Identität

„Homosexualität“ und „Die Anderen“

  • 23.02.2017, 19:56
Mit „Schwule Sichtbarkeit – Schwule Identität“ haben Zülfukar Çetin und Heinz- Jürgen Voß ein Buch vorgelegt, das sich mit den Möglichkeiten und Formen schwuler Politik auseinandersetzt.

Mit „Schwule Sichtbarkeit – Schwule Identität“ haben Zülfukar Çetin und Heinz- Jürgen Voß ein Buch vorgelegt, das sich mit den Möglichkeiten und Formen schwuler Politik auseinandersetzt. Sie zeichnen ein Bild, in der diese auf ambivalente Weise eingebunden ist in westliche Herrschaftsverhältnisse, und versuchen, darüber hinaus zu weisen. Auffallend durchzogen von einer Dringlichkeit, emanzipatorische Politik kritisch im Lichte des aktuellen reaktionären Aufwinds zu reflektieren, ist das Buch zweigeteilt. Im von Voß verfassten ersten Teil wird die Geschichte des „Schwulen“ nachgezeichnet. Als Diskursfigur, als Identität – im Gegensatz zur bloßen sexuellen Praxis – entsteht der „Schwule“ in den 1860er Jahren in einer Gemengelage von europäischem Kolonialismus und der Entwicklung naturwissenschaftlich- staatlicher Klassifikation von Menschen. Homosexualität wird darin auch von grundsätzlich progressiven Wissenschaftlern wie Magnus Hirschfeld von vornherein gegen einen „Orient“ konstruiert – mit „echter Homosexualität“ auf der einen und „unechter“ auf der anderen Seite. Im zweiten Teil zeigt Çetin auf, wie diese konstruierte Dichotomie in aktueller Politik in Berlin fortläuft. Wenn etwa ein Kiss-In weißer Schwuler in einem migrantisch geprägten Stadtteil die dort existierenden queeren Strukturen ignoriert, zeigt sich, wie hinter der Identität des „Schwulen“ andere Weisen zu leben – z.B. Muslim zu sein und gleichgeschlechtlichen Sex zu haben – politisch verdrängt und unsichtbar gemacht werden. Eingerahmt sind die zwei Teile von Reflektionen zu klaren Identitäten, Funktion von Sichtbarkeit als politischer Kategorie, und der räumlichzeitlichen Verortung politischer Praxis, die versuchen, die entwickelten kritischen Perspektiven politisch nutzbar zu machen. In einer Zeit, in der in Deutschland ein Autonomes Schwulenreferat die AfD zu einer Podiumsdiskussion einzuladen gewillt ist und die Teilnahme antidemokratischer Kräfte – erschienen in Begleitung von gut 20 Neonazis – als für eine „umfassende Meinungsbildung unumgänglich“ verteidigt, in einer Zeit in der zugleich die Rückholbarkeit des Erstrittenen in der Homophobie derselben Partei deutlich wird, sei die Lektüre dieses Buchs dringend empfohlen.

Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß: Schwule Sichtbarkeit – Schwule Identität, Psychosozial-Verlag 2016, 146 Seiten, 19,90 €

Bewegte Zugehörigkeiten

  • 07.03.2014, 12:21

Warum sie Goethe die Worte im Mund umdreht und neue Perspektiven auf Migration sowohl in Europa als auch in den USA dringend nötig sind, erklärt die Dokumentarfilmerin und Gründerin von „with wings and roots“, Christina Antonakos-Wallace, im Interview.

Zwei Kurzfilme wurden im Rahmen des kollaborativen Multimediaprojekts „with wings and roots“ bereits veröffentlicht, noch heuer folgen eine abendfüllende Doku und eine interaktive Website. Dabei entsteht eine umfassende transnationale Sammlung von Geschichten, die sichtbar macht, wie die sogenannte „zweite Generation von Migrant_innen“ in Berlin und New York auf vielfältige Weise Zugehörigkeit neu denkt und lebt – allen Herausforderungen zum Trotz.

progress: Goethe schrieb: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Du hast für den Titel eures Projekts „with wings and roots“ die Reihenfolge der Wurzeln und der Flügel geändert. Warum?

Christina Antonakos-Wallace: Für mich war es wichtig, die Visionen und die Kreativität, die viele Kinder von Migrant_innen aus ihren multiplen Lebenswelten schöpfen, in den Vordergrund zu stellen. Aus meiner Sicht werden diese nämlich kaum thematisiert, wenn über Migration gesprochen und geschrieben wird. Deshalb stehen die Flügel für mich an erster Stelle. Ich sehe auch die Gefahr, dass der Begriff „Wurzeln“ leicht in Zusammenhang mit fixen Ideen von Kultur und Identitäten instrumentalisiert werden kann. Angesichts des Drucks sich zu assimilieren, müssen viele Menschen in der Diaspora zugleich aber auch hart dafür kämpfen, mit ihrem kulturellen Erbe verbunden zu bleiben. Auch die Verbindung der Menschen zu ihren Communities und Familien, oder was auch immer den Menschen Kraft und ein gewisses Fundament gibt, soll deshalb honoriert werden.

Einer der Kurzfilme, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, trägt den Titel „Where are you FROM from?“ Was steckt hinter diesem Titel?

Diese Frage, woher man „wirklich“ kommt, ist so gängig, so alltäglich und spiegelt dabei besonders, wie eng Zugehörigkeit in unserer Gesellschaft noch immer definiert wird. Daran, dass viele Kinder von Migrant_innen diese Frage täglich mehrmals beantworten müssen, kristallisiert sich ihr Dilemma, wenn es um das Gefühl geht, willkommen zu sein. Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung und jener vieler Freund_innen sagen, dass diese Frage gnadenlos ist, auch wenn sie an der Oberfläche so einfach erscheint und sehr ehrlich gemeint sein kann. Aber wenn diese Frage, woher du „wirklich“ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, „hier“ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein dritte Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst. Außerdem mag ich die Ironie, die gewissermaßen in der Frage steckt, weil „Where are you from from“ im Grunde ja ein grammatikalisch inkorrekter Satz ist.

Davon, dass diese Frage ständig widerkehrt, erzählen sowohl ProtagonistInnen in Berlin als auch in New York. Gleichzeitig werden im Rahmen des Projekts auch Unterschiede zwischen der Situation in den beiden Ländern greifbar.

Alleine dass in Deutschland über alle Generationen von Migrant_innen nach wie vor als Migrant_innen gesprochen wird, ist ein großer Unterschied. In den USA beobachtet man meist innerhalb von einer Generation den Übergang von der Bezeichnung als Migrant_in zur Bezeichnung als Amerikaner_in, wenn auch in Zusammenhang mit einer rassifizierten Kategorisierung, zum Beispiel als „Asian-American“. Das ist auch keine großartige Situation, weil du zwar Amerikaner_in wirst, in vielen Fällen aber eine spezielle, nämlich diskriminierte Art von Amerikaner_in. Trotzdem ist der Unterschied von Bedeutung. Es wird in Deutschland auch oft auf sehr generalisierende Weise über Migrant_innen gesprochen, als würden sie alle die gleichen Erfahrungen machen und mit den gleichen Problemen kämpfen. Das ist irreführend: Während manche Migrant_innen sehr gebildet und wohlhabend sind, gehören andere zur Arbeiter_innenklasse, sie decken das gesamte soziale Spektrum ab.

