Fußball

„Alternative gab es keine“

  • 05.12.2015, 12:26

Der syrische Fußballtrainer Osama Abdul Mohsen wurde durch den Tritt einer ungarischen Kamerafrau berühmt. In Spanien hat er eine neue Heimat gefunden.

Der syrische Fußballtrainer Osama Abdul Mohsen floh mit seinem Sohn Zaid nach Europa. In Ungarn gelangte er durch den Tritt einer Kamerafrau ins mediale Rampenlicht. In Spanien, wo er eine neue Heimat gefunden hat, trüben Gerüchte um seine angebliche islamistische Vergangenheit den Neubeginn, wie er Jan Marot sagt.

progress: Wie geht es Ihnen nach den ersten Monaten nach der Flucht aus Syrien über die Türkei und die Balkanroute?
Osama Abdul Mohsen: Es geht mir wieder gut. Ich bin sehr, sehr froh, hier in Spanien zu sein. Die Kleinstadt Getafe ist eine ruhige Stadt mit freundlichen Menschen. Ich lebe hier in einer sehr hilfsbereiten, fremdenfreundlichen Nachbarschaft. Man hat uns mit offenen Armen empfangen. Ich bin hier sehr glücklich mit meinen beiden Söhnen. Man grüßt uns auf den Straßen, lächelt uns zu. Und man ist um unser Wohl besorgt, aber auch sehr interessiert an unserem Leben in Syrien und unseren Erfahrungen auf der Flucht.

Wie geht es Ihren Kindern in Spanien, dem jungen Zaid und dem volljährigen Mohammed?
Auch ihnen geht es wieder sehr gut. Sie haben längst mit der Schule begonnen und auch FreundInnen gefunden. Wenngleich vor allem Zaid, dem Siebenjährigen, seine Mutter sehr fehlt. Ich habe just nach meiner Ankunft hier einen Intensivsprachkurs begonnen und übe auch täglich mit meinen Kindern. Spanisch ist enorm wichtig. Nicht nur für das Leben hier und unsere Integration, sondern auch für meine Arbeit als Fußballtrainer.

Welches ist Ihr Lieblingsfußballteam in Spanien?
Real Madrid, wie könnte es anders sein (lacht). Bereits in Syrien war ich Fan. Und mein Sohn Zaid auch. Es war eine wunderbare Erfahrung, nach unserer Ankunft, das Team und Cristiano Ronaldo zu treffen und ein paar Pässe mit ihnen zu spielen. Damit ging für Zaid ein Traum in Erfüllung. Und er fasste auch neuen Mut, nach all der Mühsal und den schweren Monaten der Flucht.

Was waren die schwersten Stationen auf Ihrer Flucht?
Viele Stationen waren schwer, sei es in Griechenland, etwa auf der Insel Kos, direkt nach der Überfahrt. Aber auch in Mazedonien oder Serbien. Man erlebt Phasen permanenter Angst, teils Todesängste, und die quälende Ungewissheit nagt an einem. Was einen vorantreibt ist die Hoffnung, die ja bekanntlich zuletzt stirbt – die Hoffnung auf ein besseres Leben, in erster Linie für meine Kinder. Es war sehr, sehr hart. Doch ich muss sagen, Ungarn war mit Abstand der allerschlimmste Teil der Flucht. Ein permanenter Alptraum. Ein Land, das jegliche Menschlichkeit verloren zu haben schien. Aber das ist zum Glück jetzt alles überstanden. Hier in Spanien will ich bleiben. Hier bin ich nach langer Zeit wieder zufrieden und vor allem auch ruhiger geworden.

Wie haben Sie Österreich in Erinnerung?
In Österreich hat man uns sehr, sehr freundlich empfangen. Die PolizistInnen waren ausgesprochen hilfsbereit, die Soldaten des Bundesheeres auch. Viele Menschen waren offen und herzlich. Sie fragten, was uns fehlt, und gaben uns, was wir brauchten. Essen, Kleidung und auch Geld hat man uns gegeben. Mein jüngerer Sohn Zaid war ja zuvor in Ungarn bereits erkrankt. Er hatte sich stark verkühlt und fieberte. Dort hat man ihn nicht behandelt. Keine Chance. In allen Krankenhäusern hat man uns abgewiesen. In Österreich war ich mit ihm in drei Spitälern und überall hat man uns sofort geholfen. Und Zaid ist rasch gesund geworden, zum Glück. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den ÄrztInnen und allen Menschen, die uns in Österreich geholfen haben, von Herzen bedanken.

Gab es auch so etwas wie „gute Tage“ auf der Flucht?
Natürlich ist nicht jede Minute hoffnungslos. Solidarität zeigte man uns vielerorts. Und Flüchtlinge untereinander teilen und helfen, wie sie nur können. Auch in Griechenland, auf Kos, in Mazedonien und Serbien war man oft sehr nett und hilfsbereit. Die Menschen, die dort leben, tun, was sie können. Sie leben Menschlichkeit. Anders als in Ungarn. Aber die Lebensstandards sind nun einmal ganz andere als in Österreich und Deutschland. Dementsprechend half man uns dort weit mehr als in den Balkanstaaten oder dem von der Krise geprägten Griechenland. Vor allem seitens Privatpersonen, aber auch seitens der Sicherheitskräfte und des Roten Kreuzes. Weil die Menschen mehr haben. Doch auch diejenigen, die wenig haben, teilten oftmals das Wenige mit uns. Und wir waren viele Flüchtlinge, hunderte, oft tausende, die sich von Station zu Station bewegten.

Haben Sie noch Kontakt zu FreundInnen in ihrer Heimatstadt Deir ez-Zor?
Leider kaum. Das ist fast unmöglich. Maximal einmal im Monat schaffe ich es, mich mit meinen zwei Brüdern in Syrien auszutauschen. Die Wartezeit dazwischen ist geprägt von Ungewissheit und Angst. Denn man weiß nie, ob es das letzte Mal war, mit ihnen gesprochen zu haben. Aber zum Glück ist meine Frau in Sicherheit. Sie lebt noch in der Türkei. Ich versuche alles Menschenmögliche, damit sie auch zu mir nach Spanien kommen kann. Ich hoffe, das dauert nicht mehr lange. Ende November werde ich sie endlich besuchen können. Mit Zaid, meinem kleinen Sohn. Die Türkei-Visa und unsere Pässe haben wir nun bekommen, am 23. 11. fliegen wir. Ich habe meine Frau fast ein halbes Jahr nicht mehr in den Armen gehalten. Zaid vermisst seine Mutter sehr.

Haben Sie auch in den Flüchtlingslagern in der Türkei an der syrischen Grenze gelebt?
Nein, das wollten wir von Anfang an vermeiden. Die Zustände in den Lagern sind sehr schlecht. Also haben wir, einmal in der Türkei angekommen, für mich, meine Frau und meine Kinder ein kleines Haus gemietet. Das war sehr, sehr teuer. Und ich musste für zehn Euro Lohn am Tag schuften, damit wir Nahrung und ein Dach über dem Kopf hatten. Nach zwei Jahren hatten wir es satt, unter derartigen Bedingungen ein Überleben zu fristen. Meine Familie beschloss, dass ich mich auf den Weg nach Europa machen soll, mit meinem jüngsten Sohn. Das war keine leichte Entscheidung. Aber Alternative gab es keine.

