Griechenland

„Es muss ein Umdenken stattfinden“

  • 20.06.2017, 21:36
Während auf Athens Straßen gegen das neue Sparpaket demonstriert wird, sitze ich mit Syriza-Vorstandsmitglied Giorgos Chondors auf der Terrasse des Parteibüros. Ein Gespräch über linkes Regieren, Solidarität und die Zukunft Griechenlands.

Während auf Athens Straßen gegen das neue Sparpaket demonstriert wird, sitze ich mit Syriza-Vorstandsmitglied Giorgos Chondors auf der Terrasse des Parteibüros. Ein Gespräch über linkes Regieren, Solidarität und die Zukunft Griechenlands.

progress: Nachdem es Alexis Tsipras entgegen seiner anfänglichen Versprechen nicht gelungen ist, sich gegen die Sparpolitik durchzusetzen, haben nicht nur Griech*innen die Hoffnung auf eine menschlichere Politik verloren. Auf europäischer Ebene spricht man von einem Scheitern der Linken. Denken Sie, ist es überhaupt möglich, im Rahmen der EU „links“ zu regieren?
Giorgos Chondors:
Ich würde nicht sagen, dass es unmöglich ist. Denn dann müsste ich auch denken, dass es keinen Sinn macht, dass es linke Parteien überhaupt gibt. Wir mussten aber auch feststellen, dass die Regierung zu übernehmen nicht heißt, die Macht zu haben. Wir wissen jetzt, was möglich ist und was nicht. Die Kräfteverhältnisse in der EU sind total ungünstig, was unsere Politik betrifft, und weil sich dieses Kräfteverhältnis ständig nach rechts verschiebt, wird es noch ungünstiger.

Wenn man sich die Programme ansieht, wird schnell klar, dass die Sparpolitik von Anfang an der falsche Weg war und immer noch ist. Die Argumentation der Gläubiger, durch Einsparungen die Krise zu bewältigen, gilt längst in weiten Kreisen als überholt. Selbst der IWF und die Wirtschaftsminister der europäischen Kommission haben in einer Studie die Fehler der Austeritätspolitik eingestanden. Es ist ganz einfach: Wenn du die Kaufkraft kürzt, leidet die Wirtschaft. Gerade in Griechenland, wo sich diese in erster Linie auf den Binnenmarkt beschränkt, hat sich das bestätigt.

Deshalb hat all das weder mit wirtschaftlichen noch fiskalischen, sondern politischen Überlegungen zu tun. Das Ziel ist, das linke Projekt aus der Welt zu schaffen, indem man seinen Kontakt zu gewissen Bevölkerungsgruppen sozusagen abschneidet. Das heißt, unter der Politik dieser Regierung müssen vor allem jene Bevölkerungsgruppen leiden, die guten Bezug zu Syriza haben. Das ist die Überlegung dahinter.

Die deutliche Mehrheit der Griech*innen hat sich bei dem Referendum im Jahr 2015 gegen die Sparmaßnahmen der Gläubiger ausgesprochen. Wenige Tage später wurde – unter der Drohung des Grexits – einem weiteren Sparprogramm zugestimmt. Seitdem hat sich die soziale Krise weiterhin verschärft. Angesichts dieser humanitären Katastrophe, wäre es nicht sinnvoller gewesen, aus dem Euro auszutreten?
Der größte Teil der griechischen Bevölkerung, der mit „Oxi“ stimmte, hat damit noch lange nicht gemeint, aus dem Euro auszutreten. Das wissen wir nicht nur aus Umfragen, sondern auch aus den Wahlen. Jene Parteien, die für den Euro-Austritt plädierten, bekamen nicht einmal ein Prozent. Dafür gab es also keine Mehrheit.

Zudem bedeutet ein Euro-Austritt noch lange nicht, dass man die Schulden loswird. Faktisch wären die Schulden noch höher, da man sie in einer abgewerteten Währung zurückzahlen müsste. Ein ungeordneter Grexit hätte wahrscheinlich eine noch größere soziale Katastrophe mit sich gezogen. Aber die eigentliche Erpressung war nicht der Grexit, sondern dass der Euro-Austritt mit dem totalen Verlust der Bankeinlagen einhergegangen wäre. Über 85 Prozent der griechischen Konten hatten weniger als 2.000 Euro Einlage. Man kann sich vorstellen, welche Menschen dieser Schritt am härtesten getroffen hätte. Das Ausmaß der sozialen Katastrophe wäre kaum vorstellbar. Das könnten wir nicht verantworten. Für Griechenland ist der Euro-Austritt keine ideologische oder politische Diskussion, sondern eine rein pragmatische. Eine linke Regierung, die dafür da ist, die untere Schicht zu unterstützen, hat eine größere Verantwortung.

Neben den tragischen sozialen Auswirkungen der Sparpolitik birgt die Krise auch Momente der Solidarität. Menschen, die selbst von den Einschnitten betroffen sind, schaffen es, Tag für Tag zu helfen. Selbstorganisierte Flüchtlingsheime, Suppenküchen oder Solidaritätskliniken sind Ausdruck davon. Kann man von einem Wertewandel im Zuge der Krise sprechen?
Es ist eine großartige Erfahrung, wie sich eine Bevölkerung selbst organisieren kann, um einerseits Widerstand zu leisten und sich andererseits materiell zu unterstützen. Es geht dabei nicht nur um das Lindern von Not in einer Krisensituation. Diese Solidaritätsstrukturen eröffnen ebenso ein neues soziales Denken, was in gewisser Weise auch mit einem Wertewandel einhergeht. Dieses Modell ist ein alternativer Vorschlag für eine solidarische Gesellschaft. Eines muss man sich allerdings auch eingestehen: Man kann den Kapitalismus nicht mit der solidarischen Ökonomie ersetzen.

Falls es eine Zukunftsvision für Griechenland gibt, hat solidarische Ökonomie Platz darin?
Zukunftsvisionen für Griechenland kann es in absehbarer Zeit nur dann geben, wenn es die Kräfteverhältnisse zulassen. Auf europäischer Ebene muss ein Umdenken stattfinden. Dazu gehört, dass die Vormundschaft endlich aufhört. Sollte dies passieren, ist die Implementierung der solidarischen Ökonomie in den wirtschaftlichen Wiederaufbau vorgesehen. Dazu versucht die Regierung, die Erfahrungen der verschiedenen solidarischen Initiativen – von den Solidaritätskliniken bis hin zu landwirtschaftlichen Kooperativen – zu institutionalisieren. Es geht darum, die Idee der solidarischen Ökonomie zu verbreiten, Projekte zu vernetzen und zu unterstützen. Auf diesem Gebiet passiert zurzeit sehr viel. Ziel ist es, einen sozialen und demokratischen Weg aus der Krise zu finden. Solange die Programme allerdings noch laufen, ist es sehr schwer, eigenständige Politik zu machen.

Lisa Edelbacher hat Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien studiert und arbeitet nun als freie Journalistin.

Alles für Alle?

  • 05.11.2015, 14:10

In den letzten Jahren ist als Gegenentwurf zum neoliberalen Wirtschaftssystem eine dynamische und globale Commons-Bewegung entstanden. Im Mai fand das bereits dritte Commons Fest statt – nicht zufällig im von der Wirtschaftskrise schwer getroffenen Athen.

 

Gegen Ende des 20. Jahrhunderts entstanden globalisierungskritische Bewegungen, die hauptsächlich bessere Regulierung und Umverteilung durch den Staat forderten. Über eine Dekade und eine Weltwirtschaftskrise später stellen sich viele Aktivist_innen die Frage, ob nationale Regierungen tatsächlich die richtigen Ansprechpartner_innen sind. Zunehmend versucht man, bestimmte Ressourcen der Kontrolle durch Staat und Markt zu entziehen und der Allgemeinheit zugänglich zu machen.
 

COMMONS – WAS IST DAS ÜBERHAUPT? Fast jeder nutzt Commons bzw. Gemeingüter, häufig ohne sich dieser Tatsache überhaupt bewusst zu sein. Das wohl bekannteste Beispiel dafür ist Wikipedia – ein gemeinsam geschaffenes und kostenfrei nutzbares Onlinelexikon. Digitale Commons wie Wikipedia haben gegenüber anderen Ressourcen einen entscheidenden Vorteil: sie werden durch die Nutzung nicht weniger. Wissen ist die vielleicht einzige Ressource, die sich durch ihre Verwendung sogar vermehrt. Eine Quelle ohne Beschränkungen – was für die einen wie ein Idealzustand wirkt, sorgt in anderen Kreisen für Irritationen. Mit frei zugänglichen und kostenlosen Ressourcen lässt sich auf einem kapitalistischen Markt nämlich kein Gewinn machen, erst durch eine künstliche Verknappung lässt sich Profit erwirtschaften. In der digitalen Welt bedeutet das künstliche Beschränkungen wie Kopierschutz oder Patente.
Foto: Dieter Diskovic

Gemeingüter sind natürlich wesentlich älter als Wikipedia, Linux oder Open Office. Über weite Strecken der Menschheitsgeschichte war Privateigentum ein unbekanntes Konzept, die gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen war eher die Norm als die Ausnahme. Die Entstehung des Kapitalismus in England ist eng mit der Enteignung von gemeinschaftlich genutztem Land verbunden. Dabei wurden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: einerseits wurde den Bauern und Bäuerinnen die Existenzgrundlage entzogen, worauf sich viele als Lohnarbeiter_innen in den gerade entstandenen Fabriken verdingten. Andererseits waren die Commons ein Quell von Widerstand und Rebellion und darum den Mächtigen stets ein Dorn im Auge. Der Kampf um das Zur-Ware-machen von nicht dem Markt unterworfenen Bereichen hält bis heute an. Gegenwärtig gibt es kaum etwas, das man nicht mit Geld erwerben könnte: Wasser, Arbeit, Geld, Boden und Bildung, ja sogar Luft (mittels Emissionsrechtehandel) oder Leben (mittels Genpatentierungen) unterliegen dem kapitalistischen Profitstreben. Doch auch die Commoners entwickelten unterschiedliche Praktiken: von Volxküchen, Kostnixläden und Hausbesetzungen über solidarische Landwirtschaft und digitale Commons bis hin zu bewaffneten Kämpfen wie den der Zapatistas in Mexiko.
 

VERNETZUNG DES WIDERSTANDES. Das Ziel des Commons Festes, das vom 15. bis zum 17. Mai in Athen stattfand, war die Verbindung und Vernetzung dieser verschiedenen Ansätze. Auf dem (recht männlich dominierten) Programm standen Vorträge und Diskussionen über die selbstverwaltete Fabrik VIOME, die Alternativwährung Koino, Do-It-Yourself-Energieversorgung und solidarische Landwirtschaft ebenso wie Workshops über freie Soft- und Hardware. Diese Themenvielfalt spiegelt wieder, dass es sich nicht um eine homogene Bewegung handelt, sondern um ein Mosaik an Ideen, Weltanschauungen und Zielen.