In Deutschland gibt es auch diesen starken Fokus auf Integration. Dazu denke ich mir: Diese jungen Leute sind hier aufgewachsen. Was heißt, sie sind nicht integriert? Diese Leute sind Teil der Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft! Und wenn Integration mit wirtschaftlichen oder bildungsbezogenen Errungenschaften gleichgesetzt wird, müssen wir fragen, welche strukturellen Barrieren es hier gibt. Viele Menschen, die seit Langem hier leben, werden systematisch ausgeschlossen – vor allem durch ein Schulsystem, das Machtverhältnisse stark reproduziert. Darüber wird aber kaum gesprochen. Und schließlich wird auch darüber, dass sich Deutschland selbst in einem Wandlungsprozess befindet, so wie sich alle Länder ständig verändern, nicht nachgedacht. Stattdessen hält man an einer essenzialisierenden Version der Geschichte fest und denkt, dass Deutschland vor 200 Jahren tatsächlich „deutsch“ war.

Welche Rolle spielt das Bild von den USA als Nation der MigrantInnen in diesem Zusammenhang?

Natürlich macht es einen Unterschied, dass diese Auseinandersetzungen in den USA schon deutlich länger im Gange sind und aus meiner Sicht haben sich Migrant_innen dort über die Generationen mehr institutionelle Macht angeeignet. Dennoch halte ich das Bild von den USA als Nation der Migrant_innen für irreführend. Es blendet eine gewaltsame Geschichte aus, in der immer umstritten war, wer hier leben und bleiben darf und wer nicht, wer Zugang zur Staatsbürgerschaft hat und wer nicht. Wir wollen auch keinesfalls die USA als Modell oder Vorbild präsentieren. Heute leben in den USA mindestens 11 Millionen undokumentierte Migrant_innen, viele von ihnen seit Jahrzehnten. Im Fall von Tania, die in unserem Film vorkommt, seit 26 Jahren. Erst heuer hat sie erstmals eine temporäre Arbeitserlaubnis bekommen.

In Deutschland und Österreich ist der Diskurs über Migration stark problemzentriert. Gerade die zweite Generation wird häufig mit Begriffen wie Bildungsdefizit und Identitätskrise assoziiert. Inwiefern geht „with wings and roots“ einen anderen Weg?

Ich starte von einem völlig anderen Punkt, wenn ich den Menschen Fragen stelle, weil sie Einsichten und Wissen haben, und nicht, weil ich denke, dass sie ein Problem haben. Es wird dann möglich über ihre Erfahrungen als gesellschaftliche Problematiken statt als persönliche Probleme zu sprechen. Als ich angefangen habe, an diesem Projekt zu arbeiten, habe ich W.E.B. Du Bois „The Soul of Black Folk“ gelesen. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb er darüber, dass das „negro problem“ in den USA in aller Munde war. Und mir ist klar geworden, dass ich heute genau die gleiche Sprache höre, wenn es um das „Integrationsproblem“ und das „Migrationsproblem“ geht – als wären sich alle einig, dass wir es mit einem Problem zu tun haben. Das Problem scheinen dann nicht Diskriminierung oder die Ungleichheit von Bildungschancen zu sein, Migration an sich wird zum Problem erklärt.

Ich denke, es ist knifflig, was wir mit diesem Projekt versuchen, weil wir versuchen über die Stärke und das Wissen von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte zu sprechen.  Zugleich wollen wir auch die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, thematisieren. Wie kann man denn auch über ihre Stärke sprechen, ohne ihre Kämpfe zu thematisieren? Wir haben aber auch das Feedback bekommen, dass der Kurzfilm „Where are you FROM from“ zu negativ sei. Das gibt mir zu denken, weil es unser Ziel ist, nicht nur über die Tragödien und die Kämpfe zu sprechen, sondern auch die Handlungsmacht der Leute zu zeigen, wie sie Lösungen finden, neue Begriffe eines Zuhause und der Zugehörigkeit schaffen. Der abendfüllende Film, den wir gerade fertigstellen, wird auch die Kreativität der ProtagonistInnen stärker hervorstreichen, weil er mehr von ihrem Alltagsleben zeigt und nicht nur aus Interviews besteht. Dennoch, einen Mittelweg zwischen einem kritischen und einem optimistischen Blick zu finden, ist eine der größten Herausforderungen dieses Projekts.

Inwiefern ist „with wings and roots“ auch eine Sammlung von Familiengeschichten? Wenn es um Zugehörigkeit geht, können schließlich auch Familien- oder Generationenkonflikte eine wichtige Rolle spielen.

Manche Leute teilen mehr von ihrer Familiengeschichte, andere weniger – zum Beispiel, weil ihre Familie keinen legalen Aufenthaltsstatus hat. Auch Traumata können eine Rolle spielen. Mir ist es wichtig, die ProtagonistInnen selbst bestimmen zu lassen, wo sie eine Grenze ziehen. Außerdem denke ich, dass Generationskonflikte in Zusammenhang mit Migration sehr oft im Mainstream-Kino behandelt und teils auch missbraucht werden. Ich wollte etwas Neues machen, weshalb mich die Beziehung der jungen Menschen zur Gesellschaft mehr interessiert hat. Aber Familien können durchaus eine große Rolle spielen und es geht mir nicht darum, das zu ignorieren oder zu verschweigen – auch nicht, dass es Konflikte gibt. Manche erzählen sehr offen davon. Ich möchte auch keinesfalls Communities glorifizieren, weil es durchaus auch oft interne Konflikte rund um bestimmte Traditionen gibt, die eine gewaltsame und bedrückende Dynamik haben können. Jede Kultur hat solche Traditionen.

Warum hast du dich entschieden, einen Film über junge Menschen zu machen?

Das hat viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Ich wollte einen Film über meine AltersgenossInnen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle. Und natürlich betrifft einen die Frage nach einem neuen und kreativen Verständnis von Zugehörigkeit auf andere Weise, wenn man jung ist, als wenn man 50 ist.

 

Das Interview führte Anna Ellmer.

Zu ihrem Artikel über "with wings and roots": http://www.progress-online.at/artikel/%E2%80%9Ewarum-reden-sie-%C3%BCber...

 

Für weitere Informationen über „with wings and roots“:

http://withwingsandrootsfilm.com/

Der Kurzfilm „Where are you From from?“ / „Wo kommst du ‚wirklich’ her?“ wird vom FWU – Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht vertrieben: http://www.fwu-shop.de/politische-bildung/wo-kommst-du-wirklich-her-wher...

Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh – ist hier verfügbar: http://www.youtube.com/watch?v=BWic5hPZfS4

„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder eine Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen über Facebook und oder die Website mit dem Team in Kontakt treten.

 

 

 

"Das nennen wir konkrete Politik"

  • 03.07.2014, 14:16

Zulema Quispe und Julieta Ojeda sind Aktivistinnen des feministischen und anarchistischen Kollektivs Mujeres Creando in La Paz, Bolivien. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit und den Kampf um das Recht auf Abtreibung.

Zulema Quispe und Julieta Ojeda sind Aktivistinnen des feministischen und anarchistischen Kollektivs Mujeres Creando in La Paz, Bolivien. Im Interview sprechen sie über ihre Arbeit und den Kampf um das Recht auf Abtreibung.

Seit 2005 wird Bolivien unter Präsident Evo Morales sozialistisch regiert. Neben Agrarreformen und der Verbesserung der Situation von Kokabauern und -bäuerinnen stehen vor allem die Rechte der indigenen Bevölkerung im Mittelpunkt der politischen Debatte. Trotz einzelner Gesetzesänderungen zur Stärkung der Rechte von Frauen sehen die Feministinnen von Mujeres Creando darin ein Problem, dass Abtreibung in Bolivien nach wie vor ein strafrechtliches Delikt ist.

progress: Wie hat das Projekt Mujeres Creando begonnen?

Julieta: Mujeres Creando wurde vor ungefähr 21 Jahren von María, Julieta und Mónica gegründet - unter anderem auf Grund der Erfahrungen, die sie in traditionellen linken Gruppen gemacht hatten, wo Frauen in der politischen Agenda einen zweitrangigen Platz einnehmen, weil das politische und revolutionäre Subjekt das Proletariat ist. Das politische Subjekt „Frau“, Indigenas oder Jugendliche haben dort keine eigene Stimme.

