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Liebe mit Grenzen

  • 13.04.2014, 15:29

Globalisierung, verstärkte Mobilität in Arbeit und Studium, Migration: Immer mehr Ehen werden über nationale und kulturelle Grenzen hinaus geschlossen. Doch das österreichische Fremdenrecht macht bi-nationalen Paaren ein Familienleben oft unmöglich. Magdalena Liedl traf für progress online zwei internationale Paare.

Globalisierung, verstärkte Mobilität in Arbeit und Studium, Migration: Immer mehr Ehen werden über nationale und kulturelle Grenzen hinaus geschlossen. Doch das österreichische Fremdenrecht macht bi-nationalen Paaren ein Familienleben oft unmöglich. Magdalena Liedl traf für progress online zwei internationale Paare.

Übermütig bellend springt die Hundedame Kobi um Lisa und Craig herum. „Komm, Kobi, küss mich, küss mich!“, ruft Lisa lachend. Craig hebt Kobi hoch und hält sie vor Lisas Gesicht und prompt schleckt Kobi ihr begeistert die Nase ab. Auf den ersten Blick sind die beiden ein ganz normales Paar, das an diesem Märznachmittag mit seinem Hund unterwegs ist. Doch dass die beiden zusammen in Wien spazieren gehen können, ist ein ständiger Kampf mit Behörden und Formularen. Denn Lisa ist Österreicherin, Craig Australier.

Kennen gelernt haben sich die beiden schon vor vier Jahren. Lisa war damals für eine Musical-Ausbildung in Melbourne. Als sie nach Österreich zurückkehrte, entschlossen sich die beiden, eine Fernbeziehung zu versuchen. Doch nach zwei Jahren Skype-Gesprächen, Langstreckenflügen und sporadischen Treffen wollten sie endlich im selben Land leben. „Am Magistrat haben sie uns sofort gesagt: Ihr müsst heiraten, sonst geht das nicht“, erzählt Lisa von ihren ersten Erkundigungen, was denn zu tun sei, wenn Craig nach Österreich ziehen wolle. „Aber wenn ihr uns die Heiratsurkunde bringt, ist das kein Problem.“

Doch als Craig schließlich letzten Juni in Wien ankam, folgte das böse Erwachen: Eine Heirat ist keine Garantie, dass ein Ehepaar zusammen in Österreich leben darf. Denn erstens gilt für den/die ausländische/n PartnerIn wie für alle ImmigrantInnen das Prinzip „Deutsch vor Zuzug“. Und zweitens muss der/die österreichische PartnerIn für eine Aufenthaltsgenehmigung nachweisen, dass er oder sie mindestens 1256 Euro netto verdient – mit Aufschlägen für Miete und gemeinsame Kinder; für Studierende oder junge Eltern in Karenz meist ein Ding der Unmöglichkeit.

1256 Euro ist eine Summe, über die auch Teresa schon viel nachgedacht hat. Ihren Mann Marko lernte sie bei einem Aufenthalt als Assistentin an der Universität von Montenegro kennen. Wie Lisa und Craig führten die beiden zunächst eine Fernbeziehung, doch als Teresa schwanger wurde, wollte Marko zu ihr nach Österreich ziehen. Teresa bekam aber nur 1000 Euro Karenzgeld – also knapp zu wenig für Markos Aufenthaltsgenehmigung. Damit ihre Tochter trotzdem mit Mutter und Vater aufwachsen konnte, entschloss sich Teresa schließlich, nach Montenegro zu ziehen.

Verein Fibel. Geschichten wie die von Lisa und Teresa kennt Gertrud Schmutzer vom Verein Fibel gut. Der Verein unterstützt Ehepaare, von denen ein Partner aus einem Nicht-EU-Staat kommt. Und das sind nicht wenige Fälle: Im Jahr 2012 wurden bereits fast 18 Prozent aller Ehen in Österreich mit einem/r Nicht-ÖsterreicherIn geschlossen. Etwa 500 Beratungsgespräche mit solchen Paaren führt der Verein jedes Jahr. „Vor allem Ehen zwischen ÖstereicherInnen und AsylwerberInnen werden von den Behörden ganz schnell als Scheinehen verdächtigt“, erzählt Schmutzer. Aus dieser Angst vor Scheinehen wurde das österreichische Fremdenrecht in den letzten Jahren sukzessive verschärft. Seit der Fremdenrechtsnovelle 2006 gilt nun eine Heirat nicht mehr als Grund für eine Aufenthaltsgenehmigung – wie Lisa, Craig, Teresa und Marko schmerzlich feststellen mussten.

Vor allem für AsylwerberInnen in einer Beziehung stellt sich ein weiteres Hindernis: Der Antrag auf die Aufenthaltsgenehmigung darf nicht in Österreich, sondern muss im Herkunftsland des/der ausländischen PartnerIn gestellt werden. „Aber wie soll denn zum Beispiel ein syrischer Flüchtling nach Syrien zurückkehren, um einen solchen Antrag zu stellen?“, fragt Schmutzer. „Der kann sich das alleine finanziell nicht leisten.“ Auch für Marko war diese Frage nicht ganz einfach zu lösen. Die österreichischen Behörden verlangten von ihm nämlich Dokumente, die es in Montenegro nicht gibt, etwa einen Strafregisterauszug. „Da mussten wir der Polizei in Montenegro wieder ewig erklären, was wir da wollten und das ganze am Ende übersetzen lassen“, erzählt Teresa.

Doch nicht alle bi-nationalen Paare haben gleichermaßen mit solchen Hindernissen zu kämpfen. Irene Messinger hat das Phänomen Scheinehe in ihrer Doktorarbeit untersucht. Das Ergebnis: Es werden nicht nur PartnerInnen aus bestimmten Herkunftsländern eher der Scheinehe verdächtigt, sondern vor allem auch junge ÖsterreicherInnen. „Diskriminiert werden unterprivilegierte Männer und junge Frauen – vor allem Frauen, die bei ihrem Kind zu Hause bleiben“, weiß auch Schmutzer aus ihrem Arbeitsalltag. Ein reicher Österreicher, der eine Amerikanerin heiratet, hat kaum Probleme, doch die Beziehung zwischen einer jungen ÖsterreicherIn und einem Partner aus Asien oder Afrika ist meist mit großen Schwierigkeiten verbunden. 

Einwanderung nach Gemeinschaftsrecht. Eine Möglichkeit das Mindesteinkommen und „Deutsch vor Zuzug“ zu umgehen, ist die Einwanderung nicht nach nationalem österreichischem Recht sondern nach EU-Gemeinschaftsrecht abzuwickeln. Das kann, wer schon einmal vom EU-Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht hat – also schon einmal einige Zeit im EU-Ausland gelebt hat, etwa durch einen Erasmus-Aufenthalt. Dann fallen all die strengen nationalen Regelungen weg. „Paaren wird aber auch leicht unterstellt, den Status der Freizügigkeit zu inszenieren“, warnt Schmutzer.

Genau dieses EU-Prozedere wollen nun Lisa und Craig nutzen. Denn Lisa hat lange Zeit in Polen gelebt – was die Angelegenheit nun eigentlich erleichtern müsste. Doch dass sie lange genug im EU-Ausland gelebt hat, ist schwer zu beweisen. Dass sie ihren Führerschein in Polen gemacht hat, gilt nicht – die notwendige Zeitspanne für Kurse und Prüfungen ist zu kurz. Und da ihre Eltern eine Eigentumswohnung in Polen besitzen, kann sie auch nicht nachweisen, dass sie während ihres Aufenthaltes Miete gezahlt hat. „Und sonst habe ich auch nicht mehr jede Rechnung von 2007, dass ich sagen könnte: Hier habe ich das in Polen gekauft, und da das.“, sagt Lisa. Für sie ist also weiterhin nicht klar, ob Craig eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erhält. Mit seinem aktuellen Visum darf er nun einmal bis April bleiben.

Teresas und Markos Geschichte hat bereits ein gutes Ende gefunden. „Ich hatte Heimweh und habe mich mit meinem Kind in Montenegro nicht wohl gefühlt“, erzählt Teresa aus ihrer Zeit in Montenegro. Sie wollte also so schnell wie möglich wieder nach Österreich zurückkehren. Nach ihrer Karenzzeit begann Teresa wieder an der Uni in Montenegro zu arbeiten – allerdings bezahlt vom Österreichischen Auslandsdienst. Dadurch konnte sie bereits nach einem Jahr durch österreichische Lohnzettel ihren Verdienst nachweisen. Marko machte inzwischen eine Deutsch-A2 Prüfung. „Zum Glück hat damals gerade ein Prüfungszentrum in Montenegro aufgemacht, sonst hätten wir dafür wieder nach Belgrad fahren müssen.“ Mittlerweile lebt Teresa zusammen mit Marko und ihrer kleinen Tochter wieder in Österreich.

Ein Traum, von dem sich Lisa und Craig schön langsam verabschieden. „Wir haben in den letzten Wochen immer öfter darüber nachgedacht, nach Australien zu ziehen“, erzählt Lisa. Für sie wäre es leichter, in Australien einzuwandern als für Craig in Österreich. „Ich könnte dort auch arbeiten“, meint Craig. Hier in Österreich kann er das zurzeit nicht. „Das ist auch mit dem Geld schwierig. Hätten wir mehr Geld, könnte ich mir in dieser Zeit ein bisschen Europa ansehen. Aber alles, was ich hier tun kann, ist warten, warten, warten. Das ist wirklich Zeitverschwendung.“

Links zum Thema

Verein Fibel http://www.verein-fibel.at/
Verein Ehe ohne Grenzen http://www.ehe-ohne-grenzen.at/
Rechtsberatung Helping Hands http://www.helpinghands.at/
Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20004242 
Eheschließungen Statistik Austria http://www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/eheschliessungen/index.html

Wien ist alles

  • 09.12.2013, 20:50

Thees Uhlmann schreibt gerne Songs über Städte. Diesmal war Wien dran. Im Interview verriet er uns, wie es dazu kam und welchen österreichischen Act er gerne mit Lady Gaga zusammen auf Tour schicken würde.

