Fremdenrecht

Wenn alles am Spiel steht

  • 28.03.2013, 22:16

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Der Protest der Refugees aus der Votivkirche geht nun in einem Kellergewölbe eines alten Wiener Klosters weiter: 64 Flüchtlinge laufen um ihr letztes Hemd, die Politik stellt sich blind. Ein Lokalaugenschein.

Akbarjan Abdullah sitzt auf seinem Feldbett und kramt suchend in seinen Sachen. „Zehn Jahre lang habe ich in Afghanistan Cricket gespielt“, erzählt der 22Jährige auf Englisch. „Ich würde so gerne auch in Österreich Cricket spielen – aber kaum jemand interessiert sich hier für diesen Sport“, sagt Abdullah. Deswegen hat er begonnen, Volleyball zu spielen, das war ihm zumindest ein wenig Ersatz. Mittlerweile hat er in einer Tasche gefunden, was er gesucht hat: einen Pokal. Gleich sein erstes Volleyball-Turnier in   Österreich hat er gewonnen. Stolz zeigt er seine Trophäe in der Runde herum.

Abdullah ist einer jener Flüchtlinge, die im November den langen Marsch aus Traiskirchen angetreten sind, um gegen die unzumutbaren Zustände der österreichischen Asylpolitik zu demonstrieren. Er protestierte im Zeltlager im Sigmund-Freud-Park und danach in der Votivkirche. Als die österreichischen PolitikerInnen nur mit Arroganz reagierten, trat auch er in den Hungerstreik, um seinen Forderungen Nachdruck zu verleihen. 13 Kilo hat er in dieser Zeit verloren. Mehrere Male musste sein gesundheitlicher Zustand im Krankenhaus kontrolliert werden.

Trotz eisernem Durchhaltevermögen brachte auch diese drastische Maßnahme wenig Erfolg: Die österreichische Politik weigerte  sich weiterhin, auf die Forderungen der Flüchtlinge einzugehen. Nun setzt Abdullah seinen Protest gemeinsam mit 63 Mitstreitern  im Keller des Servitenklosters im neunten Wiener Gemeindebezirk fort – ohne Hungerstreik.

Dass ihm am erhofften Ende seiner Flucht ein dermaßen harter Kampf bevorsteht, damit hatte Abdullah nicht gerechnet. Er kommt aus der Nähe von Kabul, arbeitete dort in einem Lebensmittelgeschäft und verkaufte Speiseöl. Eines Tages wollten ihn die Taliban rekrutieren: „Wenn du nicht zu uns kommst, dann bringen wir dich um“, drohten sie ihm. Er aber wollte mit ihren Gräueltaten nichts  zu tun haben. „Dann haben sie mich entführt und für 27 Tage in einem winzigen Raum eingesperrt“, erzählt Abdullah. Seit fast zwei  Jahren ist er in Österreich, ein Jahr lang hat seine Reise von Afghanistan mit Schiff und LKW gedauert. Auf dem Weg musste er sich von seinen Eltern trennen, mit denen er zuerst gemeinsam nach Pakistan geflohen war. Seither hat er nichts von ihnen gehört. Als er  in Österreich ankam, wusste er nicht, wo er eigentlich war. „Ich habe jemanden gefragt, und er hat gesagt: ‚in Österreich‘. Ich  meinte: ‚Nicht der Ort, das Land, wie heißt das Land?‘; ‚Österreich – Austria’“, erinnert sich Abdullah. „Dann habe ich erst verstanden, wo ich überhaupt gelandet bin.“ Er war in einem katastrophalen körperlichen Zustand, hatte keine Schuhe, keine frische  Kleidung und überall am Körper entzündete Wunden. Daher musste er zunächst für einige Tage ins Krankenhaus. Aufgrund seiner Hautprobleme sollte Abdullah zweimal am Tag duschen, regelmäßig Kleidung und Bettwäsche wechseln. Das ist im Servitenkloster  zwar leichter als in der Votivkirche. Trotzdem gibt es hier für 64 Flüchtlinge nur eine Dusche.

