Gewaltbegriff

Gespenstische Gewalt

  • 23.03.2015, 21:35

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

Was haben eingeschlagene Scheiben und Burschenschaften mit Gewalt zu tun? progress hat im Gespräch mit Michael Staudigl, Dozent für Philosophie an der Universität Wien, den Weg zu einem differenzierten Gewaltbegriff gesucht.

progress: Die Berichterstattung rund um den Akademikerball (früher: WKR-Ball) ist meist stark auf die Gegenproteste fokussiert. Warum sind Burschenschaften und Rechtsextremismus nicht öfter Thema?

Michael Staudigl: Es gibt sehr wohl einen Diskurs, der das ganze Spektrum – von den Burschenschaften bis hin zu Rechtsextremismus – permanent reflektiert. Nachhaltige Präsenz in den Medien hat dieser aber nicht. Sichtbarkeit spielt aber eine Rolle. Die Frage dabei ist, ob es einen Zwang zur Sichtbarkeit gibt beziehungsweise inwiefern diese Zustände fast schon gewaltsam sichtbar gemacht werden müssen.

Ist es gerechtfertigt gegen strukturelle Gewalt, die auch Burschenschaften ausüben, gewaltsam zu protestieren?

Strukturelle Gewalt ist ein notorisch umstrittener Begriff, weil überhaupt nicht klar ist, was er bezeichnen soll. Es war für den sozialwissenschaftlichen Mainstream lange klar, dass unter Gewalt intendierte körperliche Verletzung zu verstehen ist. (Sprachwissenschaft und feministische Ansätze definieren meist jede Form von Zwang als Gewalt, Anm.) Vielleicht muss man zwischen „Gewalt“ und „gewaltsam“ unterscheiden. Der adjektivistische Gebrauch erscheint sinnvoller beziehungsweise treffsicherer. Man kann damit auch die ausschließenden Effekte von Strukturen und nicht nur direkte, angreifende Gewalt fassen. Er zeigt an, auf welche Art und Weise Gewalt in ein System eingebaut ist. Alles läuft darauf hinaus, dass man eine körperliche und eine diskursive Seite von Gewalt anerkennt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob Burschenschaften strukturelle Gewalt verkörpern.

Von Anti-Akademikerball-Seite wurden die Proteste oft damit legitimiert, dass der Ball als Symbolbild für die Gewalt steht, die auf bestimmte Gruppen wie Migrant_innen oder Jüd_innen strukturell ausgeübt wird.

Es geht also darum, darauf hinzuweisen, dass es Gewaltverhältnisse gibt, die dafür verantwortlich sind, dass „andere“ ohne größere Probleme oder sozialen Widerstand zu Opfern werden können: von Übergriffen oder rassistischer Gewalt zum Beispiel. Burschenschaften und die Art und Weise, wie diese politisch mobilisieren und argumentieren, sind mitverantwortlich dafür, wie Menschen als „andere“ etikettiert werden. Man weiß, dass Menschen gegenüber bestimmten Personen indifferenter sind als gegenüber anderen, wenn diese beispielsweise in einem Park verprügelt werden. Vielleicht kann man hier von struktureller Gewalt sprechen, die gleichgültig macht und betäubt. Dann wären Burschenschaften ein exemplarischer Fall von Akteuren, die ein feindliches Klima mit ermöglichen.

Also Burschenschaften als Mitverantwortliche an Missständen und rassistischen Übergriffen?

Ja, genau. Es gibt zwei Dimensionen: Einerseits die Erzeugung eines Klimas, in dem gegenüber dem einen oder der anderen Indifferenz und Apathie herrschen. Andererseits führt die Legitimation von Gewalt auch darüber hinaus. Zu erklären, wie und wann sich der Übergang von einem Szenario, in dem Gleichgültigkeit vorherrscht, zu einem Szenario, wo wirklich Gewalt ausgeübt wird, vollzieht, ist schwierig. Es stellt sich die Frage: Wo, und vor allem wie wird Gewalt plötzlich eine Handlungsoption?

Gibt es jemals eine Rechtfertigung dafür, sich für Gewalt zu entscheiden?

Es gibt eine Form der Gewalt, die vollständig gerechtfertigt wird, auch im modernen Recht: die Notwehr. Es gibt aber auch, wenn wir Walter Benjamin folgen, die Unterscheidung zwischen rechtssetzender und rechtserhaltender Gewalt. Letztere ist seinen Worten zufolge „gespenstisch“, denn sie schafft sich die Ausnahmezustände, in denen sie gewaltsam reagieren darf, selbst – und zwar gesetzlich legitimiert.