Deshalb beschlossen sie, eine eigene, heterogene Bewegung zu starten: eine feministisch-anarchistische und autonome Bewegung, unabhängig von politischen Parteien und NGOs und ohne sich der jeweiligen Regierung unterzuordnen. Wir wollten nicht Erfahrungen wiederholen, wie sie an anderen Orten oder auf internationaler Ebene gemacht wurden, wo viele Feministinnen elitäre Gruppen bilden, oder solche, denen nur eine bestimmte soziale Schicht,  eine indigene oder kulturelle Gruppe oder Frauen einer bestimmten Altersgruppe angehören. Das spiegelt sich im gesamten Prozess von Mujeres Creando wider: Hier beteiligen sich Frauen aus indigenen Sektoren, Frauen aus Verbänden und Gewerkschaften, Sexarbeiterinnen, lesbische Gruppen, Haushaltsarbeiterinnen und Frauen, die Schuldnerinnen von Mikrokrediten sind.

Zu welchen Themen arbeitet ihr?

Julieta: Es gibt sehr konkrete Thematiken, die zum Beispiel mit Abtreibung, feministischer Selbstverteidigung oder Gewalt zu tun haben. Ein Arbeitsbereich ist etwa die Beratung zum Thema Abtreibung. Wir sind der Meinung, dass Information Frauen Sicherheit gibt, weil sie erlaubt, Entscheidungen zu treffen, die sicherer sind für den eigenen Körper und die eigene physische Integrität. Wir organisieren auch Selbstverteidigungskurse . Ein eigenes Büro beschäftigt sich mit Anzeigen in Zusammenhang mit männlicher Gewalt. Betroffene Frauen werden rechtlich beraten und bekommen Unterstützung , zum Beispiel auch bei Scheidungen. Das nennen wir konkrete Politik.

In der Einleitung eurer Broschüre zum Thema Abtreibung heißt es, „Pachamama, du weißt, dass Abtreibung Jahrtausende alt ist”. Könnt ihr etwas über die Geschichte der Abtreibung in Bolivien erzählen?

Julieta: Eine Compañera, Carina Aranda, hat viel zu Abtreibung in der vorkolumbianischen Zeit gearbeitet. Sie schreibt in der Broschüre, dass Abtreibung eine Praxis ist, die es in verschiedenen Kulturen der Welt gibt. In Bolivien wurde sie sowohl vor der Kolonialisierung sowie danach angewandt. Sie wirft auch auf, dass in den indigenen Kulturen und in ländlichen Gesellschaften Abtreibung praktiziert wird. Das erscheint uns besonders  wichtig, weil wir in einer Gesellschaft leben, in der der Diskurs vorherrscht, dass gewisse Praktiken, wie Homosexualität, Abtreibung oder sogar Prostitution und Sexismus, erst mit der Kolonialisierung zu uns gekommen seien. Es gibt eine ganze Reihe von Mythen und Vorstellungen, die keine, unter Anführungszeichen, wissenschaftliche Basis haben.

Carina Aranda führt außerdem das Thema Infantizid ein und behandelt es ohne Moralismen und Vorurteile. Feministinnen sollten sich mit Infantizid auseinandersetzen, weil dadurch aufgezeigt wird, dass Muttersein nichts Angeborenes oder Natürliches in uns Frauen ist. Es ist nicht so, dass wir, das neue Wesen, den Embryo, lieben, kaum haben wir ihn empfangen. Auf gewisse Weise wird dadurch das ganze Thema des Mutterinstinktes entmythisiert.

Unter welchen Bedingungen und mit welchen Methoden wird in Bolivien heute abgetrieben?

Zulema: Das ist von der finanziellen Situation abhängig. Der Großteil der Frauen, die keine finanziellen Mittel haben, führt unsichere Abtreibungen durch. Wenn du eine sichere Abtreibung haben willst, musst du um die 3.000 Bolivianos zahlen. Wenn du kein Geld hast, kannst du sogar um 160 Bolivianos mit Tabletten abtreiben, was aber wahrscheinlich nicht funktionieren wird. Im Falle eines chirurgischen Eingriffs in einem der Spitäler, die nicht die notwendigen Voraussetzungen erfüllen, glaube ich, machen sie dir den Eingriff auch um 600 oder 400 Bolivianos. Sie bieten dort auch Tabletten an.

Julieta: Natürlich, ist das von deinen finanziellen Mitteln abhängig. Wir verlangen die Straffreistellung, weil sie einen demokratischen Zugang zu Gesundheit und bessere Bedingungen für alle Frauen bedeuten würde.

In Zusammenhang mit dem Kampf um die Straffreistellung von Abtreibung fordert ihr, dass der Staat einen kostenlosen Zugang ermöglicht?

Julieta: Es gibt mehrere Optionen. Abtreibung könnte legalisiert werden oder sie könnte straffrei gestellt werden. Wenn wir von Straffreistellung sprechen, sprechen wir auch davon, dass sie ein Thema des öffentlichen Gesundheitswesens sein muss. Der Staat soll sehr wohl Verantwortung übernehmen, aber nicht notwendigerweise durch eine Legalisierung der Abtreibung und indem er die Bedingungen festschreibt, unter denen Frauen abtreiben. Die Frauenbewegung selbst sollte das erarbeiten.

Ihr setzt euch also für die Straffreistellung und nicht für die Legalisierung ein, weil ihr nicht wollt, dass sich der Staat zu viel in die Angelegenheiten von Frauen einmischt?

Julieta: Ja. Für uns geht es nicht nur darum, Rechte zu erkämpfen. Das ist ein wichtiger Teil, aber von einer feministischen Perspektive aus wollen wir klarmachen, dass wir das Recht haben, als Frauen selbst über unsere Körper zu entscheiden, egal ob es um Mutterschaft oder Abtreibung geht. Es geht darum, sich dieses Recht, das uns in der Geschichte weggenommen wurde, wieder anzueignen.

Wie ist die rechtliche Situation im Moment? Gibt es Fälle, in denen abgetrieben werden darf?

Zulema: Das Strafgesetzbuch stellt Abtreibung unter Strafe, aber sie ist straffrei bei Vergewaltigung, wenn eine Fehlbildung des Fötus besteht, bei Inzest, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist und im Falle von Entführung mit Vergewaltigung, auf die keine Eheschließung folgt. In allen anderen Fällen stehen darauf zwei Jahre Gefängnis.

Was ist die Position der Regierung und Evo Morales gegenüber Abtreibung?

Zulema: Dieses Jahr gab es eine interessante Debatte zum Thema. Eine Abgeordnete thematisierte die Straffreistellung von Abtreibung, einige andere Abgeordnete schlossen sich ihr an. Aber der Präsident meinte sinngemäß, er könne keine Meinung zu dem Thema abgeben, weil er nicht Bescheid wisse, gleichzeitig denke er, abzutreiben bedeute, jemanden zu töten.

Julieta: Das Thema Abtreibung wird oft nur sehr oberflächlich behandelt. Häufig dient es dazu, andere Debatten unter den Teppich zu kehren. In diesem Fall erscheint es mir so, als hätten sie ausprobieren wollen, was passiert, wenn man Abtreibung thematisiert. Aber es ist nach hinten losgegangen, weil es eine sehr starke Reaktion seitens der katholischen Kirche und seitens konservativer Sektoren gab, inklusive einiger Sektoren, die der Regierung nahestehen. Es gab aber eine viel positivere Reaktion seitens der Gesellschaft; zumindest die Bevölkerung von La Paz hat meines Erachtens auf offenere Weise reagiert. So wurde auch Raum für Diskussion und Mobilisierung geschaffen.

Die Regierung nutzt den identitären indigenen Diskurs stark aus. Was haltet ihr von diesem Diskurs?