Hat sich die Kamerafrau, die Sie attackiert hatte, bei Ihnen persönlich entschuldigt?
Das ist eine sehr bösartige Person. Sie hat nicht nur mich getreten, als ich meinen Sohn tragend vor der Polizei davonlief. Auch ein junges Mädchen hat sie getreten. Das sind Taten, die unentschuldbar sind. In Ungarn gehen aber viele Menschen davon aus, dass wir Flüchtlinge die Bösen sind und man ihnen sehr deutlich zeigen müsse, dass sie hier eben nicht willkommen sind. Unmenschlich ist das. Ich bin aber in Kontakt mit AnwältInnen und werde sie anzeigen, auf dass sie hoffentlich ins Gefängnis kommt.

Was sind Ihre Pläne für die nahe Zukunft in Spanien?
Ich bin noch bei der Trainerschule in Getafe. Ganz gleich bei welchem Team man mich braucht, ich werde dort arbeiten. Wie es nun aussieht, wird es ein Jugendteam werden, Villaverde Boetticher in Madrid, wo ich neben meiner Trainertätigkeit auch für die kommerziellen Beziehungen zu arabischen Staaten gebraucht werde. Das sei einmal für ein Jahr, wie man mir sagte. Dann werden wir weitersehen. Solange ich nicht nach Syrien zurückkehren kann, wird Spanien meine Wahlheimat bleiben.

Wie stehen Sie zu den internationalen Militärinterventionen?
Viele Nachrichten, die aus Syrien gemeldet werden, sind Lügen. Das Assad-Regime verbreitet selbst sehr viele Lügen. Ja, Assad hat Russland um Hilfe gebeten. Aber gegen wen? Und für welchen Zweck? Selbstzweck natürlich, um seine Position abzusichern. Die Zivilbevölkerung interessiert ihn wenig. Das Leben im Bürgerkrieg ist schlichtweg katastrophal. Das war es schon vor fast drei Jahren, als ich aus Syrien 2012 in die Türkei geflohen bin. Folglich habe ich auch vom Islamischen Staat, der dort mit Splittergruppen aktiv ist, noch nichts mitbekommen. Und ich hatte auch keinen Kontakt zum IS, der nun in weiten Teilen meiner Heimat wüten soll.

Nähe zum IS ist etwas, das man Ihnen auch wegen des Posts eines schwarzen Banners mit dem Schriftzug „Es gibt keinen Gott außer Gott“ auf Ihrem Facebook-Profil vorgeworfen hat. Und auch wenn man Ihren Namen googelt, scheint „Terrorist“ auf.
Das sind Lügen und bösartige, haltlose Gerüchte. Ich habe an Anti-Assad- Protesten für einen demokratischen Wandel in Syrien teilgenommen. Und man weiß nur zu gut, wie mit KritikerInnen von Präsident Bashir al-Assad verfahren wird. Die Gerüchte wurzeln vor allem in den Kommentaren eines Regime-freundlichen Journalisten und in rechtsextremen Online- Foren. Ich verabscheue Gewalt und habe absolut gar nichts mit radikalislamistischen Gruppen wie al-Nusra im Bürgerkrieg zu tun, das versichere ich Ihnen. Das Facebook-Foto hat man falsch interpretiert, auch wenn ich es mittlerweile entfernt habe. Der Spruch ist allen MuslimInnen wichtig. Nicht nur den Radikalen, die ihn für ihre Zwecke missbrauchen. Und nebenbei: Derselbe Spruch ziert auch die saudiarabische Flagge.

Glauben Sie, je nach Syrien zurückkehren zu können?
So Gott will ja, irgendwann. Doch der Krieg hat alles zerstört. Es ist sehr gefährlich und auch auf lange Sicht sehe ich keinen Frieden für mein Land am Horizont. Das Leben dort ist unmöglich geworden. Wenn der Krieg enden soll, „inshallah“, würde ich freilich gerne wieder als Trainer dort arbeiten. Aber derzeit kann ich meiner Familie von Spanien aus mehr helfen, als von vor Ort. Und auch meinem Land. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen? Das Morden aller Seiten muss aufhören. Der IS mordet, Assad mordet. Die RebellInnen morden. Europa muss uns helfen. Den Flüchtlingen, aber auch vor Ort. Die Regierungen, auch die spanische sind gefordert. Und die Verantwortlichen wissen selbst zu gut, dass sie mehr für Syrien und die syrische Bevölkerung machen können.

Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich und arbeitet als freischaffender Journalist in Granada, Spanien.
 

„Wer nicht hüpft, der ist ein …“

  • 16.07.2014, 10:26

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In Zusammenhang mit Sport werden exkludierende Ideologien verbreitet. progress nimmt den Antisemitismus im österreichischen Fußball unter die Lupe.

In der medialen Rezeption von Fußball steht oft die nostalgische Verklärung von Fußballlegenden, Vereinen oder einzelnen Spielen im Vordergrund. Eine kritische Hinterfragung der antisemitischen Auswüchse dieser Sportart wird dabei meist verunmöglicht. Zwar verweisen manche Stimmen neben der Kommerzialisierung des Fußballs auch auf Problematiken wie Antisemitismus und Rassismus auf den Tribünen. Aber selbst ihnen fehlt die theoretische Einbettung von einzelnen Tatsachenberichten. Das Wesen des Antisemitismus bleibt somit meist unerkannt und seine Ursprünge bleiben unhinterfragt.

Antisemitismus wird in der Fußballliteratur oft als eine mögliche Form des Rassismus abgetan und nicht eigenständig behandelt. Dieser Zugang spiegelt sich leider auch häufig in der antidiskriminatorischen Fanarbeit oder in Fairplay-Kampagnen wider. So wird Antisemitismus oft nur nach entsprechenden Vorfällen von Seiten der Spieler oder Fans explizit zum Thema gemacht und eigenständige Projekte zur Sensibilisierung und Prävention stehen bis heute aus.

Rassismus und Antisemitismus sind jedoch in ihrem Wesen und ihren Erscheinungsformen grundverschieden: Der Hass auf Juden und Jüdinnen richtet sich gegen ihre imaginierte Allmacht, wohingegen sich der Rassismus gegen die jeweilige Ohnmacht der rassistisch markierten „Anderen“ wendet. Gerade auch weil Antisemitismus im Fußball nicht immer so deutlich auftritt, aber dennoch latent vorhanden und tief verankert ist, wäre die Auseinandersetzung mit dem Phänomen von besonderer Wichtigkeit.