Man sieht mittlerweile auch, dass Gewalt vielfach in das Funktionieren von Gesellschaften eingearbeitet ist, dass sie also nicht schlichtweg als das Andere von kulturellem Sinn und gesellschaftlicher Ordnung verstanden werden darf. Ein einseitiger Gewaltbegriff lässt sich also nicht mehr halten, oder vielleicht nur dann, wenn man juristisch von Sachverhalten auf Tatbestände schließen muss. Das heißt aber nicht, dass man damit ein umfassendes Bild hätte; das wissen auch die Juristen und Juristinnen.

Die große Frage ist: Wo findet sich der Ausnahmezustand, der die Notwehr begründen kann? Wie lässt er sich rechtfertigen? Er muss immer als eine Form der Bedrohung für die Ordnung verstanden werden. Und wenn man näher hinsieht, so finden sich immer Imaginationen von Unordnung, die der ideale Träger von Gewaltrechtfertigungen sind. Egal, ob man jetzt die „Reinheit des Volkskörpers“ verteidigt oder vom „Clash of Civilisations“ spricht. Klarerweise gelingt die Legitimierung nie vollständig, sie hat immer blinde Flecken. Ich kann sagen, Gewalt ist das letzte Mittel, das ich ergreifen kann. Ich kann auch sagen, ich ergreife Gewalt im Blick darauf, die Gewalt zu beenden.

Zum Beispiel beim Aufzeigen von Diskriminierung und Missständen?

Damit eröffnet man ein spannendes Fragefeld: Was sind unbedingte Ansprüche, ohne die sich ein Menschenleben nicht realisieren lässt – sozusagen die Minimalbedingungen eines lebbaren Lebens? Das ist eine Sache des Kampfes um Anerkennung. Inwiefern ich mit Gewalt darauf aufmerksam machen darf, dass ich – oder andere – zählen, ist eine heikle Angelegenheit. Da muss man gewisse praktische Sicherheiten einziehen.

Wäre es eine Form solcher praktischer Sicherheit, zwischen Gewalt an Menschen und Gewalt an Sachen zu unterscheiden?

Allerdings. Eine Demokratie ist genau der Ort, an dem auch die, die keine Stimme haben, vernehmbar gemacht werden können und müssen. Der originäre Ort für jene, die in den klassischen Foren nicht gehört werden, ist die Demonstration. Jemandem den Eintritt in den Diskurs zu verweigern ist die schlimmste Form von Gewalt. Da wird nicht unmittelbar und direkt verletzt, sondern man ist nicht einmal mehr der Verletzung wert. Darum geht es aber in der Politik: die, die nicht zählen, zählbar zu machen.

 

Vanessa Gaigg studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

force, power and violence

  • 10.04.2015, 12:55

Sechs Dinge über Gewalt, die du noch nicht wusstest.

stark sein
Der Begriff Gewalt kommt von dem althochdeutschen Wort „waltan“, was so viel wie „stark sein“ oder „beherrschen“ bedeutet. Im Allgemeinen werden damit Vorgänge, Handlungen, aber auch soziale Zusammenhänge bezeichnet, mit denen auf Menschen, Tiere und – der besorgte österreichische Umgang mit Fensterscheiben und Mistkübeln lässt es schon erahnen – Gegenstände eingewirkt werden kann. Und zwar so, dass diese beeinflusst, verändert oder geschädigt werden. Je nach Kontext kann mit Gewalt ein direkter Einfluss oder auch nur eine Machtquelle, wie beim Begriff „Gewaltentrennung“, gemeint sein. Im Englischen gibt es für diese unterschiedlichen Bedeutungen eigene Wörter: Wer mit Gewalt einen Nagel einschlägt, benutzt force, die Gewalt als Machtquelle wird power genannt.


unterhaltsame Gewalt
Diskussionen über Gewaltdarstellungen in Filmen und Videospielen beherrschen regelmäßig Schlagzeilen, oft in Zusammenhang mit angeblich davon inspirierten nicht-virtuellen Gewalttaten. In Österreich hat jedes Bundesland sein eigenes Jugendschutzgesetz, was prinzipiell neun verschiedene Zulassungen von Filmen bedeuten könnte. In der Praxis prüft jedoch die Jugendmedienkommission des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur Filme und spricht eine Altersempfehlung aus, die von allen Bundesländern mit der Ausnahme Wiens übernommen wird. In der Hauptstadt sieht sich ein eigener Filmbeirat die Werke vor der Veröffentlichung an und gibt eine Altersempfehlung aus. Verpflichtend sind diese Empfehlungen jedoch weder bei Filmen noch bei Computerspielen. Anders sieht es in Deutschland aus: Dort wird von der Unterhaltungssoftware Selbstkontrolle (USK) jedes Computerspiel durchgespielt, von unabhängigen Expert_innen geprüft und mit einer verbindlichen Altersfreigabe versehen.


