Flucht

Hürdenlauf Nostrifizierung

  • 05.12.2015, 19:18

Dokumente, Taxen, Ergänzungsprüfungen: Das steht Migrantinnen und Migranten bei der Nostrifizierung bevor. Wie erfolgt eigentlich die Anerkennung ausländischer Studienabschlüsse in Österreich? Eine Spurensuche.

Dokumente, Taxen, Ergänzungsprüfungen: Das steht Migrantinnen und Migranten bei der Nostrifizierung bevor. Wie erfolgt eigentlich die Anerkennung ausländischer Studienabschlüsse in Österreich? Eine Spurensuche.

Hasan H. (Name auf Wunsch geändert) aus dem syrischen Homs ist seit vier Monaten in Österreich und lebt in einer Flüchtlingsunterkunft in Reichenau an der Rax. Sein Asylverfahren ist mittlerweile in Gang, doch Hasan will arbeiten, und zwar so rasch wie möglich. In Syrien war der 33-Jährige als Agraringenieur tätig. Fünf Jahre hat sein Studium gedauert, nach einem weiteren Jahr und einer wissenschaftlichen Abschlussarbeit wurde ihm der Magistergrad (Arabisch: Al-madjistir) verliehen. Ob das Studium in Österreich anerkannt wird, dafür gibt es keine pauschale Regelung. Im besten Fall wird Hasan H. nach einigen Monaten Verfahrensdauer das Studium voll anerkannt. Im schlimmsten Fall gibt es keinen positiven Bescheid, sondern maximal die Anerkennung einzelner Prüfungen.

HÜRDENLAUF. Es ist ein steiniger, mit Barrieren gepflasterter Weg, den Asylwerbende und anerkannte Flüchtlinge in Österreich gehen müssen, wenn sie ihre akademischen Ausbildungen anerkennen lassen wollen. Dafür braucht es eine Menge Unterlagen, vor allem aber viel Geduld und Durchhaltevermögen. Die Nostrifizierung, so der Fachbegriff für das Verfahren zur Anerkennung ausländischer Studien in Österreich, hängt von Staatsangehörigkeit und Berufsart ab. Eine „automatische“ Anerkennung gibt es nicht – auch nicht angesichts der 90.000 Asylanträge, die in Österreich bis Jahresende 2015 zu erwarten sind. Begründung: Die Studieninhalte sind zu unterschiedlich, eine Prüfung im Einzelfall ist daher zwingend notwendig. Ein syrischer Arzt kann sich nicht darauf verlassen, in Österreich rasch in seinem Beruf arbeiten zu können.

Diese Ungewissheit schreckt viele Migrantinnen und Migranten ab, es überhaupt zu versuchen: Nur jedeR Dritte lässt sich die im Ausland erworbene akademische Ausbildung nostrifizieren. Andere verzweifeln an der Dauer des Verfahrens, an den Ergänzungsprüfungen – und geben am Weg zur Nostrifizierung auf. Selbst eine erfolgreiche Nostrifizierung ist noch kein Garant dafür, danach auch einen adäquaten Job zu bekommen. Laut einer Befragung aus dem Jahr 2012 im Auftrag der Arbeiterkammer Wien ist jedeR dritte MigrantIn in Wien unterhalb ihres/seines Ausbildungsniveaus beschäftigt. Der Anteil von überqualifiziert beschäftigten Migrantinnen und Migranten ist laut OECD in Österreich einer der höchsten innerhalb der 34 OECD-Staaten. Gesamtstatistiken gibt es jedoch nicht.

KOMPETENZ-CHECKS. Erschwert wird die Anerkennung von akademischen Abschlüssen durch das mangelnde Wissen über die Kompetenzen der Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Viele Klischees stehen im Raum – doch Daten gibt es kaum bis gar nicht. Um den Bildungsstatus zu erfassen, führt das Arbeitsmarktservice (AMS) aktuell Kompetenz-Checks durch. Mitte Dezember sollen erste Ergebnisse vorliegen.

Wer ist für die Anerkennung von Studien überhaupt zuständig? Einfach ist es nicht, das herauszufinden. Erste Anlaufstelle ist in den meisten Fällen ENIC-NARIC-Austria. Ein zehnköpfiges Team kümmert sich im Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft (BMWFW) um Anerkennungsfragen. Einrichtungen dieser Art gibt es in allen EU-Staaten. Doch die tatsächliche Anerkennung eines ausländischen Studienabschlusses als gleichwertig mit dem Abschluss eines inländischen Studiums erfolgt direkt an der Universität bzw. Fachhochschule. Zwischen 2010 und 2013 gab es laut ENIC-NARIC-Austria etwa 13.000 Ansuchen auf Titel-Anerkennung, zum Großteil aus osteuropäischen Staaten und Russland. Nicht notwendig ist die Nostrifizierung übrigens für die Zulassung zu weiterführenden Studien (Magister/Master, Doktorat, PhD).

Es sind also die Universitäten und FHs selbst, die über die Anerkennung ausländischer Abschlüsse entscheiden. Doch: keine Regel ohne Ausnahme. So erkennt das BMWFW – und nicht die von zwischenstaatlichen (bilateralen) Abkommen direkt an. „Dieses vereinfachte Verfahren gilt für Absolventinnen und Absolventen bestimmter Studien aus Bosnien und Herzegowina, Italien, dem Kosovo, Kroatien, Liechtenstein, Mazedonien, Montenegro, Serbien und Slowenien“, erklärt Heinz Kasparovsky, Leiter der Informationsstelle. Auch Studienabsolventinnen und -absolventen von päpstlichen Universitäten dürfen sich über ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren dank eines bilateralen Abkommens freuen. Initiativen, die Verfahren nun angesichts tausender Asylwerbender in Österreich zu vereinfachen, gibt es aktuell nicht. Dabei könnte eine raschere Anerkennung akademischer Studien dem Mangel an Fachkräften in zahlreichen Branchen entgegenwirken. Einerseits suchen österreichische Krankenhäuser händeringend nach medizinischem Personal, andererseits müssen aber in diesem Bereich ausgebildete Fachkräfte den langen, zermürbenden Weg der Anerkennung gehen.

BEISPIEL: UNIVERSITÄT WIEN. Dem Großteil der an der Nostrifizierung Interessierten bleibt der Gang an die Universitäten und Fachhochschulen nicht erspart. An der Universität Wien entscheidet gemäß Satzung und Universitätsgesetz die/der Studienpräses über die Nostrifizierung. Um das Verfahren starten zu können, sind zahlreiche Unterlagen nötig, so Claudia Universitäten bzw. FHs – einzelne Studien aus bestimmten Staaten aufgrund Fritz-Larott vom Büro der Studienpräses: Neben dem Antragsformular sind das die Geburtsurkunde, ein Staatsbürgerschaftsnachweis/ Reisepass, der Aufenthaltstitel, das Reifeprüfungszeugnis, ein kurzer Lebenslauf, die Urkunde über den ausländischen Studienabschluss und möglichst viele Unterlagen zum absolvierten Studium selbst, also Zeugnisse über Prüfungen, Studienbuch, Studienplan, wissenschaftliche Arbeiten usw. Die Antragstellerin oder der Antragsteller muss zudem nachweisen, dass die Nostrifizierung zwingend notwendig ist für die Berufsausübung oder die Fortsetzung der Ausbildung – ein Nachweis, der in der Praxis häufig schwierig zu beschaffen ist. De facto kann das durch den/die (künftige/n) ArbeitgeberIn geschehen, aber auch durch ein Schreiben einer Behörde.

Neben den Dokumenten ist zudem die Zahlung der Nostrifizierungstaxe erforderlich. Claudia Fritz-Larott von der Universität Wien sagt dazu: „Diese beträgt 150 Euro und ist damit im europäischen Vergleich nicht besonders hoch.“ Das Verfahren verteuert sich jedoch durch die Übersetzung der zahlreichen Dokumente, die für die Nostrifizierung vorzulegen sind. Das Nostrifizierungsverfahren dauert etwa drei Monate, so die Universität Wien, und mündet in einen Bescheid. Ist er positiv, gilt der ausländische Studienabschluss als mit dem inländischen gleichwertig. Ist er negativ, ist eine Anerkennung nicht möglich, denn Inhalt und Dauer des im Ausland absolvierten Studiums gelten als zu stark von den österreichischen Studien abweichend. Ein negativer Bescheid wird auch ausgestellt, wenn Unterlagen fehlen, die Hochschule nicht anerkannt oder die eingereichten Diplome ungültig sind. Möglich ist es dann noch, sich für ein Studium an einer österreichischen Universität einzuschreiben und einzelne Prüfungen anerkennen zu lassen. In der Praxis gibt es häufig einen Mittelweg zwischen positivem und negativem Bescheid: Der Antragstellerin oder dem Antragsteller werden Bedingungen gesetzt: Sie oder er muss dann noch einmal eine Abschlussarbeit verfassen, einzelne Lehrveranstaltungen nachholen oder Prüfungen ablegen. Auf Deutsch, versteht sich.

