Flüchtlingspolitik

„Alternative gab es keine“

  • 05.12.2015, 12:26

Der syrische Fußballtrainer Osama Abdul Mohsen wurde durch den Tritt einer ungarischen Kamerafrau berühmt. In Spanien hat er eine neue Heimat gefunden.

Der syrische Fußballtrainer Osama Abdul Mohsen floh mit seinem Sohn Zaid nach Europa. In Ungarn gelangte er durch den Tritt einer Kamerafrau ins mediale Rampenlicht. In Spanien, wo er eine neue Heimat gefunden hat, trüben Gerüchte um seine angebliche islamistische Vergangenheit den Neubeginn, wie er Jan Marot sagt.

progress: Wie geht es Ihnen nach den ersten Monaten nach der Flucht aus Syrien über die Türkei und die Balkanroute?
Osama Abdul Mohsen: Es geht mir wieder gut. Ich bin sehr, sehr froh, hier in Spanien zu sein. Die Kleinstadt Getafe ist eine ruhige Stadt mit freundlichen Menschen. Ich lebe hier in einer sehr hilfsbereiten, fremdenfreundlichen Nachbarschaft. Man hat uns mit offenen Armen empfangen. Ich bin hier sehr glücklich mit meinen beiden Söhnen. Man grüßt uns auf den Straßen, lächelt uns zu. Und man ist um unser Wohl besorgt, aber auch sehr interessiert an unserem Leben in Syrien und unseren Erfahrungen auf der Flucht.

Wie geht es Ihren Kindern in Spanien, dem jungen Zaid und dem volljährigen Mohammed?
Auch ihnen geht es wieder sehr gut. Sie haben längst mit der Schule begonnen und auch FreundInnen gefunden. Wenngleich vor allem Zaid, dem Siebenjährigen, seine Mutter sehr fehlt. Ich habe just nach meiner Ankunft hier einen Intensivsprachkurs begonnen und übe auch täglich mit meinen Kindern. Spanisch ist enorm wichtig. Nicht nur für das Leben hier und unsere Integration, sondern auch für meine Arbeit als Fußballtrainer.

Welches ist Ihr Lieblingsfußballteam in Spanien?
Real Madrid, wie könnte es anders sein (lacht). Bereits in Syrien war ich Fan. Und mein Sohn Zaid auch. Es war eine wunderbare Erfahrung, nach unserer Ankunft, das Team und Cristiano Ronaldo zu treffen und ein paar Pässe mit ihnen zu spielen. Damit ging für Zaid ein Traum in Erfüllung. Und er fasste auch neuen Mut, nach all der Mühsal und den schweren Monaten der Flucht.

Was waren die schwersten Stationen auf Ihrer Flucht?
Viele Stationen waren schwer, sei es in Griechenland, etwa auf der Insel Kos, direkt nach der Überfahrt. Aber auch in Mazedonien oder Serbien. Man erlebt Phasen permanenter Angst, teils Todesängste, und die quälende Ungewissheit nagt an einem. Was einen vorantreibt ist die Hoffnung, die ja bekanntlich zuletzt stirbt – die Hoffnung auf ein besseres Leben, in erster Linie für meine Kinder. Es war sehr, sehr hart. Doch ich muss sagen, Ungarn war mit Abstand der allerschlimmste Teil der Flucht. Ein permanenter Alptraum. Ein Land, das jegliche Menschlichkeit verloren zu haben schien. Aber das ist zum Glück jetzt alles überstanden. Hier in Spanien will ich bleiben. Hier bin ich nach langer Zeit wieder zufrieden und vor allem auch ruhiger geworden.