Provisorium. Die Luft im Keller des Servitenklosters ist feucht und abgestanden, die Bettwäsche mieft etwas. Dennoch sieht es sehr  ordentlich aus: Jedes der provisorischen Klappbetten ist gemacht. Wer die Refugees besucht, wird gastfreundlich und herzlich empfangen. „Mit Zucker?“, fragt der 21jährige Ahmad Zai Azizulla, als er den Tee bringt. Wer nichts hat, der gibt am meisten –  dieses Sprichwort bewahrheitet sich in diesem Kellergewölbe. Azizulla ist erst seit sechs Monaten in Österreich. Auch er musste aus Afghanistan flüchten, weil er von den Taliban verfolgt wurde. Sein älterer Bruder wurde von ihnen getötet, weil er sich nicht  rekrutieren lassen wollte. Azizulla wartet noch auf seinen ersten Asylbescheid. „Es geht nichts weiter“, sagt er. In Österreich war er zuerst in Traiskirchen und dann in Straden untergebracht: „Ein kleines Dorf, in dem es überhaupt nichts gibt.“

„Die schlechten   Lagerbedingungen und das Verfrachten der Flüchtlinge an enorm exponierte Orte, in denen es an jeglicher Infrastruktur mangelt, haben System“, meint Irene Messinger, Politikwissenschafterin und Spezialistin für Fremden- und Asylrecht. „Das wundert nicht, sieht man sich an, wie wenig der Staat für die Grundversorgung der Flüchtlinge ausgeben möchte. Das und die komplette Entmündigung waren bestimmt Initialzünder für die Demonstrationen“, sagt sie.

Gezielte Strategie. Der Protest der  Refugees ist der erste dieser Art: Zwar hat es schon zuvor immer wieder Protestschreiben von Flüchtlingen gegen die unzumutbaren Zustände gegeben. Über die Briefform ging es aber selten hinaus. „Es gab in gewisser Hinsicht eine Phantasielosigkeit in der Ausdrucksform dieses Protests – und die ist jetzt aufgebrochen“, sagt Messinger. Sie hat   jahrelang in NGOs im Bereich der Rechtsberatung für Fremdenrecht und Asylverfahren gearbeitet. „Ein Problem ist auch, dass Asylrecht ExpertInnenwissen geworden ist. Ich denke, das ist eine gezielte Strategie, Unterstützung zu verunmöglichen oder zu erschweren“, sagt sie. Und auch wenn das Ministerium der Öffentlichkeit mit „geschönten Statistiken“ immer wieder
das Gegenteil weismachen wolle: „Österreich ist kein Land, in dem es gute Aussichten auf Asyl gibt.“

Zentrale Forderung der Refugee-Proteste sei die Arbeitsmarktpolitik. Hier einen Erfolg zu erringen, sei Messinger zufolge symbolisch sehr wichtig. Die Flüchtlinge haben auf diesem Gebiet auch Support von verschiedensten NGOs. Auch für Abdullah ist das eine der drängendsten Forderungen. „Wir brauchen euer Geld nicht. Wir wollen keine Almosen, wir wollen arbeiten“, sagt er. Er sei es gewöhnt, Geld selbst zu verdienen und wolle nicht vom Staat leben. Derzeit ist die Arbeitsregelung für AsylwerberInnen aber besonders restriktiv – de facto dürfen sie nur in der Saisonarbeit und der Sexarbeit tätig sein.

Wie es weitergeht? Messinger befürchtet, dass das „Ministerium langfristig fremdenrechtlich durchgreifen und in voller Härte  abschieben“ werde. Auch Abdullah ist sich unsicher, ob sein Protest erfolgreich sein wird: „Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich  nicht. Wir können nur hoffen. Wenn wir jetzt aufgeben, dann verlieren wir alles.“ Auch er rechnet mit Abschiebungen. Und „alles verlieren“, das heißt für einen Flüchtling viel mehr als die Aussichten auf ein gemütliches Leben im Wohlfahrtsstaat Österreich zu begraben: „Ich liebe mein Land und ich möchte heim. Aber wenn ich jetzt zurück muss, töten mich die Taliban.“

Brücken statt Stacheldraht

  • 13.02.2013, 17:30

Klaus Schwertner: "Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es ird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben."

progress: Wann wären die Proteste in der Votivkirche aus Sicht der Caritas ein Erfolg?

Klaus Schwertner: Durch ihren Protest haben die Flüchtlinge schon sehr viel erreicht: Sie haben sichtbar gemacht, dass es  grundsätzliche Probleme in den Unterkünften und im Verfahren gibt. Erstmals treten AsylwerberInnen in einer breiten Öffentlichkeit selber für ihre Anliegen ein. Menschenrechte gelten für alle, das vermitteln sie eindrucksvoll. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass  wir in einem Rechtsstaat leben, das heißt nicht jedeR die oder der Asyl beantragt, wird auch Asyl erhalten. Die PolitikerInnen könnten zwei Dinge von den Flüchtlingen lernen: mehr Menschlichkeit und mehr Mut. Eine Lösung für die Flüchtlinge in der Votivkirche ist eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.