Wir-Identitäten. Im Fußball entsteht durch gemeinsam erlebte Siegund Niederlageszenarien ein regional bis national verortetes Gruppenbewusstsein. Unter Fans stehen meist Werte wie Zugehörigkeit, die Treue gegenüber einer Mannschaft sowie die KameradInnenschaft untereinander im Mittelpunkt. Der Historiker Michael John beschreibt Fußball als „ritualisiertes Kampfspiel mit stark hierarchischem Charakter“. Die dabei verstärkte Gruppenidentität kann dazu führen, dass der sportliche Gegner als realexistierender Feind wahrgenommen wird. Dabei entsteht ein kollektives Wir, das der Volksgemeinschaft nicht unähnlich ist und zur starken Identifizierung, auch durch Symbole wie zum Beispiel Fahnen, Kappen und Schals, einlädt. Fußballspiele können durch ihre Funktion als Ventil zur Freilassung von Aggressionen „potentielle Krisenherde“ darstellen, die ein gewisses Machtinteresse transportieren. Auf diese Weise vermischen sich soziale mit sportlichen Werten, die ausgehend von bestimmten Ideologien vorbestimmt sind. So ist auch die Affinität rechtsextremer Gruppierungen zum Fußball nicht neu und gründet auf den angesprochenen Wertvorstellungen bestimmter Fanszenen, wie der Betonung von KameradInnenschaft sowie nationalistischen, fremdenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Orientierungen.

Antisemitismus ohne Juden. Antisemitische Sprüche wie „Scheiß Juden“ oder „Wer nicht hüpft, der ist ein Jude!“ gehören bei Spielen gegen israelische Mannschaften zum rechtsextremen Fußballalltag. Rechtsextremes Gedankengut wird zudem über Symboliken wie Reichkriegsfahnen und Keltenkreuze oder über NS-verharmlosende Botschaften wie Hitler-Grüße zum Ausdruck gebracht. Dass Antisemitismus aber nicht auf real existierende Juden und Jüdinnen angewiesen ist, zeigt sich in Österreich beispielsweise in den Auseinandersetzungen der beiden Wiener Fußballklubs Austria (FAK) und SK Rapid. Da sich ersterer historisch gesehen aus bürgerlichen und jüdischen Gesellschaftsschichten zusammensetzte, sehen sich Rapid-Fans trotz der Tatsache, dass es in Österreich kaum bis keine SpitzensportlerInnen jüdischer Herkunft gibt, noch heute veranlasst, mit antisemitischen Parolen gegen die Austria anzutreten. Im August 2004 war auf einer Tribüne des Heimstadions der Austria der antisemitische Schriftzug „Franz Strohsack-Synagoge“ zu lesen, in Anspielung auf den Besitzer des Magna-Konzerns und ehemaligen Präsidenten der Austria, Frank Stronach. Bis heute finden sich rund um das Rapid-Stadion in Hütteldorf Davidstern-Sprayereien, verziert mit den Buchstaben FAK. Auch in den Reihen der Fans des Linzer Athletik- Sport-Klub (LASK) war 2007 ein Transparent mit der Aufschrift „Schalom“ zu sehen und Sprechchöre wie „Ihr seid nur ein – Judenverein“ waren zu hören. Bei einem Bundesligaauswärtsspiel 2009 gegen die Austria im Horr-Stadion wurden Parolen wie „Juden Wien, Juden Wien“ skandiert.

Judenfeindliche, antisemitische Ausdrucksformen zielen durch die mit antisemitischen Stereotypen verbundenen Konnotationen auf die prinzipielle Abwertung der gegnerischen Mannschaft oder der Schiedsrichter ab. Der Antisemitismus ist also auch als ein System von Welterklärungsmustern zu verstehen, in welchem Juden und Jüdinnen als Projektionsfläche für die eigene Paranoia dienen. Auch im Fußball zeigt sich die tiefgehende gesellschaftliche Verankerung der Ablehnung und Abwertung von allem, was als „jüdisch“ gilt.

Neonazis im Stadion. Fußballfans sind auch immer wieder Anwerbeversuchen durch Neonazis ausgesetzt, die Fußballstadien dazu nutzen, ihre Parolen zu platzieren. Antisemitisch motivierte Aktionen waren beispielsweise bei den Fans des Wiener Klubs Rapid insbesondere ab den 1980ern wieder verstärkt anzutreffen, unter anderem weil der international bekannte Holocaustleugner Gottfried Küssel begonnen hatte, im Rapid-Stadion Nachwuchs zu rekrutieren.

Aber auch die Austria hat seit einiger Zeit selbst ein massives „Neonaziproblem“. Insbesondere der rechtsextreme, inzwischen ausgeschlossene Fanclub Unsterblich fungiert seit einigen Jahren als Sammelbecken für Neonazis. Nicht nur Sprüche wie „Rassist, Faschist, Hooligan“ oder „Zick-zack Zigeunerpack“ sollen zu ihrem Standardrepertoire gehören, bei einem Europa League-Spiel gegen die baskische Mannschaft Athletic Bilbao waren neben einer Reichskriegsfahne auch Transparente mit dem Spruch „Viva Franco“ zu sehen. Bereits zuvor war der Austria-Fanclub Bull Dogs, der selbst das Keltenkreuz in seinem Logo hat, durch einschlägige Fanartikel in den Farben der Reichskriegsflagge aufgefallen.

Judith Goetz ist Literatur- und Politikwissenschafterin und Mitglied der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (www.fipu.at).

Literaturtipps:
Horak, Roman/Reiter, Wolfgang/ Stocker, Kurt (Hg.): Ein Spiel dauert länger als 90 Minuten, Junius, Hamburg 1988.
Michael John: Kriege im Stadion. Bemerkungen zu Fußball und Nationalismus; in: Schulze-Marmeling, Dietrich (Hg.): Der gezähmte Fußball. Zur Geschichte eines subversiven Sports; Göttingen 1992.

Wer schön sein will, muss leiden

  • 10.07.2014, 13:06

Während sich Frauen daran abrackern, anerkannte Sportlerinnen zu werden, wird es für Männer immer schwieriger, selbstbewusste Sportmuffel zu sein. Auch sie geraten immer mehr unter Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen.

Während sich Frauen daran abrackern, anerkannte Sportlerinnen zu werden, wird es für Männer immer schwieriger, selbstbewusste Sportmuffel zu sein. Auch sie geraten immer mehr unter Druck, Schönheitsidealen zu entsprechen.

Es ist Cristiano Ronaldo, der sich nach seinem Elfmetertor sein Trikotleiberl von Real Madrid über den Kopf zieht. Muskeln kommen darunter zum Vorschein. Ronaldo zeigt, wer hier das Sagen hat. Trotz seiner schwachen Performance im Finalspiel, ist er der König, nämlich Torschützenkönig der UEFA Champions League.

