bringt die sich selbst abbildende Person in eine Machtposition. Sowohl beim Suizid als auch beim Selfie wird den Akteur_innen Egoismus vorgeworfen. Pluspunkt des Selfies: wenig Destruktivität, optional viele schöne Filter.

AUFMERKSAMKEITSSCHREI MY ASS. Auf der Popkultur-Plattform jezebel.com entfachte Erin Gloria Ryan Ende 2013 die Debatte, ob Selfies nicht eher Produkte aufmerksamkeitshungriger Jugendlicher als Empowermentstrategien seien. Solche Aussagen sind Ausdruck privilegierter Positionen – das merkte auch der_die Blogger_in Loan Tran an: „What a lot of these articles don’t talk about is the way desirability are defined. Many of these articles leave out what selfies do and have done for people of color, queer and trans people, fat folks, disabled folks and all of us living at the intersections of those identities.“ Das vermeintliche Gieren nach Aufmerksamkeit verwechsle Ryan mit dem Bedürfnis nach Bestätigung innerhalb einer Community, in der eben nicht oberflächlich-lookistische Bemerkungen, sondern ermächtigendes Anerkennen und Sehen vorherrschen. Davon abgesehen ist es völlig legitim, in Eitelkeit und Selbstgefälligkeit zu versinken. Die Abwertung dieser Eigenschaften ist häufig sexistisch, denn in der Regel sind es Frauen*, deren Äußeres zwar immer überragend sein soll, aber bloß mit Bescheidenheit zur Schau zu stellen ist. Ganz nach dem Motto: „I’m sexy and I kind of know it but I’m just going to pretend that I don’t, otherwise everyone is going to mistake me for a shallow bitch.“ Das Tabu ist hier die Darstellung selbstbewusster Frauen* und entlarvt, dass diese Geisteshaltung scheitert, sobald Frauen*, queere Personen, People of Color, Schwarze Personen, disableisierte und dicke_fette Personen sich selbst lieben.

Klassisch sind auch klassistische Diskreditierungen von Selfies. Auf Twitter begegnete mir neulich ein Foto von einem T-Shirt mit der Aufschrift „Less selfies, more books“. Hä? Die Journalistin Ella Morton kommentierte ganz korrekt: „I think you mean ‚fewer selfies‘ there, champ. If you’re going to be a snob, do it properly.“

Woher die Dichotomie von Selfies vs. Büchern kommt, kann ich mir nicht erklären. Lesen Menschen, die gerne Selfies machen, etwa keine Bücher? Wer „book selfies“ googelt, wird unter den ersten Treffern auf eine ganz gewiefte Kandidatin stoßen: Kim Kardashian. Die schlägt nämlich beide Fliegen mit einer Klappe und veröffentlicht dieses Jahr ihr Buch „Selfish“, gefüllt mit nichts anderem als Selfies. Auf 352 Seiten. Und jetzt, Hater?

MACHT UND ERMÄCHTIGUNG. Nicht alle Menschen haben das Privileg, visuell auf eine positive und empowernde Art repräsentiert zu werden. Gerade marginalisierte Gruppen werden, wenn überhaupt, sehr stereotyp dargestellt. Vorbilder aus den Medien sind so vielfältig wie 356 Tage im Jahr Toastbrot: ziemlich weiß.

Die Devise heißt also: Do it yourselfie. Fotografiere dich selbst, verbreite dein Material über alle Kanäle, zeige der Welt, dass du existierst. Zeige deiner Community, dass du existierst. Zeige den beschissenen Reklamen, die dich immer wieder unsichtbar machen, dass du existierst. Auf diese Art können Menschen selbst bestimmen, auf welche Art sie repräsentiert sein möchten und entfliehen den diktierenden Blicken Privilegierter, zum Beispiel dem „Male Gaze“. Selfies können brechen, was Schönheitsnormen propagieren: Einerseits können sie zeigen, dass Menschen nicht normschön sein müssen, um schön zu sein. Andererseits illustrieren sie auch, dass Schönheit an sich nicht erstrebenswert ist. Nicht alles muss schön sein, um existieren zu dürfen oder um Akzeptanz und Respekt zu ernten. Wenn die Selbstliebe so groß ist, dass alle Hater beleidigt sind und sich bedroht fühlen, wurde alles richtig gemacht.

 

Hengameh Yaghoobifarah studierte Medienkulturwissenschaft an der Uni Freiburg und arbeitet als Online-Redakteurin beim Missy Magazine.

The internet is for hate

  • 25.03.2015, 17:59

Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.

Wie sich Hass in der Gesellschaft im Internet offenbart.

Eine junge Frau wird bedroht und muss mehrmals umziehen. Jeden Tag, wenn sie ihre sozialen Netzwerke öffnet, findet sie immer neue, üble Beschimpfungen. Jede ihrer Äußerungen wird verfolgt, längst hat sie mehrmals die Telefonnummer gewechselt. Was für Die feministische Medienwissenschaftlerin Anita Sarkeesian oder die Spiele-Designerin Zoe Quinn nicht erst seit dem misyogynen Videospiel-Shitstorm „Gamergate“ (vgl. progress 4/2014) groteske Normalität darstellt, kann ohne Weiteres für uns alle Alltag werden.

STREUFEUER. Hassrede ist das öffentliche Hetzen gegen Einzelne oder Bevölkerungsgruppen, denen bestimmte Eigenschaften (zum Beispiel „lesbisch“) oder Zugehörigkeiten (zum Beispiel „jüdisch“) zugeschrieben werden. Im österreichischen Strafrecht erfüllt eine solche Tat den Strafbestand der Verhetzung (§ 283 StGB), wenn die Hassrede „für eine breite Öffentlichkeit wahrnehmbar” ist. Eine solche liegt laut Rechtssprechung ab 150 Personen vor. Nirgends lässt sich eine solche Öffentlichkeit und Gleichgesinnte schneller finden als online. Das Gesetz wird durchaus auch gegen Online-Hetze angewendet, so wurde letztes Jahr beispielsweise eine niederösterreichische Pensionistin wegen verhetzender Facebook-Postings über Muslime und Roma zu verurteilt.

Umfang und Ausmaß von Hassrede im Internet lassen sich kaum abschätzen. Auf der „Hate Map“ wurden ein Jahr lang Beleidigungen und ihre Geo-Tags in den USA dokumentiert. In der verwendeten Stichprobe finden sich 150.000 Hasstweets. Dabei wurden nur zehn Begriffe näher untersucht. Sarkeesian allein dokumentierte auf ihrem Blog feministfrequency.com 150 Hasstweets, die sie in einer Woche erhielt.