Zulema: In erster Linie ist die Regierung meiner Meinung nach einem Obskurantismus desUrsprünglichen“ verfallen:  Alles Ursprüngliche ist gut, vor der Kolonialisierung gab es keine Abtreibung und keinen Sexismus – vor der Kolonialisierung war das hier angeblich ein Paradies. Die Regierung versucht diesen Zustand wieder herzustellen. Es kommt mir nicht so vor, als würde sie diesen Diskurs ausnutzen. Vielmehr hat sie ihn selbst immer geführt. Jene Frauen, wie die Bartolina Sisas (Anm. d. Red.: Zusammenschluss bolivianischer Bäuerinnen, benannt nach der Freiheitskämpferin), die gegen Abtreibung sind, wissen sehr wohl, dass es sich dabei um eine Praxis handelt, die es immer schon gegeben hat. Trotzdem sind alle diesem Diskurs verfallen, dass früher nicht abgetrieben wurde.

Julieta: Das Thema der Verteidigung des Lebens, also die Vorstellung, dass alles Leben ist, dass alles von der Pachamama (Anm. d. Red.: zentrale Gottheit in der mittleren Andenregion) kommt, das ist eine sehr oberflächliche Betrachtungsweise dessen, was Leben und die Verteidigung der Natur oder der Umwelt ist. Ich glaube, das sind Fundamentalismen, die vor allem indigenistische Theoretiker_innen mit der Zeit begründet haben. Es gibt jedoch Untersuchungen, die aufzeigen, dass zum Beispiel die Aimara-Frauen, wenn sie abtreiben, keine Schuld fühlen, weil ihre Beziehung zur katholischen Kirche und zu Gott eine andere ist. Sie können viel offener und viel eher ohne Vorurteile über Abtreibung sprechen. Sie betrachten sie als Teil des Kreislaufs des Lebens. Das Thema Schuld wurde ihnen nicht so eingeimpft, wie anderen Frauen.

 

Mehr Informationen zur Arbeit und den Veröffentlichungen von Mujeres Creando sind auf http://www.mujerescreando.org/ zu finden.

 

Das Interview führten Carmen Aliaga und Isabel Rodríguez.

 

 

Kongolesin oder Österreicherin? Ich bin beides!

  • 15.05.2014, 09:30

Sie ist Österreicherin und Kongolesin, Flüchtling und Angekommene, eines von zwölf Geschwistern und mit ihrer Geschichte trotzdem alleine. Mireille Ntwa sprach mit progress über Zugehörigkeitsgefühle und Generationenkonflikte.

Die umtriebige Mireille Ntwa trifft man vielerorts in Wien: An der Universität studiert sie Medizin, seit 2010 ist sie bei der Jungen Generation der SPÖ politisch aktiv. Für ihren Lebensunterhalt arbeitet sie im Bürgerservice des Bundeskanzleramtes und im Wiener Gürtelbräu, dessen Pforten sie an einem grauen Winterabend für progress aufsperrt.

Das Licht in dem holzvertäfelten Lokal ist schummrig, abgestandener Rauch vom Vortag liegt in der Luft. Blitzschnell richtet die 33-Jährige Gläser, Aschenbecher und Kerzen für die ersten Gäste her. Bevor Mireille den ersten Tisch bewirtet, hält sie zwischen den Bierzapfhähnen inne und sagt: „Lange Zeit hatte ich mit einer Identitätskrise zu kämpfen, bis ich zu dem Schluss kam, Österreicherin mit kongolesischem Migrationshintergrund zu sein.“ 

Innere Zerrissenheit. Mireille, mit vollem Namen Mireille Adiet Ntwa Ydjumbwiths, beginnt zu erzählen, dass sie jahrelang, während sie sich intensiv mit Fragen der eigenen Identität und Zugehörigkeit beschäftigte, eine innere Zerrissenheit verspürte: Ist sie Kongolesin mit österreichischem Lebensmittelpunkt oder Österreicherin mit kongolesischem Migrationshintergrund? Muss sie gegenüber einem Land loyaler sein oder nicht? Muss sie sich für eine Gesellschaft und somit auch gegen die andere entscheiden oder lassen sich beide Lebenswelten irgendwie miteinander vereinbaren?

Auf der Suche nach Antworten stürzte Mireille zunächst in eine tiefe Krise. Versuche, sich konsequent mit einem aus ihrer Sicht typisch österreichischen FreundInnenkreis zu umgeben oder nur Kontakte mit anderen KongolesInnen beziehungsweise ÖsterreicherInnen mit kongolesischem Migrationshintergrund zu pflegen, halfen wenig bei ihrer Orientierung. Mireille sucht nach Worten: „Je mehr ich versucht habe zu einer Gruppe dazu zu gehören, desto weniger funktionierte das für mich. Erst als ich feststellte, dass ich beides bin, löste sich dieser innere Konflikt auf.“

Totgeschwiegen. Die Geschichte von Mireille nahm ihren Anfang am 16. August 1980, in Kinshasa, der Hauptstadt der Demokratischen Republik Kongo, damals Zaire genannt. Mireille wurde als Tochter zweier politischer Aktivisten in eine Diktatur geboren. Ihre Eltern stellten sich aus Überzeugung gegen Joseph-Désiré Mobutus Schreckensregime. Als die Behörden Mireilles Eltern bereits im ganzen Land suchten und Familienmitglieder zum Schutz  ihre Namen änderten, entschlossen sie sich zur Flucht. Die damals vierjährige Mireille hatten sie bereits mit Verwandten ins benachbarte Angola vorausgeschickt.

Dort angekommen, nahmen die Eltern ihre Tochter wieder in ihre Obhut. Monate harter Arbeit folgten, bis Mireilles Eltern das Geld für Flugtickets beisammen hatten. Sie wollten nach Europa, denn auch in Angola fühlten sie sich nicht sicher. In Europa gelandet, kam die dreiköpfige Familie erst nach längerem Hin und Her zwischen Italien, der Schweiz und Österreich zur Ruhe – als Österreich ihnen schließlich politisches Asyl gewährte. Das war 1984, das Jahr ihres Neuanfangs.

An die Monate der Flucht, der Angst und Ungewissheit kann sich Mireille heute kaum erinnern. Auch vom Wiedersehen mit ihren Eltern in Angola hat sie keine Bilder vor Augen. Dieses Kapitel ihrer eigenen Geschichte kennt sie nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Details zur damaligen Situation in Zaire und der Fluchtgeschichte musste Mireille ihnen aus der Nase ziehen: „Sie haben nie von selbst darüber gesprochen. Am liebsten hätten sie das Thema totgeschwiegen.“

Ob die Eltern die Flucht miteinander in Gesprächen aufgearbeitet haben, weiß sie nicht. „Ich hörte sie jedenfalls nie darüber sprechen“, sagt sie nachdenklich. Sicher ist nur, dass Mireilles Vater unter dem Verlust seines Heimatlandes leidet. Er spielt nach wie vor mit dem Gedanken, seinen Lebensabend im Kongo zu verbringen. Bis heute ist Mireilles Vater ihrer Erzählung nach ein politischer Mensch geblieben: Aus Zaire wurde mit dem Sturz Mobutus 1997 die Demokratische Republik Kongo, ein Bürgerkrieg folgte. Noch immer kriselt es zwischen zahlreichen bewaffneten Gruppierungen im rohstoffreichen Osten des Landes. „Knallt es dort, leidet mein Vater mit“, sagt Mireille, der es ähnlich geht.