SPRACHKENNTNISSE ALS SCHLÜSSEL. Hier liegen auch die größten Schwierigkeiten für Migrantinnen und Migranten, so der Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF). Auf der Flucht verloren gegangene oder im Herkunftsland zurückgelassene Dokumente lassen sich äußerst selten beschaffen. Dies führt zu Auflagen im Nostrifizierungsverfahren – und zu Verzögerungen. Denn um Prüfungen auf Deutsch ablegen zu können, ist in der Regel ein Sprachniveau auf B2 und damit ein mehrjähriges Erlernen der Sprache erforderlich. Bei „geschützten“ Berufen wie RechtsAnanwältinnen und Rechtsanwälten, Lehrerinnen und Lehrern, Medizinerinnen und Medizinern haben zudem auch die Berufsvertretungen – von der Rechtsanwaltskammer über die Ärztekammer bis hin zum Hebammengremium – mitzureden. Viele Migrantinnen und Migranten, so der WAFF, lassen es daher überhaupt bleiben und nehmen dieses langwierige Verfahren gar nicht auf sich.

Welche Alternativen bleiben Flüchtlingen also? Eine Möglichkeit wäre ein Studierendenvisum. Haken an der Sache ist jedoch, dass dieses bereits im Herkunftsland gestellt werden muss – und neben dem Nachweis, über ausreichend finanzielle Mittel (8.000 Euro am Bankkonto) zu verfügen, auch eine Versicherung sowie einen festen Wohnsitz erfordert. Einfacher geht es mit der Initiative MORE (s. Seite 11). Haken an der Sache: Prüfungen können MORE-Studierende nicht ablegen. In Deutschland startet mit dem Wintersemester die Pilotphase der „Wings University“: Sie ermöglicht, per Online-Studium auf Englisch einen Studienabschluss zu erwerben. Momentan sind vier Studiengänge im Angebot: Wirtschaftswissenschaften, Informatik, Ingenieurwissenschaften und Architektur. Der Zugang zur Online-Uni erfolgt über Einstufungstests. Zeugnisse müssen die angehenden Studierenden nicht vorlegen. All diese Initiativen, so vorbildlich und kreativ sie auch sein mögen, ändern jedoch nichts am komplizierten Verfahren der Nostrifizierung.

Hasan H. will es jedenfalls probieren und sein Studium hier in Österreich anerkennen lassen. „Was habe ich schon zu verlieren?“, meint der junge Mann aus Syrien. Sobald sein Asylantrag bearbeitet ist, will er seine Unterlagen für die Nostrifizierung an der Universität für Bodenkultur in Wien einreichen. Ihm geht es bei dem Antrag nicht nur um die Anerkennung seines akademischen Titels. Er will sich in Österreich integrieren – anerkannt sein. Nicht nur akademisch und rechtlich, sondern beruflich und persönlich.

Susanne Weber hat Politikwissenschaft in Wien und Brüssel studiert und arbeitet als Pressereferentin.

Informationszentrum für akademische Anerkennung ENIC-NARIC-Austria
www.nostrifizierung.at (auf Deutsch und Englisch)
Telefon: 0800 312 500 (gebührenfrei aus ganz Österreich)
info@nostrifizierung.at
KundInnendienstzeiten: Dienstag und Donnerstag, 9.00 bis 12.00 Uhr

Nach der Flucht: Zurück zum Uni-Alltag

  • 05.12.2015, 19:08

Nach der Flucht wieder ein Stück Normalität finden – für viele Flüchtlinge bedeutet das, ein in der Heimat begonnenes Studium wieder aufzunehmen. Einfach macht ihnen das die österreichische Bürokratie aber nicht. Magdalena Liedl hat drei von ihnen getroffen, die es trotzdem versuchen.

Nach der Flucht wieder ein Stück Normalität finden – für viele Flüchtlinge bedeutet das, ein in der Heimat begonnenes Studium wieder aufzunehmen. Einfach macht ihnen das die österreichische Bürokratie aber nicht. Magdalena Liedl hat drei von ihnen getroffen, die es trotzdem versuchen.

„Es gibt ein Lied von Helene Fischer, das heißt: Ich gebe nie auf! Das ist mein Motto“, sagt S., der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Auch seine Studienrichtung soll vage bleiben, aus Angst, seine Situation könnte sich noch weiter verkomplizieren. „Schreib beim Studium Technik!“, lacht er.

2012 schließt S. sein Bachelor-Studium an der Universität Damaskus ab – in der syrischen Regelstudienzeit von fünf Jahren. Doch eine Arbeit in Syrien zu suchen oder ein Master- Studium anzuhängen, ist keine Option mehr. Der Krieg macht das Leben in Damaskus gefährlich und die Familie von S. entschließt sich zur Flucht. Zusammen mit seinen Eltern und seinen Geschwistern flieht er nach Jordanien, von dort aus reist er alleine weiter nach Österreich. Ein Jahr nach seinem Studienabschluss steht er allein mit einem 30-Kilo-Koffer, einer Reisetasche und seiner Laptoptasche über der Schulter auf der Polizeistation in Traiskirchen. „Der Dolmetscher hat gesagt, er hat noch nie einen Asylwerber mit so viel Gepäck gesehen.“

Nach Traiskirchen kommt er in eine Flüchtlingsunterkunft in Kärnten. Dort wartet er fünf Monate auf eine Entscheidung zu seinem Asylantrag. Um nach dem Bescheid so schnell wie möglich in seiner Branche arbeiten zu können, lernt S. intensiv Deutsch. „Ich hab mich in diesen Monaten nur darauf konzentriert, Deutsch zu lernen“, sagt er. „Kommst du aus Österreich?“, fragt er dann. „Dann korrigier’ mich bitte immer, wenn ich einen Fehler mache, ja?“

Den Kärntner Dialekt versteht er so schlecht, dass er auf ungewöhnliche Methoden zurückgreifen muss. „Du gibst im Internet einfach ein: ‚Helene Fischer Lyrics‘ und dann geht das schon. Deshalb kann ich auch alle Lieder auswendig. In Österreich finden das alle immer sehr lustig.“ S. will sich seinen Bachelor-Abschluss anerkennen lassen. Mit Hilfe des Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF) schickt er seine Papiere ans Wissenschaftsministerium. Auf einen Termin muss er zwei Monate warten. „Ich habe gesagt: Gut, ich warte. Was soll ich denn sonst machen?“

Nach drei Wochen bekommt er eine Antwort: Sein Abschluss entspräche einem Abschluss der Fachhochschule Technikum Wien. „Ich hab nicht verstanden, was das bedeutet. Ich habe so viele Leute gefragt. Manche haben gesagt: Ja, damit kannst du jetzt den Abschluss anerkennen lassen. Andere: Nein du musst noch Prüfungen machen.“

Also fragt S. bei denen, die es wissen sollten – bei der FH Technikum Wien – nach, welche Schritte jetzt zur endgültigen Anerkennung seines Abschlusses notwendig seien. „Ich habe das auf Englisch gefragt. Mein Deutsch war damals noch nicht so gut – und ich meine, das ist ja eine Fachhochschule, da sollte Englisch doch kein Problem sein.“ S. zieht das Wort „Fachhochschule“ in die Länge. „Aber die Dame hat gesagt: ‚Englisch? Nein, nein! Sie sind hier in Österreich! Sie müssen Deutsch reden! Kommen Sie wieder, wenn sie das B2-Zertifikat [übliches Deutsch-Niveau zur Uni-Zulassung in Österreich, Anm.] haben.‘“, erzählt S. „Ich wollte die B2-Prüfung ja auch machen. Aber ich wollte damals doch nur verstehen, was ich sonst noch machen muss. Muss ich zum Beispiel Prüfungen nachholen? Wenn ja, hätte ich ja schon einmal mit der Vorbereitung beginnen können. Aber sie sagte: ‚Nein, nein! Gehen Sie und kommen sie wieder mit dem B2-Zertifikat.‘“

Nachdem er mehrmals zwischen Wissenschaftsministerium, Integrationsfonds und FH hin und her geschickt wurde, hat S. eine neue Idee. Wenn er einen Master in Wien machen könnte, hätte er einen österreichischen Abschluss. „Dann könnte ich ganz normal arbeiten. Und ich könnte mich auch verbessern. Vielleicht gibt es etwas, das ich in Syrien noch nicht gelernt habe. Das wäre doch auch gut für die österreichischen ArbeitgeberInnen, wenn ich dazulerne.“

Saheib flüchtete aus Aleppo, wurde an der Montanuni Leoben zugelassen und studiert, nachdem er viele bürokratische Hürden überwunden hat, Bauingenieurwesen an der TU Wien. Foto: Chris Belous

Tatsächlich lässt ihn die Technische Universität Wien (TU) zum Master-Studium zu, unter der Voraussetzung, dass er vier Prüfungen aus dem Bachelor nachholt. Damit tut sich aber ein neues – und für studierende Asylberechtigte typisches – Problem auf: Es ist nicht erlaubt, gleichzeitig zu studieren und beim AMS gemeldet zu sein. Wenn S. also seinen Master an der TU tatsächlich angehen will, muss er sich beim AMS abmelden und verliert dadurch jede finanzielle Unterstützung. Gleichzeitig hat er keinen Anspruch auf Studienbeihilfe, denn eine der Voraussetzungen dafür ist, dass das Masterstudium innerhalb von 30 Monaten nach dem Bachelor- Abschluss begonnen wurde. Durch seine Flucht, das Warten auf den Asylbescheid und seine Deutschkurse hat S. diese Frist überschritten. So ist er nun zwar an der TU offiziell zugelassen, kann aber keine Prüfung machen, ohne die finanzielle Unterstützung des Staates zu verlieren. Er will also versuchen, Arbeit zu finden und danach sein Master-Studium beginnen.