ORGANISIERTE RATLOSIGKEIT. Im Umgang mit Täter_innen wie Betroffenen sind Gesellschaft und Konzerne ratlos. Die meisten sozialen Netzwerke verbitten sich Hassreden, scheitern aber daran, die eigenen Vorgaben durchzusetzen und auffällige Nutzer_innen auszuschließen. Bei schwammigen Nutzungsregeln darf viel interpretiert und lange gehasst werden. So verwässert zum Beispiel Facebook seine Nutzungsbedingungen, indem Drohungen als Humor ausgelegt werden dürfen: „Allerdings sind eindeutige humoristische oder satirische Versuche, die anderenfalls als mögliche Drohungen oder Angriffe verstanden werden können, zugelassen.“ Auch Youtube bzw. Google hat eher ein merkwürdiges Verständnis von Hassrede: „Der Grat zwischen dem, was als Hassrede bezeichnet werden kann und was nicht, ist schmal. Beachte, dass nicht jede Gemeinheit oder Beleidigung eine Hassrede ist“, heißt es in den FAQs. Die größeren Medien und Tageszeitungen beschäftigen sich dagegen professionell mit Communitymanagement und suchen nach Wegen mit Trollen, Hass und Drohungen umzugehen. So wird mit Accountpflicht, strengeren Moderationen, geleiteten Diskussionen oder Votingfunktionen für Kommentare experimentiert. Vor drastischen Schritten wie Ausschlüssen oder klarer Kante scheuen aber auch sie zurück.

Der laxe Umgang und die so ständig wachsende Masse an Hass im Netz lässt nach Meinung aussehen, was tatsächlich menschenverachtende Anstiftung ist. Wenn davon gesprochen wird, dass beispielsweise eine Satire, die Tabus kennt oder eine scharfe Gesetzgebung bei Hassrede die Meinungs- und Redefreiheit einschränken, wird ausgeblendet, dass Diskriminierung, Hass und Gewalt die Betroffenen längst massiv einschränken. Die deutsche Psychologin Dorothee Scholz arbeitet mit Jugendlichen zu Gewalt und sagt dazu: „Über Sprache wird ein Klima geschaffen, in dem die psychischen Hemmschwellen zur Gewaltausübung gegen bestimmte Personengruppen gesenkt sind. Gewalt gegen jene, die diesen Gruppen angehören, ist in Folge gesellschaftlich akzeptierter und ruft auch weniger Mitgefühl in der breiten Masse hervor.“

HASSPOESIE UND TROLLMÜLLHALDEN. Immer wieder verschwinden Websites, Blogs und Twitteraccounts, und Menschen trauen sich nicht mehr, ihre Stimme zu erheben – weil sie das Gefühl haben, dem Hass nur noch entgegengschweigen zu können. Julia Schramm ist eine, die sowohl mit persönlichen Shitstorms als auch mit generalisierter Hassrede Erfahrungen machen musste. Seit 2012 sammelt sie diese auf ihrem Blog hassnachrichten.tumblr.com. Als Fachreferentin für Hate Speech informiert sie außerdem bei no-nazi.net über ihre Facetten. „Hate Speech ausgesetzt zu sein ist eine traumatisierende Erfahrung und sollte so behandelt werden. Konkret heißt das: Verstehen, dass eine Verletzung stattgefunden hat und Mitgefühl und Fürsorge sich selbst gegenüber aufbringen. Es heißt aber auch, die strukturelle Ungerechtigkeit, die Hate Speech ist, als solche zu akzeptieren und sich nicht daran aufzureiben. Dann lässt sich auch besser kämpfen. Ich bin froh, dass ich mich dazu entschieden habe, denn Hate Speech ist Gewalt und muss bekämpft werden.“

Da von den Betreiber_innen von Online-Communities kaum oder nur unzureichende Schritte gegen Angriffe oder notorische Menschenfeind_innen zu erwarten sind, wird von User_innen selbst zu Solidarität mit Betroffenen aufgerufen. Doch Hashtag-Ablasshandel allein, der Unterstützung mit Lippenbekenntnissen verwechselt, verbessert die Situation kaum länger als einen Moment. Es profitieren diejenigen, die ohnehin ein dichtes soziales Netz, Zugang zu Hilfe, eine große Reichweite oder eine bedeutsame Stimme haben.

Eine andere Strategie im Umgang mit dem Hass sind seine Dokumentation und das Schaffen einer Gegenöffentlichkeit: Viele zeigen die Angriffe in Blogs oder auf Tumblr, richten eigene Sektionen für Kommentare von Hassposter_innen, sogenannten Trollen, ein oder nehmen sich Zeit für satirische Antworten. Die Plattform hatr.org sammelt Trollkommentare von verschiedenen feministischen Blogs und will damit Werbeeinnahmen generieren. Andere bieten dem Hass sogar die ganz große Bühne: Bei „Hate Poetry“, einer antirassistischen Leseshow, tragen migrierte Journalist_innen zwischen Lachen und Weinen Kommentare und E-Mails vor.

All diese Maßnahmen können helfen, mit persönlichen Angriffen fertig zu werden, dem Hass den Nährboden entziehen können sie jedoch nicht. Denn Hassrede ist kein Netzphänomen, sondern dort bloß ein besonders gut dokumentiertes. Der vermeintliche Deckmantel der Anonymität, der nur das Schlechteste im Menschen hervorbringt, ist vielmehr ein Vorhang, der sich öffnet und aufzeigt, was ohnehin da ist: Eine Gesellschaft, die auf ihre diskriminierenden Strukturen lieber nicht verzichten möchte – das wird man wohl noch sagen dürfen…
 

 

Anne Pohl macht beruflich was mit Kommunikation und gründet nebenbei Onlineprojekte wie feminismus101.de oder herzteile.org.

Lesetipps und Links

In ihrer Broschüre „Geh sterben! – Umgang mit Hatespeech und Kommentaren im Internet“ informiert die Amadeu Antonio-Stiftung mit Betroffenenberichten, Tipps für Communitybetreibende, Erkennungsmerkmale und Infos über Strukturen hinter Hassreden.

International Legal Research Group on Online Hate Speech

Hatespeech-Toolbox der IG Kultur

150 Hasstweets

Hate Map

Satirische Antworten

Hate Poetry

Ein (Auffang-)Netz aus Feminist_innen

  • 08.03.2015, 11:34

Anlässlich des internationalen Frauentags möchten wir euch einige feministische Blogs, Initiativen und Podcasts empfehlen, ohne die das Internet nur halb so gut wäre. Von Fat-Empowerment, Möglichkeiten feministischer Mutterschaft(en) bis hin zu geekigem Feminismus haben sich online die unterschiedlichsten Plattformen entwickelt, die stereotyper, einseitiger oder gar sexistischer Berichterstattung entgegenwirken wollen.