Multiple Zugehörigkeiten, unterschiedliche Erfahrungen. Mireilles Großfamilie zu erfassen, ist kompliziert, aber wichtig, um die ganz unterschiedlichen Zugehörigkeitsgefühle innerhalb einer Familie nachzuvollziehen: Ihre Eltern ließen sich scheiden, als Mireille 16 Jahre alt war und bereits drei jüngere Geschwister hatte. Beide heirateten erneut und die Familie Ntwa bekam weiteren  Zuwachs. Die Geschichte ihrer ersten zehn Lebensjahre teilt Mireille aber mit keinem ihrer elf Geschwister. Sie ist die einzige, die die Erfahrung der Flucht gemacht hat. Mireille ist mit einem Abstand von zehn Jahren die Älteste, sie war lange ein Einzelkind. Darin sieht Mireille auch eine mögliche Erklärung dafür, dass sie sich  bei ihrer Identitätssuche so alleine gefühlt hat. Mireilles jüngster Bruder ist sieben Jahre alt und hat mit seinen elf Geschwistern eine Reihe an Vorbildern, an die er sich bei Bedarf halten kann. Mireille fehlte eine derartige Orientierungshilfe, erklärt sie. Trotzdem schöpft sie Kraft aus dem engen Kontakt zu ihrer mittlerweile so großen Patchwork-Familie und findet darin Stabilität und Geborgenheit.  

Die Antworten, die die zahlreichen Geschwister auf die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit finden, klaffen weit auseinander: Drei von Mireilles Geschwistern sehen sich als SchweizerInnen mit österreichischer Staatsbürgerschaft: „Sie sehen das mit der Identität viel lockerer“, sagt Mireille. Die drei wuchsen gemeinsam in einer internationalen Schule in der Schweiz auf, umgeben von einer Vielzahl von Kindern mit Migrationshintergrund und unterschiedlichen Hautfarben, darunter auch SchülerInnen mit kongolesischen Wurzeln. Bräuchen und Traditionen aus dem Kongo wurde in der Kindheit und Jugend der drei ganz nebenbei Rechnung getragen. Ihre Schwester könne deshalb seit jeher etwa viel besser kongolesisch tanzen als sie, erklärt Mireille.  Sie selbst hingegen fühlte sich mit ihrer Migrationsgeschichte immer alleine: „In Österreich war ich mit meiner dunklen Haut oft die Einzige, zum Beispiel in meiner Schulklasse. Das war hier nichts Normales“, erzählt sie.

Woher kommst du wirklich? In Mireilles Erzählung hallt die Erfahrung vieler Kinder von MigrantInnen wider, die immer wieder mit der Frage konfrontiert werden: „Woher kommst du wirklich?“ Die Dokumentarfilmerin Christina Antonakos-Wallace stellte diesbezüglich im Interview mit progress fest: „Wenn diese Frage, woher du ‚wirklich’ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, ‚hier’ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein drittes Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst“.

Mireilles fünf in Wien aufgewachsene Halbgeschwister, zwischen sieben und 17 Jahre alt, vermischten das Kongolesische und das Österreichische ohne Probleme, erzählt Mireille. Ihr soziales Umfeld ist vielfältig und reicht von den Wiener Sängerknaben über die katholisch-kongolesische Community in Wien bis hin zu bunt durchgemischten Freundeskreisen. Im Gegensatz zu ihrer ältesten Schwester sprechen sie perfekt Lingala, eine im Kongo weit verbreitete Sprache. Überhaupt wird dem Kongolesischen in der Erziehung ihrer Geschwister viel mehr Wert beigemessen, meint Mireille. Damit sind neben Essen und Musik auch soziale Netzwerke und bestimmte Wertvorstellungen gemeint. „Meine Eltern haben auf eine übertriebene Art versucht, mich österreichisch zu erziehen. Wir haben Sissi-Filme geschaut, denn sie hielten das für authentisch. Wir fuhren quer durch das ganze Land und erkundeten jeden Winkel, von Bregenz bis Eisenstadt. Lingala sprachen sie nur miteinander, mit mir bloß Deutsch und Französisch. Deshalb auch mein seltsamer Akzent, wenn ich Lingala spreche“, sagt sie.

Generationenkonflikte? Zurück an den Zapfhähnen der Bar antwortet Mireille auf die Frage, ob es in der Großfamilie auch Generationenkonflikte gäbe, wie aus der Pistole geschossen: „Das traditionelle Frauenbild meines Vaters. Seiner Ansicht nach muss eine ‚gute‘ Frau den Haushalt führen. Sie soll gut kongolesisch Kochen können.“ Figurbetonte, enge Kleidung akzeptiere ihr Vater, abendliches Ausgehen und Feiern sei in seinen Augen aber ein absolutes No-Go. Auch für erwachsene Frauen, auch wenn sie schon über 30 sind, erklärt Mireille. Ob er das gutheißt, wenn sie abends arbeitet oder ausgeht, tangiert sie heute aber wenig. „Aus meiner Sicht bin ich seiner Autorität entwachsen“, sagt sie. An Mireilles politischen Aktivitäten und ihrer Studienwahl findet ihr Vater Gefallen.

Ehe Mireille weitereilt, sagt sie noch etwas, das einen staunend zurücklässt. Sie wird bald heiraten. Und zwar, sie zögert kurz: einen Kongolesen, auch er ein angehender Mediziner. „Ich wollte eigentlich nie einen Kongolesen heiraten, und mein zukünftiger Mann dachte auch nicht im Traum daran, eine Kongolesin zur Frau zu nehmen“, sagt Mireille mit einem Lächeln im Gesicht. „Aber wir sind eine perfekte Ergänzung  für einander.“

Mona El Khalaf hat Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität Wien studiert und arbeitet als freie Journalistin.

Mehr als eine

  • 30.09.2012, 21:49

Das Transgender Equality Network Ireland (TENI) tritt für eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Transgender-Personen in Irland ein. progress sprach mit dem TENI-Aktivisten Broden Giambrone über die Herausforderungen einer Bewegung.

Das Transgender Equality Network Ireland (TENI) tritt für eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Transgender-Personen in Irland ein. progress sprach mit dem TENI-Aktivisten Broden Giambrone über die Herausforderungen einer Bewegung.

progress: Der Begriff Transgender wird sehr unterschiedlich verwendet. Was bedeutet Transgender für TENI?

Broden Giambrone: Alle Menschen, deren Geschlechtsidentität von jener abweicht, die ihnen bei ihrer Geburt zugewiesen wurde fallen für uns unter den Begriff Transgender. Konkret: Crossdressing, Transsexualität, Travestie, Gender-Queer oderGender-Fluid  und viele mehr, aber auch Menschen, die sagen, dass sie gar keine Geschlechtsidentität haben.

Wie würdest du die Wahrnehmung von Transgender-Personen in Irland beschreiben?

Diskriminierung von Trans-Personen ist ein großes Problem. Viele Menschen realisieren überhaupt nicht, dass es Trans-Menschen gibt. Ein gutes Beispiel dafür war ein Interview, zu dem ich letztes Jahr von einem der großen Radiosender eingeladen wurde. Nachdem das Interview vorbei war, kam der Moderator zu mir und sagte: „Ich habe ja gar nicht realisiert, dass es mehr als eine Trans-Person in Irland gibt.“ (lacht) Wir kämpfen also in erster Linie mit dieser Unsichtbarkeit. Von dieser Unwissenheit leiten sich viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wie etwa Transphobie, ab. Das Sereotyp ist eine Trans-Frau in ihren Fünfzigern.

Welche Unterstützung können sich Transgender-Personen erwarten, wenn sie zu TENI kommen?

Viele sind arbeitslos oder haben Probleme, das Haus zu verlassen, manche wollen sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen oder sie haben ganz einfach Probleme mit ihren Gefühlen in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität. Die Anfragen reichen vom Wunsch nach einem Kontakt zu Gleichgesinnten, etwa in einer Peer-Support-Group, über das Bedürfnis, anonym mit einem/einer TherapeutIn sprechen zu können, bis hin zu Fragen rund um intraspezifische Gesundheitsversorgung.