Thees Uhlmann schreibt gerne Songs über Städte. Diesmal war Wien dran. Im Interview verriet er uns, wie es dazu kam und welchen österreichischen Act er gerne mit Lady Gaga zusammen auf Tour schicken würde.

An einem verregneten Abend haben wir den sympathischen Thees Uhlmann im Rahmen seines Konzerts in Wien getroffen. Wie das mit (Indie-) Rockern oft so ist, begann das Gespräch mit dem ehemaligen Tomte- Sänger beim Thema Bier: „Wieso gibt’s kein Ottakringer im Kühlschrank?“, fragt der leicht überdrehte Thees, der sich gut gelaunt dann aber gleich mit der Alternative in Dosenform anzufreunden weiß. Im von Plakaten vollgekleisterten, lauschigen Backstageraum der Arena, erzählt Thees dann mehr über seine Wienaufenthalte und seinen Bezug zu Österreich.

progress: Hi Thees, dir wurden heute sicher schon ganz viele Fragen über dein Verhältnis zu Wien gestellt. Oder?

Thees Uhlmann: Eigentlich werde ich zu Wien gar nicht so viel gefragt. Ich würde gern öfter über Wien reden, das ist interessanter, als über meine Musik zu reden.

Du bist oft in Wien. Warum eigentlich?

Thees: Zum Beispiel weil ich hier noch als Tourist durch die Gegend gehen kann. Es gibt zwei legendäre Stunden, die ich mit meiner Tochter im Museumsquartier lachend und rutschend auf den Plastikteilen verbracht habe. Ich bin hier auch gerne mit meinen Homies unterwegs, zum Beispiel mit David Schalko. Und natürlich ist es auch die Psyche der Stadt, die schön ist.

Wie ist die denn so?

Thees: Hedonistisch und depressiv.

Auf deinem aktuellen Album gibt es auch einen Song über Wien: „Zerschmettert in Stücke, im Frieden der Nacht“. Er handelt vom Flakturm, wo heute das Haus des Meeres zu finden ist. Wie kam es dazu?

Thees: Ich habe schon über Detroit, New York, Hamburg und Paris geschrieben. Es kommt mir einfach immer wieder in den Sinn, über Städte zu singen. Das hat für mich eine gewisse Tradition. Diesmal war Wien fällig, weil ich oft hier bin und ich in Wien wahnsinnig gute Freunde habe. Es ist eine gute Landschaft, über die man schreibenkann, vor allem weil sich Deutschland und Österreich in vielen Dingen ein bisschen ähnlich sind – und dann doch überhaupt nicht. Das mit den Flaktürmen ist mir eingefallen, weil auf dem Turm beim Haus des Meeres ja „Smashed into pieces in the still of the night“ geschrieben steht und das für mich einfach riesige Kunst ist. Es beschreibt die Macht des Krieges in wenigen Worten. Mir haben mittlerweile sogar einige Wiener geschrieben, dass sie schon tausendmal daran vorbeigegangen sind und ihnen der Spruch nie aufgefallen ist. Das ist eine Form von „Heimatblindheit“, die auch ich von mir und Hamburg kenne. Fremden fallen Dinge auf, an denen man selbst tagtäglich blind vorbeigeht. Das finde ich spannend.

Willst du mit dem Lied auch die österreichische Gesellschaft und ihre Mentalität kritisieren? Eine Zeile darin lautet nämlich: „Ich wäre so gerne ein Schaf, ein Schaf in deiner Herde, doch es gibt keinen Schäfer, der über uns wacht.“

Thees: Ich hab da schon ein bisschen in Geschichtsbüchern herumgekramt, als ich den Song geschrieben habe. Ich bin dabei über einen Satz gestolpert, der lautet: „Wien ist nichts und der Kaiser ist alles.“ Das ist für mich ein total verrückter Satz. Er sagt ja, dass das kollektive Schicksal einer Stadt weniger wert ist als irgendein Mann mit weißer Perücke. Ich dachte mir, dass man das umdrehen muss, denn eine Gesellschaft ist immer mehr wert als ein Einzelschicksal. Aber grundsätzlich wollte ich damit nichts kritisieren. Ich möchte als Künstler gar nicht bewerten. Mir steht das auch nicht zu, finde ich. Wien ist eine geile Stadt, das ist eigentlich die einzige Message des Songs. Als Künstler habe ich kein Interesse an großen politischen Aussagen.

In deinen Songs finden sich immer wieder historische Referenzen und Jahreszahlen, so etwa auch in deiner aktuellen Single „Am 7. März“. Du interessierst dich sehr für Geschichte, oder?

Thees: Ja, schon. Aber es geht mir um etwas anderes. Mich interessiert, wie man auf Ideen und Erfindungen kommt, die die ganze Welt verändern. Das passiert einfach oft beiläufig mitten in der Nacht, wie zum Beispiel bei der Erfindung der Cornflakes.

Also ist das eher ein Stilmittel?

Thees: Kann man so sagen.

Dein aktuelles Album klingt mit dem orchestralen Singer-Songwriter-Soundsehr zeitgemäß. Die Produktion erinnert ein bisschen an Caspers „Hinterland“. Welche Platten haben dich während des Aufnehmens inspiriert?

Thees: Kann ich nicht sagen, denn es spielt für meine Musik keine große Rolle, was ich höre. Wenn ich ein Album aufnehme, lese ich eher und suche nach guten Zitaten. Ich hab nur bei einem Song gesagt, dass ich ein ähnliches Keyboard wie bei einem Marteria-Song haben möchte (lacht und macht das Geräusch nach). Tobias (Anm. d. Red.: Thees' Gitarrist) und ich haben in unserem Leben einfach schon so wahnsinnig viel Musik gehört. Wenn ich Musik schreibe, ist mein Hirn deswegen schon zu voll. Ich muss dafür nicht auch noch die neue Daft Punk hören. Klar, man saugt immer auch auf und klaut Elemente von anderen. Auf meiner Platte wird es etwa immer drei Sachen geben, die ich von Kanye West geklaut habe – ich bin einfach Kanye-Fan. Man hört manchmal etwas und fühlt sich inspiriert, etwas Ähnliches zu schreiben. Ich schätze Kanyes Offenheit und Melancholie sehr.

Auf deinem letzten Album gab es noch zwei Nummern mit Casper. Wieso gab’s diesmal keine Features und bist du derzeit noch in andere Projekte involviert?

Thees: Ich wüsste jetzt gar nicht mit wem und wie und nein – manchmal träume ich davon Sänger einer Punkband zu sein (lacht). Aber dafür bleibt neben meiner Tochter und meinem Solo-Projekt einfach keine Zeit.

Verfolgst du eigentlich die österreichische Musikszene?

Thees: Mein Homie Max Perner bringt jetzt bald eine Garish-Platte raus – da bin ich schon neugierig, was das wird, und zur Zeit finde ich auch Koenig Leopold ziemlich spannend. Wenn Lady Gaga das sehen würde, was die machen, die würde die einfach mitnehmen und sagen: „Guys you’re coming with me on tour.“ Das ist wahnsinnig cool, diese Einstellung, die die haben. So auf „Alter, wir wollen nicht nach Tokyo. Wir wollen auch nicht nach New York. Wir stehen im Wald und singen so, dass es keiner verstehen kann“. Das gefällt mir.

Das Interview führte Simone Grössing.

Foto: Alexander Gotter.

 

Populismus in der EU: „Wir gegen die da oben in Brüssel“

  • 18.07.2014, 16:16

Die Schweizer Initiative gegen Masseneinwanderung hat das Verhältnis zu Europa verschlechtert. Auch in anderen Staaten haben bei der EU-Wahl populistische Anti-EU-Kräfte gewonnen. Gewählt werden sie oft von jungen Leuten, die von Initiativen wie Erasmus und Co eigentlich profitieren.

Die Schweizer Initiative gegen Masseneinwanderung hat das Verhältnis zu Europa verschlechtert. Auch in anderen Staaten haben bei der EU-Wahl populistische Anti-EU-Kräfte gewonnen. Gewählt werden sie oft von jungen Leuten, die von Initiativen wie Erasmus und Co eigentlich profitieren.

Der Traum vom Auslandssemester in Spanien oder Großbritannien ist für Schweizer Studierende erst einmal ausgeträumt. Im Februar stimmten die Schweizer BürgerInnen der so-genannten Initiative gegen Masseneinwanderung zu, in der die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei SVP eine Kontingentierung von Einwanderern fordert. Aufgrund des Schweizer Systems der direkten Demokratie, muss die Regierung diese Initiative nun umsetzen und darf erst einmal keine internationalen Verträge abschließen, die dieser Initiative widersprechen.

 

 

Die ersten Leidtragenden sind Studierende. Denn die Kontingentierung widerspricht dem EU-Prinzip der Personenfreizügigkeit und bricht damit die bilateralen Verträge, die die Schweiz mit der Europäischen Union geschlossen hat. Die EU hat nun die Verhandlungen zum neuen Erasmus-Plus-Programm und zu Horizon 2020, dem entsprechenden Programm für ForscherInnen, erst einmal auf Eis gelegt. Die Schweiz wird nicht mehr als Partner- sondern als Drittstaat behandelt.