Anlässlich des internationalen Frauentags möchten wir euch einige feministische Blogs, Initiativen und Podcasts empfehlen, ohne die das Internet nur halb so gut wäre. Von Fat-Empowerment, Möglichkeiten feministischer Mutterschaft(en) bis hin zu geekigem Feminismus haben sich online die unterschiedlichsten Plattformen entwickelt, die stereotyper, einseitiger oder gar sexistischer Berichterstattung entgegenwirken wollen.

Fuckermothers

Fuckermothers möchte nach den verschiedenen Möglichkeiten feministischer Mutterschaft(en) fragen, nach den queeren Müttern, den hetero-Müttern, den hippen Müttern, den Nicht-Müttern, den Anti-Müttern, den Anti-Anti-Müttern, den Pro-Mutterschafts Müttern, den Teilzeit-Müttern, den Polit-Müttern, den rassistisch diskriminierten Müttern, den trans_Müttern, den VäterMüttern, den sexy Müttern, den marginalisierten Müttern, den Pro-Sex-Müttern, den cripple moms, den traditionellen Müttern, den kritischen-Müttern-die-trotzdem-in-traditionellen-Beziehungen-leben, den männlichen Müttern und allen dazwischen. (BM)

Umstandslos

Ebenfalls dem Thema Mutterschaft fernab von „Mommy Wars“ widmet sich das „umstandslos“-Magazin. Ziel des etwa zweimonatlich erscheinendem Magazins ist eine Vernetzung feministischer Mütter*. Darüber hinaus sollen die Belange feministischer Mütter nach außen getragen, sichtbar gemacht und besser wahrnehmbar werden. Das umstandslos-Magazin möchte ein möglichst breites Spektrum feministischer Mutterschaft darbieten. (CH)

Oh joy, sex toy

Foto: ohjoysextoy.com

Wissen ist Sex(y)! Erika Moen und Matthew Nolan veröffentlichen jeden Dienstag Comics zu allem rund um Sex. Und das mit einem positiven Licht auf alle unterschiedlichen Körper, die es gibt. In schlichtem Stil in meist pinker Farbe zeigen sie wie ein offener und kommunikativer Umgang miteinander lustvollen und kreativen Sex möglich macht. Mit der Unterstützung von Bildern geben sie Tipps wie eins eine Pussy leckt, Kondome als Antörner verwendet oder eine Fernbeziehung führen kann. In diesem Sinne: “Dearest perverts…” (MB)

Kaiserinnenreich

Mareice bloggt über Inklusion, „behinderte Momente“ und ihren Alltag als Journalistin und Mutter. Mit der Geburt ihrer ersten, behinderten Tochter hat sich ihr Leben sehr verändert. Mit dem noch gar nicht so lang bestehenden Kaiserinnenreich schafft sie Sichtbarkeit für Familien, die meist nicht so viel Öffentlichkeit bekommen und hat in dieser kurzen Zeit schon Blickwinkel vieler ihrer Leser_innen verändert. (CH)

Krachbumm

Krachbumm! Der Name ist Programm. Katja aus Graz nimmt sich gerne Tabuthemen an und bloggt unter anderem zu Sex und Trauma. Nebenbei publiziert sie E-Books, zuletzt eines mit dem Titel „Wie sag ich’s meinem Kind? Sex und Porno“. Darin gibt es Wissenswertes, Tipps und Tricks zu Fragen der Aufklärung und Raum zur Selbstreflexion. (CH)

Queer Vanity

Foto: jj thunderkat
Mit ihrem queer_feminist_fa(t)shionblog mischt Hengameh die deutschsprachige Fashionblogszene auf und sorgt bei jedem einzelnen Posting für Style Envy. (CH)

Die Featurette

Die Featurette ist ein Webmagazin, das Frauen im Internet sichtbarer machen will. Im Netz wird unendlich viel geschrieben und diskutiert, gute Texte abseits der bekannten Alphablogs gehen aber oft unter. Die Initiatorinnen wollen Frauen* ermutigen, sich zu Wort zu melden, politisch zu handeln und sich zu vernetzen. Die Featurette vereint viele lesenswerte Blogs in einem sich automatisch aktualisierenden Feed, die zusammen eine große Themenbreite abdecken. (BM)

Saturday Chores

Foto: saturdaychores.tumbler.com

Grayson and Tina dokumentieren auf “Saturday Chores” ihren Protest gegen Pro-Life-Aktivisten [sic!] vor Frauen-Gesundheits-Zentren. Mit Schildern wie “Weird Hobby” karikieren sie AbtreibungsgegnerInnen und deren Parolen. Auch Kritik kommt nicht zu kurz “I see a lot of men talking”. Inspiration und Empowerment! (MB)

Speakerinnen – Mehr Frauen auf die Bühne

Die Speakerinnen-Liste hat das Ziel, die Sichtbarkeit von Frauen* bei Konferenzen, Panels, Talkshows und überall da zu erhöhen, wo öffentlich gesprochen wird. Hier können Veranstalter_innen Expertinnen* finden, die kompetent über ihre Themen sprechen können und wollen. Frauen* können sich selbst mit ihren Themen und Referenzen in die Datenbank eintragen und so besser auffindbar werden. (BM)

Feminspire – Where Women Make Media

Foto: feminspire.com

Feminspire beschreibt sich selbst als ein Kollektiv weiblicher Stimmen. Ziel war es, jungen Frauen* eine Plattform zu geben, auf der sie offen über gesellschaftliche Missstände und explizit frauendiskriminierende Praxen schreiben konnten. Feminspire-Redakteurinnen wollten die Plattform nicht nur journalistisch professionell bespielen, sondern im Anschluss auch selbst anregende Inhalte rezipieren. Von Frauen* für Frauen*. Die Artikel behandeln Themen von Gaming („Why Other Women Should Stop Judging My Gaming“) bis Slutshaming („Why I Never Play Hard To Get“). (BM)

Mädchenmannschaft

Willkommen Feminist_innen und alle, die es werden wollen! Der gemeinnützige Verein Mädchenmannschaft e.V. betreibt online wie offline Bildungsarbeit und Aufklärung über die Lage von Mädchen und Frauen_Lesben_Trans* in Deutschland sowie weltweit. Die Mädchenmannschaft liebt Feminismus und notiert Dinge und Nachrichten, die fröhlich machen oder die Nackenhaare aufstellen. Der Blog soll Forum sein und Spielwiese für alle, die sich eine bessere und gerechte Gesellschaft wünschen. (BM)