Wie haben Sie Österreich in Erinnerung?
In Österreich hat man uns sehr, sehr freundlich empfangen. Die PolizistInnen waren ausgesprochen hilfsbereit, die Soldaten des Bundesheeres auch. Viele Menschen waren offen und herzlich. Sie fragten, was uns fehlt, und gaben uns, was wir brauchten. Essen, Kleidung und auch Geld hat man uns gegeben. Mein jüngerer Sohn Zaid war ja zuvor in Ungarn bereits erkrankt. Er hatte sich stark verkühlt und fieberte. Dort hat man ihn nicht behandelt. Keine Chance. In allen Krankenhäusern hat man uns abgewiesen. In Österreich war ich mit ihm in drei Spitälern und überall hat man uns sofort geholfen. Und Zaid ist rasch gesund geworden, zum Glück. Ich möchte mich an dieser Stelle bei den ÄrztInnen und allen Menschen, die uns in Österreich geholfen haben, von Herzen bedanken.

Gab es auch so etwas wie „gute Tage“ auf der Flucht?
Natürlich ist nicht jede Minute hoffnungslos. Solidarität zeigte man uns vielerorts. Und Flüchtlinge untereinander teilen und helfen, wie sie nur können. Auch in Griechenland, auf Kos, in Mazedonien und Serbien war man oft sehr nett und hilfsbereit. Die Menschen, die dort leben, tun, was sie können. Sie leben Menschlichkeit. Anders als in Ungarn. Aber die Lebensstandards sind nun einmal ganz andere als in Österreich und Deutschland. Dementsprechend half man uns dort weit mehr als in den Balkanstaaten oder dem von der Krise geprägten Griechenland. Vor allem seitens Privatpersonen, aber auch seitens der Sicherheitskräfte und des Roten Kreuzes. Weil die Menschen mehr haben. Doch auch diejenigen, die wenig haben, teilten oftmals das Wenige mit uns. Und wir waren viele Flüchtlinge, hunderte, oft tausende, die sich von Station zu Station bewegten.

Haben Sie noch Kontakt zu FreundInnen in ihrer Heimatstadt Deir ez-Zor?
Leider kaum. Das ist fast unmöglich. Maximal einmal im Monat schaffe ich es, mich mit meinen zwei Brüdern in Syrien auszutauschen. Die Wartezeit dazwischen ist geprägt von Ungewissheit und Angst. Denn man weiß nie, ob es das letzte Mal war, mit ihnen gesprochen zu haben. Aber zum Glück ist meine Frau in Sicherheit. Sie lebt noch in der Türkei. Ich versuche alles Menschenmögliche, damit sie auch zu mir nach Spanien kommen kann. Ich hoffe, das dauert nicht mehr lange. Ende November werde ich sie endlich besuchen können. Mit Zaid, meinem kleinen Sohn. Die Türkei-Visa und unsere Pässe haben wir nun bekommen, am 23. 11. fliegen wir. Ich habe meine Frau fast ein halbes Jahr nicht mehr in den Armen gehalten. Zaid vermisst seine Mutter sehr.

Haben Sie auch in den Flüchtlingslagern in der Türkei an der syrischen Grenze gelebt?
Nein, das wollten wir von Anfang an vermeiden. Die Zustände in den Lagern sind sehr schlecht. Also haben wir, einmal in der Türkei angekommen, für mich, meine Frau und meine Kinder ein kleines Haus gemietet. Das war sehr, sehr teuer. Und ich musste für zehn Euro Lohn am Tag schuften, damit wir Nahrung und ein Dach über dem Kopf hatten. Nach zwei Jahren hatten wir es satt, unter derartigen Bedingungen ein Überleben zu fristen. Meine Familie beschloss, dass ich mich auf den Weg nach Europa machen soll, mit meinem jüngsten Sohn. Das war keine leichte Entscheidung. Aber Alternative gab es keine.

Hat sich die Kamerafrau, die Sie attackiert hatte, bei Ihnen persönlich entschuldigt?
Das ist eine sehr bösartige Person. Sie hat nicht nur mich getreten, als ich meinen Sohn tragend vor der Polizei davonlief. Auch ein junges Mädchen hat sie getreten. Das sind Taten, die unentschuldbar sind. In Ungarn gehen aber viele Menschen davon aus, dass wir Flüchtlinge die Bösen sind und man ihnen sehr deutlich zeigen müsse, dass sie hier eben nicht willkommen sind. Unmenschlich ist das. Ich bin aber in Kontakt mit AnwältInnen und werde sie anzeigen, auf dass sie hoffentlich ins Gefängnis kommt.