„Der Übergang zum richtigen Leben ist schwierig“, überlegt er. „Vielleicht hätte ich es wie meine Freunde machen sollen und mir mit den Deutschkursen mehr Zeit lassen sollen. Ich habe nach eineinhalb Jahren B2 gemacht. Ich bin der erste, der ins richtige Leben muss. Meine Freunde gehen einfach immer noch in den Deutschkurs, einfach um etwas zu tun.“

ALEPPO-KAIRO-LEOBEN. Auch Saheib kennt Zeiten, in denen er einfach nichts zu tun hat. „Ich bin am 20. Oktober 2013 legal nach Österreich gekommen und ich bin legal hier geblieben“, stellt er sich nicht ohne Stolz vor, als ich ihn zusammen mit seinem Freund und Studienkollegen Yamen an der TU Wien treffe.

Saheib kommt aus Aleppo, wo er nach seinem Schulabschluss das Studium Bauingenieurswesen begann. Nach zwei Jahren bricht er das Studium ab. Uni-Gebäude werden bombardiert, die männlichen Studenten werden zum Militärdienst eingezogen. „Es ist eine Diktatur. Wer eine andere Meinung hat, wird verhaftet“, sagt Yamen. „Auch Studenten, viele meiner Freunde. Einmal wurde ein Freund während einer Prüfung abgeführt“, erzählt er. „Er ist jetzt zum Glück in Deutschland.“

Auch Saheib kann nicht bleiben. „Meine Familie hat gesagt: ‚Saheib, das ist zu gefährlich. Du musst hier weg‘“, erzählt er. Er flieht in den Libanon. Wie S. will er sein Studium unbedingt wieder aufnehmen. „Zuerst habe ich mir gedacht: Ägypten.“ So fliegt Saheib nach Kairo und bewirbt sich dort an der Uni. Doch auch in Ägypten erfährt er als syrischer Flüchtling Diskriminierung. Er bewirbt sich also um ein StudentInnenvisum in Österreich – und wird an der Montanuni Leoben zugelassen.

Doch wie bei S. schafft die Zulassung erst einmal neue Probleme: Wer mit einem StudentInnenvisum in Österreich einreisen will, braucht nicht nur die Zulassung an einer österreichischen Universität, sondern auch ein österreichisches Bankkonto. Und für ein österreichisches Bankkonto braucht man einen österreichischen Meldezettel – für den in Kairo lebenden Saheib ein Ding der Unmöglichkeit. Vier Monate braucht er, um schließlich ein Visum für Österreich zu bekommen. „Gott sei Dank hat dann alles funktioniert. Die Arbeit mit der österreichischen Botschaft in Ägypten hat so lange gedauert, dass ich das erste Deutsch-Level schon in Kairo gemacht habe“, sagt Saheib.

So kann er schließlich schon mit der A1-Deutsch-Prüfung ins Flugzeug nach Österreich steigen. „Am Flughafen in Kairo hat der Beamte meinen Reisepass angeschaut und gesagt: ‚Sie haben keinen Aufenthaltstitel für Ägypten. Wie sind Sie hierhergekommen? Sie müssen Strafe zahlen.‘ Ich habe gesagt: ‚Gut, dann zahle ich.‘ Immer noch besser als Gefängnis.“

Ein Jahr lang besucht Saheib den Vorbereitungslehrgang in Leoben und lernt Deutsch. Doch bald kommt das böse Erwachen: Die syrische Botschaft in Österreich weigert sich seinen Pass zu verlängern, da er keine Bestätigung über einen abgeleisteten Militärdienst in Syrien hat – ohne Reisepass kann er aber auch sein Visum nicht verlängern. So stellt er einen Asylantrag, der nach sieben Monaten positiv beurteilt wird. Sieben Monate, in denen Saheib nichts tun kann, sein Studium liegt auf Eis; er verliert für die Dauer des Asylverfahrens seinen Anspruch auf Studienbeihilfe.

Doch mit dem positiven Asylantrag kommt auch eine Chance: Konnte er mit seinem alten Visum nur in Leoben studieren, stehen ihm nun alle Studiengänge in Österreich offen. Das Studium Bauingenieurswesen an der TU Wien ist seinem Studium in Aleppo ähnlicher und so zieht auch Saheib nach Wien. „Ich wollte unbedingt in meiner Richtung weiterstudieren, und die gibt es in Leoben nicht.“ Ein paar Kurse von der Universität Aleppo kann er sich auch anrechnen lassen.

„Das Studium ist gut, aber nicht immer leicht“, erzählt Saheib. Wenigstens sind die finanziellen Sorgen einmal weg. Er hat wieder Anspruch auf Studienbeihilfe. „Das ist auch ein bisschen gefährlich, denn die Regeln sind hier sehr streng. Und die Regeln sagen, dass man für die Studienbeihilfe 30 ECTS im Jahr machen muss. Ich bin nicht faul und ich bemühe mich gut zu lernen, aber es ist nicht immer leicht und ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann. Aber ich versuche es.“ Durch die verlorenen Semester während des Asylverfahrens wird Saheib die Beihilfe außerdem nicht bis zum Ende seines Studiums, sondern nur bis ins vierte Semester erhalten, aber er ist zuversichtlich. „In zwei Jahren, da hoffe ich, dass ich neben dem Studium vielleicht schon arbeiten kann. Und ich hoffe, dass ich in zwei Jahren schon zum Ende des Studiums komme.“

NUR DAS STUDIUM BLEIBT. Auch S. bleibt Helene Fischer und seinem Motto „Ich geb nie auf“ treu. Kurzzeitig hat er überlegt, nach Deutschland oder Schweden weiterzuziehen und sich dort für Praktika zu bewerben, doch mittlerweile ist seine Familie nach Wien nachgekommen. So will auch er in Österreich bleiben und weiterhin nach einer Arbeit suchen, um sein Master-Studium zu finanzieren, auch wenn man am AMS für diese Pläne wenig Verständnis hat. „Die Beraterin hat mich gefragt, warum ich studiere. Warum machen Sie das? Als ich gesagt habe‚ um einen besseren Job zu finden, hat sie gesagt: ‚Das ist mir egal. Sie müssen doch keinen Techniker-Job finden. Bewerben Sie sich halt in einer Pizzeria.‘ Aber ich habe in Syrien fünf Jahre lang studiert. Wieso soll ich jetzt in einer Pizzeria oder bei McDonalds arbeiten?“, sagt S. „Ich will in meinem Bereich bleiben. Ich mag ihn. Wir haben in Damaskus alles verloren: unser Haus, unsere Wohnung, unser Leben. Wir haben nichts mehr von unserer Vergangenheit. Ich habe nur eine Sache: mein Studium.“

Magdalena Liedl studiert Zeitgeschichte und Anglistik an der Universität Wien.

„Alternative gab es keine“

  • 05.12.2015, 12:26

Der syrische Fußballtrainer Osama Abdul Mohsen wurde durch den Tritt einer ungarischen Kamerafrau berühmt. In Spanien hat er eine neue Heimat gefunden.

Der syrische Fußballtrainer Osama Abdul Mohsen floh mit seinem Sohn Zaid nach Europa. In Ungarn gelangte er durch den Tritt einer Kamerafrau ins mediale Rampenlicht. In Spanien, wo er eine neue Heimat gefunden hat, trüben Gerüchte um seine angebliche islamistische Vergangenheit den Neubeginn, wie er Jan Marot sagt.

progress: Wie geht es Ihnen nach den ersten Monaten nach der Flucht aus Syrien über die Türkei und die Balkanroute?
Osama Abdul Mohsen: Es geht mir wieder gut. Ich bin sehr, sehr froh, hier in Spanien zu sein. Die Kleinstadt Getafe ist eine ruhige Stadt mit freundlichen Menschen. Ich lebe hier in einer sehr hilfsbereiten, fremdenfreundlichen Nachbarschaft. Man hat uns mit offenen Armen empfangen. Ich bin hier sehr glücklich mit meinen beiden Söhnen. Man grüßt uns auf den Straßen, lächelt uns zu. Und man ist um unser Wohl besorgt, aber auch sehr interessiert an unserem Leben in Syrien und unseren Erfahrungen auf der Flucht.

Wie geht es Ihren Kindern in Spanien, dem jungen Zaid und dem volljährigen Mohammed?
Auch ihnen geht es wieder sehr gut. Sie haben längst mit der Schule begonnen und auch FreundInnen gefunden. Wenngleich vor allem Zaid, dem Siebenjährigen, seine Mutter sehr fehlt. Ich habe just nach meiner Ankunft hier einen Intensivsprachkurs begonnen und übe auch täglich mit meinen Kindern. Spanisch ist enorm wichtig. Nicht nur für das Leben hier und unsere Integration, sondern auch für meine Arbeit als Fußballtrainer.

