Film

Publikumsgespräche bei Filmfestivals – Ein Leitfaden

  • 20.10.2016, 17:26
Bei Publikumsgesprächen nach Filmscreenings trifft oftmals ein irritierendes Konglomerat an Persönlichkeiten aufeinander. progress hat sich die Facetten der Verhaltensauffälligkeiten näher angesehen – damit ihr wisst, was euch erwartet.

Bei Publikumsgesprächen nach Filmscreenings trifft oftmals ein irritierendes Konglomerat an Persönlichkeiten aufeinander. progress hat sich die Facetten der Verhaltensauffälligkeiten näher angesehen – damit ihr wisst, was euch erwartet.

Die Filmemacher_innen

Ahnungslose. Der Film war gut oder sogar sehr gut – das Publikumsgespräch ist es nicht. Angesichts der Aussagen des_der Filmemacher_in drängt sich die Frage auf, wie diese holzschnittartige Person ein derart vielschichtiges Kunstwerk erschaffen konnte. Es sind die Momente, wo die gesellschaftstheoretisch bewanderte Betrachter_in daran erinnert wird, dass Kunst eben doch mehr ist, als die Person des_der Künstler_in. Letztere agiert als Katalysator gesellschaftlicher Verhältnisse, kann dumm wie Stroh sein und dennoch einen sehr guten Film abliefern. Andere erinnern derartige Auftritte wiederum daran, dass Filme im Normalfall auf die Urheber_innenschaft von mehr als einer Einzelperson zurückgehen und die Wichtigkeit des_der Regisseur_in in Europa oftmals überschätzt wird. Auch das ist eine plausible Erklärung.

Betrunkene. Der Film ist solide, der_die Regisseur_in im Publikumsgespräch allerdings knapp vor der Alkoholvergiftung. Ein oder mehrere Publikumsgespräche pro Tag mit obendrein nicht allzu angenehmen Fragensteller_innen (siehe unten) zu führen, ist kein Leichtes. Wenn man ohnehin schon ein Problem damit hat, bis – sagen wir – 15:30 Uhr nüchtern zu bleiben, fällt einem das unter den verschärften Verwertungsbedingungen eines Filmfestivals keinesfalls leichter. So hat der_die betrunkene und mitunter aggressive Regiesseur_in doch etwas sympathisches – weil wir durch ihr Verhalten etwas über die Unaushaltbarkeit einer Gesellschaft lernen, in der wir alle zum Funktionieren und die bessergestellten auch noch zu funktionierendem Selbstmarketing gezwungen sind.

The Natural Born Österreicher_in. Sie sind der Meinung, ihr Österreicher_innentum alleine mache ihre Filme hochwertig und förderungswürdig. Ob sie sich nun auf einem Filmfestival wie der Diagonale, das sich österreichischen Filmen verschrieben hat, oder einem internationalen Filmfestival wie der Viennale befinden, scheint dabei zweitrangig zu sein. „Österreich zuerst“ ist die Devise. Allerdings nicht, wenn es um die Programmierung dieser Austroschinken geht, die dann doch ausnahmslos in den Hauptabend und keinesfalls in das Nachmittagsprogramm fallen darf. (The Natural Born Österreicher_in schlechthin ist Ulrich Seidl, der unerklärlicherweise nicht beim Reality-TV, sondern im Programmkino gelandet ist. Wahrscheinlich, weil ATV einfach zu schlecht zahlt.)

The Exceptional Competent Person. Sie ist leider die absolute Ausnahmeerscheinung auf Filmfestivals. Ein_e Regisseur_in, die nicht nur einen guten Film fabriziert hat, sondern auch in der Lage ist, mit dem Publikum kompetent und nachvollziehbar über das eigene Werk zu sprechen. Zumindest letzteres sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist es aber – siehe oben – leider überhaupt nicht.