Was sind Ihre Pläne für die nahe Zukunft in Spanien?
Ich bin noch bei der Trainerschule in Getafe. Ganz gleich bei welchem Team man mich braucht, ich werde dort arbeiten. Wie es nun aussieht, wird es ein Jugendteam werden, Villaverde Boetticher in Madrid, wo ich neben meiner Trainertätigkeit auch für die kommerziellen Beziehungen zu arabischen Staaten gebraucht werde. Das sei einmal für ein Jahr, wie man mir sagte. Dann werden wir weitersehen. Solange ich nicht nach Syrien zurückkehren kann, wird Spanien meine Wahlheimat bleiben.

Wie stehen Sie zu den internationalen Militärinterventionen?
Viele Nachrichten, die aus Syrien gemeldet werden, sind Lügen. Das Assad-Regime verbreitet selbst sehr viele Lügen. Ja, Assad hat Russland um Hilfe gebeten. Aber gegen wen? Und für welchen Zweck? Selbstzweck natürlich, um seine Position abzusichern. Die Zivilbevölkerung interessiert ihn wenig. Das Leben im Bürgerkrieg ist schlichtweg katastrophal. Das war es schon vor fast drei Jahren, als ich aus Syrien 2012 in die Türkei geflohen bin. Folglich habe ich auch vom Islamischen Staat, der dort mit Splittergruppen aktiv ist, noch nichts mitbekommen. Und ich hatte auch keinen Kontakt zum IS, der nun in weiten Teilen meiner Heimat wüten soll.

Nähe zum IS ist etwas, das man Ihnen auch wegen des Posts eines schwarzen Banners mit dem Schriftzug „Es gibt keinen Gott außer Gott“ auf Ihrem Facebook-Profil vorgeworfen hat. Und auch wenn man Ihren Namen googelt, scheint „Terrorist“ auf.
Das sind Lügen und bösartige, haltlose Gerüchte. Ich habe an Anti-Assad- Protesten für einen demokratischen Wandel in Syrien teilgenommen. Und man weiß nur zu gut, wie mit KritikerInnen von Präsident Bashir al-Assad verfahren wird. Die Gerüchte wurzeln vor allem in den Kommentaren eines Regime-freundlichen Journalisten und in rechtsextremen Online- Foren. Ich verabscheue Gewalt und habe absolut gar nichts mit radikalislamistischen Gruppen wie al-Nusra im Bürgerkrieg zu tun, das versichere ich Ihnen. Das Facebook-Foto hat man falsch interpretiert, auch wenn ich es mittlerweile entfernt habe. Der Spruch ist allen MuslimInnen wichtig. Nicht nur den Radikalen, die ihn für ihre Zwecke missbrauchen. Und nebenbei: Derselbe Spruch ziert auch die saudiarabische Flagge.

Glauben Sie, je nach Syrien zurückkehren zu können?
So Gott will ja, irgendwann. Doch der Krieg hat alles zerstört. Es ist sehr gefährlich und auch auf lange Sicht sehe ich keinen Frieden für mein Land am Horizont. Das Leben dort ist unmöglich geworden. Wenn der Krieg enden soll, „inshallah“, würde ich freilich gerne wieder als Trainer dort arbeiten. Aber derzeit kann ich meiner Familie von Spanien aus mehr helfen, als von vor Ort. Und auch meinem Land. Was muss Ihrer Meinung nach geschehen? Das Morden aller Seiten muss aufhören. Der IS mordet, Assad mordet. Die RebellInnen morden. Europa muss uns helfen. Den Flüchtlingen, aber auch vor Ort. Die Regierungen, auch die spanische sind gefordert. Und die Verantwortlichen wissen selbst zu gut, dass sie mehr für Syrien und die syrische Bevölkerung machen können.

Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich und arbeitet als freischaffender Journalist in Granada, Spanien.
 