Ein allgegenwärtiges Thema war der Umgang mit Staat und Markt. Commons können sich kaum komplett aus dem kapitalistischen System lösen. Ein Beispiel: digitale Commons sind vom Zugang zu Computern und Internet abhängig. Während eine Seite den Kontakt zu Staat und Markt auf ein absolutes Minimum reduzieren will, hält die andere eine gewisse Zusammenarbeit für überlebenswichtig. Peni Travlou, die einen Vortrag über feministische Ansätze des Commoning hielt, sieht eine Kooperation kritisch: „Der neoliberale Kapitalismus hat eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit, er kann sich verändern und neue Ideen absorbieren. Das hat man bei der Sharing Economy bemerkt. Was als antikapitalistische Praxis begonnen hat, ist nun zu Airbnb und Uber geworden und damit selbst Teil des Kapitalismus.“ Außerdem besteht gerade in Krisenzeiten die Gefahr, dass staatliche Aufgaben wie die Gesundheitsversorgung auf selbstorganisierte Initiativen abgewälzt werden. An das Potential von Commoning glaubt sie dennoch: „Wir müssen uns Schritt für Schritt weiterentwickeln. Revolutionen sind in der Regel gescheitert. Commoning ist ein langsamerer Prozess, aber er hat das Potential, den Kapitalismus von innen aufzubrechen.“

Foto: Dieter Diskovic

Stavros Stavrides, Architekt und sowohl Praktiker als auch Theoretiker der Commons-Bewegung, hält das Warten auf die Revolution für ein quasi-religiöses Konzept. Das Neue soll vielmehr schon jetzt, in der Hülle des alten Systems, entstehen und dieses schließlich ablösen. „Aber Commons sind nicht per se antikapitalistisch. Eine Gated Community, wo sich die Reichen von der Außenwelt abgrenzen, könnte man auch als Common bezeichnen. Deshalb müssen Commons immer offen bleiben. Wenn sie sich vor der Außenwelt abschließen, dann sterben sie – egal wie egalitär sie nach innen sind.“ Das ist in der Praxis nicht immer leicht. Stavrides selbst war bei der Besetzung und Schaffung des Navarino Parks in Athen beteiligt. Bewohner_innen des Stadtviertels Exarchia waren 2009 dem Bau einer Tiefgarage zuvorgekommen und hatten an der geplanten Baustelle selbstorganisiert einen neuen Park geschaffen. „In den Versammlungen gab es viele Konflikte. Die einen wollten den Park zu einer alternativen Festung machen, die anderen wollten einen öffentlichen Raum schaffen, der für Alle zugänglich ist. Glücklicherweise hat sich die zweite Seite durchgesetzt. So ein selbstorganisierter Freiraum hat natürlich wieder andere Probleme. Man muss sich an ungeschriebene Regeln halten, man kann z.B. nicht einfach seine leeren Bierdosen auf den Kinderspielplatz werfen. Das klingt wie ein banales Problem, aber es steht stellvertretend für viele größere Probleme, die es beim Commoning gibt.“

In der Idealform würden Commons Privateigentum, Knappheit, Lohnarbeit, Wettbewerb und Markt ersetzen. In der Realität steht die moderne Praxis des Commoning noch am Anfang ihrer Entwicklung und hat mit zahlreichen Problemen zu kämpfen. Auf der einen Seite versorgt sie das Kapital mit kostenlosen Ressourcen, auf der anderen Seite schaffen sie Freiräume, in denen Widerstand, Alternativen und neue Ideen entwickelt werden können.


Eine gelungene Einführung zum Thema:
Andreas Exner, Brigitte Kratzwald: „Solidarische Ökonomie & Commons“
Mandelbaum-Verlag, 120 Seiten
10 Euro

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Die Fabrik ohne Bosse

  • 23.04.2015, 11:55

Eine Fabrik, die von ArbeiterInnen verwaltet wird – kann das überhaupt funktionieren? Im griechischen Thessaloniki trat man 2009 den Beweis an.

Eine Fabrik, die von ArbeiterInnen verwaltet wird – kann das überhaupt funktionieren? Im griechischen Thessaloniki trat man 2009 den Beweis an.

Mai letzten Jahres am Stadtrand von Thessaloniki: Wir stehen vor dem Eisentor der Fabrik VIOME, klopfen und rufen, um uns bemerkbar zu machen. Wir wollen diesen selbstverwalteten Betrieb, der es bereits zu lokaler Berühmtheit gebracht hat, mit eigenen Augen sehen. Nach einigen Minuten öffnet uns der 47-jährige Alexandros Siderides und bittet uns hinein. BesucherInnen sind hier erwünscht, man sucht ganz bewusst Aufmerksamkeit und Unterstützung. Alexandros führt uns durch die Fabrik, beantwortet geduldig unsere Fragen.

UNGEORDNETER RÜCKZUG. Die Fabrik produzierte seit 1981 Chemikalien für den Bau und war 18 Jahre lang ein profitables Unternehmen. Als jedoch 2009 die Mutterfirma Filgeram-Johnson Pleite ging, sollte auch VIOME geschlossen werden. Die Fabriksleitung entschied sich für den ungeordneten Rückzug: Sie tauchte unter, ließ die ausstehenden Löhne unbezahlt, aber auch die Maschinen an ihrem Platz. Nach dem ersten Schockmoment trafen 24 der 70 ArbeiterInnen die folgenreiche Entscheidung, auf eigene Faust weiter zu produzieren. Die Alternativen hätten bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation Griechenlands wohl Langzeitarbeitslosigkeit und Verarmung geheißen. Stattdessen begann man die komplette Produktion an die eigenen Möglichkeiten anzupassen: „Statt Baumaterialien stellen wir nun pflanzliche Reinigungsprodukte her. Das Ausgangsmaterial ist günstig: Wir verwenden Olivenöl, das für den Verzehr nicht gut genug ist. Für die Produktion von Seife ist es jedoch perfekt geeignet. Auch die vorhandenen Maschinen waren für diese Art der Produktion brauchbar.“   

Seifenproduktion <br> Foto: Dieter Diskovic

SOLIDARITÄT. Rechtlich bewegt man sich dabei auf heiklem Terrain. Dass die Fabrik nicht sofort geräumt wurde, ist wohl auch der großen Solidaritätsbewegung zu verdanken: „Um ehrlich zu sein, hatten wir anfangs nicht viel Ahnung von Politik, Sozialismus oder Anarchismus. Darum waren wir von der riesigen Solidarität überrascht. Die Menschen kamen und brachten alle möglichen Dinge, um die Fabrik zu unterstützen.“ Konzerte wurden für VIOME  organisiert, eine Protestkarawane zog durch Griechenland, um sich für die Legalisierung der Fabrik einzusetzen. „Die Solidarität hat VIOME am Leben gehalten. Sie kam aus Griechenland und ganz Europa und half uns auf vielfältige Weise: wirtschaftlich, materiell und psychologisch.” Die hergestellten Produkte konnten anfangs nur auf informellen Wegen, vor allem über besetzte Häuser und soziale Zentren, verkauft werden. Finanziell war man dadurch in einer permanent prekären Lage. Ohne die Unterstützung ihrer Familien hätten viele der ArbeiterInnen wohl nicht durchhalten können. Alexandros: „Es war nicht leicht, meine Familie von meinem Vorhaben zu überzeugen. Sie hielten es nicht für möglich, dass eine Fabrik ohne Bosse funktionieren kann – schließlich ist es jeder gewohnt, immer mit einem Boss über sich zu arbeiten. Ich habe ihnen dann eine Dokumentation über FaSinPat gezeigt. Das ist eine argentinische Fabrik, die seit 2001 selbstverwaltet funktioniert. Damit habe ich sie schließlich überzeugt“.

Bereut hat Alexandros seine Entscheidung nie – die Selbstbestimmung ist für ihn jede Anstrengung wert: „Früher hatten wir eine Art Zuhälter, der über uns bestimmt hat. Man wurde schlecht bezahlt und hat sich wie ein Sklave gefühlt. Das hat sich komplett geändert. Wir treffen unsere Entscheidungen nun gemeinsam in Versammlungen. Jeder und jede bekommt bei VIOME das gleiche Gehalt, egal ob du putzt, als Wache oder an den Maschinen arbeitest. Außerdem rotieren die Positionen: Heute bin ich Security, morgen Fabriksarbeiter.“

Alexandros Siderides Foto: Dieter Diskovic

LEGALIZE IT! Um VIOME finanziell über Wasser zu halten, war es essentiell, die Produkte zu legalisieren, denn der Verkauf über informelle Wege konnte die Kosten kaum decken. Aus diesem Grund wurde VIOME als Sozialkooperative angemeldet. Damit hat der Betrieb erstmals einen legalen Status und darf seine Produkte offiziell verkaufen. Trotzdem hält man sich von Großvertrieben fern und sucht die Nähe zu kleinen und solidarischen KooperationspartnerInnen: „Wir brauchen unsere eigenen Produktions- und Distributionsmethoden. Das Big Business interessiert uns nicht. Stattdessen wollen wir mit Kleinstunternehmen und alternativen Netzwerken zusammenarbeiten.“ Bewusst versucht man auch, die Preise für die Waren niedrig zu halten: „Unsere Produkte sind sehr günstig. Aber durch die Krise können sich viele Menschen nicht einmal eine Seife um einen Euro leisten. Wir sind deshalb auch von den Exporten abhängig.” Erst seit kurzem – seit der Legalisierung – exportiert VIOME seine rein pflanzlichen und basisdemokratisch produzierten Produkte auch ins Ausland.

Einer sicheren Zukunft schaut VIOME damit allerdings noch nicht entgegen. Die ursprünglichen EigentümerInnen versuchen nun, die Rückgabe der Fabrik und der Maschinen gerichtlich durchzusetzen. VIOME argumentiert, dass die Fabrik immer Gewinn gemacht hat und der Bankrott im Jahre 2009 auf Fehler der EigentümerInnen zurückging. Ein derartiger Prozess ist ein erstmaliger Fall in Griechenland, der Ausgang offen. Ob die neue linksgerichtete Regierung Rückenwind für die Fabrik ohne Bosse bringt, ist noch unklar. Die Solidaritätskarawane der Anfangszeit hat sich bereits wieder formiert. Die ArbeiterInnen von VIOME wollen unabhängig vom Gerichtsurteil in der Fabrik bleiben, denn „die Produktion hält nicht nur die Fabrik am Laufen, sondern sie ermöglicht es uns und unseren Familien, physisch und psychisch durchzuhalten. Sie hilft uns, lebendig zu bleiben, unsere Würde zu behalten und negative Auswirkungen der Langzeitarbeitslosigkeit wie Angst, das Gefühl der Nutzlosigkeit und Depression zu vermeiden.“

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

„Es ist ein bisschen ein Theater“

  • 23.03.2015, 21:21

In der griechischen Hochschulpolitik haben schon viele spätere ParlamentarierInnen ihre Krallen geschärft. Die Studierendenvertretung hat dabei bemerkenswerte Mitsprachemöglichkeiten bei zentralen universitären Themen.

In der griechischen Hochschulpolitik haben schon viele spätere ParlamentarierInnen ihre Krallen geschärft. Die Studierendenvertretung hat dabei bemerkenswerte Mitsprachemöglichkeiten bei zentralen universitären Themen.

Beim Betreten einer griechischen Universität springt sofort die ausgeprägte Politisierung ins Auge: Man findet sich in einem bunten Gewirr aus politischen Plakaten, Transparenten und Graffitis wieder. Im Frühling ist dieses Szenario sogar noch ein wenig auffallender, denn zu dieser Zeit findet der Wahlkampf für die jährlichen Studierendenvertretungswahlen statt. Von fast allen im Parlament vertretenen Fraktionen gibt es Studierendenorganisationen, hinzu kommen unzählige Splitter- und Kleingruppen. An jedem Institut wählen die Studis ihre eigene Interessensvertretung, welche wiederum Teil einer gesamtgriechischen Studierendenunion ist, wobei die Mitgliedschaft in dieser im Gegensatz zu Österreich freiwillig ist.

AUSZÄHLUNG IM AUDIMAX. Im Kampf um die Stimmen kommen verschiedene Strategien zum Einsatz. Giorgos Kokkinis, früher in einer Syriza-nahen Liste an der Universität von Thessaloniki engagiert, erzählt: „Es gibt an jeder Uni permanente Beratungsstände der Fraktionen, dort erledigt man für die Erstsemestrigen den ganzen Papierkram. Nebenbei lädt man die Leute zum nächsten Plenum ein und versucht sie für die politische Sache zu gewinnen.“ Außerdem werden Lernhilfen, Konzerte und Partys organisiert oder man greift zu weniger subtilen Methoden wie Megafon und Wahlplakat.