Warum hat sich aus der Bundesregierung niemand in die Kirche begeben? Oder der Bundespräsident, der sich auch
für Arigona Zogaj stark gemacht hat?

 
Das müssen Sie die PolitikerInnen selbst fragen. Es gab in der Kirche Gespräche mit Kardinal Schönborn und mit Othmar Karas, dem Vize-Präsidenten des Europaparlaments. Aber es ist nicht so wichtig, wo ein Dialog stattfindet, sondern dass ein Dialog stattfindet. Die Innenministerin hat Anfang Jänner vier Flüchtlinge, die in der Votivkirche Schutz suchen, empfangen. Dabei hat sie zwei Stunden lang mit ihnen gesprochen und faire Verfahren versprochen – aber auch betont, dass es keine strukturellen Änderungen im  Asylrecht geben werde.

Welche gesetzlichen Änderungen braucht es aus Ihrer Sicht?

Es ist nicht alles schlecht und nicht alles gut im österreichischen Asylwesen. Wenn man sich die Verhältnisse in Griechenland anschaut, stehen wir hier nicht so schlecht da. Trotzdem sollte Europa gemeinsam Brücken bauen, anstatt Stacheldrähte hochzuziehen. Österreich braucht rasche, qualitätsvolle Asylverfahren. In acht von neun Bundesländern gibt es baufällige, schimmlige Quartiere. Da brauchen wir Mindeststandards: Es geht nicht um Hotels mit drei Sternen, sondern um menschenwürdiges Wohnen. Wir brauchen eine einheitliche Beurteilung der Gefahren in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Es mutet eigenartig an, dass auf der Homepage des Außenministeriums Reisewarnungen der höchsten Sicherheitsstufe für Pakistan ausgesprochen werden, aber die Flüchtlinge aus diesen Regionen möglicherweise dorthin zurück müssen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass im Asyl- und Fremdenrecht seit 20 Jahren eine Verschärfung die andere jagt.

Unzählige Novellen haben dazu geführt, dass die Qualität der Gesetze immer schlechter geworden ist. Durch die Schaffung des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration sollte es aber hier dringend notwendige Verbesserungen geben. In den letzten Jahren hat  sich einiges zum Positiven verändert. Aber auf der einen Seite wirft man Flüchtlingen oft vor, dass sie viel Steuergeld kosten, und auf der anderen Seite lässt man sie nicht arbeiten – das ist zynisch. Die aktuelle Regelung erlaubt nur Saisonarbeit bei der Ernte. AsylwerberInnen dürften Gurkerl ernten, aber aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit dürfen sie oft nicht dort hin, wo  die Gurkerl sind.

Haben sich SPÖ und ÖVP in der Frage der Rechte von MigrantInnen zu lange von der FPÖ treiben lassen?

Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es wird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben. Menschen, die sich fünf Jahre in Österreich aufhalten, drei davon legal, bekommen einen Rechtsanspruch auf humanitäres Bleiberecht. Abschiebungen von Kindern mit Sturmgewehren, Familien, die auseinandergerissen werden: Diese Zustände müssen in Österreich ein Ende haben und ich bin  guten Mutes, dass uns das gelingt. Es braucht klare Gesetze und Menschlichkeit.

Was das Herz berührt

  • 13.02.2013, 17:17

Alexander Pollak (SOS Mitmensch): "Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen."

progress: Wie hat sich das politische Klima für Menschenrechte in den letzten 20 Jahren entwickelt? Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen 1993 und 2013?

Alexander Pollak: Zum Einen hat sich verändert, wer die Debatte führt. Die Zivilgesellschaft hat mehr Gewicht bekommen, es gibt mehr Organisationen, die sich individuell und politisch für Flüchtlinge engagieren. Es kommen immer wieder Impulse von der EU,  die in Österreich umgesetzt werden müssen. Ich denke an die Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen vor zehn Jahren. Neu sind die Herkunftsländer der Flüchtlinge: AsylwerberInnen aus Afrika und Asien, die sich mit den restriktiven Regelungen  herumschlagen müssen, haben wir erst seit den letzten Jahren. Verändert hat sich auch die Wahrnehmung der FPÖ: Sie ist zu einem  Teil der Normalität geworden. Vor 20 Jahren war die Empörung über die Hetze der FPÖ noch größer.