Die Schweizer Regierung und die Unis versuchen nun zu retten, was zu retten ist: Studierende, die ins Ausland gehen wollen, werden nun nicht mehr von der EU sondern vom Schweizer Nationalfonds unterstützt. Fast 23 Millionen Franken stellt die Regierung dafür zur Verfügung. Die Abkommen mit den Partnerunis müssen die Schweizer Universitäten neu verhandeln. Die meisten europäischen Unis sind wieder eingestiegen, Großbritannien und Italien haben ihre Verträge aber nicht erneuert. „Ob wirklich alle StudentInnen, die wollen, ins Ausland gehen wollen, wird sich zeigen, wenn alle Bewerbungen durch sind. Ich denke aber es sollte klappen“, sagt Dominik Fitze von der Schweizer StudentInnenvertretung. „Die Ersatzlösungen bedeuten, dass Auslandssemester grundsätzlich möglich sind. Nur eben nicht unbedingt im gewünschten Zielland.“ Horizon 2020 stellt das größere Problem dar. Das Programm soll Forschungsaufenthalte ermöglichen und länderübergreifende Projekte finanzieren. Dabei geht es natürlich auch um die Frage, wer den Vorsitz bei solchen Projekten bekommt.

Appell an Bund und die EU. Schweizer Studierende, Lehrende und Rektoren haben sich nun zusammengeschlossen, um Erasmus für die Schweiz zu erhalten: Auf der Website not-without-switzerland.org appellieren sie an EU und den Schweizer Bund, Lösungen zu finden, so dass die Austauschprogramme wieder aufgenommen werden können. „Diese zur Hochschulwelt gehörige Internationalität, an der wir alle partizipieren und von der wir profitieren, wird gegenwärtig in Frage gestellt. Dagegen sprechen wir uns vehement aus. Wir, die unterzeichnenden Hochschulen, Bildungsinstitutionen, Dozierenden, Forschenden und Studierenden der Schweiz und Europas,  appellieren an die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in der Schweiz, in Brüssel und in den europäischen Staaten, alles daran zu setzen, dass die Schweizer Hochschulen an den erwähnten Programmen teilnehmen können“, heißt es darin. Fast 31.000 UnterstützerInnen haben bereits online unterzeichnet.

Doch der Appell hat einen Schönheitsfehler: Er kommt zu spät. Genau das kritisieren wiederum einige andere Hochschulangehörige in einem offenen Brief. Die Studierenden und WissenschaftlerInnen hätten sich vor der Abstimmung engagieren müssen, Studierende als die einzigen Opfer zu stilisieren greife zu kurz. Das sei nur ein Teil des Problems, kritisieren sie. „Wir fordern die Studentenschaft auf, sich ihrer politischen Verantwortung bewusst zu werden und sich mit ihren MitbürgerInnen ohne schweizerischen Pass zu solidarisieren.“

„Die Kritik ist teilweise berechtigt. Was man der Wissenschaftsgemeinschaft vielleicht vorwerfen kann ist, dass sie zu spät reagiert hat“, gibt Dominik Fitze zu. Tatsächlich zeigen die Wahlanalysen zur Masseneinwanderungsinitiative, dass junge und gebildete SchweizerInnen nicht zur Abstimmung gegangen sind, obwohl sie die Bevölkerungsgruppe sind, die am eindeutigsten gegen die Initiative eingestellt waren. Die Abstimmung wurde nicht zuletzt von der ungewöhnlich starken Mobilisierung von politisch wenig Interessierten beeinflusst, heißt es in der VOX-Analyse (Analysen nach jedem Schweizer Volksentscheid) zur Abstimmung. Doch dass die Verträge mit der EU und damit Programme wie Erasmus in Gefahr waren, war schon vor der Abstimmung klar. Warum sind trotzdem so viele Junge zu Hause geblieben? „Unter den Studenten wurde das schon diskutiert“, sagt Dominik. „Aber wir haben prinzipiell das Problem, dass die Folgen nicht richtig kommuniziert wurden. Sie SVP hat immer gesagt, die EU könne sich nicht leisten, die Verhandlungen mit der Schweiz abzubrechen.“

EU-Skepsis in ganz Europa. Die Schweiz ist zwar bekanntlich kein EU-Mitglied, doch sie steht mit ihrer EU-Skepsis nicht alleine da. Bei der EU-Wahl haben Anti-EU Parteien wie Front National in Frankreich, Ukip in Großbritannien oder auch die FPÖ in Österreich stark zugelegt. Und auch in Österreich war die FPÖ bei Männern unter 30 die Nummer eins. Ausreißer seien das keine mehr, sagt Politikwissenschaftler Josef Melchor von der Uni Wien, der zu EU-Integration und Populismus geforscht hat.

Es sei aber nicht alleine Informationsmangel, der dem Populismus von rechts auch unter Jugendlichen solchen Auftrieb verleiht. Studierende und ForscherInnen seien von Programmen wie Erasmus zwar begeistert, für viele aus unteren Schichten bringen Studierendenaustauschprogramme aber gar nichts. Daher sehen ArbeiterInnen die EU oft sehr kritisch, was eben auch junge, also zum Beispiel Lehrlinge, betrifft. „Das ist auch ein Problem der Politik. Auf EU-Ebene gibt es zwar viel Förderung für Forschung und Kultur, aber keine Diskussion über Mindestlöhne oder Arbeitszeiten, also Themen, die ArbeiterInnen betreffen“,  erklärt Melchior. Für Studis ist der Austauschaufenthalt in Schweden, England oder Frankreich vielleicht ein tolles Erlebnis, für weite Teile der Bevölkerung ist die EU aber ein Eliten-Projekt. Sie machen in ihrem Alltag kaum positive Erfahrungen mit EU-Projekten, sondern eher mit stärkerer Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Das hat auch Dominik in den SVP-Kampagnen beobachtet: „Die SVP ist gar kein Fan von Erasmus. Die haben das einfach in Kauf genommen, oder sogar akzeptiert.“

Dazu kommt eine generelle Politikverdrossenheit der Jugend. Gerade in den neuen Mitgliedsstaaten sind Unter-30-Jährige am Wahltag meist zu Hause geblieben. Und für Studierende ist die EU meist einfach eine Selbstverständlichkeit, meint Melchior: „Sie sehen es einfach nicht als notwendig, das bei einer Wahl noch mal extra zu deklarieren.“

 

 

Keine Reaktion von Links. Was jetzt notwendig sei, sei eine Antwort der anderen Parteien, erklärt der Politikwissenschaftler. Bei der Abstimmung in der Schweiz war die SVP als einzige Partei für die Initiative. Alle anderen, von den Konservativen über die Sozialdemokraten bis hin zu den Grünen, warnten vor Diskriminierung, wirtschaftlichen und außenpolitischen Problemen. Aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Laut Melchior sei ein Problem, dass rechtspopulistische Parteien oft tatsächlich Probleme ansprechen, die von der „Mainstream-Politik“ ignoriert werden. Diese teilweise legitime Politik komme im Paket mit emotional aufgeladenen Themen – in der Schweiz etwa gerechtfertigte Kritik an der EU zusammen mit dem „Ausländer“-Thema. Andere Parteien überlassen dann das Feld den Populisten. „Diese Kritik kommt dann einfach unter die Räder, die populistischen Parteien haben das Monopol darauf. Es braucht aber eine Reaktion von den anderen Parteien.“ Die anderen Parteien hätten also kommunizieren müssen, dass die Initiative gegen Masseneinwanderung zwar falsch sei, aber zugeben, dass es tatsächlich Probleme gibt.

Das Beispiel der Schweiz zeigt, was geschieht, wenn es keine solche Antwort gibt. Die Aussetzung der Erasmus-Verhandlungen ist nur ein kleiner Teil des Problems. Schon jetzt beklagen Uni-Rektoren, dass viele ForscherInnen aus dem Ausland skeptisch wären eine Stelle in der Schweiz anzunehmen, aus Angst, dass sie in zwei Jahren wieder abgeschoben werden können. Die Regierung versucht nun, das Abstimmungsergebnis in einen gemäßigten Gesetzesentwurf zu packen. Auch über eine weitere Abstimmung, um die erste zu revidieren, wird schon diskutiert.

 

 

Magdalena Liedl studiert Anglistik und Zeitgeschichte an der Uni Wien.

Durch die Heirat ins Exil

  • 14.07.2014, 14:32

Die NS-Rassegesetze machten Beziehungen zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden kompliziert, ein normales Familienleben unmöglich. Schein-Scheidungen um Berufsverbote zu umgehen gab es ebenso, wie Schein-Ehen, um sich nach der Flucht vor der Abschiebung zu schützen. Irene Messinger hat untersucht, wie Jüdinnen die Heirat zur Flucht nutzten.

Die NS-Rassegesetze machten Beziehungen zwischen Deutschen und Jüdinnen und Juden kompliziert, ein normales Familienleben unmöglich. Schein-Scheidungen um Berufsverbote zu umgehen gab es ebenso, wie Schein-Ehen, um sich nach der Flucht vor der Abschiebung zu schützen. Irene Messinger hat untersucht, wie Jüdinnen die Heirat zur Flucht nutzten.

Rosl Ebners Hochzeit war wohl keine besonders romantische Angelegenheit. „Wir haben im Rathaus in einem kleinen Zimmer unterm Hitlerbild den Segen des Standesbeamten bekommen.“, beschreibt sie später trocken die Zeremonie. Mit ihrem frisch angetrauten Mann, einem Franzosen mit polnischen Wurzeln, konnte sich die gebürtige Österreicherin kaum verständigen; für die Eheschließung war er bezahlt worden. Damit die Hochzeit wenigstens ein bisschen feierlich wirkte, besorgte Rosls Schwester noch schnell einen Blumenstrauß.