Goldener Sixpack. Ronaldo zeigt der Welt, wie ein „richtiger Mann“ auszusehen hat. Er repräsentiert, dass Männer mit breiten Schultern, Sixpack, Bizeps und Trizeps viel Geld machen und Erfolg haben können. Seine Botschaft: Seht her, dieser Körper ist Gold wert. Wenn ihr Männer da draußen nur wollt, könnt ihr so sein wie ich. Moritz Ablinger, Redakteur beim Fußballmagazin Ballesterer, ist überzeugt, dass sich der Fußballer David Beckham bereits um die Jahrtausendwende mit seinem sehr gepflegten und präsenten Körper extrem gut vermarktet hat. „Beckham wurde zum prägenden Fußballstar seiner Zeit und das, obwohl er kein großer Fußballer war.“ Ab diesem Zeitpunkt rückte ein durchtrainierter, modellierter Körper für Fußballspieler immer mehr ins Zentrum. Rosa Diketmüller, Professorin am Institut für Sportwissenschaften an der Uni Wien, beobachtet diese Entwicklung: „Es reicht nicht mehr, nur gut Fußball zu spielen, auch der Körper muss perfekt passen.“ Wer nicht gesund oder sportlich genug aussieht, dem hilft auch oft das Können nicht weiter.

Am Beispiel der Entwicklung des Fußballs lassen sich gesellschaftliche Umbrüche eindrücklich nachskizzieren. Der deutsche Männerforscher Klaus Theweleit behauptet sogar, wer den Fußball verfolgt, werde fast zeitgleich darüber informiert, wie sich die Gesellschaft verändert. Und die Geschichte des Fußballs scheint ihm retrospektiv Recht zu geben. Im Mittelalter war Fußball ein tagelanges, regelloses Spiel, das keine Unterscheidung zwischen Spieler_innen und Zuschauer_innen kannte. Mit der Industrialisierung verlor Fußball in England als Volkssport seine Bedeutung, fand seine neue Heimat in den Privatschulen und wurde dort kultiviert und diszipliniert. Eva Kreisky, emeritierte Professorin für Politikwissenschaften an der Uni Wien, sieht darin einen Bruch in der Rolle des Sportlers und Spielers. Von nun an ging es nicht mehr nur um spielerische Fähigkeiten, sondern auch um den Ethos des Spielers. Einen guten Spieler zeichneten ab diesem Zeitpunkt „Mut, Uneigennützigkeit, Fähigkeit zur Arbeit im Team und Härte gegen sich selbst“ aus.

Eiserner Wille. Angesichts der eisernen Disziplin, sich selbst und seinem Körper gegenüber, gewinnt das alte Sprichwort „Wer schön sein will, muss leiden“ wieder an Aktualität. Denn der Körper ist oft widerspenstig. Er ist nicht der erhoffte Verbündete im Wettkampf um die schönste Frau, den besten Job oder engsten Kumpel. Er sabotiert mit Bierbauch, Schwabbeloberarmen oder Hühnerbeinchen. Unzählige Fitness- und Gesundheitsratgeber sollen Männern helfen, ihren unfitten Körper zu überwinden. In dem heuer erschienenen Ratgeber „Sixpack in 66 Tagen“ gilt Selbstdisziplin als der Schlüssel zum Erfolg. Das Buch ist eines der Produkte des Muskeltrends. Autor Andreas Troger dokumentiert darin seinen Selbstversuch, sich innerhalb kurzer Zeit einen fitten, muskulösen Körper zuzulegen. Strikt werden Nahrung, Trainingsübungen und Erholungsphasen geplant und strukturiert. Der Sportwissenschaftler Werner Schwarz schreibt in „Sixpack in 66 Tagen“ zufrieden: „Als Experte stelle ich fest: Training gut geplant und ausgezeichnet umgesetzt; Ernährung optimal bilanziert und eingehalten; Zusatzernährung bedarfsgerecht auf Training, Zusatzbelastungen aus Beruf und Alltag sowie den Ernährungsplan abgestimmt.” Das klingt wie eine Analyse zur Wartung und Instandhaltung einer Maschine. Immer wieder wird betont, dass Troger eher ein Gelegenheitssportler sei, der gerne zum Fast Food greift und auch mal raucht und trinkt. Aber mit genügend Disziplin kann es selbst für den schlimmsten Sportmuffel noch ein glückliches Ende geben.

Der Körper wird zum sozialen Kapital, indem er wie ein Gegenstand behandelt und perfektioniert wird, um sich auf dem Markt als begehrte Ware verkaufen zu können. Unternehmen wie Coca Cola, Giorgio Armani oder Nike setzen in ihren Werbungen auf männerkörperbetonte Bilder, um ihre Produkte zu bewerben. Andere Firmen wie Red Bull setzen mit einem Extremsportprogramm weniger auf „Sex sells“, sondern auf Sport und Spannung. Die Sportler_ innen sollen den „Spirit“ der Marke vertreten. Und welcher Sport passt besser zum Slogan „Red Bull verleiht Flügel“ als Extremsport? Mit der Austragung von Sportevents erreicht Red Bull breite Medienpräsenz und schafft einen Wiedererkennungseffekt. Allein der Stratosphärensprung von Felix Baumgartner wurde von 200 Millionen Menschen weltweit mitverfolgt.

Im Gegenzug bekommen Sportler_innen Sponsor_ innenverträge. In medial sehr präsenten Sportarten, wie im Fußball, wird es daher für die Spieler zunehmend wichtig, sich als Marke zu etablieren. Laut Rosa Diketmüller setzen vor allem männliche Sportler ihre Körper gezielt für Marketingzwecke ein: „Ideale Kombinationen aus Bewegungsformen, die mit Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Körperbildern übereinstimmen, sind gewinnbringend. Dass vor allem männliche Sportler viel mehr Geld bekommen, zeigt, wo das System verankert ist.“ Eva Kreisky hat in dem Sammelband „Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht“ gezeigt, dass Sport, und im besonderen Fußball, ein wichtiger Herrschaftsstabilisator ist, der Bilder von Männlichkeit herstellt und institutionalisiert.

Die Konstruktion unterschiedlicher Körperbilder der Geschlechter ist auch in den Medien nicht zu übersehen. Während Männer am Cover von Men’s Health mit Versprechen wie „Breite Brust + starker Bizeps in nur 28 Tagen!“ geködert werden, ist es die „Last minute zur Bikini-Figur“-Formel im Women’s Health-Magazin, die Frauen ansprechen soll. Die Coverfotos sind ebenfalls repräsentativ dafür, wie das jeweilige Ideal aussieht. Der Mann trägt ein enges T-Shirt, unter dem sich deutlich die breiten Schultern und die muskulösen Arme abzeichnen. Die Frau zeigt ihren nackten, flachen Bauch, der unter dem kurzen Top sichtbar wird. Die beiden Bilder illustrieren, dass zu einem sportlichen Männerkörper Muskeln gehören, während Frauen, die Sport betreiben, vor allem schlank, aber nicht durchtrainiert aussehen sollen.