Schutz suchen

  • 21.10.2015, 15:50

In den nächsten Tagen wird das Thema Flucht progress-online dominieren. Ein Überblick.

Ende Oktober präsentiert progress mehere Beiträge zum Thema Flucht. Ein Überblick über das Thema.

 

Fluchtgründe

Was für Gründe brauchen Menschen, um in Österreich Asyl gewährt zu bekommen? Grundsätzlich regelt das das Asylgesetz 2005, das sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention bezieht. 150 Staaten haben 1951 in dieser festgehalten, dass Geflüchtete eine „wohlbegründete Furcht vor der Verfolgung aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Meinung oder  Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ haben müssen, um als solche anerkannt zu werden. Allerdings müssen Refugees den österreichischen Beamten glaubhaft machen, dass sie wirklich persönlich verfolgt werden – eine schwierige Aufgabe, wie auch das Beispiel von LGBTI*-Flüchtlingen zeigt. Kriegsflüchtlinge werden meist nicht persönlich verfolgt, ihnen droht in ihrer Heimat jedoch Gefahr, weshalb sie subsidiären Schutz gewährleistet bekommen. Dieser Schutz vor Abschiebung gilt jedoch nur ein Jahr und muss danach erneuert werden. Eine ganze Reihe Gründe können gegen den Asylstatus in Österreich sprechen, zum Beispiel wenn ein anderer Staat der Dublin III-Verordnung für das Asylverfahren zuständig ist oder die Asylsuchenden Schutz in einem „sicheren Drittland“ finden können.


Krieg spielen

Die Belagerung Sarajevos im Bosnienkrieg ist die Inspiration für das Videogame „This War of Mine“ (PC, OS X, Linux, iOS, Android, Playstation, Xbox One, mindestens 14,99€). Hier spielt man zwei junge Männer und eine Frau, die gemeinsam versuchen, in einer zerstörten und gefährlichen Stadt zu überleben. Zwischen den Charakteren wechselnd muss man sich auf die Suche nach Nahrung machen, die verwahrloste Unterkunft reparieren und sich gegen andere plündernde Menschen verteidigen. Das rundenbasierte Gameplay bleibt einfach und macht einem Albtraum-Artwork und einer gruselig-eindringlichen Soundkulisse Platz. Die Atmosphäre ist durchgehend bedrohlich, auch die ruhigen Spielsequenzen bleiben angsteinflößend. „This War of Mine“ spielt man daher wahrscheinlich nur einmal, aber dafür ist das Spielerlebnis umso intensiver.

 

Lesestoff

Das Thema Flucht beschäftigt das progress schon seit längerem. In einer Printausgabe war es Dossierthema, dort wurden zum Beispiel anhand Hunger ist kein Asylgrund die grundlegenden Probleme des österreichischen Asylsystems beleuchtet. In Schlepperei in Zeiten unbegrenzter Grenzen haben wir über den Begriff der Schlepperei und den der Fluchthilfe geschrieben. Mit dem Verein Hemayat haben wir in Ein Schleier, der sich über die Existenz legt über die psychotherapeutische Betreuung von traumatisierten Folter- und Kriegsüberlebenden gesprochen. Mit dem Obmann von „Asyl in Not" gibt es einen Podcast: Kampf für das Recht auf Asyl. Die Refugee-Proteste der letzten Jahren haben wir in den Artikeln Menschenrechte statt Charity, Wenn alles am Spiel steht und Inside the Refugeeprotest begleitet. Von der Situation unbegleiteter Minderjähriger haben wir unter dem Titel Minderjährig, allein und auf der Flucht berichtet und eine Reportage von der Insel Lampedusa haben wir im Sommer 2015 gebracht: „Hier wird die Problematik von Grenzen bewusst“ und Allein im Mittelmeer. Die besonders Schwere Situation von LGBTI*-Flüchtlingen haben wir mit Kein Asyl ohne Erektion beleuchtet. Flucht ist aber (natürlich) nicht nur in Europa ein Thema, sondern auch in Amerika: In Grenz(t)räume haben wir zentralamerikanische Migrant_innen auf ihrer Reise in die USA begleitet.