Ihr haltet Workshops an Schulen, für Gewerkschaften oder andere Interessierte. Was vermittelt ihr hier?

Wenn wir mit Gruppen aus dem Gewerkschaftsbereich arbeiten, reden wir vor allem über Diskriminierungen am Arbeitsplatz. Da die Gleichbehandlungsgesetze in Irland Trans-Menschen nicht explizit erwähnen, kommt es für sie am Arbeitsplatz immer wieder zu Problemen, wenn es etwa um Mobbing oder Kündigungen geht. Wir bekommen selten die Möglichkeit, in den Schulen Workshops zu  halten, weil das Schulsystem sehr katholisch geprägt ist.

Welche Reaktionen bekommt ihr auf die Workshops?

Die Reaktionen sind meist positiv, aber auch sehr unterschiedlich. Ich würde nicht sagen, dass die irische Gesellschaft inhärent  transphob ist. Oft ist es einfach Unwissenheit. Wenn wir mit Jüngeren sprechen, sind sie zwar meist recht schüchtern, dafür fehlen ihnen viele der Vorurteile die ältere Generationen haben.

Wie funktioniert eure Zusammenarbeit mit der Politik beziehungsweise der Gesetzgeberin als Interessensvertretung?

Wir versuchen in erster Linie Bewusstsein zu schaffen. Wir reden mit den PolitikerInnen über negative Erfahrungen, die Trans-Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen machen müssen, wie etwa den schwierigen Zugang zur Gesundheitsversorgung, Diskriminierung am Arbeitsmarkt oder die hohe Selbstmordrate. Wir bemühen uns auch das Thema positiv zu besetzen. Aber die Politik agiert in diesem Bereich nicht proaktiv. Zum Beispiel ist Irland eines der letzten Länder, in dem man die eigene  Geburtsurkunde immer noch nicht ändern kann. Und das, obwohl ein Gericht bereits 2007 entschieden hat dass eine entsprechende  Änderung möglich sein muss. Wir arbeiten an einem entsprechenden Gesetz, aber der Prozess schreitet sehr langsam voran.

Wie sieht die Situation in Irland in Bezug auf den Zugang zum Gesundheitssystem für Transpersonen aus?

Um in Irland etwa eine Geschlechtsumwandlung oder einfach nur einzelne geschlechtsspezifische Operationen machen zu können, muss man zuerst mit einer sogenannten „Geschlechtsidentitätsstörung“ identifiziert werden. Im staatlichen Gesundheitssystem gibt  es aber nur sehr wenige PsychologInnen oder PsychiaterInnen, die sich damit auskennen oder Erfahrungen mit Trans-Menschen haben. Das führt dazu, dass Menschen in das teure private System wechseln, sofern sie sich das überhaupt leisten können. Es hängt also davon ab, ob man das Geld hat, um sich die entsprechende Gesundheitsversorgung leisten zu können.

Wie  gehen die Menschen damit um, dass sie mit einer Geschlechtsidentitätsstörung identifiziert werden müssen, um Anspruch auf gewisse Leistungen bekommen zu können?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt einige, die sich sehr stark damit identifizieren. Für sie bietet ein „Geschlechtsidentitätsstörung“ eine Erklärung für ihre Gefühle sowie eine Möglichkeit, zu ihren KollegInnen, FreundInnen oder ihrer Familie gehen und sagen zu  können: Schaut ich habe diese Störung, ich kann nichts dafür. Ich denke aber, dass wir uns langsam in eine Richtung entwickeln die diese Diagnose überflüssig macht.

Arbeitet ihr auch mit anderen europäischen oder internationalen Transgender-Organisationen zusammen?

Ja. Derzeit mit verschiedenen europäischen Organisationen gemeinsam an dem Projekt Page One, das sich mit der Sichtbarkeit und Repräsentation von Trans-Menschen in den Medien beschäftigt. Europaweit erleben wir einen sehr ähnlichen Umgang der Medien mit Trans-Themen, entweder sie finden gar keine Beachtung, oder es werden Sensations-Stories gebracht. Ziel des Projekts ist es, mehr Sichtbarkeit und eine positivere Berichterstattung in den Medien zu erreichen. Oft wird in Interviews danach gefragt, ob man  eine Operation hatte oder wie man früher geheißen hat. Unvorbereitet kann es in solchen Situationen passieren, dass man plötzlich  über Sachen spricht, die man gar nicht erzählen wollte. Wir wollen, dass sich Trans-Menschen dabei wohl fühlen, ihre eigene Geschichte so zu erzählen, wie sie es wollen und nicht, wie sie die JournalistInnen oftmals hören wollen.

Wie würdest du die Repräsentation von Trans-Menschen in den Medien generell beschreiben?

Wenn darüber überhaupt berichtet wird, dann fast ausschließlich in Form von Klatsch- und Tratsch- Geschichten. Themen, über die eigentlich berichtet werden sollte, wie Transphobie, Diskriminierungen, Gewaltverbrechen oder die rechtliche Situation, kommen praktisch nicht vor. Die Medien sind mehr daran interessiert, ob du operiert wurdest, oder an Vorher-nachher-Bildern. Unsere Vorsitzende bei TENI, die auch als Lektorin für die Trinity Universität in Dublin arbeitet, musste vor einiger Zeit eine besondersschlimme Erfahrung im Umgang mit den Medien machen. Die irische Sun, eine der größten Boulevard- Zeitungen, die von Millionen Menschen gelesen wird, hat ein Foto von ihr auf dem Cover abgedruckt und getitelt: „Trinity's sex swap proof. Greek Lecturer was a man“. Sie haben sie einfach so geoutet. Auf der Titelseite! Sie hat weder ihr Einverständnis zu einem Interview gegeben, noch dazu, dass ein Foto von ihr gemacht wird und schon gar nicht, dass es abgedruckt wird. Wir waren erschüttert.

Habt ihr geklagt?

Nein, aufgrund einer Reihe von persönlichen Gründen hat sie sich entschieden, keine rechtlichen Schritte einzuleiten.

Irgendwo dazwischen

  • 30.09.2012, 21:20

Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden.

Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden.

„Wann lässt du dich operieren?“ – „Nimmst du Hormone oder so?“ Diese Fragen werden Jolly (siehe Porträt, Anm.), Student_in der  Materialwissenschaften in Jena, häufig gestellt, wenn er_sie mit anderen Personen darüber spricht, dass er_sie trans* ist. Beim Thema Transgender haben die meisten eine Metamorphose von Frau zu Mann oder umgekehrt vor Augen. Trans* beziehungsweise Transgender ist aber ein Überbegriff, den einerseits Menschen verwenden, die sich auch mit Begriffen wie Transsexuelle, FTM (Female to Male) oder MTF (Male to Female) beschreiben und sich damit klar als Mann beziehungsweise Frau identifizieren. 

Andererseits gibt es viele Personen, die sich erst gar nicht in dieses Schema einpassen wollen, und für die eine geschlechtliche „Uneindeutigkeit“ Grundlage ihres trans*-Seins bedeutet. Die Frage, wo Transgender anfängt und aufhört, lässt sich somit nicht eindeutig beantworten. „Trotzdem gibt es eine Gemeinsamkeit, nämlich Geschlechternormen teilweise abzulehnen und sich selbst nicht mit dem Geschlecht zu  identifizieren, das einem nach der Geburt zugeordnet wurde“, sagt Jolly.