Ist die Wahl geschlagen, findet die Stimmenauszählung öffentlich im größten Raum der Universität statt. „Dort herrscht eine ganz eigene Stimmung. Die AnhängerInnen der verschiedenen Parteien versuchen sich gegenseitig mit Parolen zu übertönen, manchmal kommt es zu Handgreiflichkeiten. Einmal haben AnarchistInnen den Raum gestürmt und die Wahlurnen gestohlen. Wenn du mich fragst: Das Ganze ist ein bisschen ein Theater“, sagt Kokkinis. Im Unterschied dazu erinnert der Wahlausgang dann meist doch an die österreichische Hochschulpolitik: Die meisten Stimmen erhält in der Regel die konservative Studierendenpartei DAP, was – so munkelt man – den Stimmen der eher unpolitischen Studierenden und dem intensiven Organisieren von Partys zu verdanken ist. Ihr gegenüber stehen mindestens fünf linke Organisationen, die zusammen die DAP überflügeln: von kommunistisch über trotzkistisch bis zu sozialdemokratisch.

(c) Dieter Diskovic

STARKES MITSPRACHERECHT. Die Studierendenvertretung besteht aus zwei Gremien: Auf der einen Seite die Generalversammlung, an der jedes Mitglied der Studierendenunion teilnehmen kann und die der Entscheidungsfindung dienen soll. Sie ist durch Plena und Abstimmungen gekennzeichnet und wird von der jährlichen Wahl kaum beeinflusst. Hier werden Diskussionen, aber auch Proteste und Sit-Ins organisiert. Besetzungen sieht Kokkinis nicht nur positiv: „Sie werden meiner Meinung nach zu häufig eingesetzt, auch bei nebensächlichen Themen. Dadurch werden sie von einigen nicht mehr ernst genommen.“

Die Entscheidungen der Generalversammlung sollen vom gewählten und formelleren Verwaltungsrat umgesetzt werden. Seit einer sozialdemokratischen Reform im Jahr 1981 hat der Rat eine beeindruckende Fülle an Befugnissen und kann beinahe auf gleichberechtigter Basis mit der Fakultät mitbestimmen. Die Mitglieder des Rates können RektorInnen und DekanInnen wählen und an allen administrativen Konferenzen ihrer Universität teilnehmen. Obwohl schon öfter versucht wurde, den Einfluss des Verwaltungsrates zu begrenzen, ist sein universitäres Mitspracherecht im internationalen Vergleich nach wie vor herausragend. Dieses hohe Ausmaß an Mitbestimmungsmöglichkeiten führt dazu, dass die Politik der Studierendenvertretungen für die Parlamentsparteien von höherem strategischen Interesse ist: Wer es schafft, Abstimmungsergebnisse zu beeinflussen, kann loyale KandidatInnen in hohe Positionen hieven.

Kokkinis ist sich dieser Problematik bewusst, trotzdem zieht er eine positive Bilanz: „Die griechische Studierendenpolitik ist aktiv, lebendig und kritisch. Man setzt sich mit wichtigen gesellschaftlichen Themen auseinander und hinterfragt den Status quo. Ohne die Studierenden hätte es keinen so breiten Widerstand gegen die EU-Memoranden gegeben. Die griechische Jugend ist vielleicht eine der politisch engagiertesten in Europa.“

Wer sich in der turbulenten Uni-Politik bewährt, schafft es später nicht selten in das griechische Parlament. Ein aktuelles Beispiel ist der frischgewählte Ministerpräsident Alexis Tsipras. Er hat sein politisches Geschick zuerst in der SchülerInnenpolitik und später am Athener Polytechnikum trainiert.

HISTORISCHE RELEVANZ. Wie kommt die griechische Hochschulpolitik zu diesem überdurchschnittlich großen Einfluss? Für eine mögliche Antwort müssen wir in die Zeit zwischen 1967 und 1974 zurückblicken, als Griechenland von einer Militärdiktatur beherrscht wurde. Nach dem wiederholten Verbot der jährlichen Hochschulwahlen gab es Widerstand an den Universitäten, auf den die Junta mit dem Polizeiknüppel reagierte. Die Studierendenproteste eskalierten und gipfelten schließlich in der Besetzung des Polytechnikums. Das Ziel des Aufstandes waren nun nicht mehr bloß freie Hochschulwahlen: Über einen PiratInnensender wurde zum Sturz des Militärregimes aufgerufen. In der Nacht auf den 17. November 1973 stürmte das Militär mit Panzern die Universität und schlug die Revolte blutig nieder. Bis heute gedenkt man der Opfer dieses Ereignisses mit einem jährlichen Marsch. Für die Junta sollte sich die Niederschlagung der Besetzung bald als Pyrrhussieg entpuppen: Die internationale Unterstützung begann zu schwinden, nur wenige Monate später war das Regime Geschichte. Auf diese Weise haben die verbotenen Hochschulwahlen und die darauf folgenden Studierendenproteste den Übergang von der Diktatur zur Demokratie vielleicht nicht verursacht, bestimmt aber beschleunigt.

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

 

 

Endlich ein Grund zur Panik

  • 06.02.2015, 20:34

25. Jänner 2015. Während in Griechenland eine neue Regierung gewählt wird, versammeln sich in Wien Unterstützer_innen der griechischen Linkspartei SYRIZA, um den prognostizierten Wahlsieg per Livestream mitzuerleben.

25. Jänner 2015. Während in Griechenland eine neue Regierung gewählt wird, versammeln sich in Wien  Unterstützer_innen der griechischen Linkspartei SYRIZA, um den prognostizierten Wahlsieg per Livestream mitzuerleben.

Über 200.000 Griech_innen haben ihr Land seit Beginn der Krise verlassen, viele hat es auch nach Österreich verschlagen – bei der Wahlparty im Café 7*Stern sind sie dennoch in der Minderheit. Das hat vor allem einen Grund: Eine Briefwahl ist im griechischen Wahlrecht nicht vorgesehen. Wer es sich leisten kann, nimmt eine Reise nach Griechenland auf sich. Die Zuhausegebliebenen warten nun mit Hochspannung auf die erste Hochrechnung.

HOFFNUNGSTRÄGER_INNEN. Seit Jahren ist die griechische Wirtschaft in einer Abwärtsspirale, selbst konservative Ökonom_innen räumen mittlerweile ein, dass das auferlegte Sparprogramm die Negativentwicklung noch beschleunigt hat. Seit Beginn der Krise sind die Durchschnittseinkommen um 40 Prozent zurückgegangen, dreieinhalb Millionen Griech_innen haben keinen Zugang mehr zum öffentlichen Gesundheitssystem, 300.000 Familien leben ohne Strom, da sie sich die Kosten nicht leisten können. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent, wobei dieser Wert ohne die massive Auswanderung noch höher wäre. Die Koalition aus Konservativen (Nea Dimokratia) und Sozialdemokraten (PASOK) steht für viele Griech_innen stellvertretend für diese Entwicklung. Dabei war die PASOK Anfang der 1980er Jahre eine ähnliche Hoffnungsträgerin wie heute die SYRIZA. 1981 hatte sie als erste linke Partei die Regierung gebildet und einige wichtige gesellschaftspolitische Erneuerungen, etwa die Zivilehe, eingeführt. Nach einigen Jahren an der Macht fiel man eher durch Klientelpolitik und Korruption auf, spätestens mit der Unterstützung der Sparpolitik war die Partei vollkommen diskreditiert. Viele Wähler_innen wanderten zur SYRIZA ab, von der man nun eine Beendung der wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe erhofft. SYRIZA, eine Vereinigung aus dreizehn Organisationen aus dem linken Spektrum, möchte einen Schuldenschnitt ausverhandeln, durch Investitionen die Wirtschaft ankurbeln und die Rückzahlung der Kredite an das Wirtschaftswachstum koppeln. Auch ein Programm mit Sofortmaßnahmen wurde ausgearbeitet: Der Erstwohnsitz soll nicht mehr verpfändbar sein, die 300.000 ärmsten Haushalte sollen mit kostenlosen Strom versorgt und ein Mindestlohn von 751 Euro eingeführt werden. Finanzieren will man das unter anderem mit der Besteuerung Vermögender, der Reformierung des Staatsapparates und dem Schließen von Steuerschlupflöchern. Während viele westeuropäische Medien und Politiker_innen vor einer Regierung durch die „Linksradikalen“ warnten und den endgültigen Kollaps der griechischen Wirtschaft prognostizierten, finden die Anwesenden im Café 7*Stern nur wenig Radikales im Programm. Sofia, eine junge Karikaturistin, die bereits seit einigen Jahren in Österreich lebt: „Was die Linken in Griechenland sagen, unterscheidet sich nicht sehr von dem, was die SPÖ noch in den 80er Jahren gesagt hat. Die Sozialdemokraten haben aber in den letzten Jahren viel von ihrer Identität verloren und unterscheiden sich kaum mehr von den rechten Parteien.“

EINE KOALITION MIT RECHTS. Kaum steht fest, dass der SYRIZA auf die absolute Mehrheit zwei Mandate fehlen, präsentiert Parteichef Alexis Tsipras auch schon die zukünftige Koalitionspartnerin: die rechtpopulistische ANEL (Unabhängige Griechen). Diese offensichtlich bereits im Vorhinein abgesprochene Entscheidung sorgt bei vielen Unterstützer_innen für reichlich Irritation. Die Kleinpartei steht für Nationalismus, Konservativismus, unterhält gute Beziehungen zur orthodoxen Kirche und fiel bereits durch Fremdenfeindlichkeit und bizarre Verschwörungstheorien auf. Im Internet feiern rechte Blogger wie Jürgen Elsässer die  „Querfront“-Koalition aus Linken und Rechten, andere wittern Verrat an den linken Idealen. Eine dritte Gruppe wiederum zeigt sich solidarisch und möchte die neue Regierung an ihren Taten messen

Tatsächlich hatte die SYRIZA nur wenige Koalitionsmöglichkeiten. Die erste Wahl Tsipras, die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE), hatte wiederum ihrerseits eine Koalition strikt abgelehnt. Ihr war das Programm der SYRIZA zu reformistisch und zu wenig radikal. Die potentiellen Koalitionspartner_innen beschränkten sich auf zwei Parteien, die beide noch sehr neu im politischen Geschäft sind: einerseits die neoliberale To Potami, die sich mit SYRIZAs Politik am ehesten gesellschaftspolitisch trifft, andererseits die rechtpopulistische ANEL, die sich 2012 von der konservativen Regierungspartei Nea Dimokratia abspaltete und mit SYRIZA die strikte Ablehnung der Austeritätspolitik, sonst aber wenige Ansätze teilt. Schlussendlich war es eine Frage der Prioritätensetzung – und die hieß: Schuldenschnitt und ein Ende der neoliberalen Sparpolitik.

Einen Tag später wird die neue Regierung bereits angelobt. Finanzminister wird mit dem Starökonomen Yanis Varoufakis wenig überraschend ein strikter Gegner der Austeritätspolitik. Für viel Unverständnis sorgt wiederum die Entscheidung, dem Vorsitzenden der ANEL, Panos Kammenos, ausgerechnet das Verteidigungsministerium zu überlassen – immerhin war Griechenland 1967 Schauplatz eines rechten Militärputsches, der sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Auch die rein männliche Besetzung der Ministerposten wird überwiegend negativ kommentiert. Unbeeindruckt von der Kritik beginnt die neue Koalition sofort mit der Arbeit: Die Zusammenarbeit mit der Troika, also dem Kontrollgremium aus Vertreter_innen der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfond, wird aufgekündigt, zahlreiche laufende Privatisierungen gestoppt. Geplant sind außerdem ein Schusswaffenverbot für die stark von rechts unterwanderte Polizei bei Demonstrationen sowie die versprochene Anhebung des Mindestlohnes auf das Vorkrisenniveau.