In einer Gesellschaft, in der sich jede_r über Selfies oder Social Media präsentiert, wird das Aussehen immer zentraler. Die ständige Sorge um den eigenen Körper ist für Männer eine paradoxe Entwicklung. Auf der einen Seite werden Männlichkeitsideale über durchtrainierte Körper definiert, andererseits sind Männer Hohn ausgesetzt und werden als verweiblicht und verweichlicht empfunden, wenn sie sich zu sehr um ihr Äußeres bemühen. Nicht ohne Grund wird Cristiano Ronaldos intensives Verhältnis zu seinem Körper in der Sportgemeinschaft auch zur Projektionsfläche für spöttische Kommentare. So kursierte beispielsweise im Internet ein Bild von einem rosa Spielzeugbeautyset mit einem Emblem von Ronaldo darauf.

Muskelpaket statt Stangensellerie. Die Gender- und Männerforschung verortet in dieser Diskrepanz einen neuen, extremen Druck auf Burschen und Männer. Gerade im Sport müssen Burschen den Überlegenheitsimperativ, also zumindest nicht schlechter als ein Mädchen zu sein, erfüllen, aber sie müssen nun auch gut dabei aussehen. „Der Schönheitszwang, mit dem Frauen konfrontiert sind, kommt jetzt auf die Burschen massiv und schlagartig zu. Junge Burschen sind oft gut durchtrainiert, viele gehen in die Kraftkammer und nehmen Muskelpräparate, damit sie mithalten können. Ein Stangensellerie zu sein, das geht nicht mehr. Die Burschen zupfen, werken, inszenieren und formen den Körper. Was gut und schlecht ist.“ Diketmüller ist überzeugt, dass Burschen durch die sportliche Bewegung durchaus auch ihr Selbstwertgefühl steigern und ein positives Körpergefühl bekommen können.

Bei Mädchen und Frauen hingegen sieht es bei der Motivation, Sport zu betreiben, meist doch ein wenig anders aus. Die Scham, resultierend aus Diskriminierungen, wie Pfiffen, abfälligen Bemerkungen oder auch nur Blicken, drängt sie in Fitnessstudios und zu „Speck-weg“-Trainingsprogrammen. Denn oft üben Frauen Sport – vor allem im öffentlichen Raum – erst aus, wenn sie die gesellschaftlich anerkannte, schlanke Figur bereits haben. Wenn sich das „Speckweg“- Motiv jedoch nicht in einen lustvollen Umgang mit Sport umwandelt, gibt es wenig Chance auf eine längerfristige sportliche Betätigung. Diketmüller sieht darin kein Eigenverschulden: „Ob ich als Frau Fußball spiele oder nicht, ist gesellschaftlich bedingt. Ob man Sport betreibt und welchen, sollte aber nichts mit dem Geschlecht zu tun haben.“ Dass Frauenfußball in den USA viel populärer als Männerfußball ist, zeigt für Diketmüller, dass die Wahl der Sportart hauptsächlich damit zusammenhängt, was in einer Kultur als „Männersport“ oder „Frauensport“ präsentiert wird. Eine wichtige Rolle spielen auch dabei die Medien, und die assoziieren Sport klar mit Männern. Nur 10 bis 15 Prozent aller Personen, die im Sport medial sichtbar sind, sind Frauen. Und die sind meist besonders attraktiv. Diketmüller erinnert sich an die ehemalige russische Tennisspielerin Anna Kurnikowa, die mit ihrem Aussehen bei den Medien punktete. Sie sieht jedoch die Gefahr, dass es jene Frauen, die nicht dem Schönheitsideal entsprechen (wollen), dadurch schwerer haben, erfolgreich im Profi-Sport Karrieren zu machen, oder sie überhaupt aus gewissen Sportarten ausgeschlossen werden.

Um der Sexualisierung des Frauenkörpers im Sport entgegenzuwirken, kämpfen beispielsweise Volleyballer_ innen oder Tennisspieler_innen für längere Röcke, weitere Hosen und stoffreichere Tops. Denn in erster Linie soll der Sport zählen, nicht wie sexy die Sportlerin aussieht.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

„Auch die FIFA ist ein politischer  Akteur“

  • 09.07.2014, 19:43

Sport bewegt die Massen. Das zeigen nicht nur feiernde Fußballfans, sondern auch die Proteste auf den brasilianischen Straßen. Aber nicht nur in Zeiten der WM prallen Sport und Politik aufeinander, meint der Politologe Georg Spitaler.

progress: Sie forschen als Politikwissenschaftler zum Thema Sport und Politik. Mit welchen Fragen setzen Sie sich auseinander?
Georg Spitaler: Das hängt davon ab, mit welchem Politikbegriff man arbeitet. Es gibt PolitikwissenschaftlerInnen, die mit einem sogenannten „engen Politikbegriff“ arbeiten, die befassen sich eher mit dem Verhältnis von Institutionen, Staatlichkeit und Sport – also mit der Art und Weise, wie Sport politisch reguliert und gesteuert wird. Ich arbeite eher mit einem weiteren Politikbegriff und beschäftige mich zum Beispiel mit kollektiven Identitäten und Identitätspolitik im Sport. Da geht es dann etwa um die Frage, wie Geschlecht im Sport konstruiert wird, oder wie Exklusionen, wie etwa Antisemitismus und Rassismus, im Sport funktionieren. Auch der Körper im Allgemeinen ist ein interessantes Thema im Sport, denn in ihn schreiben sich verschiedene Identitäten und Macht als solche ein.

Vor ein paar Wochen ging ein Video viral, in dem Obama in einem Fitnessraum eines Hotels beim Trainieren zu sehen war. Die Medien haben daraufhin Obamas sportliche Leistung mit der Putins, von dem ähnliche Aufnahmen im Netz kursieren, verglichen. Was macht den Körper der PolitikerInnen so interessant?

In der Mediendemokratie ist die Darstellung politischer Körper ein wichtiger Teil von Politikvermittlung. Es geht hier um die Demonstration von Macht und von verschiedenen Regierungsstilen. Inszenierungen von Fitness lassen sich in der Politik besonders im Wahlkampf auf Plakaten und in Werbespots wiederfinden – da wird oft auf Metaphern aus dem Sport zurückgegriffen, um politische Inhalte mit der positiven Sphäre der Freizeitkultur in Verbindung zu bringen. Bei Putin geht es dabei meist um machtvolle Inszenierungen und die Darstellung von Stärke. Ich denke bei Obamas Inszenierung steht hingegen stärker die Inszenierung von Normalität und Alltäglichkeit im Vordergrund. Sie soll uns sagen: Auch Obama geht ins Fitnesscenter. Das macht ihn für uns authentischer. Es geht dabei aber auch darum, Selbstdisziplin zu illustrieren und zu zeigen, dass man seinen Körper in Schuss hält. Das passt auch zu politischen Metaphern wie etwa „dem schlanken Staat“. Es passt gut zusammen, wenn PolitikerInnen einerseits ins Fitnesscenter gehen und sich andererseits gleichzeitig für eine neoliberale Wirtschaftspolitik stark machen.

Stehen sich Sport und Politik heute näher als zu anderen Zeiten?