Das Publikum

The Material Guy_Girl. Nach einem interessanten oder kontroversen Film, der viel Stoff für ein spannendes Publikumsgespräch böte, ist die Zeit oft allzu kurz. Die Moderation lässt nur wenige Fragen zu und alles nähert sich schneller als gewollt seinem Ende. Die vorletzte oder letzte verfügbare Frage schnappt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Material Guy (oder weitaus seltener: Das Material Girl). Er_sie stellt fragen wie: „Warum habt ihr das mit Video gedreht?“ / „Ist der Super-8 retrotrend nicht schon lange over?“ / „Ist die Digitalisierung ein Problem?“ Der Rest des Saales langweilt sich zu Tode, während Material Guy_Girl sich im siebten Himmel des Expert_innentums wähnt.

Die Lobenden. Du sitzt in einem Film und denkst dir, dass die Zeit anderweitig möglicherweise besser verbracht hätte werden können. Genau genommen bist du fassungslos, dass ein qualitativ und inhaltlich derart fragwürdiges Werk, 1.) staatlich gefördert wurde und 2.) nach seinem offensichtlichen Scheitern öffentlich – auf einem abermals staatlich geförderten Filmfestival – vorgeführt wird. Das Publikumsgespräch beginnt mit peinlichem Schweigen, bis sich dann doch jemand zu Wort meldet. Die Person lobt den Film in höchsten Tönen, dankt dem_der Regisseur_in sowie „dem ausgezeichneten Ensemble“. Erschreckenderweise ist sie nur in 50 Prozent der Fälle mit einer der beteiligten Personen verwandt, bekannt oder verschwägert.

Professionelle Kritiker_innen. Sie melden sich im Publikumsgespräch so gut wie nie zu Wort, weil sie den Film mitunter nicht ganz gesehen haben und wegen ständig nahender Deadlines keine Zeit haben, länger als unbedingt nötig anwesend zu sein. In Zeiten verschärfter kapitalistischer Zurichtung belassen es Journalist_innen gerne dabei, sich die ausführlichen Pressematerialien abzuholen und daraus Textmontagen zu fertigen, die mit dem Begriff „Kritik“ eigentlich überhaupt nichts mehr zu tun haben. Aber zumindest stellen sie keine blöden Fragen (wenn sie nicht gerade ein Publikumsgespräch moderieren).

Filmwissenschaftler_innen. Schauen sich gerne Spielfilme an, die keine Handlung haben und glauben, selbige seien deshalb irgendwie besser oder kulturell höherstehend. Hat ein Film eine Handlung und man wagt es, den_die kompetente Kolleg_in um seine_ihre Einschätzung zu bitten, ist die Antwort meist die selbe: „Ach, wieder so ein narrativer Film.“ Sie schalten sich bei Publikumsgesprächen gerne in die Diskussion ein, moderieren sie zudem sehr häufig und lieben Name-, Film- und Genre-Dropping. Da niemand all diese Personen, Filme oder Genres tatsächlich kennen kann, werden ihre Einschätzungen kaum hinterfragt. Man will sich (und die Kolleg_innen) schließlich nicht blamieren.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Uni Wien.

Die Viennale beginnt am 20. Oktober und endet am 2. November 2016.

Who you gonna call?

  • 03.08.2016, 21:30
Als Regisseur Paul Feig ankündigte, einen Reboot des beliebten 80er Jahre Kultklassikers Ghostbusters mit vier weiblichen Geisterjägerinnen filmen zu wollen, war die Empörung bei allen Männerbabies im Internet groß.

Als Regisseur Paul Feig ankündigte, einen Reboot des beliebten 80er Jahre Kultklassikers Ghostbusters mit vier weiblichen Geisterjägerinnen filmen zu wollen, war die Empörung bei allen Männerbabies im Internet groß: „bitches can’t catch no ghosts“ war einer von vielen aufgebrachten Kommentaren.

Wir wollen aber nicht allzu viel Zeit darauf verwenden, von der 1984er-Version zu reden. Nur so viel: Trotz 32 vergangener Jahre wurde beim CGI nicht zu sehr übertrieben. Geister suchen die Stadt New York heim, doch stattGrusel steht der Spaß im Vordergrund. Dementsprechend ist die Handlung auch zu vernachlässigen: Wie und warum sich die Geister auf einmal formieren, wie der (etwas blasse) Bösewicht zu seiner Macht kommt und was das Ziel der Geisterinvasion ist, bleibt großteils ungeklärt.