Der Journalist Peter Huemer hat bei der Matinee zur 20-Jahr-Feier des Lichtermeers die Frage in den Raum gestellt, ob man nicht  mindestens so massiv gegen SPÖ und ÖVP protestieren müsste, die Haider und jetzt auch Strache immer wieder nachgegeben  haben. Wie sehen Sie das?

Unsere politische Arbeit richtet sich in erster Linie an die Regierung, also beispielsweise an den Sozialminister, wenn es um ein Recht auf Arbeit für AsylwerberInnen geht, oder an die Innenministerin, wenn es etwa um unzulässige Härten in Asylverfahren geht. Die FPÖ nimmt vor allem eine Rolle wahr: Den Diskurs immer wieder aus einer menschenfeindlichen Perspektive anzuheizen.

Hat  sich die politische Mitte durch diesen Anti- Migrations-Diskurs verschoben?

Es gibt eine gewisse Verschiebung. Aber diese ist nicht eindimensional. Eine negative Verschiebung sehe ich, was die Bereitschaft betrifft, menschenfreundliche Reformen anzugehen. Aber ich sehe auch positive Verschiebungen: Vor 20 Jahren gab es kaum  Dorfgemeinschaften und BürgermeisterInnen, die sich für Asylsuchende stark gemacht haben.

Welche Strategien gibt es gegen die angesprochene Abstumpfung gegenüber dem Thema Asyl?

Menschen sind leichter für Mitleid als für konkrete rechtliche Anliegen zu gewinnen. Viele haben Probleme damit, wenn Flüchtlinge plötzlich beginnen, Forderungen zu stellen und sich selbst zu artikulieren, wie das in der Votivkirche passiert. Unsere Kampagnen richten sich nicht primär danach aus, ob Mitleid erregt werde kann, etwa weil Kinder betroffen sind, oder nicht. Aber alles, was das  Herz berührt, hat größere Chancen, wahrgenommen zu werden und Engagement zu wecken. Dieser Logik kann sich niemand ganz  entziehen.

Was ist das Neue an den Protesten in der Votivkirche?

Dass eine Innenministerin Flüchtlinge empfängt, ist auf jeden Fall neu. Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen. Ich glaube nicht an Erfolge von heute auf morgen. Regierungen lassen sich ungern von außen zu Änderungen zwingen. Allerdings sind Verbesserungen im Asylbereich dringend nötig. Positive Reformen weiter hinauszuschieben, ist keine gute Idee.

Was hindert die Regierungsparteien daran, für zumutbare Bedingungen für Flüchtlinge zu sorgen?

Inoffiziell hören wir aus der SPÖ und auch aus der ÖVP immer wieder, dass sie unsere Anliegen unterstützen. Aber die Ängstlichkeit der Regierungsparteien vor der FPÖ und dem Boulevard verhindert Verbesserungen. Diese Angst macht aber gerade die FPÖ nicht schwächer, sondern gibt ihr immer wieder neue Nahrung. Wenn die Regierungen der letzten 20 Jahre konsequenter eine Linie für  Menschenrechte eingenommen hätten, wäre die FPÖ um nichts stärker, sondern eher schwächer, als sie heute ist.

Keine Frage des Könnens

  • 13.02.2013, 17:12

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer, Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer,  Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

Es war die größte politische Kundgebung, die Österreich je gesehen hatte und bis heute gesehen hat. 300.000 Menschen demonstrierten am 23. Februar 1993 am und um den Wiener Heldenplatz. Keinen halben Kilometer Luftlinie weiter frieren und hungern im Winter 2013 AsylwerberInnen in der Wiener Votivkirche. Sie finden die Lebensumstände in den Asyllagern nicht mehr  zumutbar und ihre Position aussichtslos.