Welches ist Ihr Lieblingsfußballteam in Spanien?
Real Madrid, wie könnte es anders sein (lacht). Bereits in Syrien war ich Fan. Und mein Sohn Zaid auch. Es war eine wunderbare Erfahrung, nach unserer Ankunft, das Team und Cristiano Ronaldo zu treffen und ein paar Pässe mit ihnen zu spielen. Damit ging für Zaid ein Traum in Erfüllung. Und er fasste auch neuen Mut, nach all der Mühsal und den schweren Monaten der Flucht.

Was waren die schwersten Stationen auf Ihrer Flucht?
Viele Stationen waren schwer, sei es in Griechenland, etwa auf der Insel Kos, direkt nach der Überfahrt. Aber auch in Mazedonien oder Serbien. Man erlebt Phasen permanenter Angst, teils Todesängste, und die quälende Ungewissheit nagt an einem. Was einen vorantreibt ist die Hoffnung, die ja bekanntlich zuletzt stirbt – die Hoffnung auf ein besseres Leben, in erster Linie für meine Kinder. Es war sehr, sehr hart. Doch ich muss sagen, Ungarn war mit Abstand der allerschlimmste Teil der Flucht. Ein permanenter Alptraum. Ein Land, das jegliche Menschlichkeit verloren zu haben schien. Aber das ist zum Glück jetzt alles überstanden. Hier in Spanien will ich bleiben. Hier bin ich nach langer Zeit wieder zufrieden und vor allem auch ruhiger geworden.

Wie haben Sie Österreich in Erinnerung?
In Österreich hat man uns sehr, sehr freundlich empfangen. Die PolizistInnen waren ausgesprochen hilfsbereit, die Soldaten des Bundesheeres auch. Viele Menschen waren offen und herzlich. Sie fragten, was uns fehlt, und gaben uns, was wir brauchten. Essen, Kleidung und auch Geld hat man uns gegeben. Mein jüngerer Sohn Zaid war ja zuvor in Ungarn bereits erkrankt. Er hatte sich stark verkühlt und fieberte. Dort hat man ihn nicht behandelt. Keine Chance. In allen Krankenhäusern hat man uns abgewiesen. In Österreich war ich mit ihm in drei Spitälern und überall hat man uns sofort geholfen. Und Zaid ist rasch gesund geworden, zum Glück. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den ÄrztInnen und allen Menschen, die uns in Österreich geholfen haben, von Herzen bedanken.

Gab es auch so etwas wie „gute Tage“ auf der Flucht?
Natürlich ist nicht jede Minute hoffnungslos. Solidarität zeigte man uns vielerorts. Und Flüchtlinge untereinander teilen und helfen, wie sie nur können. Auch in Griechenland, auf Kos, in Mazedonien und Serbien war man oft sehr nett und hilfsbereit. Die Menschen, die dort leben, tun, was sie können. Sie leben Menschlichkeit. Anders als in Ungarn. Aber die Lebensstandards sind nun einmal ganz andere als in Österreich und Deutschland. Dementsprechend half man uns dort weit mehr als in den Balkanstaaten oder dem von der Krise geprägten Griechenland. Vor allem seitens Privatpersonen, aber auch seitens der Sicherheitskräfte und des Roten Kreuzes. Weil die Menschen mehr haben. Doch auch diejenigen, die wenig haben, teilten oftmals das Wenige mit uns. Und wir waren viele Flüchtlinge, hunderte, oft tausende, die sich von Station zu Station bewegten.

Haben Sie noch Kontakt zu FreundInnen in ihrer Heimatstadt Deir ez-Zor?
Leider kaum. Das ist fast unmöglich. Maximal einmal im Monat schaffe ich es, mich mit meinen zwei Brüdern in Syrien auszutauschen. Die Wartezeit dazwischen ist geprägt von Ungewissheit und Angst. Denn man weiß nie, ob es das letzte Mal war, mit ihnen gesprochen zu haben. Aber zum Glück ist meine Frau in Sicherheit. Sie lebt noch in der Türkei. Ich versuche alles Menschenmögliche, damit sie auch zu mir nach Spanien kommen kann. Ich hoffe, das dauert nicht mehr lange. Ende November werde ich sie endlich besuchen können. Mit Zaid, meinem kleinen Sohn. Die Türkei-Visa und unsere Pässe haben wir nun bekommen, am 23. 11. fliegen wir. Ich habe meine Frau fast ein halbes Jahr nicht mehr in den Armen gehalten. Zaid vermisst seine Mutter sehr.

Haben Sie auch in den Flüchtlingslagern in der Türkei an der syrischen Grenze gelebt?
Nein, das wollten wir von Anfang an vermeiden. Die Zustände in den Lagern sind sehr schlecht. Also haben wir, einmal in der Türkei angekommen, für mich, meine Frau und meine Kinder ein kleines Haus gemietet. Das war sehr, sehr teuer. Und ich musste für zehn Euro Lohn am Tag schuften, damit wir Nahrung und ein Dach über dem Kopf hatten. Nach zwei Jahren hatten wir es satt, unter derartigen Bedingungen ein Überleben zu fristen. Meine Familie beschloss, dass ich mich auf den Weg nach Europa machen soll, mit meinem jüngsten Sohn. Das war keine leichte Entscheidung. Aber Alternative gab es keine.

Hat sich die Kamerafrau, die Sie attackiert hatte, bei Ihnen persönlich entschuldigt?
Das ist eine sehr bösartige Person. Sie hat nicht nur mich getreten, als ich meinen Sohn tragend vor der Polizei davonlief. Auch ein junges Mädchen hat sie getreten. Das sind Taten, die unentschuldbar sind. In Ungarn gehen aber viele Menschen davon aus, dass wir Flüchtlinge die Bösen sind und man ihnen sehr deutlich zeigen müsse, dass sie hier eben nicht willkommen sind. Unmenschlich ist das. Ich bin aber in Kontakt mit AnwältInnen und werde sie anzeigen, auf dass sie hoffentlich ins Gefängnis kommt.

Was sind Ihre Pläne für die nahe Zukunft in Spanien?
Ich bin noch bei der Trainerschule in Getafe. Ganz gleich bei welchem Team man mich braucht, ich werde dort arbeiten. Wie es nun aussieht, wird es ein Jugendteam werden, Villaverde Boetticher in Madrid, wo ich neben meiner Trainertätigkeit auch für die kommerziellen Beziehungen zu arabischen Staaten gebraucht werde. Das sei einmal für ein Jahr, wie man mir sagte. Dann werden wir weitersehen. Solange ich nicht nach Syrien zurückkehren kann, wird Spanien meine Wahlheimat bleiben.

Wie stehen Sie zu den internationalen Militärinterventionen?
Viele Nachrichten, die aus Syrien gemeldet werden, sind Lügen. Das Assad-Regime verbreitet selbst sehr viele Lügen. Ja, Assad hat Russland um Hilfe gebeten. Aber gegen wen? Und für welchen Zweck? Selbstzweck natürlich, um seine Position abzusichern. Die Zivilbevölkerung interessiert ihn wenig. Das Leben im Bürgerkrieg ist schlichtweg katastrophal. Das war es schon vor fast drei Jahren, als ich aus Syrien 2012 in die Türkei geflohen bin. Folglich habe ich auch vom Islamischen Staat, der dort mit Splittergruppen aktiv ist, noch nichts mitbekommen. Und ich hatte auch keinen Kontakt zum IS, der nun in weiten Teilen meiner Heimat wüten soll.

Nähe zum IS ist etwas, das man Ihnen auch wegen des Posts eines schwarzen Banners mit dem Schriftzug „Es gibt keinen Gott außer Gott“ auf Ihrem Facebook-Profil vorgeworfen hat. Und auch wenn man Ihren Namen googelt, scheint „Terrorist“ auf.
Das sind Lügen und bösartige, haltlose Gerüchte. Ich habe an Anti-Assad- Protesten für einen demokratischen Wandel in Syrien teilgenommen. Und man weiß nur zu gut, wie mit KritikerInnen von Präsident Bashir al-Assad verfahren wird. Die Gerüchte wurzeln vor allem in den Kommentaren eines Regime-freundlichen Journalisten und in rechtsextremen Online- Foren. Ich verabscheue Gewalt und habe absolut gar nichts mit radikalislamistischen Gruppen wie al-Nusra im Bürgerkrieg zu tun, das versichere ich Ihnen. Das Facebook-Foto hat man falsch interpretiert, auch wenn ich es mittlerweile entfernt habe. Der Spruch ist allen MuslimInnen wichtig. Nicht nur den Radikalen, die ihn für ihre Zwecke missbrauchen. Und nebenbei: Derselbe Spruch ziert auch die saudiarabische Flagge.