Feminist Frequency

Foto: feministfrequency.com

Anita Sarkeesian schaut in ihren Videoblogs genauer hin. Wie werden Frauen* in Medien repräsentiert und instrumentalisiert? Mit klugem Witz und unbestechlichen Argumenten analysiert sie unter anderem Pacman, LEGO und Startrek und kritisiert dabei misogyne “tropes”, also wiederkehrende Muster, die dem Publikum Informationen transportieren – und Stereotypen verfestigen. Yup, that’s the deal. (MB)

Feminismus aufs Ohr

Im Lila Podcast nehmen Susanne Klingner, Katrin Rönicke und Barbara Streidl alle zwei Wochen das Weltgeschehen in die feministische Mangel und fragen: Was passiert da gerade? Geht das noch besser? Kann das weg? Feministische Baustellen gibt es viele: Egal, ob die Familienministerin ein Erziehungsgeld einführt, im Netz über Alltagssexismus diskutiert wird oder bei der x-ten Staffel von Germany’s Next Topmodel wieder reihenweise junge Frauen* zum Weinen gebracht werden – all das, der Alltag, das Besondere, der Wahnsinn sind ihre Themen. In der aktuellen Folge sprechen die Podcasterinnen über Sexismus in Hollywood, der Schauspielerinnen wie Jennifer Aniston, Rene Zellweger und Kate Winslet nur nach ihrem Äußeren bewertet. (BM)

heiter scheitern

Marlen, Steff und Joke präsentieren mehr weniger regelmäßig als „Stößchen aus den Zonen der Unbewohnbarkeit“ den Podcast „heiter scheitern“. Als Hörende sitzen wir mit dem Dreichen (Anm.: Ein Pärchen mit drei Mitgliedern) am Küchentisch und wohnen Diskussionen über queere Elternschaft, das Dauerthema „Allies“ und immer wieder zu „Raum“ und Raumeinnahme bei. Das Format „drei Menschen reden über ein Thema drauflos und danach gibt es noch etwas Musik“ ist in Zeiten der 100-Sekunden-Nachrichten sicher gewöhnungsbedürftig, aber umso mehr lohnt es sich, die Zeit zum Hören zu investieren. (JA)

nrrrdz

Nrrrdz ist ein queer-feministischer Podcast zum Thema Nerden, Internet, Netzkultur, Gadgets und Technik. Während viele Technikpodcasts rein männlich besetzt sind und sich vor allem über die Taktfrequenzen von Prozessoren und Speicherkapazitäten der neusten Gadgets unterhalten, geht es bei nrrrdz nie rein um die Technik, sondern immer auch um die Art und Folgen ihrer Benutzung. Themen sind zum Beispiel Verschlüsselungssoftware, die eins auch den nicht-technikaffinen Freund*innen empfehlen kann oder alternative soziale Netzwerke. Das Format ist gesprächslastig, was sehr sympathisch wirkt und trotz der oft ausufernden Länge nie Langeweile aufkommen lässt. Erweitert werden die Folgen durch begleitene Links und Videos. (JA)

Femgeeks

Foto: femgeeks.de

Femgeeks ist ein deutschsprachiges Gemeinschaftsblog zu feministischen Geekthemen und geekigem Feminismus. Ein Ort, an dem sich Kreativität, Kritik, außergewöhnliche Interessen, Feminismus und Einblicke in Wissenschaft und Technologie treffen. „Geekig“ ist hier nicht festgelegt auf wenige spezielle Interessen, Communities oder Beschäftigungen, sondern wird vielfältig eingesetzt. Die Autor_innen haben ebenso vielfältige Interessen wie (Video)Spiele, Gadgets, Comics, Serien, Crafting, Hacking, Literatur, Netzpolitik, Podcasting, Popkultur, Musik, Feminismus, Queerness und viele viele mehr. (BM)

mädchenblog

Das Mädchenblog besteht seit 2006 und ist eine kollektiv organisierte Plattform ohne redaktioneller „Kontrolle“, die neuen Autor*innen eine niederschwellige Möglichkeit bietet, zu (queer-)feministischen Themen zu publizieren. Auf dem Blog und insbesondere auch auf dem Twitter-Account gibt es außerdem einen immer aktuellen und sehr ausführlichen Terminkalender für feministische bzw. interessante Events im gesamten deutschsprachigen Raum. (OA)

 

(Diese Liste ist natürlich keine vollständige Sammlung, sondern ein erster Ansatzpunkt und eine kleine Inspirationsquelle. Wir nehmen gerne Vorschläge für eine Erweiterung dieser Aufzählung auf und verstehen diesen Artikel als work in progress.)

 

Finger weg von unserem Netz!

  • 31.10.2013, 18:55

Eines Tages läutet es an der Tür. Die Studentin der Internationalen Entwicklung staunt nicht schlecht, als plötzlich Beamte des Verfassungsschutzes mit finsterer Miene Zutritt verlangen. Sie stehe, so die knappe Erklärung, im Verdacht, in Aktivitäten des internationalen Terrorismus verstrickt zu sein. Als die junge Frau dann auch noch einen Untersuchungsbeschluss in Händen hält, traut sie ihren Augen nicht. Wie konnte es dazu kommen?

Eines Tages läutet es an der Tür. Die Studentin der Internationalen Entwicklung staunt nicht schlecht, als plötzlich Beamte des Verfassungsschutzes mit finsterer Miene Zutritt verlangen. Sie stehe, so die knappe Erklärung, im Verdacht, in Aktivitäten des internationalen Terrorismus verstrickt zu sein. Als die junge Frau dann auch noch einen Untersuchungsbeschluss in Händen hält, traut sie ihren Augen nicht. Wie konnte es dazu kommen?

Dieses düstere Szenario ist keineswegs so fern der Realitäten. Spätestens seit Edward Snowden und der durch ihn einer breiten Önffentlichkeit aufgezeigten Details zur Schnüffelpraxis der Geheimdienste bestehen keine Zweifel mehr, dass unsere menschliche Existenz im digitalen Zeitalter der totalen Kontrolle unterliegt. Wer also im Zuge des Studiums – um nur ein Beispiel zu nennen – mithilfe von Google zu asymmetrischen Konflikten und den Krisenerscheinungen im Spannungsfeld der Nord-Süd-Beziehungen recherchiert, könnte sich tatsächlich unwissend der Gefahr aussetzen, dass die algorithmische Auswertung der Sucheingaben die alarmierte Aufmerksamkeit der staatlichen Behörden nach sich zieht.