Rückblende. Anfang der 1990er-Jahre scheint der Aufstieg der FPÖ kaum zu stoppen. Jörg Haider ist seit sechs Jahren Obmann der größten Oppositionspartei, er nennt SPÖ-Innenminister Franz Löschnak „meinen besten Mann in der Regierung“. Trotz interner  Widerstände setzt Haider  das sogenannte „Ausländervolksbegehren“ durch. Es beinhaltet gezielte Tabubrüche wie die Verknüpfung eines Zuwanderungsstopps mit der Arbeitslosenquote und eine „Ausländerquote“ in Schulklassen. Der liberale Flügel der FPÖ bricht nach dem Volksbegehren weg, fünf Abgeordnete um Heide Schmidt gründen das Liberale Forum (LIF). Den Takt in der  Fremdenpolitik gibt die FPÖ trotzdem weiter vor. 20 Jahre später ziehen zwei Protagonisten der Menschenrechtsbewegung von heute  ein vorläufiges Resümee. progress hat Caritas-Pressesprecher Klaus Schwertner und SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak getroffen und mit ihnen über das raue Klima in der österreichischen Menschenrechtspolitik und die Perspektiven des Protests in der Wiener Votivkirche gesprochen und dabei unterschiedliche Einschätzungen gefunden, was Flüchtlinge in Österreich in den kommenden Jahren erwartet.

Weiterlesen: Interview mit Alexander Pollak (SOS Mitmensch)

Weiterlesen: Interview mit Klaus Schwertner (Caritas)

Minderjährig, allein und auf der Flucht

  • 23.12.2012, 19:24

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

Die Zahl unbegleiteter Flüchtlinge unter 18 Jahren steigt. Oft sind sie monatelang unter unvorstellbaren Strapazen unterwegs. Angekommen in Österreich haben sie abermals viele Hürden zu überwinden, bis ihnen vielleicht Schutz zugesprochen wird.

„Mein Zimmer aufräumen und mich mit Freunden treffen“, antwortet Amel* auf die Frage, was sie an diesem Samstag noch vorhat. Aus der Küche strömt der Geruch von gebratenen Zwiebeln, laute Popmusik dröhnt durch den Gang. Ein paar Jugendliche sind gerade damit beschäftigt, das gemeinsame Essen vorzubereiten. Im angrenzenden Aufenthaltsraum tippt ein Mädchen auf der Tastatur eines Laptops, ein anderes malt ein Bild. Doch bereits beim Betreten des Hauses in der Braunspergengasse im zehnten Wiener Gemeindebezirk wird klar, dass es sich hier nicht um eine gewöhnliche Wohngemeinschaft für Jugendliche handelt. Eine weiße Kamera, die vor dem Eingang montiert ist, überwacht das Geschehen vor dem Gebäude. Bevor der Portier das Öffnungssignal für die Haustüre freigibt, nimmt er eine Gesichtskontrolle vor.

Seit 2005 befindet sich in diesem Haus die WG Refugio, eine Wohngemeinschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF), die von der Caritas betreut wird. Hier finden Jugendliche, die zumeist auf sich allein gestellt aus unterschiedlichen Krisenregionen der Welt nach Österreich gekommen sind, bis zur Volljährigkeit ein neues Zuhause. Eine von ihnen ist die 16-jährige Amel, die mit ihren beiden Brüdern aus Afghanistan geflüchtet ist. Seit einem halben Jahr leben alle drei in der Wohngemeinschaft. Amel trägt ein lockeres Kopftuch aus durchsichtigem Stoff, ihre langen schwarzen Haare sind zu einem losen Zopf zusammengebunden. Trotz der kalten Jahreszeit trägt sie türkise Flipflops aus Plastik.

Taliban-Terror. Beim Reden löst sich eine Seite des Kopftuches immer wieder und fällt auf ihre rechte Schulter. Amel rückt es behutsam zurecht. „Für die Taliban sind wir keine richtigen Moslems, weil meine Mutter als Krankenschwester gearbeitet hat und ich zur Schule gehen durfte“, sagt sie. „Die Taliban wollen, dass sich die Mädchen fürchten und das Haus nicht verlassen.“ Sie  verschränkt ihre Arme, schlägt ihre Beine übereinander und erzählt, dass sie gemeinsam mit Freundinnen auf dem Heimweg von der Schule war, als zwei Personen auf Motorrädern neben ihnen Halt machten. Sie begannen Flüssigkeit auf die Mädchen zu spritzen. Im ersten Moment dachte Amel, es sei ein Jungenstreich und man wolle sie mit Wasser necken. Doch dann sah sie überall Blut, ihre  Haare und Teile ihres Körpers brannten.