Die Hochzeit zwischen Schriftstellerin und Kabarettistin Erika Mann und dem britischen Lyriker Wystan Hugh Auden war wohl ähnlich unromantisch. Er war homosexuell und die beiden kannten sich bis dahin nicht.

Das Ja-Wort gaben sich die beiden Paare aus einem einzigen Grund: Durch die Heirat wurden die beiden Jüdinnen Rosl Ebner und Erika Mann französische bzw. britische Staatsbürgerinnen – die Garantie, nach der Flucht nicht zurück nach Deutschland abgeschoben zu werden. „Komisch, dass wir gerade in den Tagen heirateten, in denen meine Ausbürgerung von den Nazis beschlossen worden sein muss.“ schreibt Erika Mann in einem Brief.

Solche Scheinehen zwischen deutschen oder österreichischen Jüdinnen und Franzosen oder Briten sind in den späten Dreißiger Jahren keine Einzelfälle. Über 60 Ehen wie die von Rosl Ebner und Erika Mann hat Politikwissenschaftlerin Irene Messinger aufgespürt und untersucht. Da Frauen damals mit einer Heirat noch automatisch die Staatsbürgerschaft ihres Mannes annahmen, war die Heirat im Ausland für viele Jüdinnen die Gelegenheit zur Flucht. Manchen vermittelten Freunde oder politische Organisationen potentielle Ehemänner, andere heirateten einfach ihre Cousins im Nachbarland.

progress: Ich würde gerne zuerst allgemein über die Situation von „gemischten“ Paaren in Nazi-Deutschland sprechen. Wie war die rechtliche Situation solcher Paare? Und wie wurden Mischehen überhaupt definiert?

Messinger: Als Mischehen wurden nur Ehen zwischen – immer in Anführungszeichen, weil ich keine Definitionen des NS-Regimes übernehmen möchte – „Deutschblütigen“ und „Nicht-Deutschblütigen bezeichnet, also mehrheitlich Juden und Jüdinnen, aber auch Menschen, die  heute mit dem N-Wort oder dem Z-Wort bezeichnet würden. Ehen mit Ausländern wurden nicht als Mischehen bezeichnet. Ich habe das nur in meinem Vortrag unter „Ehen mit Fremden“ zusammengefasst, weil ich es spannend fand, die beiden Konzepte in Relation zu setzen. Mischehen waren starken Repressionen ausgesetzt, während es vergleichsweise einfach war einen Ausländer oder eine Ausländerin zu heiraten.

Gab es bei den Repressionen auch innerhalb der Kategorie der Mischehen rechtliche Unterschiede?

Ja, das war sehr komplex. Es gab Unterschiede ob der Mann oder die Frau jüdisch war, ob sie Kinder hatten, ob sie Mitglieder der Kultusgemeinde waren. Die besten Chancen hatten Ehen, bei denen der Mann – also der Familienerhalter und so weiter – „deutschblütig“ war.

Hier spielten also auch Geschlechterstereotype eine Rolle.

Ja, vor allem auch, wenn es darum ging, dass nicht nur die Ehefrau, sondern die Mutter der Kinder „deutschblütig“ war. Das war sozusagen die zweitbeste Gruppe. Paare mit Kindern waren immer besser geschützt als kinderlose Paare. In der Nazi-terminologie wurde dann unterschieden in „privilegierte“ und nicht-privilegierte Mischehen, mit unterschiedlichen Konsequenzen für den Alltag und die Überlebenschancen.

Welche Repressalien gab es nun für Mischehen?

Es wurde auf politischer wie sozialer Ebene Druck ausgeübt: Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, regelmäßige Denunziationen der Nachbarn. Aber man muss sich die regionalen Unterschiede anschauen. In Deutschland wurden Vorschriften oft ganz anders ausgelegt als in Österreich. In Wien haben zum Beispiel die meisten Mischehen überlebt. Sie waren natürlich schon Repressalien ausgesetzt und wurden in so genannte Judenhäuser umgesiedelt, aber in Deutschland kam es dazu, dass die jüdischen Partner aus Mischehen ins KZ kamen.

Gab es deswegen auch Trennungen?

Ja, im Ehegesetz 1938 gab es die Möglichkeit, sich aus rassischen Gründen scheiden zu lassen. Aber es wurde nicht nur die Scheidung erleichtert, sondern es wurde auch massiver Druck von der Gestapo ausgeübt. Und durch Arbeitsverbote und so weiter wurden die Paare ohnehin in eine sehr prekäre Situation gedrängt. Bei den Scheidungen gab es aber auch geschlechterspezifische Unterschiede. Frauen sind eher zu ihren jüdischen Männern gestanden, während sich Männer eher von ihren jüdischen Partnerinnen getrennt haben. Vielleicht auch aus Karrierebewusstsein. Ein schönes Beispiel ist da der Schauspieler Hans Albers: Dem wurde gesagt, entweder er kann nicht weiter als Schauspieler arbeiten oder er lässt sich von seiner jüdischen Frau Hansi Burg scheiden. Es gab aber ein großes Interesse im NS-Regime, dass er weiter Schauspieler bleibt. Sie haben also einen Deal eingefädelt: Er hat sich offiziell getrennt, seine Frau hat zum Schein einen Norweger geheiratet, aber sie blieben weiter ein Paar. Es gab also unterschiedliche Formen, Druck auszuüben, aber auch unterschiedliche Formen, damit umzugehen.

Es gab aber nicht nur Schein-Scheidungen sondern auch Schein-Ehen. Was hast du hier untersucht?

Ich habe mit die Eheschließungen im Jahr 1938 angeschaut, die von der jüdischen Gemeinde in Wien registriert wurden. Ich habe mir gedacht, mal schauen, wer hier in Wien geheiratet hat, aber auch, welche Ehen im Ausland geschlossen wurden. Das war ja einfacher. Und bis wann konnten Jüdinnen überhaupt noch ausreisen, um im Ausland zu heiraten? Das machten vor allem Frauen, die im Grenzgebiet lebten. So haben zum Beispiel Grazerinnen Männer aus dem ehemaligen Jugoslawien geheiratet oder Wienerinnen Prager Juden.

Wie lange war so etwas möglich?

Von den Fällen, die ich kenne, fanden die meisten Eheschließungen in den Jahren 38 und 39 statt, vereinzelt auch noch 1940, allerdings nicht in Österreich. Dann war das nicht mehr möglich.

Wie wurden nun solche Scheinehen angebahnt? Man braucht dazu ja Kontakte im Ausland.

Ja, das ist ein wichtiger Punkt. Kontakte waren unumgänglich. Es gab Kontakte in politischen Netzwerken. Zum Beispiel habe ich viele Frauen im Internationalen Sozialistischen Kampfbund gefunden, der viele Mitglieder mit Briten verheiratet hat. Oder auch Vereinigungen in den Exilländern, wo es mehr darum ging, dass die Frauen nun nicht mehr abgeschoben werden konnten. Großbritannien und die Schweiz haben etwa oft nur kurzfristig Schutz geboten. Aber es sind auch familiäre Netzwerke wirksam geworden, wo dann Frauen ihren Cousin geheiratet haben oder die Mutter als Kupplerin tätig war.

Aber man brauchte ja nicht nur Kontakte, sondern wahrscheinlich auch Geld. Ich kann mir vorstellen, dass vor allem Frauen aus gut situierten Familien ins Ausland geheiratet haben. Was hast du dazu herausgefunden?

Bei den Fällen, die ich untersucht habe, kamen die Frauen tatsächlich aus der politischen Elite oder aus der künstlerischen Ecke. Die Frage ist nur: Finde ich diese Fälle einfach leichter, weil über diese Frauen Biographien geschrieben werden und sie Autobiographien hinterlassen haben? Ich habe auch vereinzelt Fälle aus der Arbeiterklasse gefunden – zum Beispiel  ein Hausmädchen, das nach Großbritannien gegangen ist und dort geheiratet hat. Aber die waren natürlich unter Druck und haben sich wahrscheinlich bemüht, keine Spuren zu hinterlassen. Ich glaube, die Eliten haben sich ganz einfach leichter getan, nachher darüber zu reden und zu dieser Fluchtstrategie zu stehen.

Was geschah nach der Eheschließung? Wurden die Ehen gleich wieder geschieden nachdem die Frau die Staatsbürgerschaft bekommen hatte?

Manche Ehen, die ich untersucht habe, wurden noch im selben Jahr oder im Jahr danach wieder geschieden. Es gibt auch Fälle – allerdings kenne ich die nur aus Erzählungen – von palästinensischen Männern, die nach Polen gefahren sind, dort eine Polin geheiratet haben, sie nach Palästina oder Israel gebracht haben, um sie in Sicherheit zu bringen, sich scheiden ließen und gleich wieder nach Europa fuhren, um die nächste Polin zu heiraten.

 

 

Zur Person: Irene Messinger ist ausgebildete Sozialarbeiterin und studierte Politikwissenschaften an der Universität Wien. Sie schrieb ihre Dissertation zum Thema „Verdacht auf Scheinehe. Intersektionelle Analyse staatlicher Konstruktionen von 'Schein- und Aufenthaltsehe' und ihrer Auswirkungen im Fremdenpolizeigesetz 2007“. Sie arbeitete in der Rechtsberatung für Asyl- und fremdenrechtlichen Verfahren und ist Lehrbeauftragte für „Gender & Diversity“ an der FH Wien für Soziale Arbeit.

Links zum Thema

Website von Irene Messinger homepage.univie.ac.at/irene.messinger

Verein Fibel www.verein-fibel.at

 

Magdalena Liedl studiert Anglistik und Zeitgeschichte an der Uni Wien.