 „Das neue Herrschaftswissen beruht auf Big Data, jenen großen Datenmengen, die es erlauben, unser Verhalten weitgehend vorauszuberechnen und durch kleinere und größere Eingriffe zu optimieren“, schrieb Konrad Becker aus gegebenem Anlass vor kurzem in einem Standard-Kommentar. Der Leiter des in Wien ansässigen World- Information Institute ist Mitinitiator des Netzpolitischen Konvents der österreichischen Zivilgesellschaft, der zu Jahresbeginn 2013 mit dem Ziel ins Leben gerufen wurde, auch in Österreich mit allem Nachdruck „für eine offene, demokratische und zukunftsfähige Gesellschaft" einzutreten. Die jüngsten Abhörskandale und vor allem auch die Ignoranz der obersten Organe der Republik lassen tatsächlich die Alarmglocken schrillen. Mit der Kampagne "Finger weg von unserem Netz!" will der Konvent nun die Öffentlichkeit wachrütteln. Zahlreiche Gruppen und Organisationen, darunter auch die Initiative für Netzfreiheit, der Arbeitskreis Vorratsdaten, freie Radios sowie die IG Kultur Österreich, haben sich zusammengetan, um eine umfassende netzpolitische Agenda vorzulegen. Das Internet und die neuen Möglichkeiten der Vernetzung, so die gemeinsame Botschaft, erfordern eine Politik, die sich am Gemeinwohl orientiert, an struktureller Erneuerung und gesellschaftlicher Teilhabe – und nicht, wie es derzeit den Anschein erweckt, an den Machtinteressen etablierter Institutionen und profitgieriger Geschäftsmodelle.

Die Debatten im Vorfeld der Nationalratswahl 2013 hätten der öffentlichen Bewusstseinsbildung eine Chance geboten, die Parteien ließen sie jedoch ungenutzt. Die Entwicklung der digitalen Räume, unserer Kommunikation und Interaktion dürfen nicht dem freien Spiel der Interessen von Konzernen und Geheimdiensten überlassen bleiben. Stattdessen braucht es Regularien, die in einem transparenten und auf Grundrechten basierten Verfahren zu definieren sind. Lobbies, Geheimdiensten und Datenmagnaten ist schleunigst Einhalt zu gebieten. Das erfordert eine Netzpolitik, die den Anforderungen demokratisch ausgestalteter Informationslandschaften Rechnung trägt!

Die wichtigsten Anliegen für ein freies Netz:

Datenschutz: Die Wahrung der Privatsphäre ist Grundvoraussetzung für das Vertrauen in die Informationsgesellschaft. Nur wer über die Sammlung, Weitergabe und Analyse der eigenen Daten bestimmen kann, wird ohne Angst die neuen Möglichkeiten nutzen. Strenge nationale und europäische Regelungen können sicherstellen, dass die Privatsphäre bereits in Technologie und Standardeinstellungen geschützt wird.

Netzneutralität: Ein Grundgedanke des Internets ist seit jeher der Anspruch auf freie und gleichberechtigte Kommunikation. Wenn aber zahlungskräftige Konzerne eine Überholspur erhalten, werden Meinungsfreiheit, Innovation und Chancengleichheit der Profitgier geopfert. Die digitalen Netze müssen als öffentliches Forum zum sozialen und kulturellen Austausch erhalten bleiben. Dies ist nur durch Gleichberechtigung von Netztechnologien und Datenübertragung sowie durch Transparenz des Netzwerkmanagements möglich. Es darf folglich auch keine manipulativen Eingriffe in Datenströme und Protokolle geben.

Offene Daten: Datenbestände des öffentlichen Sektors sind grundsätzlich frei zugänglich zu machen. Auch in Österreich bedarf es eines umfassenden Rechts auf Information und Einsicht in die Akten der Verwaltung (Freedom of Information Act). Das gilt in gleichem Ausmaß für Unterlagen öffentlicher Bildungseinrichtungen. Daten, Methoden, Ergebnisse, Forschungspublikationen und Bewertungskriterien der wissenschaftlichen Forschung müssen öffentlich zugänglich, durchsuchbar und reproduzierbar sein.

Urheberrecht: In seiner gegenwärtigen Form schafft das Urheberrecht eine Vielzahl von Unsicherheiten und Problemen. Es droht immer mehr, zu einem Mittel der Kriminalisierung unserer digitalen Alltagskultur zu werden. Davon betroffen sind auch Bibliotheken und Archive. Eine Reform ist längst überfällig, um durch vereinfachte Nutzungsbestimmungen Rechtssicherheit zu schaffen und Eigentumsmonopole über die Wissensinhalte der Informationsgesellschaft zu verhindern.

 

Martin Wassermair, Historiker und Politikwissenschafter und am am World- Information Institute tätig.

Einmal Flirten zum Mitnehmen

  • 04.04.2014, 09:46

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Facebook stirbt. Das kann man heute mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit behaupten. Ob das nun in drei oder zehn Jahren der Fall sein wird, spielt keine Rolle. Fakt ist, dass der jüngste Rettungsversuch des Social Networks die Übernahme von WhatsApp ist. Der Deal droht nun aus Datenschutzgründen zu platzen. Die 19 Milliarden, die Zuckerberg für Whatsapp hinzulegen bereit ist, bestätigen aber: Mobil ist sexy. Das zeigt auch ein Blick auf die Hypes um diverse andere Smartphone-Applikationen wie Instagram, Snapchat, Telegram und Tinder. Besonders letzteres erfreut sich erstklassiger Mundpropaganda. Die Dating-App hat im vergangenen Jahr von L.A. aus einen Siegeszug über den gesamten Globus hingelegt und dabei auch Österreich nicht ausgelassen. Neben ähnlichen Angeboten wie Lovoo, Badoo oder Grindr (die Mutter der Dating-Apps aus der Schwulenszene), ist Tinder der absolute Kassenschlager - würde es was kosten. Ende Jänner war die App laut AppAnnie Ranking auf Platz 1 der meistgeladenen Lifestyle Apps und auf Platz 10 aller geladenen Apps in Österreich. „It’s like real life, but better“, so der Slogan der App, bei dem potenzielle „Matches“ in deiner räumlichen Nähe gesucht werden. Gewünschtes Geschlecht, Alter und maximale Entfernung zum „Match“ werden voreingestellt und schon scannt der Dating-Radar die Umgebung. Da das Ganze mit dem Facebook-Account verbunden ist, sieht man bei der Auslese, die Tinder für einen trifft, Profilfotos, gemeinsame Facebook-Freunde und ein paar Interessensangaben. Ein Wisch nach links bedeutet „Nicht interessiert“, ein Wisch nach rechts „Interessiert“. Erst wenn beide Nutzer sich zufällig gegenseitig „geliked“ haben, werden sie informiert und der Chat freigeschaltet.