Status Quo. In Österreich ist seit einem Urteil des Verwaltungsgerichtshofes aus dem Jahre 2009 der Operationszwang für  Trans*Personen gefallen. Das heißt, dass eine geschlechtsanpassende Operation für eine Personenstandsänderung, durch die das gelebte Geschlecht offiziell anerkannt wird, nicht mehr verpflichtend ist. Diese Änderung muss beim Standesamt des Geburtsortes  beantragt werden. Allerdings lässt der Gesetzestext noch immer Raum für Interpretationen, weshalb bezüglich  Personenstandsänderungen keine Rechtssicherheit besteht. Eine Ablehnung des Ansuchens liegt im Ermessen des oder der jeweiligen BeamtIn. Je nach Bundesland gibt es hier Unterschiede. „Es geht in Wien und in Salzburg relativ problemlos, in Kärnten und der Steiermark gibt es ziemliche Schwierigkeiten“, erklärt Andrea von TransX, einem Verein für Transgender-Personen.

Kranke Klassifikation. Eine weitere Hürde bei der Personenstandsänderung ist für viele Trans*Personen die Forderung nach einem psychiatrischen Gutachten, in dem explizit die Diagnose „Transidentität“ gestellt wird. Laut der WeltgesundheitsorganisationWHO sind Trans*Personen krank. Mann oder Frau, entweder–oder: In unserer Gesellschaft herrscht der Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Menschen, die diese Geschlechtergrenzen überschreiten, stehen dabei nicht nur vor juristischen Hürden. Im Diagnosekatalog ICD (International Classificationof Disease) wird Transsexualität als eine „Persönlichkeits- und Verhaltensstörung“ geführt, wodurch Trans*Personen pathologisiert werden. „Viele Transgender-Personen finden es diskriminierend, dass sie die Krankheitswertigkeit nachweisen müssen. Wenn eine Transgender-Person den Personenstand dem anpassen will, was er_sie empfindet, und dann den ganzen Zinober machen muss, fühlt er_sie sich natürlich nicht gut“, sagt Angela Schwarz von der Wiener Antidiskriminierungsstelle für gleichgeschlechtliche Lebensweisen. Die Pathologisierung garantiert im Moment jedoch, dass beispielsweise genitalanpassende Operationen von der Krankenkasse übernommen werden. „Die Sorge ist, dass, wenn die Einstufung als Krankheit weg ist, medizinische Systeme nicht mehr zahlen wollen“, sagt Schwarz.

Dabei gäbe es durchaus internationale Richtlinien für die Behandlung von Transgender-Personen – die sogenannten Standards Of Care – die von der WPATH, der internationalen Gesellschaft für Transgender Gesundheit, formuliert wurden. Doch anstatt diese anzuerkennen, wird in Österreich eine Kommission eingesetzt, die eigene Empfehlungen entwickelt.

Recht auf freie Namenswahl. Ein weiterer Missstand in Österreich ist, dass es derzeit nicht möglich ist, einen Vornamen zu wählen, der dem staatlich zugewiesenen Geschlecht widerspricht. Im Bundesgesetzblatt Nummer 195/1988 steht in Paragraph drei  geschrieben, dass die Änderung des Vornamens nicht bewilligt werden darf, wenn dieser „nicht dem Geschlecht des Antragsstellers entspricht“. Bisher können Menschen, die in einem anderen Geschlecht leben wollen als dem, das ihnen bei der Geburt zugewiesen worden ist, ihren Vornamen folglich erst dann offiziell tragen, wenn eine Personenstandsänderung bewilligt worden ist. Dafür brauchen sie aber jenes psychiatrische Gutachten, das ihnen eine psychische Störung bescheinigt. Damit werden Menschen für krank erklärt, obwohl diese weder den Wunsch noch Bedarf nach medizinischer Behandlung haben. „Das ist vor allem für die Personen eine Hürde, die gerade damit beginnen, im anderen Geschlecht zu leben“, sagt Heike Keusch vom Vorstand des Vereins TransX. Daher fordert TransX das Recht auf freie Namenswahl. Das heißt, dass die Geschlechtszugehörigkeit beim Namen nicht mehr zwingend sein soll. Bislang stelle sich die Politik in dieser Causa aber völlig quer.

Zwar können die Personen für sich selbst – etwa im Alltag – ihren Namen wechseln, aber bei offiziellen Angelegenheiten bleibt der unpassende Name bestehen. Eine Option für eine Namensänderung ist im Moment die Wahl eines geschlechtsneutralen Vornamens. Das kostet in etwa 500 Euro, die sich nicht jedeR leisten kann. Aus verschiedenen Gründen kann diese Gebühr erlassen werden. „Ein weiterer Grund für einen Erlass wäre für uns, dass eine Transgender- Person einen geschlechtsneutralen Vornamen haben will“, erklärt Schwarz.

Ähnliche Situation. In Deutschland ist eine Namensänderung nur nach einer einjährigen Psychotherapie und der Vorweisung von zwei verschiedenen Gutachten möglich. Ein Preis, den Jolly nicht bezahlen will, auch wenn er_sie gerne den im Pass eingetragenen Namen ändern möchte: „Wenn sich die Regelung nicht verbessert, dann würde ich lieber darauf verzichten und den schmalen Grat  dazwischen für mich selbst finden, als dieses Prozedere über mich ergehen zu lassen. Dabei geht’s für mich auch ums Prinzip und die Anerkennung, dass es so, wie es jetzt ist, gar nicht geht.“ Progressiver ist da Argentinien: Dort wurde vor kurzem ein  fortschrittliches Transgender-Gesetz  verabschiedet, mit dem eine Namensänderung und Geschlechtseintragung in Dokumenten nur mehr  einen Gang zum Amt braucht. Für Jolly ist das eine klare Lebensverbesserung. Trotzdem stellt er_sie klar: „Solange die gesellschaftliche Akzeptanz nicht da ist, sind alle gesetzlichen Regelungen nur halb so viel wert.“

Coming-Out. Laut Andrea haben sich die Reaktionen auf Coming-Outs im familiären Umfeld in den vergangenen Jahren verbessert, weil die Leute besser aufgeklärt seien: „Dass die Eltern und Verwandten in der Regel nicht glücklich sind, ist klar. Die ganz großen Katastrophen habe ich in den letzten Jahren aber nicht mehr erlebt.“ Dass es für Familienangehörige dennoch oft schwierig ist, mit der Situation umzugehen, hat auch Jackie erlebt. Er*sie schreibt in Wien derzeit an ihrer*seiner Masterarbeit
und ist in einer katholisch geprägten Familie aufgewachsen, die eine sehr konservative Vergangenheit hat: „Meine doch eher aufgeschlossene Mutter meinte, ich solle mit meiner Identität nicht hausieren gehen und dass meine Großeltern ‚das’ nichtverkraften würden. Und weil ich meine Mutter mag, hab ich das dann im Dorf nicht so rumerzählt, weil sie im Endeffekt diejenige ist, die dem Dorf dann ausgesetzt ist und nicht ich.“ „Die Leute fallen nicht mehr in Ohnmacht, wenn sie Transen sehen“, sagt Andrea, die bei TransX in der Beratung tätig ist und lacht.

Offene Diskriminierung würde es in unserer Gesellschaft kaum mehr geben – unterschwellig jedoch sehr wohl. Das bekommen viele Trans*Personen vor allem im Berufsleben zu spüren. „Ich habe in der Firma getransed und dann nicht mehr Fuß fassen können und  bin dann fünf Jahre lang herumgeschoben worden, bis ich aufgegeben habe“, erzählt Andrea. Rund 50 Prozent können laut Heike  Keusch ihren Job behalten. „Das geht aber oft mit viel Bauchweh und anderen Geschichten einher“, sagt sie. Laut Schwarz sind Bildung und Aufklärung in diesem Zusammenhang wesentliche Aufträge. Die Haltung „Ich verstehe nicht, warum dieser Mann plötzlich eine Frau sein will, und weil ich es nicht verstehe, kann ich darüber stänkern“ ist ihrer Meinung nach sehr wohl noch  verbreitet. Auch Jolly stößt auf der Uni des Öfteren auf diese Art von Unverständnis: „Das Problem beispielsweise bei meinen Kommiliton_innen ist, dass ich versucht habe, Gespräche zu führen und von ihnen keine Bereitschaft da war, auch nur ansatzweise darüber zu reden“, erzählt er_sie.