In der zweiten Woche der Regierungsperiode reisen Ministerpräsident Tsipras und Finanzminister Varoufakis durch Europa und werben um Unterstützung für ihren Kurs. Unerwartete Unterstützung bekommen sie dabei von Barack Obama, der in einem Interview eine Wachstumsstrategie für Griechenland anregt. Auch Teile der europäischen Sozialdemokratie scheinen sich langsam mit der Idee eines Kurswechsels anzufreunden. Scharfer Gegenwind an der Grenze zur Verleumdungskampagne kommt hingegen vom Großteil der deutschsprachigen Medien. Von der deutschen Regierung wird bisher jedes Entgegenkommen abgelehnt, die konservative Europäische Volkspartei fordert gar eine Resolution gegen die griechische Regierung "wie die gegen Haider in Österreich" im Jahr 2000. Auch die Europäische Zentralbank erhöht den Druck auf die griechische Regierung und verschlechtert die Regelungen für griechische Staatsanleihen. Man zweifle am Erfolg des griechischen Spar- und Reformprogramms, so die Begründung. Dass nach dieser Entscheidung zehntausende Griech_innen für und nicht gegen die amtierende Regierung protestierten, hat Seltenheitswert und lässt auf ausreichenden Rückhalt in der Bevölkerung schließen. Dennoch warten auf die SYRIZA noch zähe Verhandlungen mit unsicherem Ausgang. Eines wurde aber bereits erreicht: Im Diskurs um den Umgang mit der Wirtschaftskrise werden endlich auch Gegenpositionen zur alles dominierenden Sparpolitik wahrgenommen.

 

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien.

Revolution in den Köpfen

  • 26.01.2015, 13:38

Spithari, wie sich das kleine Dorf nennt, liegt nordöstlich von Athen versteckt auf einem kleinen Berg. Photis, einer der Bewohner der ersten Stunde, holt mich auf seinem Motorrad ab und wir fahren auf einem steinigen Bergweg durch eine karge Landschaft. Hier hatte ein großer Waldbrand vor einigen Jahren die Vegetation vollständig zerstört, langsam erholt sich die Natur wieder. Irgendwo im Nirgendwo tauchen plötzlich einige Wohnwägen und Container, ein paar Maschinen und bizarre Kuppeln aus Holz und Plastik auf. Zwei Hunde bewachen den Ort. Spithari ist noch Mitten im Aufbau, statt einer Ökoidylle findet man hier viel Halbfertiges und Improvisiertes, aber auch viel Raum für Experimente.

Spithari, wie sich das kleine Dorf nennt, liegt nordöstlich von Athen versteckt auf einem kleinen Berg. Photis, einer der Bewohner der ersten Stunde, holt mich auf seinem Motorrad ab und wir fahren auf einem steinigen Bergweg durch eine karge Landschaft. Hier hatte ein großer Waldbrand vor einigen Jahren die Vegetation vollständig zerstört, langsam erholt sich die Natur wieder. Irgendwo im Nirgendwo tauchen plötzlich einige Wohnwägen und Container, ein paar Maschinen und bizarre Kuppeln aus Holz und Plastik auf. Zwei Hunde bewachen den Ort. Spithari ist noch Mitten im Aufbau, statt einer Ökoidylle findet man hier viel Halbfertiges und Improvisiertes, aber auch viel Raum für Experimente.

Die Idee für das Ökodorf entstand während der Besetzung des Athener Syntagma-Platzes im Jahr 2011. Unzählige kleine Gruppen und politisch interessierte Menschen hatten damals vor dem griechischen Parlament eine Zeltstadt aufgebaut und ihren Unmut über Entdemokratisierung, Sparpolitik und die Zerstörung des ohnehin schwachen Sozialstaates kundgetan. Obwohl diese griechische Variante von Occupy bald polizeilich aufgelöst wurde, diente sie als Katalysator für unzählige alternative Projekte und Initiativen. Aus den massiven Auswirkungen der Krise und dem Misstrauen gegen den dysfunktionalen Staat entstand vielfach der Wunsch nach neuen Wegen. 

Die Gründer_innen von Spithari haben sich das Ziel gesetzt, sich ihre Nahrung, ihren Wohnraum und ihre Energieversorgung selbstständig zu erarbeiten. Der knatternde Benzinmotor von Photis’ Fahrzeug erinnert daran, wie viele Hürden einer vollständigen Autarkie im Weg stehen. In Spithari selbst hat man die Energieversorgung dank zweier Windturbinen und der Nutzung von Sonnenenergie bereits gut im Griff: „Wir haben jetzt endlich genug Energie und können uns auf die Nahrungsproduktion konzentrieren. Wir wollen schließlich wissen, was wir essen, und unabhängig von den Konzernen sein. Und wir wollen beweisen, dass ein nachhaltiges Leben möglich ist.“

Der erste Blick auf das entstehende Ökodorf.

Für Spithari hat der studierte Soziologe Photis sein ganzes Leben umgekrempelt. Statt sechs Wochentage arbeitet er nur noch ein bis zwei Tage in einem Lieferservice: „Ich habe fast keine Fixkosten mehr, bloß die Krankenversicherung und meine Zigaretten. Aber vielleicht bauen wir einmal unseren eigenen Tabak an.“ Lachend ergänzt er: „Oder ich höre zu rauchen auf.“

Die Bewohner_innen des Ökodorfes sind zwischen 35 und 49, Photis ist der Älteste. Alle von ihnen sind in der Stadt aufgewachsen, ihre Hintergründe sind unterschiedlich: „Wir haben einen Computertechniker, eine Englischlehrerin und zwei Schauspielerinnen unter uns. Diese Berufe geben ihnen die Möglichkeit, häufig hier zu sein. Ein Vollzeitjob mit fixen Arbeitszeiten verträgt sich nicht mit unseren Anforderungen. Aber das Ziel ist es natürlich, dass wir hier permanent leben und arbeiten können.“

Photis führt mich durch das kleine Dorf, erklärt mir die Strukturen. In einem Container wird gerade das Mittagessen zubereitet, ein Kühlschrank dient als Samenbank für die künftige Züchtung seltener Pflanzen. Die sogenannten „geodätischen Kuppeln“ aus Holz und Plastik werden zur Produktion von Biomasse und zum Anbau, aber auch als Wohnraum genutzt. Sie sind leicht und günstig herzustellen und benötigen keine Genehmigung der Regierung. „Wir experimentieren viel und einiges davon geht in die Hose. Wir teilen unsere Erfahrungen aber im Internet und so können Andere von unseren Erfolgen und Misserfolgen profitieren.“ Spithari ist Teil eines Netzwerkes ökologischer Projekte und nimmt selber öfters die Hilfe anderer Communitys in Anspruch: „Das eine Ökodorf hat sich auf den Anbau von Weizen spezialisiert, das andere kennt sich mit dem Bau von Windturbinen aus. Man besucht und hilft sich gegenseitig und veröffentlicht sein Wissen als Creative Commons. Es geht uns nicht um eine Abschottung von der Gesellschaft.“

Eine geodätische Kuppel.

Ein besonders wichtiger Punkt auf der Agenda der kleinen Gemeinschaft ist die Kommunikation: „Es ist relativ leicht, eine Windturbine zu bauen, aber verdammt schwer, mit einer Gruppe so zu kommunizieren, dass man gemeinsam auf ein Ziel hinarbeiten kann. Wir wollen hier auch die zwischenmenschlichen Beziehungen verbessern.“ Man beschäftigt sich mit dem Konzept der Gewaltfreien Kommunikation, Entscheidungen werden basisdemokratisch und nach dem Konsensprinzip getroffen. Von einer strikten Arbeitsaufteilung und starren Regeln hat man sich bald abgewandt: „Es funktioniert einfach nicht, denn das hier ist unser Leben, nicht einfach unser Job! Mit der Zeit ist jeder von uns draufgekommen, was er oder sie gerne tut. Ich liebe es, mit Steinen zu arbeiten und zu kochen. Für technische Dinge bin ich wiederum der Falsche.“ Durch diese Freiheit hat sich Photis’ Auffassung von Arbeit stark verändert: „Ich hatte früher viele Ideen, aber sie waren nur in meinem Kopf. Jetzt verbinden sich diese Ideen aus meinem Kopf mit der Arbeit meiner Hände, es gibt eine größere Verbindung zwischen meinem Verstand und meinem Herzen. Heutzutage haben viele Menschen keinen emotionalen Bezug mehr zur eigenen Arbeit. Dass ist ein Grund, warum so viele im Kapitalismus unglücklich sind.“

Prinzipiell ist die Ökocommunity offen für neue Bewohner_innen. Wer jedoch in Spithari leben will, muss zuerst ein paar Wochen im Dorf verbringen und ein selbstgewähltes Projekt, das der Gemeinschaft dient, fertigstellen. Anschließend wird gemeinsam entschieden, ob die  Person mit der Gruppe, ihrer Philosophie und Lebensweise harmoniert, „denn wie kannst du wissen, ob du für diese Art von Leben geeignet bist, wenn du es nie ausprobiert hast?“ Manche der Anwärter_innen gründeten in der Folge auch ihre eigenen Projekte und werden von Spithari so gut wie möglich dabei unterstützt.

Beeinflusst von anarchistischem Gedankengut versucht Spithari, eine Alternative zum Kapitalismus aufzubauen. Als typischer Revolutionär sieht sich Photis nicht: „Wir haben kein Interesse daran, die Gesellschaft zu zerstören oder Häuser anzuzünden. Wir versuchen ein effizientes, nachhaltiges Gesellschaftsmodell zu entwickeln. Wir versuchen nicht, die Gesellschaft durch Proteste zu verändern, denn die wahre Revolution findet in unseren Köpfen statt. Wenn ich mich selbst verändere, kann ich dich ändern. Und du kannst wiederum wen anderen verändern.“ Photis bemerkt eine langsam wachsende Akzeptanz für Projekte wie Spithari: „Vor einigen Jahren hätte man mich für vollkommen verrückt gehalten, heute denken die meisten wenigstens darüber nach. Dass liegt einerseits an der Krise, andererseits glaube ich an ein langsames globales Umdenken.“

Eine Werkstätte.

Spithari ist ein Teil dieses Prozesses und dabei kein abgeschottetes und nostalgisches „Zurück zur Natur“-Projekt. Man verwendet und erfindet neue Techniken in Wohnbau, Nahrungsmittelproduktion und Kommunikation. Obwohl den Bewohner_innen klar ist, dass ihr Lebensstil kein Modell für Alle ist, verbreiten sie ihre Ideen auf Festivals, Konferenzen und Internetplattformen. Der Weg zur vollständigen Autarkie ist dabei noch ein weiter. Trotz aller Widersprüche ist Spithari ein Ort der Freiheit und des Experimentierens, der eine post-kapitalistische Welt vorwegnimmt. Auch für Menschen, für die ein Leben in einer Ökokommune unvorstellbar ist, ist eine nähere Betrachtung lohnenswert, denn was hier in einer ganz speziellen Situation getestet wird, könnte bald von allgemeinem Interesse sein.

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

„Unsere Zukunft ist so schwarz wie der Bildschirm“

  • 15.10.2014, 06:48

Vor über einem Jahr wurde der staatliche griechische Rundfunk von einem Tag auf den anderen geschlossen - ein Novum in der Geschichte der EU. Was ist seitdem geschehen? Dieter Diskovic hat sich über die Hintergründe und Auswirkungen der Schließung, die Protestbewegung und die aktuelle griechische Medienlandschaft informiert.

Vor über einem Jahr wurde der staatliche griechische Rundfunk von einem Tag auf den anderen geschlossen - ein Novum in der Geschichte der EU. Was ist seitdem geschehen? Dieter Diskovic hat sich über die Hintergründe und Auswirkungen der Schließung, die Protestbewegung und die aktuelle griechische Medienlandschaft informiert.