 

 

Der Sachbearbeiter. Michael braucht im Schnitt drei Sekunden, um sich zu entscheiden in welche Richtung er ein Foto wischt. Michael ist 35 und gehört damit zu den älteren Usern. Eine amerikanische Studie vom Mai 2013 besagt nämlich, dass mobile Dating-Apps vor allem bei 25- bis 35-Jährigen einschlagen. Michael ist seit einem Jahr auf Tinder. Das Aussortieren der virtuellen Vorschläge ist „wie ein Stapel Akten, den ich wie ein Sachbearbeiter abarbeite“, sagt er. Romantisch klingt das nicht, aber zumindest ehrlich. Michael chattet mit zwei bis drei Frauen pro Woche. Mit 20 Prozent trifft er sich dann auch, vorzugsweise am Wochenende mit Option auf eh schon wissen. Denn einer Beziehung ist er zwar nicht abgeneigt, aber „Luftschlösser bauen sollte man auch nicht.“ Einer der größten Vorteile zum ‚realen Flirten’ - da sind sich Michael und die Tinder-Gründer einig - ist das gegenseitige Liken bevor es überhaupt zur Kommunikation kommt. Dieser Trick eliminiert das Risiko einer Abfuhr. „Die Angst vor Zurückweisung ist eine der größten Ängste der Menschen und eng verknüpft mit der Verlust- und Trennungsangst, die existenzielle Implikationen hat. Eine App, die diese Ängste kontrollieren kann, ist natürlich sehr attraktiv“, sagt Psychologe Dr. Anton Laireiter von der Uni Salzburg. In Michaels Worten: „So abgebrüht kannst’ gar nicht sein, dass dir ein Korb nichts ausmacht.“ Der andere Vorteil, mit dem Tinder sich rühmt, ist die Verknüpfung mit dem Facebook-Account: User könnten sich nicht beliebig als Calvin Klein-Models ausgeben, da sie die Fotos ihres Facebook-Profils verwenden müssen. Doch wer sagt eigentlich, dass auf Facebook nicht geschummelt wird? Auch hierzu hat Michael einschlägige Erfahrungen bei einem Date gemacht: dank Photoshop hatte das Profilbild der Dame nur wenig mit ihrem wirklichen Aussehen zu tun.

Lass dich anschauen. Aber ist es wirklich nur das Äußere, das zählt? Apps wie Tinder, bei denen die kurze Durchsicht einer Handvoll Fotos als Entscheidungsbasis genügt und die virtuelle Kontaktaufnahme bestimmt, suggerieren das. Diese Oberflächlichkeit ist aber nicht (allein) als Auswuchs unserer modernen Selfie-Gesellschaft zu verstehen. Laut Psychologe Dr. Laireiter ist sie ein natürliches Auswahlkriterium des Homo Sapiens: „Die Entscheidung ‚like’ vs. ‚not like’ liegt beim Menschen im Millisekundenbereich – egal ob ein Auto, eine Handtasche oder ein anderer Mensch betrachtet wird. Die ‚rationale Entscheidung’ ist bei uns immer noch deutlich unterentwickelt. Erst im Laufe des Kennenlernprozesses werden die sogenannten inneren Werte und Lebensauffassungen wichtiger.“ Gesichter spielen dabei laut Laireiter eine hohe, aber oft täuschende Rolle: „Das Problem bei Gesichtern ist, dass sie für Präferenzentscheidungen sehr wichtig sind, aber notwendige Informationen wie Habitus, Stimme, Sprache oder Ausdruck noch vorenthalten.“ Ob nun virtuell oder real, die äußere Erscheinung ist nicht nur wichtig für die Partnersuche, sondern auch Objekt eines ständigen Vergleichs (Stichwort: Hot or not). Patricia Groiss, Saferinternet.at-Trainerin für Jugendliche, beobachtet, dass in diesem Zusammenhang unser Selbstbewusstsein nach außen gestiegen und nach innen gesunken ist: „Bisher standen wir immer nur im Vergleich mit Menschen, die wir treffen, durch das Internet vergleichen wir uns mit der ganzen Welt und für viele drängt sich die Frage auf: Warum sollte mich jemand nehmen, wenn’s die anderen auch alle gibt?“ Weil das Tinder-Prinzip also einerseits natürlich und ehrlich, aber andererseits doch etwas einseitig ist, gibt es einige Versuche anderer App-Hersteller, die Tinder-Kritiker_innen einzufangen: Sie nutzen zwar auch die Ortungsfunktion, ‚matchen’ aber aufgrund gemeinsamer Interessen und Lebenseinstellungen. Eine der skurrileren Apps ist Snoopet, bei dem Hundebesitzer verbandelt werden sollen. „Travelling the globe for prince charming“ verspricht wiederum der Radar von Twine Canvas, einer auf Interessen bezogenen, aber noch sehr ausbaufähigen App, bei der die Fotos erst angezeigt werden, wenn beide Seiten einverstanden sind. Schräges Extra: Im Chatfenster werden passend zu den Interessen des virtuellen Gegenübers Eisbrecher-Sätze wie „Do your friends like Quentin Tarantino as well?“ vorgeschlagen.

Darf ich bitten? Zurück zu Tinder: Alex hat die App „nur so zur Gaudi“ heruntergeladen. Ernst genommen habe sie das Ganze nicht, betont die 23-Jährige. Aber egal ob am Handybildschirm oder in der Bar, sie selbst würde nie den ersten Schritt machen: „Frauen erwarten, dass der Mann zuerst schreibt. Das ist beim Fortgehen ja auch so.“ Auch Michael bestätigt das alte Rollenbild: „Von den Frauen kommt nie was. Es bin immer ich der, der ‚Hallo, wie geht’s?’ schreibt.“ Neue Dating-Technologie bedeutet also nicht auch Fortschritt in Sachen Geschlechterklischees. Psychologe Laireiter kann da nur zustimmen: „Auch wenn wir in einer sexuell und gendermäßig liberalen Gesellschaft leben, sind die Geschlechtsrollen beim Dating noch relativ konservativ. Die Frau selektiert, der Mann muss anfangen.“ Was außerdem auffällt, ist die Hemmschwelle, vor allem bei Frauen, zuzugeben auf einer Dating-Plattform zu sein. Aktiv auf der Suche (vor allem nach Sex) zu sein, ist für Männer anscheinend immer noch akzeptabler und natürlicher. Wohl gerade deshalb versucht sich Tinder öffentlich nicht als Dating-Plattform, sondern als soziales Netzwerk darzustellen. Für Alex etwa war die blitzschnelle, simple Installation von Tinder ein Schritt, den sie als genügend unverfänglich empfunden hat – anders als eine Anmeldung bei einer klassischen Partnerbörse.