 

Wortwahl

Weil die „ling“-Endung unnötig verniedlichend oder abwertend  klingt, pochen viele Aktivist_innen darauf, im Umgang mit Flucht stattdessen lieber von „Geflüchteten“ zu sprechen. Weiters sind Begriffe wie Asylant_innen oder Asylwerber_innen bereits derart negativ konnotiert, dass auch von ihrer Verwendung mittlerweile abzuraten ist. Stattdessen bietet sich der Begriff „Asylsuchende“ an, zumal ja nicht um Asyl „geworben“ wird, sondern das Asylrecht als ein grundlegendes Menschenrecht in Anspruch genommen wird. Ein anderes Wort, das Menschen beschreibt, die flüchten, ist das englische „Refugee“, das mittlerweile auch im deutschen Sprachraum Fuß fasst. Es kommt vom Wort „refuge“, was so viel wie Schutzort oder Zufluchtsort bedeutet, „Refugees“ sind somit Zuflucht- oder Schutzsuchende.

„They don't see people, they see numbers“

  • 25.06.2015, 16:38

„They don't see people, they see numbers“, kritisiert Paola P. europäische Politiker_innen. Die Pädagogin lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa. Im Interview mit progress spricht sie über Grenzen, europäische Flüchtlingspolitik und Migration, die schon immer Teil des Insellebens war.

„They don't see people, they see numbers“, kritisiert Paola P. europäische Politiker_innen. Die Pädagogin lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa. Im Interview mit progress spricht sie über Grenzen, europäische Flüchtlingspolitik und Migration, die schon immer Teil des Insellebens war. 

„Hier wird die Problematik von Grenzen bewusst“

  • 24.06.2015, 17:51
Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Sanft landet die Propellermaschine der italienischen Post am Flughafen von Lampedusa. 25 Passagiere steigen aus dem Flugzeug aus, drei von ihnen JournalistInnen.  Rund 6.000 Menschen leben auf dem 20 Quadratkilometer großen Felsen im Mittelmeer. Im Sommer, wenn die TouristInnen kommen, sind es um einige Zehntausend mehr.  „Die Saison geht von Juni bis August“,  sagt  Gianfranco, der während dieser Zeit in einem Hotel arbeitet und sein Auto an JournalistInnen verleiht. Das restliche Jahr lebt der Mittdreißiger in Palermo. Mit Flüchtlingen hat Gianfranco oft zu tun, da er als Freiwilliger beim Roten Kreuz hilft. „Das letzte Flüchtlingsboot ist vor einer Woche angekommen“, sagt er. Sollte er von einer Rettungsaktion erfahren, melde er sich per Telefon.

ESPRESSO. Im Hafen schaukeln Fischkutter neben kleinen Yachten und Sportbooten. Wellen schlagen gegen die Hafenmauer, Möwen schreien, Mopeds knattern. Auf einer Anhöhe oberhalb des Hafens weht die Fahne des Malteserordens im Wind: weißes Kreuz auf rotem Grund. Am Horizont die Silhouette einer Frontex-Fregatte.

Vor der Hafenbar Sbarcatoio findet sich ein Parkplatz für Gianfrancos alten Renault. Auf der Terrasse sitzen bartstoppelige Fischer und Paola Pizzicori, die gelegentlich für JournalistInnen Interviews dolmetscht, beim Espresso. Die 48-Jährige lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa und weiß von den Sorgen der BewohnerInnen: Das Trinkwasser müsse mit einem Tankboot geliefert werden. Der Bau einer Wasseraufbereitungsanlage sei zwar begonnen, aber nicht fertiggestellt worden. Strom werde größtenteils durch Dieselgeneratoren erzeugt. „Und das auf einer Insel, wo es so viel Sonne und Wind gibt.“ Der Turnsaal der Schule könne nicht benutzt werden, weil das Gebäude einsturzgefährdet sei. Auf der anderen Seite des Hafens legt die Fähre ab, die einmal  am Tag nach Agrigent fährt. „Die Fähre ist langsam, neun bis zehn Stunden braucht sie bis Sizilien“, sagt Pizzicori. Die LampedusanerInnen hätten gerne ein Speedboot. Und auch die Flüge seien zu teuer.