11. Juni 2013. Die griechische Bevölkerung ist fassungslos: Soeben hat Regierungssprecher Simos Kedikoglou in einer Fernsehansprache angekündigt, den staatlichen Rundfunk ERT, das griechische Äquivalent zum ORF, innerhalb der nächsten Stunden zu schließen. Sofort strömen tausende wütende Bürger_innen zur Rundfunkstation in Athen, singen Widerstandslieder, versuchen diesen beispiellosen Akt der Regierung irgendwie zu verhindern. Ohne Erfolg: Um 23 Uhr wird das Signal gekappt, die Bildschirme werden schwarz.

„Wie in Zeiten der Militärdiktatur“

Die Mitarbeiter_innen, die dieses Vorgehen vollkommen unvorbereitet getroffen hat, geben jedoch nicht auf: Sie okkupieren die Rundfunkstationen, senden trotz Drohungen der Regierung weiterhin ein Notprogramm – erst über den Kanal der kommunistischen Partei, später mit Unterstützung der Europäischen Rundfunkunion.

In den nächsten Tagen formiert sich eine breite Protestbewegung: Neben einem Streik der Journalist_innen und einem 24-stündigen Generalstreik verurteilen die Generaldirektor_innen wichtigster europäischer öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten – u.a. ZDF, ARD, ORF und der Schweizer RTS –  die Aktion als „undemokratisch und unprofessionell“. Um das nach wie vor besetzte Hauptgebäude von ERT finden zahlreiche Solidaritätskonzerte statt. Viele Menschen können es noch immer nicht glauben: „Es ist, als würden wir wieder die Zeit der Militärdiktatur erleben“, sagt eine Demonstrantin in einem Interview. „Unsere Zukunft ist so schwarz wie der Bildschirm.“ Andere erwarten einen baldigen Rückzieher der Regierung. Doch diese bleibt hart: Sämtliche 2.656 Mitarbeiter_innen von ERT werden entlassen. Gleichzeitig bedeutet dies das Ende von fünf Fernsehprogrammen, 29 nationalen und regionalen Radiostationen, einer Zeitschrift, einem Internetportal und drei der besten Orchester und Chöre des Landes.

Als der Oberste Gerichtshof die Schließung des öffentlichen Rundfunks für verfassungswidrig erklärt, zieht sich die Regierung mit einem Taschenspielertrick aus der Affäre: Ab Oktober werden aus einem angemieteten Studio unter dem Namen EDT (Hellenisches Öffentliches Fernsehen) nonstop alte Filme aus den 50er und 60er Jahren gezeigt, Nachrichtensendungen gibt es keine.

Die Schlachtung der heiligen Kuh

Die Schließung von ERT war ein Alleingang von Ministerpräsident Antonis Samaras und seiner rechtspopulistischen Nea Dimokratia. Nicht einmal die sozialdemokratischen Koalitionspartner waren informiert, die DIMAR (Demokratische Linke) verließ aus Protest gegen diese Vorgehensweise die Regierungskoalition. Regierungssprecher Simos Kedikoglou begründete die drastische Maßnahme mit der schlechten Führung und den hohen Kosten des Senders. Tatsächlich war ERT jedoch einer der wenigen öffentlichen Unternehmen, die Gewinne erwirtschafteten. Etwa 120 Millionen des Gewinns flossen jährlich in die Staatskasse, die Schließung des Senders brachte also keine finanziellen Vorteile. Die Regierung hatte sich jedoch gegenüber der Troika verpflichtet, weitere 2.000 Staatsbedienstete zu entlassen. Mit der Schließung von ERT konnte diese Vorgabe auf einen Schlag erfüllt werden, dem nächsten Hilfspaket stand nichts mehr im Weg.

Katerina Anastasiou, Aktivistin und Mitglied von Solidarity4all Vienna, sieht jedoch auch andere Motive: „Die Schließung hatte vor allem politische Hintergründe: ERT galt als linker Sender, war offen für Bewegungen von unten und sendete großartige, kritische Dokumentationen. ERT war eine heilige Kuh, und nach ihrer Schlachtung hatte die Regierung die Medien komplett unter ihrer Kontrolle.“ Schon vor der Schließung war ERT der Regierung ein Dorn im Auge: Während die privaten Sender weitgehend auf Regierungslinie waren, kritisierte ausgerechnet der öffentliche Rundfunk staatliche Austeritätspolitik, Misswirtschaft und Polizeigewalt. Noch im Jahr vor der Einstellung des Senders hatte man kritische Journalist_innen entlassen und durch Parteisoldat_innen in „Beraterpositionen“ mit teils exorbitanten Gehältern ersetzt.

Protesttransparente gegenüber eines ERT-Gebäudes. Foto: Dieter Diskovic

Die Stürmung des „Widerstandszentrums“

7. November 2013: Spezialeinheiten der griechischen Polizei stürmen das Gebäude des ehemaligen Staatsrundfunks in Athen, das bereits seit fünf Monaten von Beschäftigten besetzt gehalten wird. Sämtliche Büros werden geräumt und etwa 200 Besetzer_innen auf die Straße gedrängt. Laut Regierungssprecher Simos Kedikoglou wurde die Räumung angeordnet, um Recht und Gesetz wiederherzustellen: „Sie hatten das Rundfunkgebäude in eine Art Widerstandszentrum gegen die Regierungsentscheidungen verwandelt".

ERT Open, wie sich der selbstverwaltete Sender der ehemaligen ERT-Mitarbeiter_innen nennt, sendet unterdessen von anderen Orten weiter. Anastasiou: „ERT Open ist besser als es ERT jemals war, das belegen auch die Zuschauerzahlen. Generell hat sich die Qualität seit der Selbstverwaltung enorm gesteigert. Die Ressourcen werden jedoch immer weniger, denn die Leute arbeiten ohne Gehalt. Trotzdem hat dieses Projekt Auswirkungen auf die gesamte griechische Medienlandschaft: Es entstehen neue selbstverwaltete und basisdemokratische Medienströmungen als Gegenpol zur Regierungspropaganda.“

NERIT - Der Sender, den keiner will

4. Mai 2014: Nachdem die Rundfunkeinrichtungen wieder in den Händen der Regierung sind, geht der neue, verschlankte staatliche Rundfunk Griechenlands, NERIT, erstmals auf Sendung. Katerina Anastasiou hält davon wenig: „Der neue Fernsehsender ist viel weniger kritisch und wurde dubios besetzt.“ Mit dieser Meinung steht sie nicht alleine da. Die größte Oppositionspartei Syriza erkennt NERIT nicht an, verweigert Interviews und jede Zusammenarbeit. Die Journalist_innen stehen nun vor der Wahl, ohne Maulkorb, aber mehr oder weniger unentgeltlich für ERT Open zu arbeiten, oder sich beim neuen Sender NERIT zu bewerben. Die meisten der Journalist_innen stehen inhaltlich ERT Open näher, für viele ist es jedoch eine Frage der finanziellen Machbarkeit. Während die Entschädigungen noch nicht voll ausgezahlt wurden, ist die einjährige Arbeitslosenhilfe bereits ausgelaufen. Die Journalist_innengewerkschaft unterstützt ERT Open mit Lebensmittelpaketen und Geldern aus Streikfonds. Auch viele einfache Bürger_innen, besonders in kleinen Städten, helfen ihren regionalen Sendern mit Geld und Sachspenden aus. Das ist besonders für die Motivation der Mitarbeiter_innen wichtig.

Flashmob am ersten Jahrestag der Schließung im Wiener Resselpark. Foto: Dieter Diskovic

Am ersten Jahrestag der Schließung des öffentlichen Rundfunks kommt es in zahlreichen Städten Griechenlands, aber auch in anderen Ländern, zu den bislang letzten großen Demonstrationen gegen die Schließung von ERT. Während man in Athen vor dem Rundfunk-Hauptgebäude protestiert, gibt es auch im Wiener Resselpark einen Flashmob. Die Regierung soll daran erinnert werden, dass man noch lange nicht vergessen und schon gar nicht vergeben hat.

In der griechischen Medienlandschaft schaut es derweil nicht allzu rosig aus: Man hat nun einen relativ unkritischen staatlichen Sender, dem die Mehrheit der Bevölkerung misstraut, einige private Sender, die allesamt in der Hand der reichsten griechischen Familien sind und sich aus dem politischen Geschehen weitgehend raushalten, und selbstverwaltete Medien wie ERT Open, die kritisch und unabhängig, aber in einer finanziell äußerst prekären Lage sind. So gibt es für ERT Open drei mögliche Szenarien: die Auflösung aus Mangel an Ressourcen, die Umwandlung in einen kommerziellen Privatsender oder der Weiterbestand durch ausreichende lokale und internationale Unterstützung. Die Vorbehalte gegen den neuen staatlichen Sender NERIT haben sich derweil als begründet erwiesen: Im September traten der Direktor und sein Stellvertreter zurück. Regierungschef Samaras hatte interveniert, um die Übertragung einer Rede von Oppositionsführer Alexis Tsipras (Syriza) zu verhindern.

Dieter Diskovic studiert Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagiert sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe.

 

Das Ende der EUphorie?

  • 24.05.2014, 16:58

Die Jugend fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Perspektiven nehmen ihnen zusehends das Vertrauen in Europa. Immer mehr junge Menschen sehen sich nach politischen Alternativen um.

Wer als junger Mensch in der EU mitreden möchte, muss viel Zeit und Geduld investieren, weiß Emma Hovi aus eigener Erfahrung. Die 24-jährige Wahl-Berlinerin war nach ihrer Schulzeit ein Jahr im Vorstand der Europäischen SchülerInnenvertretung OBESSU aktiv. Freundschaften konnte Hovi während dieser Zeit viele knüpfen. Aber die Arbeit in der Interessenvertretung hat sie zynisch werden lassen. „Wie wichtig die Jugend sei, wird in den Institutionen der EU überall betont. Wenn junge Menschen aber tatsächlich mitreden möchten, stehen sie schnell vor verschlossenen Türen“, meint Hovi. Ein ranghoher Kommissionsbeamter als Gast bei einer der vielen Veranstaltungen der Jugendorganisation sei eine Ehre gewesen, aber keine Selbstverständlichkeit.

Seit Ausbruch der Finanzkrise sinkt der Zuspruch, den die Europäische Union bei ihren BürgerInnen findet, stetig, das zeigen viele Statistiken. Laut Eurobarometer gab im Herbst 2013 nur noch ein Drittel der EU-BürgerInnen an, Vertrauen in die Europäische Union und ihre Politik zu haben. Dass sie damit noch besser abschnitt als die nationalen Regierungen, ist ein schwacher Trost. Den höchsten Zuspruch bekam die EU von den unter 24-Jährigen. Befürchtet wird aber, dass selbst diese Zahlen kippen könnten. Die Sparpolitik in Griechenland hat nicht nur drastische Folgen für das Land, sie hat auch Ratlosigkeit bei der Bevölkerung der anderen EU-Länder hinterlassen. Die Bilder aus Griechenland liegen vielen jungen EuropäerInnen schwer im Magen. Viele suchen bei nationalistischen Parteien einfache politische Antworten auf die Krise. Das sinkende Interesse der Jugend für die EU zeigte sich aber schon an der niedrigen Beteiligung bei der letzten EU-Wahl: 2009 nahmen weniger als ein Drittel der Jugendlichen ihr Wahlrecht in Anspruch, so eine Studie des Europäischen Jugendforums. Ein Ergebnis, dem die EU mit mehr jugendpolitischen Maßnahmen entgegenwirken möchte. Mit dem sogenannten „Strukturierten Dialog“ sollen Jugendorganisationen bei der Ausarbeitung politischer Zielsetz­ungen schrittweise eingebunden werden. Auch im Entwicklungsplan „Europa 2020“, der den Rahmen für die Politik der nächsten Jahre vorgibt, hat die Jugend einen hohen Stellenwert und in der gegenwärtigen Krise entstanden gleich drei Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit. Gleichzeitig ist die europäische Jugendpolitik mit dem Problem konfrontiert, dass die Kompetenzen in dieser Hinsicht meist auf nationaler Ebene liegen. Was auf europäischer Ebene diskutiert wird, findet daher oft keine direkte Umsetzung. Jugendorganisationen können sich auf europäischer Ebene noch so engagieren, Resultate ihrer Bemühungen sind in den meisten Fällen nicht mehr als Empfehlungen und vage Absichtserklärungen.