Inszenierungen im Sport haben eine lange Tradition. Es gibt sie spätestens seit der Etablierung des Massensports und der Herausbildung von Nationalsportarten, in Österreich seit der Zwischenkriegszeit. Der Massensport ging mit der Konstruktion des Nationalen einher – das heißt, sportliche Erfolge wurden seither mit nationalen, lokalen oder regionalen Identitäten verknüpft. Es gab in dieser Zeit in vielen Ländern auch viele explizit politisierte Körperkulturen – wie in Österreich etwa der ArbeiterInnensport. Da gab es Massenorganisationen und öffentliche Aufmärsche, das Wiener Praterstadion wurde etwa 1931 für die Arbeiterolympiade gebaut, das war ein klares politisches Ritual. Das gab's natürlich nicht nur auf der Seite der ArbeiterInnen, sondern etwa auch bei den nationalsozialistischen Verbänden mit Verbindung zu militärischen Organisationen, die dann etwa Gymnastik oder Turnen, zum Teil auch öffentlich, praktiziert haben. Gleichzeitig gab und gibt es im Sport aber auch oft die Rhetorik des Unpolitischen. Viele AkteurInnen betonen eine Trennung der Bereiche Sport und Politik. Diese Idee gibt es spätestens seit der modernen Neuerfindung  der Olympischen Spiele durch Pierre de Coubertin, mit dem Olympismus als ziviler Religion. Olympische Spiele gelten aus dieser Sicht als unpolitischer Raum, eine Art Auszeit von der Politik. Sie wurden zur Bühne zentraler Werte der bürgerlichen Ära, die aber natürlich auch wieder politisch sind, siehe etwa Konzepte der Konkurrenz, der Fairness, angeblicher Chancengleichheit oder der Nation.

Auch FIFA-Präsident Joseph Blatter hat unlängst, in Hinsicht auf die laut gewordene Kritik an der Entscheidung, die nächste Fußball-WM (2018) in Russland stattfinden zu lassen, gemeint, man solle den Fußball vor der Politik und politischer Einmischung schützen. Inwiefern ist Sport ein Instrument der Politik?

Die FIFA ist ein globaler Akteur, der sicher auch ein politischer Akteur ist, sonst würde sie nicht darauf bestehen, bei Verhandlungen an einem Tisch mit anderen politischen Akteuren wie der EU zu sitzen. Bei Blatters Aussagen geht es wohl eher darum zu zeigen, dass es allein die FIFA ist, die die Politik des Fußballs macht. Im Hinblick auf Ihre Frage müssen wir aber differenzieren, was wir unter „der Politik“ verstehen. Am Beispiel Brasiliens wird deutlich, dass man nicht einfach sagen kann, dass etwa die brasilianische Regierung alleine von der WM profitiert. Im Kontext der WM zeigt sich, wie kompliziert die Governance- und Regierungsstrukturen bei einer solchen Entscheidungsfindung sind. Da gibt es etwa lokale Interessen wie die der Veranstalterstädte, die eine Rolle spielen, dann die der nationalen Regierungen und auch der Verbände, in dem Fall etwa des brasilianischen Fußballverbands, der übrigens auch eine lange Tradition von Korruption hat. Wenn hier wirklich jemand profitiert, dann ist das neben der FIFA und der Bauwirtschaft wohl der nationale Verband, der an möglichen Gewinnen beteiligt wird. Im Hinblick auf die politischen Proteste innerhalb der Bevölkerung war es für die brasilianische Regierung natürlich auch ein Risiko, dieses Großereignis zu veranstalten.

An der aktuellen WM wird deutlich, wie stark ein Sportevent ein Land in Aufruhr bringen kann. Im Vorfeld gab es bereits laute Demonstrationen und Repression gegen die Protestierenden. Es wird befürchtet, dass bei einer Niederlage Brasiliens die Situation endgültig eskalieren könnte. Welche Rolle spielt Sport im Protest und in sozialen Bewegungen?
Einerseits kann Sport dazu dienen,eine soziale Bewegung zu festigen, siehe etwa die ArbeiterInnenbewegung, in der es viele Sportvereine gab. Andererseits können Megaevents wie die WM auch große Proteste triggern. In den letzten Jahren wird die enorme mediale Öffentlichkeit dieser Megaevents zunehmend dazu genützt, um auf bestimmte Probleme und Anliegen aufmerksam zu machen. Am Beispiel Brasiliens wird sichtbar, welche politischen und sozialen Folgen ein Megaevent wie die WM hat: Der öffentliche Raum wird verändert, etwa wenn es um privatisierte Fanzonen, Sicherheitsmaßnahmen oder Umsiedlungen geht. BürgerInnenrechte werden im Zuge dessen weiter eingeschränkt. Das Missverhältnis von enormem Aufwand der Veranstaltung und nur schleppend verlaufendem Fortschritt bei Infrastruktur und Grundversorgung verursacht Proteste – sowohl gegen die FIFA als auch gegen die lokalen Regierungen.

Georg Spitaler lehrt am Institut für Politikwissenschaft in Wien, forscht zum Thema Sport und Politik und schreibt für das Fußballmagazin Ballesterer.
Das Interview führte Simone Grössing
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Foto: by-nc-sa  Joe Shlabotnik

2000 Feministinnen in Wien

  • 10.10.2012, 15:51

Das Frauenfußballteam ballerinas hat die erste internationale queer-feministische Fußballade für Frauen, Lesben, Inter und Trans in Wien organisiert. Vanessa Gaigg traf zwei ballerinas, Lisi und Cécile, zum Interview.

Das Frauenfußballteam ballerinas hat die erste internationale queer-feministische Fußballade für Frauen, Lesben, Inter und Trans in Wien organisiert. Vanessa Gaigg traf zwei ballerinas, Lisi und Cécile, zum Interview.

progress: Wie seid ihr zum Fußball gekommen?

Lisi: Ich bin vor ungefähr drei bis vier Jahren dazugekommen. Als Kind bin ich nie auf die Idee gekommen, Fußball zu spielen, weil ich nie eine Frau gesehen habe, die das macht – ich bin da ‚klassisch weiblich’ sozialisiert worden. Ich hab dann erst auf der USI (Universitätssportinstitut, Anm. d. Red.) einen Kurs gemacht und es hat mir so Spaß gemacht, dass ich weiter spielen wollte. Dann bin ich auf die ballerinas gestoßen, die sich da gerade neu formiert haben.

Cécile: Ich bin 2007 dazugestoßen. Fußball ist ein Bestandteil meines Lebens seit ich klein bin – immer, immer, immer. Ich hab semi-professionell gespielt, aber aufgehört, weil ich mit dem Kontext Fußball nix mehr anfangen konnte. Die Gewalt am Feld, die Gewalt in der Kantine, die Gewalt in der Vereinsstruktur. Da hatte ich Fußball für mich abgeschrieben. Dann hab ich die ballerinas getroffen und mir gedacht: na gut, ich probier's noch einmal. Fußball ist für mich das schönste und intelligenteste Spiel, das ich je gesehen und erlebt habe. Und hier funktioniert's: Es geht ums Spielen, dass ein Pass ankommt, dass man mitläuft, dass man überlegt und dass man als Team funktioniert.

progress: Euch ist vor allem wichtig, dass ihr schön zusammenspielt, es geht nicht nur ums Gewinnen. Ist das ein wesentlicher Abgrenzungspunkt zu anderen Teams?