Glauben Sie, je nach Syrien zurückkehren zu können?
So Gott will ja, irgendwann. Doch der Krieg hat alles zerstört. Es ist sehr gefährlich und auch auf lange Sicht sehe ich keinen Frieden für mein Land am Horizont. Das Leben dort ist unmöglich geworden. Wenn der Krieg enden soll, „inshallah“, würde ich freilich gerne wieder als Trainer dort arbeiten. Aber derzeit kann ich meiner Familie von Spanien aus mehr helfen, als von vor Ort. Und auch meinem Land. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen? Das Morden aller Seiten muss aufhören. Der IS mordet, Assad mordet. Die RebellInnen morden. Europa muss uns helfen. Den Flüchtlingen, aber auch vor Ort. Die Regierungen, auch die spanische sind gefordert. Und die Verantwortlichen wissen selbst zu gut, dass sie mehr für Syrien und die syrische Bevölkerung machen können.

Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich und arbeitet als freischaffender Journalist in Granada, Spanien.
 

„Traiskirchen war für mich eine Art Überlebensschule“

  • 23.10.2015, 14:45

Der Weg vom Flüchtling zum österreichischen Staatsbürger und zur Aufnahme eines Studiums war für Shirin Omar lang und steinig. progress hat ihn zu seinen Beweggründen, seinen ersten Erfahrungen nach der Ankunft im Erstaufnahmezentrum Traiskirchen und zur österreichischen Willkommenskultur interviewt.

progress: Warum hast du dich entschlossen, Syrien zu verlassen?
Shirin Omar: Als ich 19 Jahre alt war, wurde ich zum Militärdienst in Syrien einberufen, aber ich wollte dort keinen Wehrdienst leisten. Das war der Auslöser. Aber grundsätzlich hatte man in Syrien besonders als Kurde eigentlich Null Chancen, etwas aus seinem Leben zu machen, frei zu entscheiden und seinen eigenen Weg zu wählen. Der Druck des Regimes war groß.

Was genau meinst du mit „Druck des Regimes“?
Die ständige Angst. Syrien war immer schon ein Polizeistaat mit einem ausgeklügelten Geheimdienstsystem. Das syrische Regime hatte überall und besonders in den kurdischen Gebieten Spione. Immer hatte man Angst, irgendetwas Falsches zu sagen oder zu machen – beziehungsweise etwas, das das Regime falsch finden würde. Manche wurden einfach so angezeigt. Manche Menschen sind jahrelang verschwunden! Nicht weil sie politisch aktiv oder kriminell waren. Wenn beispielsweise Nachbarn persönliche Streitigkeiten hatten, hat eine Seite die andere beim Regime unter dem Vorwand regimekritisch zu sein gemeldet und die gemeldeten Personen sind verschwunden. Die Angst war so präsent, dass sich Eltern nicht einmal getraut haben, nach ihren verschwundenen Kindern zu fragen. Man war nie sicher in Syrien. Darüber hinaus gibt es auch einen großen gesellschaftlichen und familiären Druck. Ich wollte diesen Druck und die Angst nicht mehr aushalten und habe mich entschlossen mit einem Freund zu fliehen.

Wie war das für dich, als du in Österreich angekommen bist?
Es war alles fremd. Alles neu. Ich war nicht schockiert, sondern sehr überrascht. Wir sind im Winter 2005 angekommen und es lag unglaublich viel Schnee. Ich habe in meinem Leben noch nie so viel Schnee gesehen! Aber mit der Zeit habe ich mich an das Leben hier gewöhnt. Wir sind zuerst nach Traiskirchen gekommen. In dem Zimmer, in dem ich untergebracht war, waren wir zu zehnt.

Vor einiger Zeit sind Bilder aus Traiskirchen in den Medien kursiert, in denen die katastrophale Lage in diesem Erstaufnahmezentrum abgebildet war. Wie war die Situation damals?
Es waren nicht so viele Menschen wie jetzt dort – aber es war damals schon überfüllt. Oft mussten viele Menschen in einem Zimmer schlafen. Unmittelbar nach der Ankunft war ich in einem Zimmer mit 30 Menschen zusammen.
Später waren wir zu achtzehnt in einem Zimmer, dann zu zehnt. Wir hatten Bundesheer-Betten und beim Essen musste man wirklich sehr lang warten. Oft haben wir anderthalb Stunden auf eine Mahlzeit in der Schlange gewartet. Diese musste ständig von Securities und manchmal auch von der Polizei überwacht werden, da sich manche vorgedrängelt haben und dadurch ziemlich schnell Raufereien entstanden sind. Auch sonst gab es Konflikte zwischen den Flüchtlingen, die sich oftmals entlang der Nationalität ausgetragen haben. Einige hatten große Probleme miteinander und wurden sowohl beim Essen als auch bei Klogängen von der Polizei überwacht. Einmal kam es sogar zu einer Massenschlägerei. Die Securities waren in der Minderzahl und man musste warten bis die Polizei da war, um die Leute auseinanderzubringen.

Man hat viel zu viel Zeit dort und wenn man nichts tun darf oder kann und zum Warten verdammt ist, äußert sich dieser Stress auch in Form von Gewalttätigkeit .Viele Menschen haben ihre Probleme mit Schreien und Schlägen rausgelassen. Ich hab das Überleben eigentlich dort gelernt. Da in meinem Zimmer sieben Albaner und wir drei Kurden waren, dachten einige Tschetschenen, dass wir Albaner seien und waren uns deshalb feindlich gesinnt. Ich musste mit einigen Tschetschenen sogar eine Woche lang in der Früh beten gehen und mit ihnen Arabisch reden – einige von ihnen sprachen Hocharabisch –, damit sie mir glaubten, dass ich nicht aus Albanien bin und mich in Ruhe ließen.

Also auch in Traiskirchen hatte ich eine Zeit lang Angst. Deswegen bin ich auf sie zugegangen und habe mich so freundlich wie möglich verhalten und mit der Zeit hat sich die Lage beruhigt. Darüber hinaus musste man immer auf seine Habseligkeiten aufpassen, denn es wurde dort viel geklaut. Traiskirchen war für mich eine Art Überlebensschule.

Wie lange warst du insgesamt in Traiskirchen?
Sieben Monate.

Und danach?
Danach bin ich nach Traisen gekommen. Nach fünf Monaten in Traiskirchen wurde mir zum ersten Mal ein “Transfer“ verordnet. Die zuständigen Behörden bezeichnen damit, dass man in eine Pension oder woanders hin versetzt wird. Ich hab mich aber geweigert dorthin zu gehen, weil ich nach Klagenfurt versetzt hätte werden sollen. Damals hatte ich von Haider gehört und dass er ausländerfeindlich ist. Ich dachte alle KärntnerInnen seien Nazis. Daraufhin haben sie mich aus Traiskirchen rausgeschmissen, aber zum Glück nach einer Woche wieder aufgenommen. Dann war ich zirka zwei weitere Monate dort, bis zu meinem nächsten „Transfer“. Laut Gerüchten in Traiskirchen wurden nur diejenigen Flüchtlinge nach Traisen übersiedelt, die sich irgendwie etwas zu Schulden haben kommen lassen. Ich hatte meinen ersten Transfer verweigert, anderen wurde zum Beispiel Diebstahl vorgeworfen. Der Transfer dorthin sollte eine Strafmaßnahme sein, denn die Hausbesitzerin dieser Pension war wahnsinnig! Sie hat uns den ganzen Tag lang beschimpft und es gab Massenstrafen. Wenn jemand von uns nicht „brav“ war oder nach ihrer Pfeife getanzt hat, hatte man drei bis vier Stunden lang keinen Strom oder kein heißes Wasser. Wir durften nicht einmal einen Wasserkocher im Zimmer haben. Sobald sie was gerochen oder gemerkt hat, dass wir irgendwas im Zimmer haben, das uns beim Zeitvertreib hilft, hat sie es uns sofort weggenommen und auch alle anderen mitbestraft.

Konntet ihr euch an jemanden wenden?
Personen von der Caritas und der Diakonie waren oft da. Wir haben ihnen auch von unserer Situation erzählt. Entweder konnten sie nichts dagegen machen oder sie haben uns nicht ernst genommen. Jedenfalls hatte ich zum Glück in der Zwischenzeit eine sehr hilfsbereite Österreicherin kennengelernt. Sie kannte eine Besitzerin einer Pension in Baden und hat mich sozusagen dorthin vermittelt. In Baden war ich zirka sechs Monate und habe in dieser Zeit meinen positiven Asylbescheid bekommen.

Momentan ist die Lage schlimmer geworden und Flüchtlinge werden in Zelten untergebracht, obwohl es adäquatere Unterkünfte geben würde. Was denkst du, wenn du das hörst?
Ich glaube die ÖsterreicherInnen haben Angst vor dem Fremden – aber auch die Flüchtlinge haben Angst. Ich glaube auch, dass die Angst von den meisten Parteien zusätzlich geschürt wird. Die Flüchtlinge sind natürlich froh, dass sie aus dem Kriegsgebiet weg und hier sozusagen in Sicherheit sind, medizinisch versorgt werden und etwas zu Essen bekommen. Aber heißt das, dass sie hier in Österreich in Zelten untergebracht werden müssen?