Seit diesem Tag wagte auch sie es nicht mehr, in die Schule zu gehen. Während Amel von ihrem Heimatland erzählt, gerät ihr Redefluss immer wieder kurz ins Stocken. Ihr Blick ist dann suchend und ihr Mund formt sich zu einem schüchternen Lächeln. „Es  tut mir leid, aber manchmal vergesse ich Dinge auch einfach“, sagt sie. Das Regime der Taliban beschreibt Amel als ein  gnadenloses, gegen das Polizei und Regierung machtlos sind. Angst und Terror sind täglicher Begleiter der meisten AfghanInnen. Amels Vater war als Geschäftsmann in der Holzindustrie tätig und arbeitete mit den AmerikanerInnen zusammen. Die Taliban haben ihn und einen ihrer Brüder getötet. Kurz darauf ist ihre Mutter nach Europa geflüchtet, wo sie sich heute aufhält, weiß niemand. Da ihre Brüder den ganzen Tag arbeiteten, war Amel ab diesem Zeitpunkt immer alleine zu Hause. Die Angst, getötet oder entführt zu werden, war allgegenwärtig.

Wenig später half ein Onkel, der in Kabul lebt, die restlichen Habseligkeiten der Familie zu verkaufen, um an Geld für eine Flucht zu kommen. Wie lange diese tatsächlich gedauert hat, weiß Amel nicht mehr. „Ich denke es waren drei bis vier Monate, aber ich bin mir nicht sicher. Wir haben in dieser Zeit nicht darüber nachgedacht, wie lange wir schon unterwegs sind. Wir haben einfach nur  gebetet“, sagt Amel.

So wie Amel und ihren Brüdern geht es vielen. Im Jahr 2011 haben laut Angaben des Bundesministeriums für Inneres (BMI) mehr als 1100 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge Österreich erreicht. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, Pakistan und  Somalia. Die Jugendlichen fliehen vor Krieg, Verfolgung, Hunger oder Vertreibung. Im Jahr 2012 wurde bis September bereits jeder zehnte Asylantrag in Österreich von einem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling gestellt. „Das sind alles Überlebende, die es  hierher schaffen“, sagt Elina Smolinski, Betreuerin in der WG Refugio. Gerade Jugendliche seien in einer sehr verletzlichen Situation,  wenn sie alleine unterwegs sind – besonders die Mädchen. Bis sie es nach Österreich schaffen, sind sie oft monatelang unterwegs.

Doch was im Moment fehlt, sind ausreichend geeignete Unterbringungsplätze für die Jugendlichen. Zwar hat sich die Situation für  unbegleitete Minderjährige laut Smolinski seit der Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen im Jahr 2004 verbessert, das Problem sei aber, dass es in den vergangenen Jahren immer Schwankungen gegeben habe. Darum ist es auch nie vorhersehbar,  wie viele Plätze benötigt werden.

Erstaufnahme. In der WG Refugio leben momentan acht Mädchen und acht Jungen. Alle besuchen Deutschkurse oder Schulen.  Früher hatte die Caritas zwei Wohngemeinschaften in Wien, eine musste jedoch geschlossen werden, weil Wien die Quotenplätze   übererfüllt hat. „Dass die Plätze für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nicht einmal annähernd ausreichend sind, sieht man an der momentanen Situation in Traiskirchen“, sagt Smolinski. Dorthin kommen die Jugendlichen, bevor sie an die Einrichtungen für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aufgeteilt werden. Im Moment müssen in Traiskirchen über 500 unter 18-Jährige ausharren,  ohne Zugang zu sozialpädagogischer oder psychologischer Betreuung. Darunter auch unter 14-Jährige, obwohl der  Grundversorgungs- Koordinationsrat im Dezember 2011 festgehalten hat, dass unbegleitete Flüchtlinge unter 14 Jahren nicht in die Erstaufnahmezentren Traiskirchen oder Thalham überstellt werden sollten. Stattdessen sollen sie in Heimen oder Wohngemeinschaften in jenem Bundesland untergebracht werden, in dem sie angehalten wurden und die von den dort ansässigen Jugendwohlfahrtsträgern betrieben werden.

Auch Amel hat drei Monate in Traiskirchen verbracht. Eine Zeit, an die sie sich nicht gerne zurückerinnert, denn „Traiskirchen ist hart.“ Sie erzählt von überbelegten Zimmern, Konflikten mit anderen Flüchtlingen, zu wenig Essen und einer unzureichenden medizinischen Versorgung.