Und die Flüchtlinge? Die Art der medialen Berichterstattung verärgert die InselbewohnerInnen. „Stell dir vor, du lebst auf Lampedusa vom Tourismus und  in den Medien wird ständig von Ertrinkenden geschrieben.“ Aber Auslöser der Probleme seien nicht die Flüchtlinge, sondern die europäische Flüchtlingspolitik. Sie zwinge die Menschen übers Meer zu fahren, um nach Europa zu kommen. Pizzicori blickt aufs Meer, wo die Fähre hinter dem Felssporn mit der Malteser-Flagge verschwindet. „Als EuropäerIn hast du einen Pass, mit dem du so ziemlich jede Grenze überqueren kannst. Hier auf Lampedusa mit all den Toten wird dir die Problematik von Grenzen bewusst.“

STRAND. Vorbei am Porto Nuovo, wo zwei graue Patrouillenboote der Guardia di Finanza dümpeln, schlängelt sich die Straße einen Hügel hinauf. Nach fünf Minuten weist ein Schild am Straßenrand auf den Abgang zur Spiaggia dei Conigli, dem Kaninchenstrand, hin. Einige hundert Meter vor dem Strand sank im Oktober 2013 nach einer zweitägigen Odyssee ein überfüllter Fischkutter aus Libyen. Etwa 150 Menschen konnten von der Küstenwache und den FischerInnen gerettet werden. 300 Flüchtlinge ertranken. Heute ist alles ruhig. Am weißen Sandstrand braungebrannte Körper auf Badetüchern vor azurblauem Meer. Möwen jammern.

Zur selben Zeit folgt die Monte Sperone dem Notruf eines GPS-Handys. Das Signal wurde irgendwo zwischen der libyschen Küste und Lampedusa geortet.  Mehrere hundert Menschen sollen sich an Bord eines überladenen Kutters befinden. Als das  Schiff der Guardia   di Finanza den Notruf erhält, ist es 100 Seemeilen vom Sender entfernt. Bei einer Geschwindigkeit von  35  Knoten  braucht  das  Schiff drei Stunden, um das  Flüchtlingsboot zu erreichen. Wenn eines der kleinen Flüchtlingsboote einmal leckt, dauert es etwa 30 Minuten bis es sinkt und die InsassInnen, meist NichtschwimmerInnen, ertrunken sind.

PiZZA. Die Via Roma ist die Hauptstraße von Lampedusa. Sie beginnt nahe beim Hafen und zieht sich schnurgerade an der Kirche vorbei bis an den Rand der Stadt. Marquisen beschatten die Auslagen der Boutiquen und Läden, Cafés und Restaurants reihen sich aneinander. Giuseppe Solina steht vor seiner Trattoria am Anfang der Fußgängerzone. „Wir LampedusanerInnen  helfen  den  Flüchtlingen. Das ist selbstverständlich“, sagt der Mittvierziger. „Aber wir wollen nicht, dass unsere Insel auf das Thema Migration reduziert wird.“ JournalistInnen hätten sogar von einem Ebola-Fall berichtet, den es nicht gab. Lampedusa sei eine schöne Insel mit netten Menschen, die gerne Urlaubsgäste empfangen wollen. Auf Grund der Berichterstattung glauben viele, dass Lampedusa ein einziges Flüchtlingslager sei.  „Aber sehen Sie sich doch um!“ Dann geht er zurück in die Trattoria, setzt sich an sein Piano und spielt die Melodie von „Stand by Me“.