Außerdem glaube ich, dass die Flüchtlinge es alleine nicht schaffen, weil sie aus der österreichischen Gesellschaft ausgeschlossen sind. Aber wenn du eine Person kennst, die dich vielleicht ab und zu begleitet, so wie diese österreichische Frau, die mir nicht nur bei der Vermittlung der Pension geholfen hat, dann hat man glaube ich wirklich eine Chance, in der österreichischen Gesellschaft anzukommen. Diese österreichische Frau hat mir auch eine Lehrstelle in Kärnten vermittelt.

Also bist du doch noch in Kärnten gelandet?
(lacht) Ja, ich habe es zuerst nicht gewusst, sondern erst nachher erfahren, denn es war ihr ehemaliges Heimatdorf und da kannte sie auch viele Leute zu denen sie wieder Kontakt aufgenommen hat. Durch ihren Einsatz waren die BewohnerInnen auch mir gegenüber offen. Und natürlich habe auch ich dazu beigetragen. Ich wollte so schnell wie möglich Deutsch lernen und arbeiten. Sie hat das gesehen und erkannt. Ich denke, ohne sie hätte ich viel weniger Chancen gehabt. Und daher glaube ich, dass wenn Flüchtlinge bei ihren ersten Schritten von Privatpersonen, die schon länger in Österreich leben, begleitet werden, sie hier mehr Chancen haben. Als Flüchtling weiß man nicht, wie das System funktioniert. Viele versinken in der Ratlosigkeit und das macht auch wütend – wenn man nichts tun darf, über Jahre! Dann werden Schuldige gesucht und der Staat wird für alles schuldig gemacht, was zwar stimmt, aber eben nicht so einseitig.

Also der Staat?
Der Staat, natürlich. Es bringt nichts, die Grenzen einfach dicht zu machen oder die Menschen abzuschieben. Es werden aufgrund der vielen Krisen mehr Menschen kommen und viele sind auch schon da. Der Staat muss sich Strategien überlegen. Bei mir hat es dank einer Privatperson geklappt und weil ich auch in der Grundversorgung war. Ich habe erkannt, dass es einige Regelungen gibt, die mir helfen und deshalb habe ich mich auch der österreichischen Gesellschaft gegenüber nicht verschlossen. Ich arbeite und helfe jetzt selbst Menschen.

Du hast vor einiger Zeit an einer Hochschule ein Studium aufgenommen. Wenn du jetzt daran zurückdenkst: Vom Augenblick des positiven Asylbescheids bis zur Aufnahme des Studiums – wie war der Weg?
Er war sicher steinig und hürdenreich. Aber ich bin stärker im Leben und selbstbewusster geworden. Ich hab viel dazugelernt.
In Traiskirchen zum Beispiel, in diesen sieben Monaten konnte ich unter den dortigen Bedingungen nur wenig Deutsch lernen. Viele konnten in so einer Situation gar nicht lernen. Das war verlorene Zeit. Wenn man hier ankommt, dann sollte man gleich einen Deutschkurs bekommen. Aber nur die Sprache allein reicht nicht, um in der Gesellschaft anzukommen. Zum Beispiel wissen viele gar nicht, dass man in Österreich mit einer syrischen Matura studieren darf. Oder die Lehre: Es gibt in Syrien keine Möglichkeit einer Lehrausbildung, wie sie in Österreich möglich ist. Ich glaube, wenn man von Anfang an weiß, wie das System funktioniert, dann kann man einen anderen Weg einschlagen.

Würdest du sagen, dass es in Österreich eine „Willkommenskultur“ gibt?
Mein Eindruck momentan ist, dass sich die Situation im Vergleich zu der Zeit, als ich nach Österreich kam, wesentlich verschlimmert hat. Ich glaube daher nicht, nein. Und das obwohl man sieht, dass die Menschen vor dem Krieg flüchten, dass sie offensichtlich große Probleme haben. Ich glaube niemand gibt seine Heimat freiwillig auf.


Soma Mohammad Assad studiert Politikwissenschaften an der Universität Wien und schreibt derzeit ihre Masterarbeit zum Thema Holocaust-Wahrnehmung junger MuslimInnen in Österreich. Sie arbeitet als Sachbearbeiterin im Referat für ausländische Studierende der Bundesvertretung der Österreichischen HochschülerInnenschaft.

Podcast: Das Privileg der Bildung teilen

  • 21.10.2015, 16:03

Wie PH-Studierende ratzfatz neue Deutschlernunterlagen für Geflüchtete entwickelt haben.

Studierende an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich haben für Geflüchtete im Sommer Deutschkurse organisiert und dafür ein Skript zum Gratisdownload  entwickelt. Zu Wort kommen Katharina Harrer und Armin Fellner vom Organisationsteam, die sich Gratis-Öffitickets für Geflüchtete wünschen, Kathi (Pädagogin) die von der Sachspenderin zur Deutschlehrerin für Geflüchtete wurde, Sako, der vom Flüchtling zum Dolmetscher am Bahnhof wurde sowie Mohammed, der sich mehr praktisches Lernen wünscht und Ali, der sein Bauingeneurstudium in Österreich abschließen möchte.
 

Schutz suchen

  • 21.10.2015, 15:50

In den nächsten Tagen wird das Thema Flucht progress-online dominieren. Ein Überblick.

Ende Oktober präsentiert progress mehere Beiträge zum Thema Flucht. Ein Überblick über das Thema.

 

Fluchtgründe

Was für Gründe brauchen Menschen, um in Österreich Asyl gewährt zu bekommen? Grundsätzlich regelt das das Asylgesetz 2005, das sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention bezieht. 150 Staaten haben 1951 in dieser festgehalten, dass Geflüchtete eine „wohlbegründete Furcht vor der Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Meinung oder  Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ haben müssen, um als solche anerkannt zu werden. Allerdings müssen Refugees den österreichischen Beamten glaubhaft machen, dass sie wirklich persönlich verfolgt werden – eine schwierige Aufgabe, wie auch das Beispiel von LGBTI*-Flüchtlingen zeigt. Kriegsflüchtlinge werden meist nicht persönlich verfolgt, ihnen droht in ihrer Heimat jedoch Gefahr, weshalb sie subsidiären Schutz gewährleistet bekommen. Dieser Schutz vor Abschiebung gilt jedoch nur ein Jahr und muss danach erneuert werden. Eine ganze Reihe Gründe können gegen den Asylstatus in Österreich sprechen, zum Beispiel wenn ein anderer Staat der Dublin III-Verordnung für das Asylverfahren zuständig ist oder die Asylsuchenden Schutz in einem „sicheren Drittland“ finden können.


Krieg spielen

Die Belagerung Sarajevos im Bosnienkrieg ist die Inspiration für das Videogame „This War of Mine“ (PC, OS X, Linux, iOS, Android, Playstation, Xbox One, mindestens 14,99€). Hier spielt man zwei junge Männer und eine Frau, die gemeinsam versuchen, in einer zerstörten und gefährlichen Stadt zu überleben. Zwischen den Charakteren wechselnd muss man sich auf die Suche nach Nahrung machen, die verwahrloste Unterkunft reparieren und sich gegen andere plündernde Menschen verteidigen. Das rundenbasierte Gameplay bleibt einfach und macht einem Albtraum-Artwork und einer gruselig-eindringlichen Soundkulisse Platz. Die Atmosphäre ist durchgehend bedrohlich, auch die ruhigen Spielsequenzen bleiben angsteinflößend. „This War of Mine“ spielt man daher wahrscheinlich nur einmal, aber dafür ist das Spielerlebnis umso intensiver.

 

Lesestoff

Das Thema Flucht beschäftigt das progress schon seit längerem. In einer Printausgabe war es Dossierthema, dort wurden zum Beispiel anhand Hunger ist kein Asylgrund die grundlegenden Probleme des österreichischen Asylsystems beleuchtet. In Schlepperei in Zeiten unbegrenzter Grenzen haben wir über den Begriff der Schlepperei und den der Fluchthilfe geschrieben. Mit dem Verein Hemayat haben wir in Ein Schleier, der sich über die Existenz legt über die psychotherapeutische Betreuung von traumatisierten Folter- und Kriegsüberlebenden gesprochen. Mit dem Obmann von „Asyl in Not" gibt es einen Podcast: Kampf für das Recht auf Asyl. Die Refugee-Proteste der letzten Jahren haben wir in den Artikeln Menschenrechte statt Charity, Wenn alles am Spiel steht und Inside the Refugeeprotest begleitet. Von der Situation unbegleiteter Minderjähriger haben wir unter dem Titel Minderjährig, allein und auf der Flucht berichtet und eine Reportage von der Insel Lampedusa haben wir im Sommer 2015 gebracht: „Hier wird die Problematik von Grenzen bewusst“ und Allein im Mittelmeer. Die besonders Schwere Situation von LGBTI*-Flüchtlingen haben wir mit Kein Asyl ohne Erektion beleuchtet. Flucht ist aber (natürlich) nicht nur in Europa ein Thema, sondern auch in Amerika: In Grenz(t)räume haben wir zentralamerikanische Migrant_innen auf ihrer Reise in die USA begleitet.