Ich schau nur Ein weiteres Charakteristikum der App lässt sich also feststellen: Tinder fühlt sich nicht wie eine Dating App an. Und vielleicht ist das ihr großes Erfolgsgeheimnis. 96% der User sollen vor Tinder noch nie eine andere Dating App genutzt haben. Es trauen sich also auch die, die sich normalerweise nicht trauen. „Meet new friends, chat, socialize“ (Badoo), „Tinder is how people meet“, „Express yourself and meet interesting people“ (Twine Canvas) sind Slogans, die jeder beliebigen sozialen Plattform zugeordnet werden könnten. Flirten darf sich also nicht wie Flirten und Dating nicht wie Dating anfühlen. Unverbindlich, praktisch und amüsant soll die Suche, die nicht wie eine Suche wirken soll, sein. Da ist eine Online-Anmeldung bei einer Partnerbörse inklusive psychologischem Text schon viel expliziter. Caroline Erb, Psychologin bei Parship, sieht die Apps daher nicht als Konkurrenz zu klassischen Partnerbörsen. Abgesehen davon, dass die Altersgruppe bei Parship & Co höher ist und die meisten dieser Websites kostenpflichtig sind, haben deren Kunden laut Erb eine andere Herangehensweise: „Bei Parship geht es um langfristige Beziehungen. Die Apps sprechen eher Leute an, die flirten, Leute kennen lernen und vielleicht Affären beginnen wollen.“ Klar kann Mann oder Frau auch über eine App den Menschen fürs Leben kennenlernen. Fakt ist aber laut dem Psychologen Anton Laireiter, dass es in Europa einen deutlichen Trend hin zu mehr unverbindlichen, kürzeren Beziehungen gibt: „Internationale Studien haben herausgefunden, dass vor allem in West- und Zentraleuropa unsichere Bindungsstile in dieser Altergruppe (Anm. bis 35) zunehmen.“

Dating 3.0 Laut der Mobile-Dating Marktstudie 2013 wurden bis zum Januar 2013 in Österreich 972.000 Dating-Apps heruntergeladen. Und das war noch vor Tinders Sprung über den großen Teich. Die Nachfrage ist da, und es ist nur eine Frage der Zeit bis sich andere Technologien zum noch vereinfachteren, noch unkomplizierteren Kennenlernen etablieren und das Handy-Flirten überholen. Die To Go-Mentalität wird wohl bleiben, sei es mit oder ohne Smartphone. Saferinternet.at-Trainerin Patricia Groiss sieht allgemein eine Entwicklung in Richtung Technologie am Körper, sei es Kommunikation von Uhr zu Uhr mithilfe von Smart Watches oder automatisierte Gesichtserkennung. Tinder & Co sind erst der Anfang einer beschleunigten, zweckdienlichen und zwanglosen Tendenz, wenn es um menschliche Begegnungen geht. Ob das hot or not ist, liegt bei jedem/r Einzelnen.

 

Elisabeth Schepe

 

Online-Dating ist eine Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform

  • 14.02.2014, 23:08

Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

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Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

progress: Du hast zu Beginn dieses Jahres einen Selbstversuch gestartet, bei dem du, unter anderem, auf den Konsum von Pornographie oder Online-Datingplattformen verzichtest. Du dokumentierst deine Erfahrungen seither auch auf einem Blog. Wie ist es dazu gekommen?

Gregor Schmidinger: Ich habe gemerkt, dass Pornographie Auswirkungen auf mein Sexualleben gehabt hat. Zuerst war mir gar nicht klar, dass Pornographie daran Mitschuld war. Pornos sind im Internet ja quasi unbegrenzt verfügbar. Als ich in die Pubertät gekommen bin, wurde das Internet gerade zum Massenmedium. Dadurch habe ich relativ schnell die Pornographie entdeckt. Vor allem wenn man schwul ist und in einem 1.800 Seelendorf lebt, ist das die einzige Möglichkeit die eigene Sexualität zu erforschen. Irgendwann wird es dann aber zur Gewohnheit und dadurch wird natürlich die eigene Wahrnehmung verändert. Und so ist dann das Projekt entstanden. Ich hab mich auch gleich dazu entschieden, dass über einen Blog öffentlich zu machen. Seither bekomme ich relativ viele Rückmeldungen. Das ist auch ein sehr breites Phänomen, über dass sich wenige reden trauen, weil es etwas sehr intimes und mit Scham behaftet ist.

progress: Wie ist es dir seither mit deinem Selbstversuch gegangen?

Schmidinger: Zu Beginn war ich super motiviert. Die ersten paar Tage sind recht gut gegangen, dann hatte ich einmal einen Durchhänger. Nach zwei bis drei Wochen ist es dann aber relativ einfach gegangen. Mir ist es auch zwei dreimal passiert, dass ich wieder abgerutscht bin, da muss man sich dann halt wieder herausholen. Das Bedürfnis des täglichen Pornoschauens ist aber mittlerweile komplett weg. Das Projekt wird auch sicher länger als ein Jahr dauern. Schön langsam komme ich in einen emotionalen Bereich hinein, den ich sehr spannend finde. Gerade beschäftige ich mich mit den Funktionen von sexuellen Phantasien. Pornographie ist am Ende ja nichts anderes, als eine visualisierte Version einer sexuellen Phantasie.

progress: Hast du eine konkrete Vorstellung davon, wohin das Projekt gehen soll?

Schmidinger: Es ist eine Reise, ein Prozess, ein entdecken was passieren wird. Aber eigentlich geht es mir um eine selbstbestimmte und selbstbewusste Sexualität. Weg vom Fremdbestimmten, also Bilder die einem über die Medien, Filmen und so weiter sagen, wie etwas zu sein hat. Je mehr ich mich damit beschäftige und darüber lese, desto mehr merke ich erst wie schambehaftet Sexualität in unserer Gesellschaft eigentlich wirklich ist. Dabei stelle ich mir die Frage ob das wirklich so sein muss und was anders wäre wenn es nicht so wäre

progress: Welche Erfahrungen hast du mit Dating-Plattformen im Internet gemacht?