E wie EU-Wahl: am 25. Mai wird das EU-Parlament gewählt. Foto: Alexander Gotter U wie Union: 28 Mitgliedsstaaten zählt die EU. Foto: Alexander Gotter R wie Rechte: Viele befürchten einen Wahlsieg von rechten Parteien. Foto: Alexander Gotter

Krisenerscheinungen. So klein die politische Macht der EU in manchen Bereichen auch scheint, umso stärker spürbar sind die Auswirkungen ihrer Krisenpolitik. Unter dem Banner der Austeritätspolitik erklärte die EU die Konsolidierung desgriechischen Staatshaushaltes durch rigide Sparmaßnahmen zum primären Ziel und entschied damit, Kapitalinteressen absoluten Vorrang zu geben. Die Aufzählung der Einsparungen in Griechenland liest sich wie eine Checkliste zur Demontage des sozialen Wohlfahrtstaats: Kürzungen wurden vor allem im öffentlichen Dienst, bei Gehältern und Pensionen sowie bei sozialen Subventionen und im Gesundheitswesen vorgenommen, das Arbeitsrecht wurde flexibilisiert und Schutzbestimmungen abgebaut. Mit buchhalterischem Erfolg: 2013 bilanzierte Griechenland zum ersten Mal in seiner Geschichte positiv. Der Preis dafür war jedoch immens hoch. So zeigten sich selbst der Internationale Währungsfond und die EU-Kommission im Vorjahr erstaunt angesichts der gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Sparziele. Zu diesem Zeitpunkt lehnten in einer Gallup-Umfrage 94 Prozent der Menschen in Griechenland und 51 Prozent innerhalb der anderen EU-Länder die Maßnahmen ab und verlangten nach Alternativen. Eine Jugendarbeitslosenquote jenseits der 60 Prozent, prekäre Arbeitsbedingungen und unterfinanzierte Universitäten haben der jungen Generation die Zukunft verbaut. Selbst AbsolventInnen von etablierten Studienfächern wie Medizin, Architektur oder Rechtswissenschaften müssen heute um jedes unterbezahlte Praktikum kämpfen. Während sich die Miete für eine kleine Bleibe in Athen auf 300 Euro beläuft, liegt der Mindestlohn für junge ArbeitnehmerInnen knapp über 500 Euro. Viele junge Erwachsene mussten wieder zurück ins Elternhaus ziehen. Nicht wenige flüchten sich vor den deprimierenden Zukunftsaussichten in Rauschwelten oder Suizid. In Griechenland wurde in den letzten Jahren das Gegenteil der zuvor geplanten europäischen Jugendmaßnahmen umgesetzt, was für eine Hochkonjunktur der Kritik sorgte. 

Katerina Anastasiou will über die Zustände in Griechenland informieren. Die 30-jährige Griechin lebt seit zehn Jahren in Wien und engagiert sich bei der Organisation solidarity4all. Sie sei oft erschrocken, wie wenig und wie einseitig hierzulande die Medien von ihrer Heimat berichten, erzählt die junge Linke, die an der jetzigen EU nur wenig Gutes sieht. Die Krise habe die negative Seite vieler politischer Maßnahmen der letzten Zeit deutlicher in Erscheinung treten lassen. Mit Hilfe der Reise- und Niederlassungsfreiheit haben viele GriechInnen versucht der Misere zu entkommen, nur um andernorts feststellen zu müssen, dass aus ihrer Notlage erneut Profit geschlagen wird. Einiger ihrer Bekannten seien hochqualifiziert nach Wien gekommen und sahen sich hier damit konfrontiert, dass ihnen zwar adäquate Jobs angeboten wurden, aber mit einer unüblich niedrigen Bezahlung, schildert Anastasiou. Für sie fehlt es hier an einem solidarischen europäischen Bewusstsein: „Damit wird die Chance vergeben, gemeinsam gegen etwas aufzutreten!“

Mit vielen anderen ist Anastasiou auf der Suche nach Alternativen zum gegenwärtigen System. Vereinzelt und mancherorts seien solche durchaus greifbar: „Als 2011 die Proteste vom Syntagma-Platz in Athen verschwanden, lag das nicht nur an der repressiven Polizeigewalt“, erzählt Katerina Anastasiou, „nach dem ersten Schock begannen die Menschen ihr Schicksal schlichtweg selbst in die Hand zu nehmen.“ Mittlerweile finden sich vielerorts kommunale Strukturen, die medizinische Versorgung bieten, Lebensmittel und Dienstleistungen zur Verfügung stellen und Bildungsangebote geschaffen haben, ohne viel Gegenleistung zu erwarten. Diese kommunalen Solidaritätsbewegungen setzen dort an, wo staatliche Strukturen fehlen. Deshalb beabsichtigt Anastasiou auch in naher Zukunft wieder zurück nach Griechenland zu gehen. Um „dabei sein zu können, wenn etwas Neues entsteht“. Das Vorgehen der EU im Fall Griechenland und der Vorrang von finanziellen vor sozialen Interessen bestätigt all jene, die die EU seit jeher als neoliberales Konstrukt sahen. In der Krise offenbart sie nun auch dem Rest von Europa ihre politischen Prioritäten. 

Davon profitieren aber auch rechte EU-KritikerInnen. Im April gründete die FPÖ-Jugend zusammen mit den Jugendorganisationen vom Front National, von Vlaams Belang und den Schwedendemokraten die Initiative Young Europeans Alliance for Hope (YEAH). In ihrem Manifest befürworten sie die Nation als „überlegene Form der Gemeinschaft“. Wenn es darum geht, die europäische Integration zu kritisieren, können selbst rechtspopulistische Parteien transnational kooperieren. Mit absehbarem Erfolg: In Österreich liegt die FPÖ bei den Jungen wie gewohnt auch in den Umfragen zur Europawahl weit vorne. Europaweit wird ein starker Zuwachs für jene Parteien, die regelmäßig gegen die EU wettern, erwartet.

Reine Rhetorik? Sind die Bemühungen der EU um verstärkte jugendpolitische Maßnahmen, BürgerInnenrechte, soziale Inklusion, europäische Integration und die Genese einer europäischen Identität nur Rhetorik? Will die EU weg vom neoliberalen Status Quo, muss sie diese Ziele ernsthaft verfolgen. Der Politikwissenschafter Stefan Seidendorf beschäftigt sich mit der Frage, was es braucht, damit die EU zu einer solidarischen Gemeinschaft wird. Er nennt drei wesentliche Faktoren: Erstens, die Ausformung europäischer Institutionen, durch die eine legitime rechtliche Grundlage für ihre Politik entsteht. Zweitens, ein klar abgegrenztes Gruppenbewusstsein, das zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterscheiden lässt. Und drittens, einen gemeinsamen Sinnhorizont, der sich aus einer geteilten Vergangenheit und Symboliken der Gemeinschaft eröffnet. Gibt es dieses Gruppenbewusstsein und diesen Sinnhorizont bei jungen EuropäerInnen bereits?

O wie Organisation: immer mehr junge Menschen organisieren sich selbst, um der Krise zu entkommen. Foto: Alexander Gotter P wie Parlament: 751 Abgeordnete werden gewählt. Foto: Alexander Gotter A wie Aufbruchsstimmung: Trotz der Krise sind viele junge Menschen hoffnungsvoll. Foto: Alexander Gotter

Die Studierenden von heute sind die erste Generation, die in die Europäische Union hineingeboren wurde. Der Vertrag von Maastricht wurde Ende 1993 ratifiziert. Jene, die damals gerade erst zur Welt gekommen sind, sind heute Anfang zwanzig. Sie sind mit der EU groß geworden und haben ihre Entwicklung miterlebt. Sie haben die Einführung des Euros miterlebt, Krieg und Gewalt kennen sie zum Großteil nur aus der Zeitung. Von der Reisefreiheit des Schengener Abkommens profitieren sie seit ihrem ersten Urlaub und seit 25 Jahren lernen sie über Programme wie Erasmus andere europäische Länder kennen. 250.000 Studierende nehmen mittlerweile jährlich am Austauschprogramm teil. Es zählt zu den erfolgreichsten Projekten der EU. Heuer wurde es erneuert: ERASMUS+ vereint nun weitere Austauschprogramme in den Bereichen Bildung, Jugend und Sport unter einen Namen. In den nächsten sieben Jahren stehen dafür knapp 15 Milliarden Euro zur Verfügung. Vier Millionen Jugendliche sollen davon profitieren. Dieses Engagement seitens der EU hat seine Effekte: Der Eurobarometer vom Herbst 2013 wies SchülerInnen und Studierende als einzige demografische Gruppe aus, die der EU mehrheitlich vertraute. Das liegt vermutlich auch daran, dass Jugendliche im Bildungsbereich am Ehesten noch mit ihren Programmen in Kontakt kommen. Immerhin fünf Prozent der Jugendlichen nahmen laut der Youth on the Move-Studie von 2011 schon an einem Austauschprogramm teil. Die restlichen 95 Prozent kommen mit EU-Projekten, wenn überhaupt, nur selten in Kontakt.

Sie begeben sich entweder selbst auf Recherche, oder müssen sich mit den wenigen Medienberichten begnügen. Die geringe Rolle, die die EU zuweilen in den Nachrichten hat, haben die Medien der einzelnen Mitgliedsstaaten zu verantworten, die der EU oft nur wenig Beachtung schenken: Dazu gesellt sich auch oft eine antieuropäische Rhetorik. Wenn Zeitungen über „PleitegriechInnen“ oder „RumänInnenbanden“ schreiben und PolitikerInnen Blame-Shifting in Richtung EU betreiben, hindern sie damit die EU daran, eine Gemeinschaft zu werden. Derzeit sieht sich eine knappe Mehrheit der EU-BürgerInnen noch als EuropäLeague of Young VoterserInnen, aber gleichzeitig zeigen Studien, dass die Heimatverbundenheit wieder am Steigen ist, zwei Drittel der EuropäerInnen glauben außerdem nicht mehr, dass ihre Stimme in Europa Einfluss hat.

Diese Einstellung versuchen viele Initiativen im Vorfeld der EU-Wahl zu ändern. Johanna Nyman betreut eine davon. Die Biologie-Studentin sitzt im Vorstand des Europäischen Jugendforums und koordiniert das Projekt League of Young Voters, das Jugendlichen und Jugendorganisationen als Austausch-Plattform dienen soll. Die Initiative sei eine Reaktion auf die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung unter den Jugendlichen bei der Europawahl 2009, so Nyman. Die Erfahrung, dass Anliegen vielerorts gleich sind und die JungwählerInnen in der EU eine größere Gruppe sind als erwartet, soll diese zurück an die Wahlurnen bringen. Die Plattform selbst findet noch geringen Anklang, aber aus der Idee entstanden weitere Projekte: Auf MyVote2014.eu können UserInnen mittels 15 Fragen herausfinden, welche Partei am besten zu ihren eigenen Vorstellungen passt.

Dazu bekommen sie Informationen über die Abgeordneten und ihre Parteien. Das Prinzip kommt dem Nutzungsverhalten von Jugendlichen in Bezug auf Online-Medien: Schnell, interaktiv und optisch ansprechend wird der Einstieg in die Meinungsbildung erleichtert.