SCHIFFSWRACK.  Neben der Uferstraße im Porto Nuovo verrotten hinter einer niedrigen Mauer Holzboote mit weiß-blauem Anstrich und arabischen Inschriften. Das linke Kollektiv  Askavusa hat auf den Decks und in den Laderäumen der Boote die Zeugnisse jener Menschen gesammelt, die mit den Booten nach Europa kamen. Am Hafen bauen sie ein altes FischerInnenhaus zu einem Ausstellungsraum um. „Die Menschen auf Lampedusa wollen, dass die MigrantInnen unsichtbar bleiben“, sagt Francesca, eine Aktivistin von  Askavusa.  Dem  will Askavusa  ein Museum mit persönlichen Gegenständen der Flüchtlinge entgegensetzen: Tunesische Zigarettenpackungen, Kleider, in die Telefonnummern eingenäht sind, Notizen und Zeichnungen, Schwimmwesten, Koran und Bibel, vom Meerwasser aufgeweicht.

Und der Tourismus? Es kämen jetzt zwar weniger UrlauberInnen auf die Insel, dafür umso mehr JournalistInnen, NGO-ArbeiterInnen, PolizistInnen und SoldatInnen – die müssen alle versorgt werden, brauchen Schlafplätze, besuchen Restaurants   und  Bars. „Früher lebten die Menschen von der Fischerei, dann vom Tourismus, jetzt auch von der Militär- und Flüchtlingsindustrie“, sagt Francesca und dreht sich eine Zigarette. „Die Ökonomie der Insel verändert sich.“

Als die Monte Sperone 40 Seemeilen vor der  libyschen Küste auf das Boot der Flüchtlinge  trifft, sind diese seit sechs Stunden unterwegs. Kinder, Jugendliche, Erwachsene drängen sich auf dem überfüllten Fischkutter. EineR nach dem/der anderen werden sie auf das Schiff der Guardia di Finanza gebracht, wo sie Decken und Wasser erhalten und HelferInnen die Flüchtlinge erstversorgen. Anschließend wird der Kutter versenkt.

TOTE. „Porta d'Europa“ nennt der italienische Künstler Mimmo Paladino sein Werk an der Südküste, nahe des Hafens: ein fünf Meter hoher Durchgang, an dem Schuhe, Mützen und andere Habseligkeiten, die Bootsflüchtlinge bei ihrer Ankunft  am Körper trugen, hängen. Gegen die schroffen,  scharfen Felsen unterhalb des Tores brandet das Meer. Ein Handy läutet, es ist Gianfranco: Das Schiff der Guardia di Finanza mit 600 Flüchtlingen laufe in den Hafen ein.  Langsam nähert sich die graue Bordwand der Kaimauer. Über der Reeling die Köpfe hunderter AfrikanerInnen und SyrerInnen. Dazwischen HelferInnen in weißen Schutzanzügen, Handschuhen und Mundmasken. Am Kai warten zwei Dutzend Carabinieri, Kamerateams, FotografInnen, Malteser-HelferInnen  in Uniform, das Rote Kreuz mit zwei Krankenwägen und junge Leute mit „Save the Children“-T-Shirts.  „Sofern möglich, werden die Geretteten gleich nach  Sizilien gebracht", sagt Comandante Leonardo Gnoffo  von der Guardia di Finanza, der Finanzaufsicht, deren Schiffe bei der Operation „Triton" zum Einsatz kommen. Aber der Kapitän und die ÄrztInnen an Bord des Schiffes bestehen darauf, die Menschen zuerst nach Lampedusa zu bringen, da sie medizinische Hilfe brauchen, so Gnoffo. Eine Frau sei schwanger, es gäbe Fälle von Krätze und gebrochene Knochen. Viele seien erschöpft von einer wochen- oder monatelangen Reise, von der die Fahrt übers Meer nur das letzte Stück darstellt. Ob abgesehen von den  bekannten Unglücken vor Lampedusa von mehr Toten auszugehen sei?  „Auf Grund der Größe des Areals, der Anzahl der Flüchtlinge und des Zustands der Boote können wir davon ausgehen, dass es weit mehr Tote gibt als bekannt", sagt Comandante Gnoffo.