Verfolgung. Als großes Thema in Zusammenhang mit Transgender sehen Keusch und Andrea in Zukunft die Betreuung von Trans*Personen, die in Österreich um Asyl ansuchen, weil sie in ihrer Heimat aufgrund ihrer Transsexualität verfolgt werden. Ein bekannter Fall ist jener von Yasar Öztürk, die in der Türkei von der Polizei misshandelt wurde. Ihre Abschiebung konnte zwar verhindert werden, ein positiver Asylbescheid fehlt aber bis heute. „Dabei geht es nicht nur darum, dass diese Leute Asylstatus bekommen, sondern dass diese Leute, wenn sie in der Grundversorgung sind, in Wien leben können, da sie in Flüchtlingsheimen außerhalb ebenfalls mit Diskriminierung zu kämpfen haben“, erklärt Schwarz.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Viele Trans*Personen sehen sich nicht als strikt männlich oder weiblich, sondern bewegen sich in einem Feld dazwischen. „Zweigeschlechtlichkeit an sich ist kein großartiges Konzept“, sagt Jolly. „Für mich bedeutet Trans*, dass ich mich selbst nicht als eines der beiden von der Gesellschaft vorgegebenen Geschlechter definieren möchte.“ So von anderen Menschen wahrgenommen zu werden, gestalte sich aber auch als schwierig, weil die Möglichkeit, weder als „Frau“ noch als „Mann“ verstanden zu werden, in deren Köpfen gar nicht existiere. „Die Leute tun sich leichter, wenn sie andere in zwei Schachteln einordnen können. Wenn es in die Bandbreite der Identitäten geht, wird es schwierig“, sagt Schwarz. „Dass für manche die Zuordnung zu einem Geschlecht unerträglich ist, ist zu akzeptieren. Wie man das jetzt im Detail umsetzen kann, weiß ich aber  nicht“, fährt sie fort. Die kritische Frage, in welchen offiziellen Papieren das Geschlecht überhaupt aufscheinen muss, stellt Schwarz ebenso wie Jolly.

Dennoch hält Schwarz es für unwahrscheinlich, dass es im westeuropäischen Rechtssystem etwas anderes als Mann und Frau geben  wird. „Geschlechtsidentitäten völlig auszuheben, wäre ein bisschen wie das Kind mit dem Bade auszuschütten, weil es im  negativen Sinne Diskriminierung auf Basis des Geschlechts gibt. Diese wäre dann nicht mehr feststellbar. Außerdem ist Geschlecht für viele schon auch ein Teil der Identität. Es wäre nicht in Ordnung, das als null und nichtig wegzuwischen.“ Abseits der  Forderungen nach rechtlicher Gleichstellung, freier Personenstandsänderung und freier Wahl des Vornamens geht es bei der  Verbesserung der Lebensrealitäten von Trans*Personen auch um eine gesellschaftliche Veränderung. Die Geschlechtsidentitäten von  Personen als ihre eigene Wahl zu akzeptieren und anzuerkennen, sei dabei der erste Schritt, meint auch Jolly: „Das Wichtigste ist, dass sich Leute darauf einlassen können. Dass sie Identitäten auch mal akzeptieren, auch wenn sie diese gerade nicht  nachvollziehen können. Dass sie beispielsweise gewünschte Pronomen verwenden und versuchen, den anderen Namen zu verwenden und darin zu denken.“

* Die Verwendung von Personalpronomen in unterschiedlichen Schreibweisen entspricht den Selbstbezeichnungen der Interviewten.

Info: Jeden zweiten und vierten Donnerstag wird von 20:00 bis 22:00 Uhr von TransX persönliche Beratung in der Rosa Lila Villa angeboten. Nähere Informationen gibt es unter www.transx.at.

Identitätsfindung oder Kinderspiel?

  • 27.09.2012, 02:34

Ein 10jähriges Mädchen, das sich vor ihren neuen FreundInnen als Junge ausgibt. Ein nicht unbedingt brandneues Thema, das der von Filmfestivals hoch gelobte Film Tomboy mit der jungen Zoé Heran in der Hauptrolle, aufnimmt. Vivian Bausch sprach mit der Regisseurin Céline Sciamma bei der diesjährigen Viennale.

Ein 10jähriges Mädchen, das sich vor ihren neuen FreundInnen als Junge ausgibt. Ein nicht unbedingt brandneues Thema, das der von Filmfestivals hoch gelobte Film Tomboy mit der jungen Zoé Heran in der Hauptrolle, aufnimmt. Vivian Bausch sprach mit der Regisseurin Céline Sciamma bei der diesjährigen Viennale.

Der Film handelt von der 10jährigen Laure, die sich aus einem Spiel heraus als Junge ausgibt und sich den Kindern ihrer neuen NachbarInnenschaft als Mikaël vorstellt. Einen Sommer lang passt sie sich ihrer neuen Rolle immer besser an und wird auch von ihren FreundInnen als Mikaël akzeptiert. Bei ihrer Freundin Lisa beginnt diese Fassade allerdings zu bröckeln, denn die beiden kommen einander zunehmend näher. Nur ihrer kleinen Schwester Jeanne vertraut Laure sich an. Zunehmend schwieriger gestaltet es sich im Laufe der Zeit allerdings diese neue Identiät aufrecht zu erhalten, bis durch die Entdeckung des Lügenspiels durch ihre Mutter schließlich ein Familendrama ausbricht. Vivian Bausch sprach bei der Viennale mit der Regisseurin Céline Sciamma.

PROGRESS: Wie war deine Reaktion, als du erfahren hast, dass mehrere KritikerInnen in Tomboy die Behandlung eines „psychologischen Phänomens“ sehen?
Céline Sciamma: Ich habe einige Interpretationen von ZuschauerInnen wahrgenommen und bin auf ein paar widersprüchliche Analysen meines Films gestoßen. Es ist natürlich richtig, dass ich mir mit der psychologischen Frage schwer tue. Der Film gibt keine psychologische Antwort beziehungsweise Analyse der Hauptcharaktere wieder. Er erklärt nicht wirklich, wieso Laure sich als Junge ausgibt. Natürlich kann man aber gesellschaftspolitische Aspekte rauslesen.

Was hat dich inspiriert dieses Projekt zu starten und wie hast du die Idee schließlich filmisch verarbeitet?
Im Prinzip habe ich Geschichten über ein kleines Mädchen, das sich als Junge ausgibt, gelesen. Ich wollte nicht nur einen Film über Kinder drehen. Darüber hinaus haben mich Thematiken wie die Schwierigkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen, die Identitätsfrage und das Lügenspiel besonders inspiriert. Im Allgemeinen hat mich einfach diese Spannung der Themen extrem gereizt, da sich all diese Schwierigkeiten vernetzt in einer Geschichte zu einem schönen Ganzen weben lassen.

Wieso hast du dich für den Titel „Tomboy“ entschieden?
Tomboy weist vordergründig auf die Rolle von Mädchen in der Gesellschaft hin, auf das Phänomen, dass Jungs und Mädchen unterschiedlich erzogen werden und einen anderen Zugang zur Öffentlichkeit haben. Ich meine, natürlich gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen, aber wir sollten dieses typische Muster von Vorurteilen gegenüber dem einen oder dem anderen Geschlecht tiefgründig hinterfragen.

Was wird man in Zukunft von dir sehen?
Zukünftig würde ich gerne eher Fernsehprojekte starten. Ich möchte mich in nächster Zeit auf die Produktion von Serien konzentrieren, da ich mich gerne länger mit spezifischen Charakteren beschäftigen möchte, um diese ausbauen und individualisieren zu können.