Manifest gegen die Krise der Ökonomie

  • 05.05.2014, 12:30

Am Montag, den 5. Mai 2014 wurde von der „International Initiative for Pluralism in Economics“, dem Dachverband von Volkswirtschafts-Studierenden aus 18 Ländern, ein Aufruf gestartet zu einer offenen, vielfältigen und pluralen Volkswirtschaftslehre. Die Studierenden verfassten ein internationales Manifest mit der Forderung nach einer breiten Ausrichtung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre. Auch eine Gruppe von Volkswirtschafts-Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien - die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien – war am Verfassen des Aufrufs beteiligt.

Am Montag, den 5. Mai 2014 wurde von der „International Initiative for Pluralism in Economics“, dem Dachverband von Volkswirtschafts-Studierenden aus 18 Ländern, ein Aufruf gestartet zu einer offenen, vielfältigen und pluralen Volkswirtschaftslehre. Die Studierenden verfassten ein internationales Manifest mit der Forderung nach einer breiten Ausrichtung der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre. Auch eine Gruppe von Volkswirtschafts-Studierenden der Wirtschaftsuniversität Wien - die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien – war am Verfassen des Aufrufs beteiligt.

Über 230 ProfessorInnen, Hochschullehrenden und ForscherInnen aus diversen Wirtschafts- und Forschungsinstituten rund um den Globus schließen sich dem Aufruf an. Auf der ErstunterzeichnerInnenliste sind prominente Namen wie Thomas Piketty, Robert Pollin, Paul Davidson und u.a. Markus Marterbauer und Elisabeth Springler aus Österreich zu finden. Interessierte können den Aufruf unterstützen und das Manifest unterzeichnen unter: www.isipe.net

Das Manifest übt scharfe Kritik am aktuellen Zustand der Wirtschaftswissenschaften aus, gefordert wird ein grundlegender Wandel in den  Wirtschaftstheorie und deren Lehre. Der Mainstream in der Wirtschaftswissenschaft konnte die Krise weder vorhersagen noch liefert sie grundlegende Verbesserungsvorschläge. Das wirft die Frage auf ob sie die Funktion einer Wirtschaftstheorie erfüllt. „An den Universitäten werden bereits längst veraltete und widerlegte Theorien unterrichtet und die Kritik daran ausgeblendet“, so eine Sprecherin der Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien, die Ökonomie sei „auf einem Auge blind. Wir wollen die Realität in die Hörsäle zurückholen und nicht länger hinnehmen, dass eine Vielzahl relevanter Theorien nicht im Studienplan vorkommt“. Die Studierenden wollen eine Veränderung bewirken und im Kleinen passiert das auch: „wir organisieren unsere eigenen Lehrveranstaltungen und Lesekreise, unterrichten uns gegenseitig, bauen Netzwerke auf und organisieren gerade eine Konferenz“, so die Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien.

 

Manifest:

Internationaler studentischer Aufruf für eine Plurale Ökonomik Die Weltwirtschaft befindet sich in einer Krise. In der Krise steckt aber auch die Art, wie Ökonomie an den Hochschulen gelehrt wird, und die Auswirkungen gehen weit über den universitären Bereich hinaus. Die Lehrinhalte formen das Denken der nächsten Generation von Entscheidungsträgern und damit die Gesellschaft, in der wir leben. Wir, 40 Vereinigungen von Studierenden der Ökonomie aus 19 verschiedenen Ländern, sind der Überzeugung, dass es an der Zeit ist, die ökonomische Lehre zu verändern. Wir beobachten eine besorgniserregende Einseitigkeit der Lehre, die sich in den vergangenen Jahrzehnten dramatisch verschärft hat. Diese fehlende intellektuelle Vielfalt beschränkt nicht nur Lehre und Forschung, sie behindert uns im Umgang mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – von Finanzmarktstabilität über Ernährungssicherheit bis hin zum Klimawandel. Wir benötigen einen realistischen Blick auf die Welt, kritische Debatten und einen Pluralismus der Theorien und Methoden. Durch die Erneuerung der Disziplin werden Räume geschaffen, in denen Lösungen für gesellschaftliche Probleme gefunden werden können.

Vereint über Grenzen hinweg rufen wir zu einem Kurswechsel auf. Wir maßen es uns nicht an, die endgültige Richtung zu kennen, sind uns aber sicher, dass es für Studierende der Ökonomie wichtig ist, sich mit unterschiedlichen Perspektiven und Ideen auseinanderzusetzen. Pluralismus führt nicht nur zur Bereicherung von Lehre und Forschung, sondern auch zu einer Neubelebung der Disziplin. Pluralismus hat den Anspruch, die Ökonomie wieder in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Im Zentrum sollten dabei drei Formen des Pluralismus stehen:

  • Theoretischer Pluralismus,
  • methodischer Pluralismus und
  • Interdisziplinarität.

Theoretischer Pluralismus verlangt, die Bandbreite an Denkschulen in der Lehre zu erweitern. Wir beziehen uns dabei nicht auf eine bestimmte ökonomische Tradition. Pluralismus heißt nicht, sich für eine Seite zu entscheiden, sondern eine lebendige, intellektuell reichhaltige Debatte anzuregen. Pluralismus heißt, Ideen kritisch und reflexiv miteinander zu vergleichen. Während in anderen Disziplinen Vielfalt selbstverständlich ist und sich widersprechende Theorien als gleichberechtigt gelehrt werden, wird die Volkswirtschaftslehre häufig dargestellt, als gäbe es nur eine theoretische Strömung mit eindeutigem Erkenntnisstand. Natürlich gibt es innerhalb dieser dominanten Tradition Varianten. Allerdings ist das nur eine von vielen Möglichkeiten, Ökonomik zu betreiben und die Welt zu betrachten. In anderen Wissenschaften wäre so etwas unerhört. Niemand würde einen Abschluss in Psychologie ernstnehmen, der sich nur mit Freudianismus beschäftigt, oder ein politikwissenschaftliches Studium, in dem nur der Leninismus auftaucht. Umfassende volkswirtschaftliche Bildung vermittelt die Vielfalt der theoretischen Perspektiven. Neben den für gewöhnlich gelehrten auf der Neoklassik basierenden Ansätzen ist es notwendig, andere Schulen einzubeziehen. Beispiele für diese Schulen sind die klassische, die post-keynesianische, die institutionelle, die ökologische, die feministische, die marxistische und die österreichische Tradition. Die meisten Studierenden der Volkswirtschaftslehre verlassen die Universität, ohne jemals von einer dieser Perspektiven auch nur gehört zu haben. Es ist essentiell, schon im Grundstudium reflektiertes Denken über die Ökonomik und ihre Methoden zu fördern, beispielsweise durch Veranstaltungen zu philosophischen Aspekten der Volkswirtschaftslehre sowie Erkenntnistheorie. Theorien können losgelöst aus ihrem historischen Kontext nicht nachvollzogen werden. Studierende sollten daher mit der Geschichte des ökonomischen Denkens, Wirtschaftsgeschichte und den Klassiker der Ökonomie konfrontiert werden. Momentan fehlen solche Kurse entweder vollständig oder wurden an den Rand des Lehrplans gedrängt.

Methodischer Pluralismus bezieht sich auf die Notwendigkeit unterschiedlicher Forschungsmethoden in der Volkswirtschaftslehre. Es ist selbstverständlich, dass Mathematik und Statistik wesentlich für unsere Disziplin sind. Aber viel zu häufig lernen Studierende nur, quantitative Methoden zu verwenden. Dabei wird zu selten darüber nachgedacht, ob und warum diese Methoden angewandt werden sollten, welche Annahmen zugrunde liegen und inwieweit die Ergebnisse verlässlich sind. Es gibt außerdem wichtige Aspekte der Ökonomie, die durch quantitative Methoden allein nicht verstanden werden können: Seriöse ökonomische Forschung verlangt, dass quantitative Methoden durch andere sozialwissenschaftliche Methoden ergänzt werden. Um beispielsweise Institutionen und Kultur verstehen zu können, müssen qualitative Methoden in den Lehrplänen volkswirtschaftlicher Studiengänge größere Beachtung erfahren. Dennoch besuchen die meisten Studierenden der Ökonomik nie eine Veranstaltung zu qualitativen Methoden.

Für ein umfassendes volkswirtschaftliches Verständnis sind interdisziplinäre Ansätze notwendig. Studierende müssen deshalb innerhalb ihres Studiums die Möglichkeit erhalten, sich mit anderen Sozialwissenschaften oder den Geisteswissenschaften zu beschäftigen. Volkswirtschaftslehre ist eine Sozialwissenschaft. Ökonomische Phänomene können nur unzureichend verstanden werden, wenn man sie aus ihrem soziologischen, politischen oder historischen Kontext reißt und in einem Vakuum darstellt. Um Wirtschaftspolitik intensiv diskutieren zu können, müssen Studierende die sozialen Auswirkungen und ethischen Implikationen ökonomischer Entscheidungen verstehen. Die Umsetzung dieser Formen von Pluralismus wird regional variieren. Sie sollten jedoch folgende Ideen einbeziehen:

  • Vermehrte Einstellung von Lehrenden und Forschenden, die theoretische und methodische Vielfalt in die Studiengänge der Ökonomik tragen;
  • Erstellen und Verbreiten von Materialien für plurale Kurse;
  • Intensive Kooperationen mit sozialwissenschaftlichen oder geisteswissenschaftlichen Fakultäten oder Aufbau spezieller Einrichtungen zur Verantwortung interdisziplinärer Programme.