Etwa 60 Frauen, Mädchen und Kinder gehen von Bord des Schiffes. Alles, was sie dabei haben, ist eine Tasche oder ein Rucksack, viele nicht einmal das. Rot-Kreuz-MitarbeiterInnen kontrollieren sie auf erhöhte Temperatur und Hautkrankheiten. „Die Flüchtlinge kommen aus Eritrea, Zentralafrika und  Syrien“, sagt  Giada Bellanca, eine Malteser-Helferin.  „Libyen ist das Delta der Flüchtlingsströme. Dort gehen sie auf die Boote Richtung EU.“

Und die SchlepperInnen? „Die, die das große Geld machen, sitzen in Libyen“, sagt Bellanca. Die das Boot nach Europa steuern, seien kleine Handlanger, oft 16- oder 17-jährige Burschen: „Genauso verzweifelt wie die Flüchtlinge.“ Der erste Bus ist voll und bringt die Flüchtlinge ins Aufnahmezentrum außerhalb der Stadt.

ENDE DER REISE? Normalerweise bleiben die Flüchtlinge nicht länger als 48 Stunden auf der Insel, dann werden sie nach Sizilien gebracht. Kommen viele Boote auf einmal an, ist das Zentrum mit einer Kapazität für ein paar hundert Menschen rasch  über füllt. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge, die 2014 über das Mittelmeer nach Europa kamen, stammen laut UNO aus Syrien und Eritrea. Auch Danyal kommt aus Eritrea, der Militärdiktatur am Horn von Afrika. Er sitzt im Schatten einer Pinie hinter dem Gitter des Aufnahmezentrums. Das Tor wird von SoldatInnen bewacht, der Zugang ist nur mit Genehmigung der Präfektur in  Agrigent gestattet.

Danyal musste 1.800 US-Dollar für die Überfahrt bezahlen. Bei 600 Menschen am Boot wanderten   rund eine Million Dollar in die Taschen jener Organisationen, die von Libyen aus die Überfahrt organisieren. Von Eritrea bis Libyen war er ein Monat unterwegs. Einige seiner ReisegefährtInnen hatten es nicht geschafft, sie wurden im Tschad gekidnappt, andere geschlagen, alle hungerten sie und waren obdachlos. In Tripolis musste er auf gutes Wetter für die Überfahrt warten. Jetzt würde er gerne seine Familie verständigen, dass er Europa erreicht hat.  Aber er besitzt kein Handy.

Am nächsten Tag im Hafen von Lampedusa. Etwa 50 Flüchtlinge verschwinden im Bauch der Fähre. Dann schließt sich die Luke und das Schiff legt Richtung Agrigent ab, wo die Flüchtlinge auf verschiedene Flüchtlingslager verteilt werden. Rauch qualmt aus den Kaminen, Möwen folgen dem Schiff eine Weile, bevor sie abdrehen.

Von den 220.000 Flüchtlingen, die 2014 versuchten über das Mittelmeer Europa zu erreichen, sind laut UNHCR 3.500 ertrunken. Seit Anfang des Jahres bis April (2015) sind bereits 1.600 Menschen auf ihrer Flucht umgekommen.

 

Markus  Schauta  studierte  Geschichte,  Archäologie  und Religionswissenschaft an der Universität Wien. Seit 2011 macht er zahlreiche Reportagen als freier Nahost-Reporter.

Hier kannst du das Video ansehen, das im Rahmen von Markus Recherchetätigkeiten in Lampedusa entstanden ist. 

Allein im Mittelmeer

  • 23.05.2015, 14:42

Die kleine Mittelmeerinsel Lampedusa - ein acht Kilometer langer Felsen - ist erste Anlaufstelle für tausende afrikanische Menschen, die flüchten mussten. Und gleichzeitig ist sie nur eine Durchlaufstation; für die, die es geschafft haben, und für wenige von all denen, die es nicht geschafft haben. Das Schicksal sowohl der Überlebenden als auch der Toten wird unsichtbar gemacht, denn auch auf Lampedusa darf das Drama im Mittelmeer nicht zu sehr stören.