Schmidinger: Angefangen habe ich damit als ich ungefähr 16 war. Ich glaube braveboy.de (die es heute nicht mehr gibt, Anmk.) war das erste, was ich ausprobiert habe. Ich hatte immer wieder Phasen in denen ich gar nicht auf diesen Plattformen unterwegs war, ansonsten war ich aber eigentlich relativ regelmäßig auf Seiten wie Gayromeo oder zum Schluss auch Grindr – das sind auch die klassischen Plattformen, für schwule Männer zumindest. Mittlerweile habe ich damit aber komplett aufgehört. Auf Online-Dating, in dem Sinne wie es gemeint war, habe ich mich aber nie wirklich eingelassen. Sehr selten habe ich mich mit Leuten getroffen. Die Treffen waren meistens enttäuschend. Man hat ein gewisses Bild und einen Beschreibungstext von der Person im Kopf. Und alle wissen, dass sie die besseren Bilder nehmen und die interessanteren Sachen schreiben sollten. Das führt zu vielen blinden Flecken in Bezug auf die andere Person, die man dann mit seinen eigenen Wünschen ausfüllt - dessen ist man sich vielleicht nicht automatisch bewusst. So entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen darüber, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, entsteht ein Spalt zwischen der eignen Erwartung und der Realität. Das Gegenüber hat dann kaum eine Chance diese Erwartungen zu erfüllen. Das war bei mir bei fast allen Treffen der Fall. Zwei oder drei positive Erfahrungen habe ich aber schon auch gemacht.

progress: Dating-Plattformen werden ja ganz unterschiedlich genutzt, von der Beziehungssuche, Zeitvertreib oder Chatten bis hin zur Suche nach Sexdates. Wie hast du die Plattformen verwendet?

Schmidinger: Eine Beziehung habe ich aber nie wirklich gesucht, gehofft vielleicht. Für mich das online-daten mit unter auch etwas von einem interaktiven Porno. Wenn man etwa entsprechend Bilder austauscht oder in eine gewisse Richtung schreibt. Meinen Freund habe ich zwar ursprünglich auf Grindr zum ersten Mal gesehen, ich muss aber gestehen, dass sich das Interesse damals nicht über die Oberflächlichkeit hinaus entwickelt und schnell verlaufen hat. Zufällig haben wir uns dann einmal persönlich getroffen und dann war mein Interesse plötzlich voll da. Das ist ein gutes Beispiel, wäre es nur über Grindr gegangen, wäre aus uns wahrscheinlich nie etwas geworden. Es fehlen auf diesen Plattformen auch einfach viele wichtige Informationen, das haptische, die Gestik, wie jemand spricht, der Tonfall.

progress: Kritisiert wird an den Dating-Plattformen ja mitunter auch, dass ein starker Ranking- und Effizienzgedanke der damit einhergeht. Wie siehst du das?

Schmidinger: Ja, man geht ja auch sehr systematisch vor. Zuerst schreibt man einmal alle Leute an und dann sortiert man nach und nach aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Alles andere würde wahrscheinlich auch zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich kenne jemanden der, wenn er von jemanden angeschrieben wird, der kleiner ist als 180 cm ist, schreibt er nicht zurück. Es funktioniert halt sehr Schemenhaft, es ist ein bisschen so wie einen Katalog durchblättern. Das fühlt sich sehr kapitalistisch an, weil es so Maßgeschneidert ist und alles andere, das was es eigentlich ausmacht, die feineren Informationen, die fehlen halt komplett.

progress: Glaubst du hat Online-Dating generell einen Einfluss darauf wie wir nach Beziehungen suchen und sie leben?

Schmidinger: Also wenn, dann glaube ich, dass es nur zu einer Extremisierung führt. Ich glaube, dass Online-Dating nur die Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform aber auch aus unserem kulturellen Verständnis von Beziehungen ist. Beziehungen sind in unserer Gesellschaft austauschbar. Das wird ja auch serielle Monogamie genannt – wir sind zwar monogam aber immer nur hintereinander. Problematischer finde ich noch, dass wir einen suchen der uns alles geben kann und zwar für Immer. Diese Perversion des eigentlich ursprünglichen romantischen Gedankens: wir idealisieren nicht mehr den Alltag und einen, Gott sei Dank, nicht perfekten Menschen, sondern suchen stattdessen das Ideale in einer nicht perfekten Welt. Das führt natürlich unweigerlich zu konstanter Enttäuschung. Online-Dating bietet sicher viele Möglichkeiten. Es kann einen aber auch lähmen, weil es immer jemanden gibt, dessen Profiltext noch ausgeprägter ist oder der ein noch hübscheres Profilbild hat.

progress: Anderseits, und das hast du ja bereits angeschnitten, kann es doch auch eine gute Möglichkeit für etwa LGBTQ-Jugendliche bieten.

Schmidinger: Sicher auf alle Fälle. Ich finde auch nicht, dass Online-Dating per-se schlecht ist, es ist halt ein Werkzeug, und es kommt stark darauf an wie man es nützt. Trotzdem glaube ich, dass Online-Dating dazu führt dass man überhöhte Erwartungen und falsche Vorstellungen bekommt. Wenn man es richtig nutzt, hat es sicher auch positive Seiten, gerade wenn man aus einem kleinen Ort kommt und niemanden kennt. Aber es gibt halt auch diese anderen Aspekte daran.

progress: Deine bisherigen Kurzfilm-Projekte haben sich unter anderem mit Themen rund um Sexualität und Beziehung beschäftigt. Du arbeitest gerade an deinem nächsten Filmprojekt. Worum wird es gehen?

Schmidinger: Das Thema ist Illusion, Phantasie, Gegenrealität. Es geht eigentlich ein bisschen um Desillusionierung und die dadurch entstehende Reifung. Im Grunde ist es ein bisschen so eine “coming of age“-Geschichte. Die Handlung dreht sich um die erste Liebe, um zwei Charaktere: der eine hat eine eher verzehrte Wahrnehmung auf Sexualität, sehr stark geprägt durch Pornographie, der andere hat eine stark verzehrte Wahrnehmung von Liebe, geprägt romantische Komödien und Lieder und so weiter. Beide treffen aufeinander und erleben eine Desillusionierung durch ihre Beziehung. Da kommt dann die Watschn der Realität, was oft natürlich nicht angenehm ist. Ich versuche ein wenig zurück zu dem ursprünglichen Gedanken der Romantik zu kommen. Monogamie probiert etwas zu konservieren, was nicht konservierbar ist.

progress: Ist Sexualität für dich eines der Kernthemen, wenn es um dein Filmschaffen geht?

Schmidinger: Eigentlich nicht aber es sind die Themen die mich zurzeit beschäftigen. Die Themen für meine Filme sind die Themen, die mich in meiner derzeitigen Lebensphase beschäftigen. Diese werden sich auch über die Jahre mit mir verändern.

progress: Wann wird der Film zu sehen sein?

Schmidinger: Ich bin gerade am Schreiben, die Produktion wird frühestens nächsten Sommer beginnen. Wenn alles gut geht ist 2015 realistisch.

 

Zur Person: Der 28 Jährige Gregor Schmidinger konnte bisher unter anderem mit den Kurzfilmprojekten „The Boy Next Door“, „Der Grenzgänger“ und Homophobia auf sich aufmerksam machen. Derzeit studiert er Drehbuch an der University of California Los Angeles (UCLA).

 

Das Interview führete Georg Sattelberger. Er Studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

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