Dieser Wandel mag zwar schwierig erscheinen. Doch er ist bereits in vollem Gange. Weltweit treiben Studierende diesen Wandel Schritt für Schritt voran. Mit Vorlesungen zu Themen, welche nicht im Lehrplan vorgesehen sind, können wir wöchentlich Hörsäle füllen. Wir haben Lesekreise, Workshops und Konferenzen organisiert, haben die gegenwärtigen Lehrpläne analysiert und alternative Programme entwickelt. Wir haben begonnen, uns selbst und andere in den Kursen zu unterrichten, die wir für notwendig erachten. Wir haben Initiativen an den Universitäten gegründet und nationale und internationale Netzwerke aufgebaut.

 

 

Kontakt: pluralismus@wu.ac.at

Gesellschaft für Plurale Ökonomik Wien

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Unversichertes Amerika

  • 22.01.2014, 16:37

Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.

 

Obamacare sollte das marode Gesundheitssystem der USA aufpäppeln. Die neue Krankenversicherung hat jedoch noch einige Kin- derkrankheiten und zeigt die ideologischen Gräben in den Staaten.

Seit Oktober 2011 ist Tobias Salinger nicht mehr krankenversichert. Über zwei Jahre sind seit seinem letzten Arztbesuch vergangen – keine Zahnärztin, keine Vorsorgeuntersuchung. Wenn seine Allergien unerträglich werden, holt er sich Medikamente aus der Apotheke. „Ich weiß, es ist nicht gut, solange nicht zum Arzt zu gehen“, sagt der Amerikaner, der Journalismus studiert und in Brooklyn wohnt.

Doch nun soll sich das ändern. Seit 1. Oktober ist das Kernstück des Affordable Care Act – auch Obamacare genannt – in Kraft: Alle 48 Millionen unversicherten Amerikaner_innen sollen bald eine Krankenversicherung haben. Das Gesetz schreibt den privaten Versicherungsanbietern Mindeststandards vor und verpflichtet Amerikaner_innen bis 31. März 2014 eine Krankenversicherung beim Anbieter ihrer Wahl abzuschließen. Ansonsten ist eine Strafgebühr von ein Prozent des Einkommens fällig. Ganz im Sinn der Marktlogik soll der Wettbewerb zwischen den priva- ten Versicherungsanbietern Krankenversicherungen günstiger machen.

Obamacare räumt mit den schlimmsten Ungerechtig- keiten im amerikanischen Gesundheitssystem auf. Mehr Menschen mit geringem Einkommen haben
in Zukunft Anspruch auf die staatliche Gratiskran- kenversicherung Medicaid. Eine gesetzlich geregelte Mutterschaftskarenz oder Krankenstand treten zwar auch mit der Reform noch immer nicht in Kraft, aber die Versicherungen dürfen Patient_innen nicht mehr wegen früherer Erkrankungen ablehnen, höhere Prämien für Frauen verlangen oder eine Obergrenze für bezahlte Leistungen einziehen. Bisher blieben Patient_innen trotz bestehender Krankenversicherung oft auf sechsstelligen Krankenhausrechnungen sitzen, weil ihre Versicherungspolizze nur Behandlungskosten bis maximal 150.000 Dollar pro Jahr deckte. Dementsprechend waren horrende Behandlungskosten für 62 Prozent der Privatkonkurse in den USA verantwortlich.

Tobias hat seine Krankenversicherung verloren, als er seine Stelle im Büro der Kongressabgeordneten Claire McCaskill aufgab. Als der Kongress im März 2010 mit einer knappen Mehrheit für den Affordable Care Act stimmte, arbeitete er gerade für die Demokratin aus Missouri. An den Tag erinnert sich der Student noch gut: „Für mich war es ein Grund zu feiern“, sagt Salinger: „Doch niemand organisierte eine Party.“ Den 900 Seiten langen Gesetzestext, den damals alle Kongressmitarbeiter_innen ausgehändigt bekamen, hat sich Salinger aufgehoben. Über drei Jahre später kann sich der Student nun endlich für Obamacare anmelden.

Craig Giammona hingegen ist sauer. Für ihn und viele andere bedeutet der Affordable Care Act in erster Linie höhere Kosten. Anders als der Name vermuten lässt, wird eine Krankenversicherung für viele durch das Gesetz weniger „affordable“. Der Student hatte bisher eine sogenannte Katastrophenkrankenversicherung („catastrophic health insurance“). Das bedeutet: Alles unter 10.000 Dollar muss Giammona selbst bezahlen, erst bei höheren Kosten setzt seine Versicherung ein. „Das ist mein Plan: Ich versuche gesund zu bleiben“, sagt er. Doch eine solche Minimalversicherung ist unter dem neuen Gesetz nicht mehr zulässig und Giammonas Versicherung musste ihn kündigen. Statt 185 Dollar im Monat wird er nun 307 Dollar monatlich zahlen müssen. „Es ist ein schlechtes Gesetz. Eine umfassendere Reform würde ich jedoch unterstützen“, sagt Giammona. Gerade junge, gesunde Menschen wie Craig sind jedoch für den Erfolg der Versicherungsreform entscheidend. Jede Versicherung funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Je größer die Masse der Versicherten, desto stärker verteilt sich das Risiko und umso niedriger ist die Versicherungsprämie. Nur wenn sich genug gesunde Menschen anmelden, kann das System auch für Kranke kostendeckend sein.

Kritik von allen Seiten. Obamas Gesundheitsreform wurde von Anfang an von lautstarker Kritik von rechts begleitet. 47 Mal hat die republikanische Mehrheit im Repräsentant_innenhaus für eine Aufhebung des Gesetzes gestimmt. Und 47 Mal hat Präsident Obama dagegen sein Veto eingelegt. Schon jetzt ist klar, dass die republikanische Partei versuchen wird, Obamacare zum Hauptthema bei den Parlamentswahlen im November 2014 zu machen. Endgültig entschieden wird die Debatte aber wohl erst 2016, wenn ein neuer Präsident oder eine neue Präsidentin gewählt wird.

Die konservative Vereinigung der Kleinunternehmer_innen National Federation of Independent Business (NFIB) ist eine jener Gruppen, die in Washington massiv für eine Gesetzesänderung lobbyiert. Sie befürchtet beträchtliche Mehrkosten für ihre Mitglieder. Traditionell beziehen die meisten Amerikaner_innen ihre Krankenversicherung über ihre Arbeitgeber_innen. Wichtiges Kriterium für die Jobwahl sind neben dem Gehalt immer auch die sogenannten „benefits“. Dabei verhandeln Arbeitgeber_innen mit Versicherungen über die Bedingungen für ihre Arbeitnehmer_innen. Waren erstere bisher nicht dazu verpflichtet, ihre Angestellten zu versi- chern, ändert Obamacare diesen Umstand ab 2015. Firmen mit mehr als 49 Vollzeitangestellten müssen von nun an eine Krankenversicherung für jede_n vollbeschäftigte_n Mitarbeiter_in abschließen oder 2.000 Dollar Strafe pro Angestelltem_r zahlen. „Viele Arbeitgeber kürzen deshalb die Arbeitsstunden von Angestellten, um so Vollzeit- in Teilzeitstellen umzuwandeln“, sagt der Sprecher von NFIB Jack Mozloom. So können sie die Strafgebühren und die Kosten für Krankenversicherungen umgehen. An die komplette Rücknahme des Gesetzes glauben jedoch selbst die Gegner_innen nicht mehr wirklich. „Wir erkennen an, dass eine volle Aufhebung vorerst unwahrscheinlich ist“, schätzt Cynthia Magnuson von NFIB die Situation ein.

Die Diskussion um Obamacare spiegelt die tiefen ideologischen Spaltungen in den USA wider. Vor allem in den republikanisch dominierten Bundesstaaten im Süden und im Mittleren Westen ist ein Großteil der Bevölkerung skeptisch gegenüber allen staatlichen Regelungen und denkt, dass der oder die Einzelne für sein Schicksal selbst verantwortlich sei, nicht der Staat. Das bedeutet, niemand solle verpflichtet werden, eine Krankenversicherung abzuschließen. Kostensenkungen im Gesundheitssektor wären demnach am besten durch einen entfesselten Markt erreichbar.

Seit dem Anlauf von Obamacare im Oktober, reißt aber auch die Kritik von linker Seite nicht mehr ab: Das Gesetz gehe nicht weit genug. Wie in vielen anderen Ländern solle der Staat die Krankenversicherung übernehmen. Dadurch würde sich das Kostenrisiko tatsächlich auf viele verteilen und die Kosten für Behandlungen und Medikamente könnten gesenkt werden. Der eigentliche Hintergrund der Reform sind nämlich die horrenden Kosten der medizinischen Versorgung in den USA. Während in Österreich im Jahr 2011 pro Kopf umgerechnet 4.546 Dollar für Gesundheitsleistungen aufgewendet wurden, waren es in den USA laut OECD 8.508 Dollar. Dabei gehen die Österreicher_innen im Schnitt 6,9 mal im Jahr zum Arzt, während Amerikaner_innen nur auf 4,1 Arztbesuche kommen.

Teurere, bittere Pillen. Richtig zufrieden mit dem Gesetz ist eigentlich nur die Versicherungsbranche. Viele der 48 Millionen Amerikaner_innen ohne Krankenversicherung (bei einer Gesamtbevölkerung von 311 Millionen) werden demnächst zu ihren Kund_innen. Die günstigste und gleichzeitig populärste Versicherungsvariante, der sogenannte „Bronze Plan“, kostet laut marketwatch.com im Schnitt 249 Dollar pro Monat. Doch bisher ist der Andrang auf Obamacare „bescheiden“, wie Susan Millerick vom Versicherungsriesen Aetna sagt. Obamacare ist für viele schlichtweg zu teuer. Die Wirtschaftskrise und die hohe Arbeitslosigkeit haben die Mittelklasse schwer getroffen – die Reallöhne stagnieren seit Jahren.