 

Wortwahl

Weil die „ling“-Endung unnötig verniedlichend oder abwertend  klingt, pochen viele Aktivist_innen darauf, im Umgang mit Flucht stattdessen lieber von „Geflüchteten“ zu sprechen. Weiters sind Begriffe wie Asylant_innen oder Asylwerber_innen bereits derart negativ konnotiert, dass auch von ihrer Verwendung mittlerweile abzuraten ist. Stattdessen bietet sich der Begriff „Asylsuchende“ an, zumal ja nicht um Asyl „geworben“ wird, sondern das Asylrecht als ein grundlegendes Menschenrecht in Anspruch genommen wird. Ein anderes Wort, das Menschen beschreibt, die flüchten, ist das englische „Refugee“, das mittlerweile auch im deutschen Sprachraum Fuß fasst. Es kommt vom Wort „refuge“, was so viel wie Schutzort oder Zufluchtsort bedeutet, „Refugees“ sind somit Zuflucht- oder Schutzsuchende.

Wurzelsuche nach neuem Rezept

  • 19.10.2015, 13:04

Caterina Sansones italienische Familie verließ nach dem 2. Weltkrieg das jugoslawische Rijeka und lebte viele Jahre lang in Flüchtlingslagern überall in Italien. Die Fotografin Sansonse begibt sich mit ihrem Freund und Comiczeichner Alessandro Tota auf die Spuren dieses Lebens – in umgekehrter Reihenfolge.

Caterina Sansones italienische Familie verließ nach dem 2. Weltkrieg das jugoslawische Rijeka und lebte viele Jahre lang in Flüchtlingslagern überall in Italien. Die Fotografin Sansonse begibt sich mit ihrem Freund und Comiczeichner Alessandro Tota auf die Spuren dieses Lebens – in umgekehrter Reihenfolge. Das Ergebnis ist ein außergewöhnliches Debüt in dem Fotografie und Comic-Kunst einander ergänzen. Allerdings geht das Experiment nicht ganz auf: Die Bilder alter Wohnorte der Familie etwa bleiben blass und oft nichtssagend, ihre Ästhetik im Vergleich zu den rahmenlosen, skizzenhaften Comic-Sequenzen zu hart. Die historischen Dokumente und Fotografien, die ebenfalls im Band an verschiedenen Stellen inkludiert werden, stiften visuell eher Unruhe und wirken narrativ selten aufklärend. Der intermediale Grenzgang zwischen Foto- und Comicband scheitert somit und man fragt sich, warum die Autor_innen sich nicht eher für eines der beiden Genres entschieden und das konsequent durchgezogen haben.

Was die Story angeht, wirkt die Präsenz Alessandro Totas eher lästig und verwirrend als, wie wohl intendiert, komödiantisch. Abgesehen von unreflektieren Gleichsetzungen von Faschismus und Kommunismus bleibt „Palatschinken“ größtenteils unpolitisch, was angesichts der Tatsache, dass es sich bei der Geschichte um ein vergessenes Kapitel europäischer Geschichte handelt, schade ist. Mit etwas mehr Kontext hätte der Band nämlich tatsächlich, wie der Klappentext verspricht, als „europäisches Schicksal im zwanzigsten Jahrhundert“ gelesen werden können. Auf seinen besten Seiten gibt „Palatschinken“ Auskunft über das Leben als Flüchtling und die Lebensumstände in Flüchtlingslagern.

„Ich habe auf eine Art Erkenntnis gehofft … aber die kam nicht …“, sagt Caterina Sansone am Ende des Bandes über die Reise und fasst damit auch die Lektüre ihrer Graphic Novel zusammen. Die ersten Palatschinken sind aber meistens nicht so gut. Hoffen wir, dass die nächsten besser gelingen.

Caterina Sansone und Alessandro Tota: „Palatschinken“
Reprodukt Verlag, 192 Seiten
24 Euro

 

Olja Alvir studiert Physik und Germanistik an der Universität Wien.

 

„They don't see people, they see numbers“

  • 25.06.2015, 16:38

„They don't see people, they see numbers“, kritisiert Paola P. europäische Politiker_innen. Die Pädagogin lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa. Im Interview mit progress spricht sie über Grenzen, europäische Flüchtlingspolitik und Migration, die schon immer Teil des Insellebens war.

„They don't see people, they see numbers“, kritisiert Paola P. europäische Politiker_innen. Die Pädagogin lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa. Im Interview mit progress spricht sie über Grenzen, europäische Flüchtlingspolitik und Migration, die schon immer Teil des Insellebens war. 

„Hier wird die Problematik von Grenzen bewusst“

  • 24.06.2015, 17:51
Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Sanft landet die Propellermaschine der italienischen Post am Flughafen von Lampedusa. 25 Passagiere steigen aus dem Flugzeug aus, drei von ihnen JournalistInnen.  Rund 6.000 Menschen leben auf dem 20 Quadratkilometer großen Felsen im Mittelmeer. Im Sommer, wenn die TouristInnen kommen, sind es um einige Zehntausend mehr.  „Die Saison geht von Juni bis August“,  sagt  Gianfranco, der während dieser Zeit in einem Hotel arbeitet und sein Auto an JournalistInnen verleiht. Das restliche Jahr lebt der Mittdreißiger in Palermo. Mit Flüchtlingen hat Gianfranco oft zu tun, da er als Freiwilliger beim Roten Kreuz hilft. „Das letzte Flüchtlingsboot ist vor einer Woche angekommen“, sagt er. Sollte er von einer Rettungsaktion erfahren, melde er sich per Telefon.

ESPRESSO. Im Hafen schaukeln Fischkutter neben kleinen Yachten und Sportbooten. Wellen schlagen gegen die Hafenmauer, Möwen schreien, Mopeds knattern. Auf einer Anhöhe oberhalb des Hafens weht die Fahne des Malteserordens im Wind: weißes Kreuz auf rotem Grund. Am Horizont die Silhouette einer Frontex-Fregatte.

Vor der Hafenbar Sbarcatoio findet sich ein Parkplatz für Gianfrancos alten Renault. Auf der Terrasse sitzen bartstoppelige Fischer und Paola Pizzicori, die gelegentlich für JournalistInnen Interviews dolmetscht, beim Espresso. Die 48-Jährige lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa und weiß von den Sorgen der BewohnerInnen: Das Trinkwasser müsse mit einem Tankboot geliefert werden. Der Bau einer Wasseraufbereitungsanlage sei zwar begonnen, aber nicht fertiggestellt worden. Strom werde größtenteils durch Dieselgeneratoren erzeugt. „Und das auf einer Insel, wo es so viel Sonne und Wind gibt.“ Der Turnsaal der Schule könne nicht benutzt werden, weil das Gebäude einsturzgefährdet sei. Auf der anderen Seite des Hafens legt die Fähre ab, die einmal  am Tag nach Agrigent fährt. „Die Fähre ist langsam, neun bis zehn Stunden braucht sie bis Sizilien“, sagt Pizzicori. Die LampedusanerInnen hätten gerne ein Speedboot. Und auch die Flüge seien zu teuer.

Und die Flüchtlinge? Die Art der medialen Berichterstattung verärgert die InselbewohnerInnen. „Stell dir vor, du lebst auf Lampedusa vom Tourismus und  in den Medien wird ständig von Ertrinkenden geschrieben.“ Aber Auslöser der Probleme seien nicht die Flüchtlinge, sondern die europäische Flüchtlingspolitik. Sie zwinge die Menschen übers Meer zu fahren, um nach Europa zu kommen. Pizzicori blickt aufs Meer, wo die Fähre hinter dem Felssporn mit der Malteser-Flagge verschwindet. „Als EuropäerIn hast du einen Pass, mit dem du so ziemlich jede Grenze überqueren kannst. Hier auf Lampedusa mit all den Toten wird dir die Problematik von Grenzen bewusst.“

STRAND. Vorbei am Porto Nuovo, wo zwei graue Patrouillenboote der Guardia di Finanza dümpeln, schlängelt sich die Straße einen Hügel hinauf. Nach fünf Minuten weist ein Schild am Straßenrand auf den Abgang zur Spiaggia dei Conigli, dem Kaninchenstrand, hin. Einige hundert Meter vor dem Strand sank im Oktober 2013 nach einer zweitägigen Odyssee ein überfüllter Fischkutter aus Libyen. Etwa 150 Menschen konnten von der Küstenwache und den FischerInnen gerettet werden. 300 Flüchtlinge ertranken. Heute ist alles ruhig. Am weißen Sandstrand braungebrannte Körper auf Badetüchern vor azurblauem Meer. Möwen jammern.

Zur selben Zeit folgt die Monte Sperone dem Notruf eines GPS-Handys. Das Signal wurde irgendwo zwischen der libyschen Küste und Lampedusa geortet.  Mehrere hundert Menschen sollen sich an Bord eines überladenen Kutters befinden. Als das  Schiff der Guardia   di Finanza den Notruf erhält, ist es 100 Seemeilen vom Sender entfernt. Bei einer Geschwindigkeit von  35  Knoten  braucht  das  Schiff drei Stunden, um das  Flüchtlingsboot zu erreichen. Wenn eines der kleinen Flüchtlingsboote einmal leckt, dauert es etwa 30 Minuten bis es sinkt und die InsassInnen, meist NichtschwimmerInnen, ertrunken sind.