Welche Krise? Ist es ein Irrglaube, wenn wir als Studierende in Zentraleuropa, die mitunter auch von der EU profitieren, annehmen, ohne EU ginge es nicht? Einige Sozialwissenschafter wie etwa Alex Demirović weisen immer wieder darauf hin, dass nicht die Demokratie selbst, sondern ihre alten Institutionen in der Krise stecken. Systeme wie Staaten oder die EU befinden sich in einer Situation, in der die Parlamente nur noch reine Mitbestimmungsgremien sind. Wichtige Entscheidungen werden intransparent anderswo getroffen. Solange der Staat aber seinen Aufgaben nachkommt, dominiert ein Verständnis von Demokratie, das ohne Staat nicht denkbar ist. Die Soziologin Donnatella della Porta vom European University Institute sieht in der Vertrauenskrise durchaus auch positive Seiten. Durch sie öffnen sich Räume für neue Formen des demokratischen Zusammenlebens. Selbst wenn kommunale Bewegungen wie in Griechenland noch keinen alternativen Modellcharakter für die EU haben, zeigen sie doch auf, was politische Partizipation jenseits des Wahlgangs heißen kann.

In welche Richtung sich Europa bewegen wird, werden die nächsten Jahre entscheiden. Das hängt nicht allein davon ab, ob die Europäische Union die Folgen ihrer Krisenpolitik eindämmen kann. Um aus der Identifikationskrise herauskommen, braucht es passende demokratische Rahmenbedingungen und eine gemeinsame Öffentlichkeit. Erste zaghafte Schritte wurden dahingehend schon unternommen. Beispielsweise wurde die österreichische „Ausbildungsgarantie“ für Jugendliche 2014 von der Mehrheit der Mitgliedstaaten übernommen und in den nächsten beiden Jahren stehen sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Verfügung. Bei den Europawahlen im Mai besteht erstmals die Möglichkeit direkt mitzuentscheiden, wie die Kommission zukünftig aussehen soll. Die größte Parlamentsfraktion wird auch den/die KommissionspräsidentIn stellen, so die Abmachung unter den Mitgliedsstaaten. Unabhängig davon, wie stark die Wahlbeteiligung ausfallen und wie das EU-Parlament nach den Wahlen zusammengesetzt sein wird, die Union wird uns auf jeden Fall noch eine Weile erhalten bleiben, auch wenn neue Formen der politischen Organisation entstehen. „Solange das so ist, kann man auch gleich wählen gehen – Veränderung ist ja schließlich keine Entweder-Oder-Frage“, meint Johanna Nyman vom Europäischen Jugendforum. Oder man macht es wie Alina Böling: Da auch sie findet, dass die EU etwas stagniert, entschloss sich die 24-jährige Finnin kurzerhand selbst für das Europäische Parlament zu kandidieren, um so neuen Input geben zu können. Jeder wisse schließlich, so Böling, dass eine demokratische und funktionierende Union mehr als nur den Euro und Wirtschaftspolitik braucht.

 

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie in Wien.

Die Linke hat beim Rassismus versagt

  • 21.05.2014, 13:07

Große Teile der griechischen Bevölkerung leiden unter der Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik. Dagegen formiert sich politischer Widerstand. Wie dieser zu beurteilen ist, darüber sprach progress online mit Stefanos, einem Aktivisten der athenischen Antifa Negative.

Große Teile der griechischen Bevölkerung leiden unter der Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik. Dagegen formiert sich politischer Widerstand. Alessandro Volcich hat für progress online mit Stefanos, einem Aktivisten der athenischen Antifa Negative, darüber gesprochen.

progress online: Du bist Mitglied der Gruppe Antifa Negative. Ihr kritisiert andere griechische linke Gruppen für ihre Haltung gegenüber dem Rassismus. Könntest du eure Kritik etwas ausführen?

Stefanos: Die antiautoritäre und anarchistische Szene geht gegenüber MigrantInnen und der Frage des Rassismus mit einer altmodischen Klassenanalyse vor. Sie solidarisieren sich mit MigrantInnen nicht weil sie Opfer rassistischer Staatspolitik oder nazistischer Gewalt sind, sondern weil sie als ArbeiterInnen gelten. Und das sind noch die vernünftigeren. Andere solidarisieren sich mit MigrantInnen in keinster Weise. Das alles war für uns erstickend, weil wir glauben, dass es genügt, Opfer rassistischer Gewalt zu sein, um unterstützt zu werden.

Kannst du mir ein Beispiel nennen, wie die Linke beim Rassismus versagt hat?

Im Jahr 2004 gewann die griechische Fussballnationalmannschaft die UEFA EURO. Kurz danach gab es ein Match zwischen der griechischen und der albanischen Nationalmannschaft und die albanische gewann. Darauf kam es in ganz Griechenland zu Angriffen gegen Menschen, die man für AlbanerInnen hielt. Es gab viele Verletzte und sogar einen Mord. Die Antwort der Mainstream-Linken, der heutigen Syriza, war eine Demo mit der Parole: „Griechen sind keine Rassisten". Die AnarchistInnen hingegen marschierten unter dem Motto:  „Wir sind gegen beide Nationalismen, den griechischen und den albanischen". Aber das hatte mit der Situation nichts zu tun. Denn es gab ja keinen Konflikt zwischen zwei Armeen, sondern einer Welle rassistischer Gewalt.

Und das war noch vor der Wirtschaftskrise.

Es war gleich nach den Olympischen Spielen, zur Zeit eines Konjunkturhochs.

Kommen wir zur aktuellen Situation. Wie entwickelten sich in den letzten Jahren die Reaktionen auf die Wirtschaftskrise?

Als Griechenland den Deal mit dem IWF abschloss, das „Memorandum", gab es eine Protestbewegung im ganzen Land. Dabei kam es überall - am Syntagma-Platz in Athen war es besonders deutlich - zu dem, was man den „oberen" und „unteren Platz" nannte. Am oberen Platz, gleich vor dem Parlament, standen die Nazis und andere rechte Spinner mit Griechenlandfahnen und brüllten antisemitische Parolen, dass Giorgos Papandreou (ehemaliger Premier, Anm.) Jude sei. Auf der unteren Seite stand die Linke, die des Mainstreams und die radikale, und hielt Reden über direkte Demokratie. Und sie alle standen da friedlich Seite an Seite – während gleichzeitig im Zentrum Athens ein Pogrom gegen MigrantInnen stattfand. Das ist symptomatisch für die Reaktion der griechischen Gesellschaft auf die Krise, dass es heute keine Trennlinien mehr zwischen den Griechen gibt. Nun vergessen wir rechts und links. Ich weiß nicht, ob das je etwas bedeutet hat - heute tut es das jedenfalls nicht mehr. Die Opposition verläuft heute zwischen der leidenden griechischen Bevölkerung und den Verrätern, die die Maßnahmen des IWF unterstützen. Es ist eine populistische Hysterie.

 

„Goldene Morgenröte ist die griechische Hisbollah"

 

Wie hat die neonazistische Goldene Morgenröte (Chrysi Avgi) es geschafft, politisch aufzusteigen?

Es gibt sie seit 1980 und sie waren eine marginale Nazi-Gruppe. Sie haben einige militante Aktionen gemacht, wie Angriffe auf AntifaschistInnen oder MigrantInnen. Wobei während der 1990er und 2000er Jahre rassistische Morde meist nicht von Chrysi Avgi verübt wurden, sondern von normalen Griechen. Chrysi Avgi waren schwach und bekamen 0,0-irgendwas bei den Wahlen. Bei den Syntagma-Protesten intervenierten sie wie jede politische Gruppe es bei einer sozialen Bewegung machen würde. Und da wurden sie zum ersten Mal der Durchschnittsbevölkerung bekannt. Danach erhielten sie gute Wahlergebnisse und kamen ins Parlament.

Demo gegen die Goldene Morgenröte in Athen. Foto: Dieter Diskovic

Wie reagierten die anderen politischen Kräfte auf den Aufstieg der Chrysi Avgi? Immerhin eine offen antisemitische und rassistische Partei.

Das erste, was alle sagten war, dass ihre WählerInnen vom politischen Establishment enttäuscht waren und keine Nazis sind. Die Linke versuchte zum einen darauf hinzuweisen, dass sie gewalttätig wären. Das war sinnlos, denn damit übernahmen sie die Propaganda der Chrysi Avgi und beförderten ihr Image als brutale, unbesiegbare Kraft. Oder aber sie sagten, dass Chrysi Avgi keine echten Patrioten wären. Die konservativen und Zentrumsparteien sagten, dass die Chrysi Avgi es geschafft hätte, Antworten auf die Probleme der Leute zu geben, wie die illegale Migration und Kriminalität. Und deshalb müsse man so wie die Chrysi Avgi werden, damit sie nicht mehr gewählt werden. Ein Mitglied der sozialistischen Pasok, Andreas Loverdo (Anm.: ehemaliger Gesundheitsminister) sagte, dass Chrysi Avgi sei die erste Volksbewegung seit 30 Jahren und sie sei die „griechische Hisbollah", was für ihn etwas Gutes sei. Das ist nichts ungewöhnliches, die griechische sozialistische Partei hat eine lange Geschichte des Antisemitismus.

Erst nach dem Mord durch zwei Mitglieder von Chrysi Avgi an einem Griechen, dem Antifaschisten und Rapper Pavlos Fyssas, scheint Chrysi Avgi eine rote Linie überschritten zu haben, denn die Regierung griff danach hart durch, verhaftete einige Parteimitglieder, Parlamentsabgeordnete und sogar ihre Führung. Wie siehst du die Rolle des Staats als „Antifa"?

Während sie mit der einen Hand das machen, verrichten sie mit der anderen die Arbeit der Chrysi Avgi. Gleich nach den Verhaftungen führte die Polizei riesige Schleierfahndungen im Zentrum Athens durch und verhafteten jeden, der nicht griechisch genug aussah. Um die zwanzig Prozent hatten keine Papiere. Man kann von einer terroristischen Operation sprechen. Sie haben auch Romasiedlungen überfallen, um zu zeigen, dass auch der Staat damit umgehen kann. Der Antiziganismus war hoch oben auf der Agenda der Chrysi Avgi. In Thessaloniki hatte man Transfrauen massenweise unter dem Vorwand illegaler Prostitution verhaftet.

Graffito am Polytechnikum in Athen in Erinnerung an dem linken Rapper Pavlos Fyssas aka Killah P., der am 18. September 2013 von einem Neonazi ermordet wurde. Foto: Dieter Diskovic

 

„Sie haben Merkel zum Symbol gemacht"

 

Nun zur linken Partei Syriza. Sie versteht sich selbst als "Koalition der radikalen Linken". Wie radikal ist sie wirklich?

In ihrem Verständnis bedeutet Radikalismus, gegen die vom IWF auferlegten Maßnahmen zu sein und sie spielen mit einer Anti-EU-Rhetorik. Einer ihrer Flügel möchte auch aus der EU austreten, aber das ist nicht Parteilinie. Meistens sind sie etwas zweideutig und sagen, sie wollen in der EU bleiben, aber ohne IWF-Maßnahmen. Und sie bedienen sich Slogans wie: „Wir stehen einer neuen deutschen Besatzung bevor". Sie haben also keine klassische Klassenanalyse, sondern eine populistische, die den Bänkern vorwirft, nichts zur Wirtschaft beizutragen und Instrumente der deutschen Regierung zu sein. Sie haben dabei Merkel zum Symbol gemacht, oft auch mit sexistischen Untertönen.

Slavoj Zizek, ein Fan von Syriza, hat ihrem Vorsitzenden Alex Tsipras sogar den Rat gegeben, sich mit der „patriotischen Bourgeoisie" zu verbünden.