Lisi: Es ist sehr wichtig für uns, dass es wirklich ums Fußballspiel geht. Wir sind ein Team und wir wollen gemeinsam spielen. Es gibt bei uns Leute wie Cécile, die seit ihrer Kindheit spielen und Leute wie mich, die erst später dazugestoßen sind. Uns ist total wichtig, dass alle mitspielen können und nicht einige wenige die Tore reinbrettern, weil das geht schnell einmal. Natürlich wollen wir  Bälle ins Tor bringen, aber es geht schon sehr stark drum dass wir gemeinsam spielen und schön spielen. Und wir sind schon oft auf Turnieren angesprochen worden, dass wir am schönsten gespielt haben, auch wenn wir letzte geworden sind. 

progress: Wie hat sich die Gewalt geäußert?

Cécile: Damit meine ich zum Beispiel eine Schlägerei am Feld, nicht nur ein Foul, sondern die Gegnerinnen treten und in der Kabine noch erklären, dass Fussball Krieg ist. Weil es geht ums Siegen, nur ums Siegen. Dann – klar – gibt es noch die strukturelle Gewalt zwischen Männern und Frauen. Die Frauen kriegen den Platz zum Trainieren, wo es kein Flutlicht gibt, das heißt du trainierst im Dunklen oder nur mit Straßenlaternenlicht. Der Verein hat im Winter keine Kohle, damit du in der Halle trainieren kannst, also heißt's auch im Jänner oder Februar draußen zu trainieren... das ist auch nicht so lustig. Und dann natürlich noch die Homophobie, alle Fußballerinnen sind lesbisch, und so weiter. Das ist eine Struktur, die sich durchzieht.

progress: In eurem Manifest steht, dass ihr bewusst außerhalb jeglicher Vereinsstrukturen spielt. Warum ist euch das wichtig?

Cécile: Ein Verein hat eine Struktur, eine Hierarchie, eine Hackordnung... und das wollen wir nicht. Wir haben keine TrainerIn, keine Kapitänin, keine Sprecherin, wir sind ein Kollektiv.

Lisi: Wir gehören schon dem schwul-lesbischen Sportverein Aufschlag an, aber das eher aus praktischen Gründen. Das ist kein Fussballverein, das heißt wir sind relativ autonom.

progress: Gibt es Vereine, mit denen ihr befreundet seid?

Cécile: Ja, mit den Gaynialen schaffen wir es, ein bis zwei Mal im Winter zu trainieren. Seit kurzem haben wir auch Kontakt zu acht weiteren Teams, wir versuchen das auf jeden Fall zu intensivieren.

progress: Wie schätzt ihr die Situation von Frauenfußball in Wien ein?

Lisi: Es wird besser, aber es wird noch lange nicht ernst genommen. Ich weiß nicht, wie das ist mit professionellen Vereinen, aber ich merke in meinem privaten Umfeld, dass es immer noch schwierig ist. Es gibt extrem viel Sportförderung für alles, was mit Männerfußball zu tun hat, aber wenn Frauenfußballinitiativen mal um Förderungen ansuchen, dann ist plötzlich kein Geld da.

Cécile: Ich habe mein Leben lang beim Vater/Sohn Turnier zusehen müssen, weil ich eben nicht der Sohn meines Vaters bin. Ich will endlich mal ein Mutter/Tochter Turnier sehen, ich hätte gerne, das andere das erleben dürfen.Wir wollen im Schweizergarten (in Wien, Anm. d. Red.) einen gesperrten Platz haben für Mädchen zum Fußball spielen beziehungsweise Sport treiben. Wir versuchen seit zwei Jahren, das durchzukämpfen. Nach dem Turnier wollen wir das wieder in Angriff nehmen. Wir wollen einen Platz mit Kabine und Platzwart, wir würden sogar zwei Arbeitsplätze in Wien schaffen. (lacht)

Lisi: Die Mädchen werden immer von Burschen vertrieben und können nicht spielen. Deswegen ist auch die Notwendigkeit da, einen eigenen Bereich zu schaffen, wo sie spielen können. Das sichtbar zu machen ist ganz wichtig - deswegen war es uns auch ganz wichtig, das Turnier draußen zu veranstalten, dass man uns sieht und wenn man vorbeikommt sieht: Die haben Spaß!

Cécile: Und es sind viele!

Lisi: Ja, es sind sehr viele! Es spielen 16 Teams und 145 Spielerinnen.

progress: Wie habt ihr das Turnier organisiert? Von den 145 Spielerinnen sind ja viele auch extra angereist.

Cécile: Ja, es sind auch Teams aus Polen, Deutschland und England angereist. Wir haben uns anfangs jedes Monat, später jede Woche getroffen. Jede von uns hat sich verpflichtet, ein Jahr dabei zu sein und nicht abzuspringen.

Lisi: Wir wollten eben nicht nur das Turnier organisieren, sondern haben auch eine Ausstellung zu Lesben und Schwulen im Sport aufgestellt und wir haben einen Infotisch mit Infomaterial. Wir wollen nicht nur spielen, sondern auch einen politischen Anspruch haben.

Cécile: Wir haben Glück gehabt, dass gleichzeitig die FrauenSommerUni (FSU) und rampenfiber stattgefunden hat. Es sind an die 2000 Feministinnen in Wien! Nicht nur Frauen, sondern: Feministinnen! Es gibt Sport, Kultur und Bildung: Feminismus lebt und wird gelebt.

progress: Besitzt Fußball mehr emanzipatorisches Potential als andere Sportarten? Gerade was feministische Belange angeht?

Lisi: Theoretisch nein, praktisch ja. Es ist so, dass Fußball nach wie vor in der Welt, in der wir leben sehr stark mit diesen seltsamen Männlichkeitsbildern aufgeladen ist und ich deswegen schon glaub', dass es einfach eine gewisse emanzipatorische Wirkung haben kann, wenn man als Frau Fußball spielt.
Wenn wir im Prater oder auf der Donauninsel trainieren passiert es uns oft, dass Männer stehen bleiben und wenn wir den Ball grad rausschießen, müssen sie vorher unbedingt noch Tricks machen, bevor sie ihn zurückschießen. Bei einem Männerteam macht das niemand. Je mehr Frauen in der Öffentlichkeit Fußball spielen, umso mehr kann es auch verändern. Auch das Selbstbild von Frauen ändert sich dadurch. Zumindest meines hat sich dadurch verändert.

Cécile: Klar, weil du exponiert bist. Du bietest eine Angriffsfläche.

Lisi: Und Fußball ist auch ein Kontaktsport.

Cécile: Ja, du bist verschwitzt, rutscht am Boden, bist dreckig, fällst und stehst wieder auf.