Tatsächlich tut das Gesetz auch wenig, um die hohen Kosten für Gesundheitsleistungen einzudämmen. Wie das Time-Magazin mit der Titelgeschichte „Bitter Pill“ im März gezeigt hat, verrechnen Krankenhäuser ihren hilflosen Patient_innen Fantasiesummen. Als Teil einer 84.000 Dollar schweren Rechnung für eine Chemotherapie verlangte die Krebsklinik MD Anderson sieben Dollar pro Alkoholtupfer. Online kann man 200 Stück davon um 1,91 Dollar bestellen.

Anders als in Österreich agieren Krankenhäuser in den USA gewinnorientiert. Die Kliniken erwirtschaften riesige Überschüsse und zahlen Millionengehälter an ihre Leiter_innen. In dünn besiedelten Gegenden besitzen die Krankenhäuser oft Monopolstatus und können den Versicherungen und Patient_innen die Preise diktieren. Die Gesundheitsbranche ist in den USA inzwischen bei weitem der größte Wirtschaftssektor.

Überraschend an der großen Krankenversicherungsreform ist vor allem auch die holprige Umsetzung. Die staatliche Website healthcare.gov zur Anmeldung für die Krankenversicherung war so fehlerhaft, dass sie bald wieder offline ging. Im ersten Monat haben gerade einmal 106.000 Amerikaner_innen die Obamacare-Versicherung abgeschlossen.

Auch Tobias Salinger kann sich heute nicht anmelden. Die Homepage des Bundesstaats New York sagt, dass seine Identität nicht festgestellt werden kann. Am Telefon erfährt er, dass er auf einen Brief mit weiteren Instruktionen warten solle. Erst dann wird er erfahren, ob er sich eine Krankenversicherung überhaupt leisten kann. Mehr als 100 Dollar pro Monat könne er nicht zahlen. Immerhin lebt der Student derzeit von Studienkrediten. Als letzte Hoffnung bleibt ihm noch ein Antrag auf Medicaid, die Kran- kenversicherung für Arme.

 

Dominik Wurnig studiert Journalismus an der CUNY Graduate School of Journalism in New York.

 

 

Aktion und Reaktion bei der Wiener Refugee-Bewegung

  • 11.12.2013, 19:19

Im Spätherbst vergangenen Jahres setzte sich ein Protestmarsch von der Sammelunterkunft „Flüchtlingslager Ost“ in Traiskirchen in Bewegung. Es handelte sich um eine Protestaktion von Flüchtlingen, die im Morgengrauen des 24. November 2012 gen Wien marschierten. Anschließend plante man im Sigmund Freud Park ein Protestcamp zu errichten.

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Im Spätherbst vergangenen Jahres setzte sich ein Protestmarsch von der Sammelunterkunft „Flüchtlingslager Ost“ in Traiskirchen in Bewegung. Es handelte sich um eine Protestaktion von Flüchtlingen, die im Morgengrauen des 24. November 2012 gen Wien marschierten. Anschließend plante man im Sigmund Freud Park ein Protestcamp zu errichten.

Der dem Marsch zu Grunde liegende Anlass zum Protest und die daraus erwachsene Protestbewegung rund um die „Besetzung“ der Votivkirche war eine Einzigartigkeit der österreichischen Asylrechtsgeschichte. Zum ersten Mal machten österreichische Flüchtlinge auf die barbarischen Zustände, denen sie ausgeliefert sind, weitestgehend eigenständig aufmerksam. Sie versuchten so einerseits ihrer Wut über den täglichen Spießrutenlauf durch die oftmals unergründlichen Wege der österreichischen Asyljudikatur Ausdruck zu verleihen, andererseits versuchten sie mittels später ausformulierten politischen Forderungen konkrete Veränderungen herbeizuführen.

Kaum jemand hätte wohl zu diesem Zeitpunkt eine solche Welle an darauffolgenden Ereignissen erwartet. Vielmehr rechnete man in den Kreisen der UnterstützerInnen und direkt Beteiligten mit einem baldigen Erschlaffen des Protests, da bisher von zivilgesellschaftlicher Seite vergleichsweise geringes Interesse an einer Thematisierung der menschenunwürdigen Zustände in Asylheimen bestand. Bei einer genaueren Untersuchung asylrechtlicher Sachverhalte in der österreichischen Medienlandschaft als auch in zivilgesellschaftlichen Zusammenhängen konnte man erkennen, dass etwa Stellungnahmen und Aufrufe zum Protest sich bisher meist auf eine sehr oberflächliche und plakative Behandlung dieser Thematik beschränkten. Bloß zu tatsächlich "massenfähigen" Anlässen mobilisierte man zu Demonstrationen (wie etwa im Falle der in den Kosovo "auszuweisenden" Arigona Zogaj), jedoch nicht um eine grundlegende Skandalisierung der menschenunwürdigen Zustände zu leisten. Dies änderte sich jedoch mit dem Aufflammen des Flüchtlingsprotests dramatisch, der Protest war weitestgehend "in aller Munde".

Anfängliches Desinteresse
Die österreichischen Medien zeigten von Beginn an flächendeckendes Desinteresse oder betrieben Faktenhuberei; der Kurier versuchte gar den Protest als ein von außerhalb gelenktes Ereignis zu brandmarken, in dem eine dubiose Gestalt in Form eines bayrischen „Linksaktivisten“ (1) als alleiniger Strippenzieher herhalten musste. Damit sollte der Protest der Flüchtlinge, der bereits Forderungen nach vollem Zugang zum Arbeits- und Wohnungsmarkt und uneingeschränkte Bewegungsfreiheit beinhaltete, delegitimiert werden.
Die „Flüchtlingsbewegung“ war anfänglich eher ein Sammelsurium verschiedenartiger, gemeinsam agierender Gruppierungen. Um auf die menschenunwürdigen Zustände aufmerksam zu machen, errichtete man ein Zelt-Lager im Sigmund-Freud-Park. Jedoch provozierte dies sehr bald gezielte Aktionen der Wiener Polizei, die sich in erster Linie gegen dort ansässige AsylwerberInnen und UnterstützerInnen richteten. Fortan wurde den Protestierenden klar, dass das Zeltlager bloß von kurzer Lebensdauer sein würde und so suchten etwa 20 Asylwerber Zuflucht in der Votivkirche. Derjenige, der von einer „Besetzung“ der Votivkirche überhaupt erst sprach, war der Pfarrer der Kirche, der sich ganz und gar nicht solidarisch zeigte und sich später durch gewisse Feindseligkeiten gegenüber den Geflüchteten bemerkbar machte: etwa durch die Weigerung, die Flüchtlinge aus der Kirche zu lassen und durch den Versuch das Betreten der Kirche zu verhindern.
Die Flüchtlinge forderten zu dem Zeitpunkt unter anderem grundlegend menschenwürdigere Zustände in den Lagern, einen freien Zugang zur staatlichen Grundversorgung für alle AsylwerberInnen unabhängig von ihrem Rechtsstatus, die Leistungen (darunter: Mietzuschuss, Verpflegungsgeld und Krankenversicherung) beinhalten, welche de jure schutzbedürftigen AsylwerberInnen zustehen und einen Austausch sämtlicher Dolmetscher in Traiskirchen, da diese oftmals sprachlich unqualifiziert sind und kaum in der Lage sind die AsylwerberInnen präzise genug zu verstehen.

Bis März dieses Jahres verweilten die Flüchtlinge in der Votivkirche, bis man sich darauf einigte in das Servitenkloster umzusiedeln.
Die Caritas diente in der Zeit ab der Besetzung der Votivkirche maßgeblich als Verhandlungsteam zwischen den Refugees und dem österreichischen Staat. Der Aufenthalt der Protestierenden in der Votivkirche war jedoch von mehreren Repressalien und Einschüchterungsmethoden geprägt, die allesamt das Ziel hatten den Protest zu unterbinden und ihn zu delegitimieren.

Repression
Am 28. Februar ereignete sich ein Treffen zwischen Flüchtlingen und ihren UnterstützerInnen mit mehreren Vertretern der Kirche in einem Café unweit der Votivkirche, bei dem angeblich auch Shahjahan Khan anwesend gewesen sein soll. Shahjahan Khan war zu diesem Zeitpunkt einer der federführenden Akteure und Sprecher des Protests. Vermutlich am Weg zurück zur Votivkirche, war Shahjahan Khan in einer Gruppe anderer Illegaler unterwegs gewesen. Einige ZivilpolizistInnen erblickten ihn, umzingelten ihn in Folge dessen und führten ihn ab.
Es war kein Zufall, dass Shahjahan Khan Zielscheibe der polizeilichen Repression wurde: Shahjahan Khan war nicht nur ein Sprecher der in der Votivkirche Protestierenden, er war auch einer der schärfsten Kritiker des Wiener Polizeiwesens, der in einer Presseaussendung vor 2 Tagen, anlässlich der Verhaftung eines anderen, illegal aufhältigen Fremden, der auf selbige Art und Weise festgenommen wurde, schrieb:

“We want to negotiate, but the police threatens us. We are being surveilled, stopped and checked in front of the church with increasing frequency, without having done anything. Often by undercover officers, who don’t reveal their identity to us. Worst of all is, that one of us has been arrested and taken away by the police and that we still don’t know, what happened to him.” (2)

Was sich liest wie das Drehbuch eines miesen Krimis, schien sich sehr bald als Strategie der österreichischen Exekutive herauszukristallisieren, um den Flüchtlingsprotest aus dem Zentrum der medialen Aufmerksamkeit zu drängen: Einschüchterung mittels repressiver Methoden gepaart mit innenpolitischer, medialer Delegitimation.