PiZZA. Die Via Roma ist die Hauptstraße von Lampedusa. Sie beginnt nahe beim Hafen und zieht sich schnurgerade an der Kirche vorbei bis an den Rand der Stadt. Marquisen beschatten die Auslagen der Boutiquen und Läden, Cafés und Restaurants reihen sich aneinander. Giuseppe Solina steht vor seiner Trattoria am Anfang der Fußgängerzone. „Wir LampedusanerInnen  helfen  den  Flüchtlingen. Das ist selbstverständlich“, sagt der Mittvierziger. „Aber wir wollen nicht, dass unsere Insel auf das Thema Migration reduziert wird.“ JournalistInnen hätten sogar von einem Ebola-Fall berichtet, den es nicht gab. Lampedusa sei eine schöne Insel mit netten Menschen, die gerne Urlaubsgäste empfangen wollen. Auf Grund der Berichterstattung glauben viele, dass Lampedusa ein einziges Flüchtlingslager sei.  „Aber sehen Sie sich doch um!“ Dann geht er zurück in die Trattoria, setzt sich an sein Piano und spielt die Melodie von „Stand by Me“.

SCHIFFSWRACK.  Neben der Uferstraße im Porto Nuovo verrotten hinter einer niedrigen Mauer Holzboote mit weiß-blauem Anstrich und arabischen Inschriften. Das linke Kollektiv  Askavusa hat auf den Decks und in den Laderäumen der Boote die Zeugnisse jener Menschen gesammelt, die mit den Booten nach Europa kamen. Am Hafen bauen sie ein altes FischerInnenhaus zu einem Ausstellungsraum um. „Die Menschen auf Lampedusa wollen, dass die MigrantInnen unsichtbar bleiben“, sagt Francesca, eine Aktivistin von  Askavusa.  Dem  will Askavusa  ein Museum mit persönlichen Gegenständen der Flüchtlinge entgegensetzen: Tunesische Zigarettenpackungen, Kleider, in die Telefonnummern eingenäht sind, Notizen und Zeichnungen, Schwimmwesten, Koran und Bibel, vom Meerwasser aufgeweicht.

Und der Tourismus? Es kämen jetzt zwar weniger UrlauberInnen auf die Insel, dafür umso mehr JournalistInnen, NGO-ArbeiterInnen, PolizistInnen und SoldatInnen – die müssen alle versorgt werden, brauchen Schlafplätze, besuchen Restaurants   und  Bars. „Früher lebten die Menschen von der Fischerei, dann vom Tourismus, jetzt auch von der Militär- und Flüchtlingsindustrie“, sagt Francesca und dreht sich eine Zigarette. „Die Ökonomie der Insel verändert sich.“

Als die Monte Sperone 40 Seemeilen vor der  libyschen Küste auf das Boot der Flüchtlinge  trifft, sind diese seit sechs Stunden unterwegs. Kinder, Jugendliche, Erwachsene drängen sich auf dem überfüllten Fischkutter. EineR nach dem/der anderen werden sie auf das Schiff der Guardia di Finanza gebracht, wo sie Decken und Wasser erhalten und HelferInnen die Flüchtlinge erstversorgen. Anschließend wird der Kutter versenkt.

TOTE. „Porta d'Europa“ nennt der italienische Künstler Mimmo Paladino sein Werk an der Südküste, nahe des Hafens: ein fünf Meter hoher Durchgang, an dem Schuhe, Mützen und andere Habseligkeiten, die Bootsflüchtlinge bei ihrer Ankunft  am Körper trugen, hängen. Gegen die schroffen,  scharfen Felsen unterhalb des Tores brandet das Meer. Ein Handy läutet, es ist Gianfranco: Das Schiff der Guardia di Finanza mit 600 Flüchtlingen laufe in den Hafen ein.  Langsam nähert sich die graue Bordwand der Kaimauer. Über der Reeling die Köpfe hunderter AfrikanerInnen und SyrerInnen. Dazwischen HelferInnen in weißen Schutzanzügen, Handschuhen und Mundmasken. Am Kai warten zwei Dutzend Carabinieri, Kamerateams, FotografInnen, Malteser-HelferInnen  in Uniform, das Rote Kreuz mit zwei Krankenwägen und junge Leute mit „Save the Children“-T-Shirts.  „Sofern möglich, werden die Geretteten gleich nach  Sizilien gebracht", sagt Comandante Leonardo Gnoffo  von der Guardia di Finanza, der Finanzaufsicht, deren Schiffe bei der Operation „Triton" zum Einsatz kommen. Aber der Kapitän und die ÄrztInnen an Bord des Schiffes bestehen darauf, die Menschen zuerst nach Lampedusa zu bringen, da sie medizinische Hilfe brauchen, so Gnoffo. Eine Frau sei schwanger, es gäbe Fälle von Krätze und gebrochene Knochen. Viele seien erschöpft von einer wochen- oder monatelangen Reise, von der die Fahrt übers Meer nur das letzte Stück darstellt. Ob abgesehen von den  bekannten Unglücken vor Lampedusa von mehr Toten auszugehen sei?  „Auf Grund der Größe des Areals, der Anzahl der Flüchtlinge und des Zustands der Boote können wir davon ausgehen, dass es weit mehr Tote gibt als bekannt", sagt Comandante Gnoffo.

Etwa 60 Frauen, Mädchen und Kinder gehen von Bord des Schiffes. Alles, was sie dabei haben, ist eine Tasche oder ein Rucksack, viele nicht einmal das. Rot-Kreuz-MitarbeiterInnen kontrollieren sie auf erhöhte Temperatur und Hautkrankheiten. „Die Flüchtlinge kommen aus Eritrea, Zentralafrika und  Syrien“, sagt  Giada Bellanca, eine Malteser-Helferin.  „Libyen ist das Delta der Flüchtlingsströme. Dort gehen sie auf die Boote Richtung EU.“

Und die SchlepperInnen? „Die, die das große Geld machen, sitzen in Libyen“, sagt Bellanca. Die das Boot nach Europa steuern, seien kleine Handlanger, oft 16- oder 17-jährige Burschen: „Genauso verzweifelt wie die Flüchtlinge.“ Der erste Bus ist voll und bringt die Flüchtlinge ins Aufnahmezentrum außerhalb der Stadt.

ENDE DER REISE? Normalerweise bleiben die Flüchtlinge nicht länger als 48 Stunden auf der Insel, dann werden sie nach Sizilien gebracht. Kommen viele Boote auf einmal an, ist das Zentrum mit einer Kapazität für ein paar hundert Menschen rasch  über füllt. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge, die 2014 über das Mittelmeer nach Europa kamen, stammen laut UNO aus Syrien und Eritrea. Auch Danyal kommt aus Eritrea, der Militärdiktatur am Horn von Afrika. Er sitzt im Schatten einer Pinie hinter dem Gitter des Aufnahmezentrums. Das Tor wird von SoldatInnen bewacht, der Zugang ist nur mit Genehmigung der Präfektur in  Agrigent gestattet.

Danyal musste 1.800 US-Dollar für die Überfahrt bezahlen. Bei 600 Menschen am Boot wanderten   rund eine Million Dollar in die Taschen jener Organisationen, die von Libyen aus die Überfahrt organisieren. Von Eritrea bis Libyen war er ein Monat unterwegs. Einige seiner ReisegefährtInnen hatten es nicht geschafft, sie wurden im Tschad gekidnappt, andere geschlagen, alle hungerten sie und waren obdachlos. In Tripolis musste er auf gutes Wetter für die Überfahrt warten. Jetzt würde er gerne seine Familie verständigen, dass er Europa erreicht hat.  Aber er besitzt kein Handy.

Am nächsten Tag im Hafen von Lampedusa. Etwa 50 Flüchtlinge verschwinden im Bauch der Fähre. Dann schließt sich die Luke und das Schiff legt Richtung Agrigent ab, wo die Flüchtlinge auf verschiedene Flüchtlingslager verteilt werden. Rauch qualmt aus den Kaminen, Möwen folgen dem Schiff eine Weile, bevor sie abdrehen.

Von den 220.000 Flüchtlingen, die 2014 versuchten über das Mittelmeer Europa zu erreichen, sind laut UNHCR 3.500 ertrunken. Seit Anfang des Jahres bis April (2015) sind bereits 1.600 Menschen auf ihrer Flucht umgekommen.

 

Markus  Schauta  studierte  Geschichte,  Archäologie  und Religionswissenschaft an der Universität Wien. Seit 2011 macht er zahlreiche Reportagen als freier Nahost-Reporter.

Hier kannst du das Video ansehen, das im Rahmen von Markus Recherchetätigkeiten in Lampedusa entstanden ist. 

Allein im Mittelmeer

  • 23.05.2015, 14:42

Die kleine Mittelmeerinsel Lampedusa - ein acht Kilometer langer Felsen - ist erste Anlaufstelle für tausende afrikanische Menschen, die flüchten mussten. Und gleichzeitig ist sie nur eine Durchlaufstation; für die, die es geschafft haben, und für wenige von all denen, die es nicht geschafft haben. Das Schicksal sowohl der Überlebenden als auch der Toten wird unsichtbar gemacht, denn auch auf Lampedusa darf das Drama im Mittelmeer nicht zu sehr stören.

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