Aber das ist ja schon längst in ihrem Programm! Das schlimmste war, als es Gespräche zwischen Syriza und den Unabhängigen Griechen (Anel), eine rechtspopulistische Partei, gab. Beide sind gegen den IWF und die EU. Tsipras hat sich mit Panis Kammenos, dem Vorsitzenden der Anel, getroffen und es war die Rede davon, eine Koalition bilden zu können - was unheimlich wäre. Die Anel sind der rechte „lunatic fringe". Das sind Leute, die in diese Chemtrails-Verschwörungen glauben und dass George Soros die Wirtschaft kontrolliert.

Und so eine Koalition würde bei der Basis durchgehen?

Syriza war einmal eine sehr kleine linke Partei. Vor der Krise wurden sie von einigen Radikalen gewählt, weil sie sympathische Positionen hatten, wie beispielsweise gegenüber dem Zwang zum Militärdienst. Als sie so schnell viele Stimmen bekamen, haben sie alles auch nur entfernt Progressive aufgegeben. Anfang diesen Jahres gab es einen Skandal um Theodoros Karypidis, einem Kandidaten Syrizas zu den Lokalwahlen. Die Vorgeschichte war die kürzliche Restrukturierung des öffentlichen Fernsehens. Man hat alle TV-Stationen geschlossen, jede und jeden entlassen und einen neuen Kanal mit dem Namen NERIT mit neuem Personal eröffnet. Karypidis postete auf Facebook, wie NERIT vom hebräischen Ner, der Kerze zu Hannukah, stammt und wie die Juden zu Hannukah ihren Hass gegen die Griechen feiern würden. Er war aber schon davor antisemitisch aufgefallen und Syriza hat ihn trotzdem nominiert. Es gab dann eine interne Auseinandersetzung über seine Absetzung, bevor man es am Ende dann doch tat. Um noch eins drauf zu setzen, veröffentlichte man einen Artikel in der parteieigenen Zeitung Avgi, wo man dem American Jewish Committee, das über den Vorfall berichtete, verboten hatte, sich in interne griechische Angelegenheiten einzumischen.

 

„Jüdische Mörder"

 

Welche Rolle spielt denn der Antisemitismus in Griechenland generell?

Vor ein paar Tagen (am 25.3., Anm.)  feierte man den Nationalfeiertag der Unabhängigkeit Griechenlands vom Osmanischen Reich. Bei dieser Gelegenheit wird die Hymne gesungen, die das Gedicht eines nationalistischen Dichters der Zeit ist. Darin wird das Massaker an Juden und Muslimen von Tripoli gefeiert. Der Antisemitismus ist schon alt und wird generationsweise weitergegeben. Als Christine Lagarde vom IWF sagte, dass sie eine Liste von griechischen Millionären habe, die ihr Geld unversteuert in die Schweiz gebracht hätten, war das erste was Evangelos Venizelos, dem Vorsitzenden von Pasok, in den Sinn kam, dass die ersten paar Namen der Liste Juden seien.

Ist es generell so, dass sich der Antisemitismus unverblümt äußert, man also nicht den Umweg über Israel oder irgendwelcher Codes zu nehmen braucht?

In Griechenland ist der Antisemitismus noch nicht so tabuisiert wie in anderen europäischen Ländern. Es treten beide Formen auf. Wobei Linke die versteckte Form bevorzugen, aber nicht ausschließlich. Während der israelischen Intervention im Libanon veröffentlichte die „Neue linke Strömung", NAR, auf der Titelseite ihrer Zeitung das Bild eines Vaters mit seinem angeblich von israelischen Truppen getöteten Sohn. Die Bildunterschrift dazu war: „Jüdische Mörder, dafür werdet ihr bezahlen".

Foto: Dieter Diskovic

Inmitten von all dem, wie sieht da eure, also Antifa Negatives, Praxis aus?

Es ist eine schwierige und pessimistische Situation. Wir sind wenige und nicht sehr beliebt. Wir führen öffentliche Debatten, versuchen uns und andere zu bilden. Wir haben auch eine Broschüre über Homophobie und Antifaschismus herausgebracht. Mit anderen Gruppen, mit denen wir eine gewisse gemeinsame Basis haben, machen wir Demos in Nachbarschaften, wo es ein Naziproblem oder besser, ein griechisches Problem gibt. Für uns soll Kritik keine Kompromisse eingehen.

 

Das Interview wurde am 27.3. auf Englisch geführt und anschließend vom Autor ins Deutsche übersetzt.

Alessandro Volcich lebt in Wien und publiziert gelegentlich.

 

„Keep your coins – I want change!“

  • 05.05.2014, 13:17

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dass der 1. Mai in Athen einen höheren Stellenwert als in Österreich hat, merkt man bereits Tage zuvor an den unzähligen Plakaten, die an den Wänden der Stadt zur Demonstration aufrufen. Die Vielfalt der Gruppierungen ist bemerkenswert: es gibt Veranstaltungen von kommunistischen und trotzkistischen Gruppen, linken Gewerkschaften, Anarchist_innen und Anarchosyndikalist_innen, Autonomen und Antiautoritären.

Die meisten Gruppierungen ziehen von verschiedenen Treffpunkten los, schließen sich aber später zu einem großen Demonstrationszug zusammen. Für einen Tag sind die zahlreichen Meinungsverschiedenheiten vergessen. Nur die PAME, die Gewerkschaft der gestrengen Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), zieht eine eigene Route vor. Die KKE gilt als die letzte stalinistische Partei Europas, das offenere Linksbündnis SYRIZA hat ihr an Wähler_innenstimmen und gesellschaftlicher Relevanz jedoch längst den Rang abgelaufen.

Ein Plakat der PAME. Foto: Dieter Diskovic

Treffpunkt Polytechnikum. Foto: Dieter Diskovic

Schal gegen Tränengas?

Wir verzichten auf die Veranstaltung der PAME und treffen uns um 11 Uhr mit unseren griechischen Freundinnen Maria und Christina vor dem Polytechnikum. Man gibt uns erste Tipps für den Notfall: „Wenn die Polizei angreift, immer den Rucksack vorne tragen – so können sie euch schwerer festhalten. Habt ihr einen Schal gegen das Tränengas dabei?“. Nach einer Stunde setzt sich der Zug mit mehreren tausend Teilnehmer_innen und unzähligen Transparenten, Fahnen und Plakaten in Bewegung. Vor uns skandiert eine trotzkistische Gruppe lauthals ein Ende der Arbeiter_innenausbeutung, während neben uns eine Migrant_innenorganisation ihre Rechte einfordert.

Eine Gruppe türkischer Kommunisten mit beeindruckenden Schnurrbärten und noch beeindruckenderem Stimmvolumen verlangt den Sturz von „Nazi Erdoğan“, während man von hinten anarchistische Parolen gegen Staat und Kapitalismus hört. So vielfältig wie die Slogans, sind die Teilnehmer_innen selbst:  von Kindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen sowie unzählige Nationalitäten vertreten. Die Stimmung scheint bestens zu sein, doch Christina hat ein ungutes Gefühl: „Ich war schon auf vielen Demonstrationen und es ist immer irgendetwas passiert.“ Bis jetzt läuft jedoch alles friedlich ab, die Polizei hält sich im Hintergrund. Nur in den Seitengassen kann man sie in einiger Entfernung in voller Kampfmontur sehen.

Foto: Dieter Diskovic

Migrant_innenorganisationen fordern ihre Rechte ein. Foto: Dieter Diskovic

Von Kleinkindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen vertreten. Foto: Dieter Diskovic.

Der große Schock vor vier Jahren

Wir ziehen an einem ausgebrannten Gebäude vorbei. Früher war darin die Marfin-Bank untergebracht, bis sie 2010 bei einer Großdemonstration gegen den IWF in Brand gesteckt wurde. Da ein Generalstreik angesetzt war, hatte niemand damit gerechnet, dass sich darin Menschen aufhalten würden. Als drei Angestellte der Bank in den Flammen umkamen, stand die Protestbewegung lange unter Schock. Christina hat danach Demonstrationen gemieden, auch diesmal nimmt sie eher uns zuliebe teil.

Foto: Dieter Diskovic

„Entlassene zurück an die Arbeitsplatze - Streichung der Schulden – Arbeiter_innenkontrolle! Regierung, EU-Memoranden und Neonazis rauswerfen!“ Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Hier brannte am 5. Mai 2010 die Marfin-Bank aus. Foto: Dieter Diskovic

Gasmasken und Adolf Merkel

Die diesjährige Demonstration hat jedoch beinahe Volksfestcharakter. Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Die Menge zieht lautstark zum Syntagma-Platz, wo die mit Schildern und Gasmasken ausgerüstete Polizei das Parlament und Luxushotels abriegelt. Da niemand an einer Eskalation interessiert zu sein scheint, schützen die Masken die Polizist_innen nur gegen den Rauch des Straßengrills. Auf dem Gehsteig steht ein älterer Mann und präsentiert zwei Bilder. In der linken Hand hält er eine Fotomontage, auf dem der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble in Naziuniform zu sehen ist. Auf dem zweiten Bild ist der Demonstrant selbst zu sehen – ein Bild von Angela Merkel mit Hitlerbärtchen in den Händen.

„Heute ist es so ruhig, weil die Regierung die Demonstrationsgesetze verschärft hat. Wenn es Ausschreitungen gibt, kann man dich ins Gefängnis stecken, auch wenn du persönlich gar nichts gemacht hast“, erklärt uns Christina. Nur ein sehr junger „Koukouloforos“ (ein „Vermummter“, wie Politik und Medien die Anarchist_innen abschätzig nennen) lässt seine überschüssige Energie an einem Plakat der kommunistischen Gewerkschaft aus. Nach etwa zwei Stunden ist die Demonstration zu Ende, die Menge zerstreut sich. Viele gehen nach Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel, und lassen den Tag bei Kaffee, Bier oder Raki ausklingen.

Foto: Dieter Diskovic

Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

"Ich will Veränderung und kein Asthma!"

Es gibt eine Menge Gründe, um in Griechenland auf die Straße zu gehen. Nachdem Griechenland der Troika, einem Kontrollgremium mit Vertreter_innen der EU-Kommission, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank, unterstellt wurde, ist es de facto kein souveräner Staat mehr. Allen Protesten zum Trotz wurde eine brutale Austeritätspolitik durchgesetzt. Die Wirtschaft befindet sich in einer Abwärtsspirale, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 60 Prozent, während gleichzeitig der ohnehin schwache Sozialstaat kahlgeschlagen wurde. Mittlerweile fühlen sich manche Demonstrant_innen erschöpft und desillusioniert: „Früher waren wir auf fast jeder Demonstration. Wir sind Kilometer um Kilometer marschiert und am Ende haben wir immer eine Ladung Tränengas ins Gesicht bekommen. Politisch verändert hat sich nichts. Irgendwann beginnst du, den Sinn der Sache zu bezweifeln. Ich will Veränderung und kein Asthma!“

Das griechische Parlament. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Kaum jemand glaubt daran, die Situation durch Demonstrationen alleine grundlegend verändern zu können. Gleichzeitig sind immer weniger Griech_innen dazu bereit, die triste Wirtschaftslage als unabwendbares Schicksal hinzunehmen. Da man das Vertrauen in den Staat und in die Politik schon lange verloren hat, versuchen viele, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei ist man für neue Wege jenseits des etablierten Wirtschaftssystems offen und organisiert sich immer öfter in einer der zahlreichen solidarischen Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden sind. In Zeitbanken, Tauschbörsen, Alternativwährungen oder  Lebensmittelkooperativen finden viele Griech_innen neben rein materieller Hilfe ein längst verloren geglaubtes Solidaritätsgefühl. Oder wie es an einer Wand in Exarchia plakatiert war: „Keep your coins – I want change!“

Ein Plakat in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

 

Dieter Diskovic und Manu Banu studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagieren sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe. In den nächsten Wochen werden sie noch ausführlich über die Situation in Griechenland und die solidarischen Initiativen der Griech_innen berichten.

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