Am 29. Juli – 4 Monate waren seit dem „Umzug“ in das Servitenkloster vergangen – wurden acht pakistanische Asylwerber, die allesamt in die Besetzung der Votivkirche involviert gewesen waren, im Rahmen einer polizeilichen Aktion, in den sicheren Tod abgeschoben. "Weil wir Refugees auch Pakistan und die Taliban in den Medien kritisiert haben, werden uns die Geheimdienste schon am Flughafen erwarten, einsperren und wie Kriminelle behandeln. Sie werden uns töten", sagte Shahjahan Khan. (3)

Die österreichische Judikative wandte hierbei - wie bereits in der Vergangenheit - bemerkenswerte, extralegale judizielle Methoden an. Der Verhaftung der acht Refugees war die Verhängung des „gelinderen Mittels“ vorausgegangen, die mittels eines Bescheides erfolgte, der am 23. Juli erlassen wurde. In diesem Bescheid war sich die Fremdenpolizei also noch einig, dass die Schubhaft noch nicht erforderlich sei, da die „tägliche Meldung“ bei einer Polizeistation ausreiche. Selbst dieser Bescheid war bereits rechtswidrig gewesen, da die Fremdenpolizei sie damit begründete, sie müsse „den aktuellen Aufenthaltsort von amtsbekannt rechtswidrig aufhältigen Fremden“ kennen.  Der amtsbekannte Aufenthaltsort war aber kein anderer als das Servitenkloster gewesen, sodass schon für die Verhängung der täglichen Meldung keine Veranlassung bestand und der Bescheid selbst nichts als eine polizeistaatliche Drangsalierung darstellte.
Ebenfalls bemerkenswert war, dass das Bundesministerium für Inneres die bedrohliche Sicherheitslage für sich in Pakistan Aufhältige gar nicht erst geleugnet hatte, sondern selbst eine Reisewarnung auf der offiziellen Homepage ausschrieb. (4) Auf die Frage jedoch, ob Innenministerin Johanna Mikl-Leitner garantieren könne, dass einem der Asylwerber in Pakistan nichts passiert, fiel ihr bloß folgendes ein: „Ich kann auch nicht garantieren, dass einem Asylwerber in Österreich ein Verkehrsunfall passiert, genauso wie ich das bei einem Österreicher oder einer Österreicherin nicht garantieren kann.“ (5)
Im Laufe dieses Montags wurde also acht jungen Existenzen ein jähes Ende bereitet, indem man sie beispielsweise in die Terror-Provinz Khyber Pakhtunkhwa abschob - der Ort an dem sich einst Osama Bin Laden verschanzen konnte - oder auch in das Swat Tal, wo der Zimmernachbar von einem der Abgeschobenen erst vor Kurzem seinen Bruder durch eine gezielte Tötung der Taliban verloren hatte.

 

Delegitimation
Es war nicht der erste Schlag gegen die Flüchtlingssolidarität - und es sollte auch nicht der Letzte gewesen sein, in dem die Innenministerin eine tragende Rolle spielen sollte.
Mittels einer gezielten medialen Delegitimationskampagne versuchte man am darauffolgenden Tag, dem 30. Juli, einige Refugees in die Nähe von Schlepperei und Menschenhandel zu rücken um die Solidaritätskampagne mit den Flüchtlingen so in ein schlechtes Licht zu rücken.

Wegen Verdachts der Schlepperei wurden sechs weitere Personen, drei davon im Servitenkloster, festgenommen. Sie sollen einer großen kriminellen Organisation angehören, die mindestens 300 Schleppungen von vorwiegend pakistanischen Staatsbürgern organisiert und durchgeführt haben soll, welche von Kleinasien über die sogenannte "Balkanroute" nach Österreich und in den EU-Raum erfolgt sein sollen." (derstandard.at, 31. Juli 2013)

"Schwere Vorwürfe gegen drei pakistanische Asylwerber aus dem Servitenkloster. Azhar I., Ali S., und Sabtain S. wurden am Dienstag in der Nähe des Klosters verhaftet. Die drei Pakistani sollen in den letzten Monaten (...) bis zu 10.000 Euro kassiert haben, so der Vorwurf der Staatsanwaltschaften Wien und Wiener Neustadt. Insgesamt soll die Truppe 10 Millionen Euro verdient haben." (ÖSTERREICH, 31. Juli 2013, Printausgabe)

Dass die Vorwürfe haltlos waren und dies lediglich ein Versuch des Innenministeriums war, der Solidarität, die in den Tagen rund um den 29. Juli ihren Höhepunkt fand, einen Schranken vorzuschieben, zeigte sich letztendlich dadurch, dass die Staatsanwaltschaft selbst die konstruierten Vorwürfe, die Inhumanität und Folter inbegriffen, widerlegten und zurückwiesen.

"Diese Vorwürfe sind nicht Gegenstand unseres Ermittlungsverfahrens. Wir kennen das nur aus den Medien", sagen Thomas Vecsey und Erich Habitzl, die Sprecher der Anklagebehörden Wien und Wiener Neustadt. Auch die laut Polizei gescheffelten "zehn Millionen" (in manchen Stellungnahmen war von drei Millionen die Rede) sind, wie die Gerichtsakte zeigt, nicht Akteninhalt, sondern nur zugespitzte polizeiliche Schätzungen.
Einem Bericht des Falter zufolge finden sich im Gerichtsakt weder Hinweise auf Millionenbeträge, die die Wiener Beschuldigten laut Innenministerium kassiert haben sollen, noch auf Gewalthandlungen, von denen Innenministerin Johanna Mikl-Leitner sprach. Sie hatte etwa in einem Interview mit dem KURIER gemeint, der Schlepperring würde "äußert unmenschlich" agieren: "Wenn es etwa Probleme mit schwangeren Frauen auf der Schlepper-Route gab, dann wurden diese Frauen hilflos auf der Route zurückgelassen." (6)

Dass staatliche Behörden seit jeher versuchen, unliebsame Proteste zu kriminalisieren und delegitimieren, konnte man bereits angesichts der Flüchtlingsproteste in Würzburg und München beobachten.
Auch im postnazistischen Österreich geht es brutaler zu als im allgemeinen kapitalistischen Normalvollzug , denn auch hier herrscht ein grundlegend anderer Umgang mit Migration und Asyl als etwa in "republikanisch" verfassten Staaten, an deren Basis nicht das Prinzip der "Blutsverwandschaft" steht, sondern das ius solis. Während beispielsweise in den USA (nicht nur kandidierende) Präsidenten verlautbaren, dass es sich um eine "nation of immigrants" (Obama) handele, so scheint dies in Staaten wie Österreich, in denen selbst im Lande geborene MigrantInnen stets versöhnlich als "Austro-Türken" bezeichnet werden und nicht etwa als vollwertige Österreicher angesehen werden, als undenkbar.

Allerdings ist der Vorgang der Asylabwehr in Österreich und Deutschland ein anderswertiger: er beschränkt sich nicht nur auf die klassischen Abwehrformen politisch-ökonomischer Facon (etwa die Verhärtung asylrechtlicher Normen um anhand ökonomischer Argumentation Einwanderung einzuschränken), sondern gedeiht hier ein Verhalten, das nur durch den Postnazismus erklärt werden kann. So fungiert das Ressentiment gegen Migration und Einwanderung in Österreich und Deutschland als parteiübergreifendes Scharnier zwischen einander eher verfeindeter Gruppen. Denn das Bild, das der Wahlkampf anlässlich der diesjährigen Nationalratswahl zeichnete, war nicht das eines kollektiven Rutsches nach ,Rechts‘, sondern vielmehr das Abbild eines Österreichs, in dem ehemals als ,extrem‘ titulierte Parteien nicht mehr ausschließlich Klientelpolitik betrieben, sondern sich durch modifizierte Positionspapiere einander annäherten. Von Efgani Dönmez bis Heinz Christian Strache war man sich einig, dass die Flüchtlinge zwar Mitleid verdient hätten, man allerdings den eigens erschafften unmenschlichen Gesetzen Folge leisten müsste. (7)

So hätte es jedem aufmerksamen Verfolger der Proteste zumindest denkbar erscheinen müssen, dass es sich auch bei den sich in Wien ereignenden polizeilichen und ministeriellen Aktionen gegen die Flüchtlingssolidarität, um nichts anderes als einen derartigen Versuch gehandelt hatte: unliebsamen Protest mittels gezielten asylrechtlichen, strafrechtlichen und fremdenpolizeilichen Aktionen ein für alle Mal den Garaus zu machen. (8)

 

-David Kirsch

 

Anmerkungen:

(1) http://kurier.at/chronik/wien/hausverbot-fuer-linksaktivisten/2.301.992
(2) http://refugeecampvienna.noblogs.org/post/2013/02/25/fluchtlinge-aus-der-votivkirche-kritisieren-bedrohung-durch-die-polizei/
(3) http://fm4.orf.at/stories/1722136/
(4) http://www.bmeia.gv.at/aussenministerium/buergerservice/reiseinformation/a-z-laender/pakistan-de.html
(5) http://fm4.orf.at/stories/1722136/
(6) http://kurier.at/politik/inland/servitenkloster-fluechtlinge-ermittlungsakt-relativiert-schlepper-verdacht/21.850.377

(7) Siehe meine Untersuchung zum parteiübergreifenden Ressentiment gegen Asyl in Österreich in der UNIQUE/04:

http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=3123

http://www.univie.ac.at/unique/uniquecms/?p=3901
(8) Siehe dazu auch meine eigenen zeitgleich erschienen Einschätzungen und Studien zu den einzelnen Vorfällen:
http://exsuperabilis.blogspot.co.at/2013/02/zu-den-polizeilichen-aktionen-vorfallen.html,
http://exsuperabilis.blogspot.co.at/2013/07/erinnert-sich-noch-jemand-den-27-mai.html