 

Zwischen Autonomie und WM

  • 13.07.2012, 18:18

Katalonien hat in diesem Sommer gebebt: Vor Ärger über den beschränkten Autonomiestatus und vor Freude über den Sieg Spaniens bei der Fußball-Weltmeisterschaft

Katalonien hat in diesem Sommer gebebt: Vor Ärger über den beschränkten Autonomiestatus und vor Freude über den Sieg Spaniens bei der Fußball-Weltmeisterschaft

In den katalanischen Tageszeitungen wechseln sich wochenlang fußballbegeisterte pro-spanische Schlagzeilen mit empörten Kommentaren zum Autonomiestatut und der „katalanischen Frage” ab. La Razon etwa verkündet drei Tage vor dem WM-Finale „España vence unida“ (Spanien gewinnt vereint) und sogar das in Barcelona ansässige Tagesblatt La Vanguardia stimmt in die Fußball-Begeisterung ein und titelt Spanien- freundlicher als gewohnt „Todos jugamos juntos“ (Wir spielen alle gemeinsam). In der Rubrik Opinión findet sich dann aber doch auch der gewohnte katalan-nationalistische Ton. „Katalonien, alte Nation Europas (so drückt es das Statut aus), verdient Respekt. Dass es ja niemand herabsetze!” Katalonien scheint in der Frage über sein Verhältnis zu Spanien mehr als zwiegespalten. Während sich die Hälfte der KatalanInnen von Spanien unterdrückt oder sogar besetzt fühlt, ist die andere Hälfte sehr zufrieden mit ihrer doppelten Identität.
Doch woher rührt diese jahrzehntelange Diskussion um die katalanische Unabhängigkeit, die auch nach Jahrhunderten der politischen Zugehörigkeit zu Spanien nichts von ihrer Aktualität eingebüßt hat?

Katalonien als Großmacht. Noch heute erinnern sich die KatalanInnen gerne an die einstige Größe Kataloniens, das sich im Mittelalter über weite Teile des Mittelmeerraums, von Valencia und Mallorca bis nach Neapel und den Inseln Sizilien, Korsika und Sardinien zog. Die Erklärung für den glühenden Nationalstolz der meisten KatalanInnen ist wohl in der jüngeren Geschichte der nun autonomen Region Catalunya zu finden, die lange Zeit vor allem durch Unterdrückung geprägt war. In der Zeit der Diktatur Francos (1939–1975) wurde die katalanische Kultur und Sprache aus dem öffentlichen Leben verbannt. Katalanisch konnte nur zuhause gesprochen werden. Auf der Straße mussten Strafen befürchtet werden. „Meine Eltern sind beide aus anderen Regionen Spaniens hierher nach Barcelona gezogen“, erklärt mir meine Freundin Cristina. „Während der Zeit der Diktatur haben sie deswegen zuhause auch immer nur Spanisch gesprochen. Deswegen habe ich Katalanisch dann erst recht spät in der Schule gelernt. Bei den Kindern mit katalanischen Eltern hat die Sprache zuhause überlebt. Anderswo hätten sie es nicht sprechen dürfen.“

Verbreitung des Katalanischen. Nach dem Tod Francos 1975 wurde die demokratische Landesregierung wiederhergestellt. Seitdem kann das Català wieder überall auf den Straßen gehört und auf Plakaten und Straßenschildern, in Zeitungen und in Büchern gelesen werden. Spanisch und Katalanisch sind seither die offiziellen Sprachen Kataloniens. Katalanisch ist allerdings die erste Bildungssprache in den Schulen und Universitäten. Die von vielen KatalanInnen ersehnte gänzliche Separation von Spanien, blieb jedoch ein unerfüllter Wunsch. Ihre Unabhängigkeit und Identität betonen sie seither vor allem über ihre Sprache. Deswegen legt auch die katalanische Landesregierung viel Wert auf die Verbreitung derselben. Im Rahmen eines normalització genannten Prozesses versucht die regionale Regierung den vielen, aus anderen Teilen Spaniens, Zugewanderten die katalanische Sprache näherzubringen. Durch Kampagnen für die Verbreitung des Katalanischen, das Anbieten unentgeltlicher Sprachkurse und Förderungen der katalanischsprachigen  Literatur, ist es gelungen die einstige Position des Català zumindest teilweise wiederherzustellen.
Kurz nach Ende der Diktatur wurde die Autonomie bestimmter Regionen, darunter auch der Comunitat Autònoma de Catalunya durch die spanische Verfassung 1978 anerkannt. Ein Jahr später wurde ihre unabhängige Position mit dem Estatut d’Autonomia de Catalunya 1979, dem ersten Autonomiestatut Kataloniens, das als eine Art eigene Verfassung für Katalonien, verstanden werden kann, weiter gestärkt. Mit dem Autonomiestatut 2006 ist neuerlich Bewegung in die katalanischen Unabhängigkeitsbestrebungen gekommen. Dieses kommt der Forderung der KatalanInnen nach mehr wirtschaftlichen und finanziellen Kompetenzen für die Region größtenteils nach. Die der Region Catalunya garantierte Unabhängigkeit wurde aber vom spanischen Zentralstaat als zu weitgehend empfunden. Unter anderem bezeichnet der erste Artikel Katalonien als „Nation“, ein anderer bezeichnet das Katalanische als „vorrangige Sprache“ vor dem Spanischen und ein weiterer Artikel will den Vorrang des katalanischen Zivilrechts, das seit jeher eigenständig neben dem spanischen besteht, normieren. Diese umstrittenen Punkte wurden im Juli 2010 vom spanischen Verfassungsgericht als verfassungswidrig aufgehoben.

Würde des Landes. Als Reaktion auf dieses Urteil wurde vom Präsidenten der Generalitat de Catalunya, José Montilla, zur Demonstration aufgerufen: „Um für die Würde eines Landes zu kämpfen muss man vieles tun. Wenn es zu einem Angriff darauf kommt, muss man auf die Straßen gehen.“
„Ich verstehe die Aufregung nicht. Ich bin Katalanin. Auch zuhause rede ich katalanisch. Aber ich finde den Rest von Spanien auch sehr schön“, empört sich meine Kollegin Mari und meint bezüglich der angekündigten Demonstration: „Ich werde dort bestimmt nicht hingehen!“.
„Spanien muss endlich verstehen, dass Katalonien ein eigenes Land mit eigener Kultur ist. Wenn wir unsere Kultur nicht pflegen, wird sie irgendwann in der spanischen untergehen.“ meint meine Bekannte Marta. Und mein Vermieter Paco zuckt nur mit den Schultern und bemerkt „Ich bin zwar Katalane, aber ich gehe nicht zur Demonstration. Das bringt ohnehin nichts.“ So viele KatalanInnen zu diesem Thema befragt werden, so viele Meinungen werden herauskommen. Aber egal ob diese der Autonomie positiv oder negativ gegenüberstehen – keine Katalanin und keinen Katalanen lässt das Thema kalt.