Fremdbestimmtes Alter. Außerdem wurde für Amel in Traiskirchen ein neues Geburtsdatum festgelegt. Nach einer Reihe medizinischer Untersuchungen wurde ihr Alter auf 16 Jahre angesetzt. Laut eigenen Angaben ist sie erst 15. Trotzdem respektiert sie die Entscheidung: „Mir ist es egal, ob ich 15, 16, 17 oder 18 Jahre alt bin, solange ich hier die Möglichkeit bekomme, ein gutes Leben zu führen“, sagt sie und erzählt, dass sie selbst viele Menschen in Österreich viel jünger schätzt. „In Afghanistan arbeiten Kinder schon im Alter von acht Jahren, darum sehen sie im Gesicht auch viel älter aus.“

Smolinski erzählt, dass die Altersbegutachtung für die Jugendlichen eine große Belastung sei. „Sie erleben das als sehr einschüchternd. Es manifestiert sich dadurch, dass ihnen nicht geglaubt wird.“ Außerdem sei es für einen jungen Menschen, der  viele Veränderungen durchgemacht hat und auf der Suche nach seiner Identität ist, verunsichernd, wenn vom Staat ein neues Geburtsdatum festgelegt werde. Auch Herbert Langthaler von der Asylkoordination Österreich stellt die Brauchbarkeit der Methode  in Frage und zweifelt an ihrer ethischen Vertretbarkeit. „Wir haben mehrmals vorgeschlagen, dass in diese rein medizinische, physische Untersuchung auch soziale, gesundheitliche und psychologische Aspekte hineingebracht werden“, sagt Langthaler. Eine Volljährigkeitserklärung hat zudem erhebliche Konsequenzen für eineN MinderjährigeN. Beispielsweise darf er/sie nicht mehr in  einer Betreuungseinrichtung für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wohnen. Viele müssen dann ihre Ausbildung abbrechen und werden in abgelegene AsylwerberInnenheim überstellt, wo es keine Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.

Kein Schutz. Obwohl unbegleitete minderjährige Flüchtlinge rechtlich besser gestellt sind und besser betreut werden, stehen die Chancen auf permanentes Asyl schlecht. Bislang wurde ihnen zumeist ein subsidiärer Schutz gewährt, eine Art zeitlich befristetesAsyl, um das immer wieder neu angesucht werden muss. Doch auch dieses wird laut Langthaler in letzter Zeit immer seltener ausgestellt. Abschiebungen nach Afghanistan oder Somalia können aber nicht durchgeführt werden, weil die Botschaftenkeine Heimreisezertifikate ausstellen. Die Folge ist, dass die Flüchtlinge schlecht versorgt und ohne Chance auf eine Arbeit oder eine andere Beschäftigung in Österreich bleiben. Auch Amel hat bereits ihren Antrag auf Asyl eingereicht, bisher aber keine Antwort bekommen. Eigentlich müsste das Bundesasylamt innerhalb der ersten sechs Monate eine Entscheidung treffen. Diese Frist wird laut Smolinski aber kaum eingehalten.

Durchschnittlich beträgt die Wartezeit auf die erste Entscheidung ein bis zwei Jahre, sie mündet meist direkt in ein Berufungsverfahren. Bis das Verfahren abgeschlossen ist, sind die meisten Flüchtlinge, die als Minderjährige nach Österreich gekommen sind, bereits volljährig. Die lange Wartezeit schürt die Ängste der Jugendlichen. „Ich habe Angst, aus dem Land geworfen zu werden und dann zu sterben oder an einen 60-jährigen Mann verkauft zu werden“, sagt Amel.

Zwei Klassen. Neben den lang andauernden Verfahren gibt es auch bei der finanziellen Unterstützung Handlungsbedarf. Die Tagsätze für die Betreuung und die Unterbringung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wurde seit dem Jahr 2004 nicht angehoben. Für Smolinski existiert zwischen österreichischen Jugendlichen ohne Eltern und unbegleiteten minderjährigen  Flüchtlingen noch immer eine Ungleichbehandlung. „Da gibt es klar eine Zweiklassengesellschaft“, so Smolinski. Das bestimme auch den Alltag der Jugendlichen, denn sie leben an der Armutsgrenze. Doch kein Grund für Amel, den Mut zu verlieren. Trotz allem sagt sie: „Das Leben ist so schön. Für mich ist es hier, als würde ich eine neue Familie bekommen.“

*Name von der Redaktion geändert.

Die Autorin Elisabeth Mittendorfer ist freie Journalistin in Wien.