thermonukleare Metaphernexplosion
Sollte es in naher Zukunft in Österreich zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommen, wird manchen Medien die sprachliche Munition ausgehen. So werden jedes Jahr im Jänner bereits im Vorfeld die Proteste gegen den FPÖ-„Akademikerball“ als „Chaos“, „Krawalle“, „Ausschreitungen“ beschrieben, es wird vor „Gewaltexzessen“ gewarnt und nach den Protesten werden dann gar „bürgerkriegsähnliche Zustände“ herbeifabuliert. Diese verbale Aufrüstung wurde heuer auch von der Forderung der Bezirkshauptfrau des 1. Wiener Gemeindebezirkes nach einem Bundesheereinsatz in der Innenstadt begleitet. Wer sich Bilder von Städten wie Kobanê oder Aleppo, wo tatsächlich Bürger_innenkrieg herrscht, ansieht, wird relativ schnell erkennen, dass es sich bei Demonstrationen, an deren Rand Mistkübel umgeworfen (und wieder aufgestellt) und Fensterscheiben zerbrochen werden, mitnichten um Ereignisse handelt, die man als „Krieg“ bezeichnen könnte.


„bürgerkriegsähnliche Zustände“

ohne Graustufen
Die „erotische“ Romanreihe „Fifty Shades Of Grey“ von E. L. James ist von den Bestsellerregalen in die Kinos gewandert und feierte auch dort Erfolge. Während die Buchreihe von einigen als sexuelle Befreiung gefeiert wurde, hagelt es gerade aus der BDSM-Szene Kritik: Der beschriebene Sex sei zwar BDSM-Praktiken nachempfunden, die dargestellte Beziehung sei jedoch durch Missbrauch gekennzeichnet. Während in der BDSM-Szene Vertrauen, Konsens und sogenannte Safe-Words (Wörter, die im Vorhinein ausgemacht werden und „Stop“ oder „Nein“ bedeuten) eine wichtige Rolle spielen und das Ausleben gewisser Kinks überhaupt erst möglich machen, kommen diese Aspekte in James’ Roman überhaupt nicht vor. Nein-Sagen wird von der Romanfigur Grey konsequent ignoriert und gewalttätige Praktiken wie Stalking und Gaslighting werden glorifiziert und als sexy dargestellt. Laut einer Studie der Michigan State University haben Fifty-Shades- Leserinnen* ein höheres Risiko, in einer missbräuchlichen Beziehung zu leben, was zusammen mit dem Bild, das das Buch von BDSM vermittelt, zu einer Normalisierung häuslicher Gewalt führen könnte.


Monopol
In modernen Demokratien herrscht das sogenannte „Gewaltmonopol“ des Staates. Dieser Begriff stammt vom deutschen Soziologen Max Weber und drückt aus, dass die Mitglieder einer Staatsgemeinschaft darauf verzichten, selbst Gewalt auszuüben, um ihre Rechte durchzusetzen. Einzig die (meist demokratisch legitimierte) Exekutive hat das Recht, mittelbare (physische) oder unmittelbare Gewalt anzuwenden, um „Recht und Ordnung“ durchzusetzen. Lange Zeit galt dieses Gewaltmonopol in jedem Bereich, außer einem: der Familie (vgl. nächste Box). Aber auch Staaten geben gerne Stückchen und Scheibchen ihres Monopols ab: Private Sicherheitsfirmen oder gar Söldner_innen übernehmen Aufgaben des Staates und schrecken dabei – oft nicht ganz legal – vor Gewaltanwendung nicht zurück. Ein besonders schwerwiegender Fall ist das Militärunternehmen Blackwater (heute Academi). Im letzten Irakkrieg haben dessen Mitarbeiter_innen in mehreren Fällen Zivilist_innen getötet und Gefangene misshandelt. In Europa gibt es eine einzige legale Privatarmee: Die Atholl Highlanders stehen im Dienst des schottischen Duke of Atholl und sind heute eine Tourismusattraktion.


ungeschützt
Nicht alle sind gleichermaßen vor Gewalt geschützt. Während dies bei Eigentum und weißen Männern wenig Probleme bereitet, gibt es Personengruppen, die unverhältnismäßig oft Gewalt erleben. Zum Beispiel Kinder: Eltern hatten in Österreich bis 2000 (!) das Recht, zur „Erziehung“ Gewalt gegen ihre Kinder zu verüben. Auch gegen Gewalt in der Ehe, die meist von Männern ausgeht, gibt es erst seit 1997 ein eigenes Schutzgesetz, das Bundesgesetz zum Schutz vor Gewalt in der Familie. In diesem Jahr beschloss die EU eine Kampagne zur „vollständigen Ächtung von Gewalt gegen Frauen“. Auch Gewalt gegen trans*Menschen ist traurige Normalität: Das Transmurder Monitoring Project der NGO Transgender Europe, das systematisch Hassmorde an trans*Menschen analysiert, hat seit Projektbeginn im Jänner 2008 über 1.600 Morde an trans*Personen gezählt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

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