Im Zentrum des Geschehens stehen Abby und Erin – beide sind Wissenschaftlerinnen, die das Paranormale untersuchen. Nach anfänglichen beruflichen (!) Differenzen schließen sie sich mit Abbys Kollegin Holtzmann und der U-Bahn-Aufseherin Patty zusammen und bekämpfen, nun ja, Geister eben. Dass der einzigen Woman of Color im Team – Patty – nur der Part der street-smarten Powerfrau zugeteilt wird, ist mehr als ärgerlich, und die Punchline aus dem Trailer (sie setzt zum Stage Diving an und wird nicht vom Publikum aufgefangen) „I don’t know if this is a race thing or a women thing but I’m mad as hell“ macht das Ganze nicht unbedingt besser. Leslie Jones ist am Startwochenende des Films in den USA sofort Opfer von sexistischer und rassistischer Social Media Hetze auf Twitter geworden – einfach weil sie eine schwarze Frau ist, die im Remake des Lieblingsfilms vieler Männer mitspielt. Das ist Gleichberechtigung im Jahre 2016.

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Die Selbstironie der Charaktere ist jedoch zentraler Ausgangspunkt des Humors in Ghostbusters: Ihre Arbeit nehmen alle Vier sehr ernst, sich selbst aber nicht unbedingt. Und nicht selten werden Klischees über Frauen dadurch aufs Korn genommen, aber eben nicht so platt oder übertrieben wie sonst in billigen Komödien über die witzige Absurdität der Geschlechterrollen, wo Frauen Bier trinken und Männer Sekt, höhö. Die vier Frauen können über sich selbst lachen, über andere, stehen für sich und ihre Arbeit ein und retten halt am Ende New York. Ein erfrischendes Detail ist, dass die Zuseher*innen nichts über ihr Privatleben erfahren, sondern ihnen lediglich im öffentlichen Raum begegnen: in Erins Büro an der Universität, in Abbys Labor, ihrem gemeinsamen Ghostbustershauptquartier und im Kampf auf offener Straße. Es gibt keine Liebes- oder Familiengeschichte drumherum.

Ein verstörender Aspekt von Nebendarsteller Chris Hemsworth als Rezeptionist Kevin ist der Running Gag, dass er enorm inkompetent ist, aber unheimlich gut aussieht. Als „Eye Candy“ bedient er das Telefon der Ghostbusters und zeigt damit erstens die sexistischen Stereotypen von Sekretärinnenrollen auf, und wird letztlich am Ende sogar zur „Damsel in Distress“ – also zur schwachen Figur, die gerettet werden muss – also die selbe Rolle, die Janine Melnitz (Annie Potts) im Original übernahm. Für einen ordentlich feministischen Film ist das Reproduzieren dieser Rollen nicht ausreichend, aber faszinierenderweise kommt Ghostbusters ohne sämtliche Holzhammermoral bezüglich Gleichberechtigung aus. Es wird überhaupt nur sehr wenig darauf Bezug genommen, dass hier Frauen am Werk sind. Vermutlich auch deswegen wurde jegliche inhaltliche Verbindung mit dem „Original“ von 1984 weggelassen. Alle `84-Ghostbuster (außer dem verstorbenen Harold Ramis) und Sigourney Weaver durften aber durch Cameo-Auftritte auf der Leinwand erscheinen.

Jetzt stellt sich eventuell doch noch die Frage, ob so eine Neuauflage notwendig ist oder nicht. Andererseits stellt sich bei Blockbustern auch sonst nicht die Frage nach der Notwendigkeit, sondern eher nach Qualität und Unterhaltungsfaktor. Und so viel möchte ich verraten: so viel gelacht habe ich im Kino das letzte Mal bei „Guardians of the Galaxy“, also vor zwei ganzen Jahren.

Katja Krüger-Schöller ist Studentin der Gender Studies in Wien.

Fiktion …

  • 22.06.2016, 12:32
Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Die uneindeutige Weiblichkeit von Snoop
Felicia „Snoop“ Pearson in der HBO-Serie The Wire wird von Felicia Pearson gespielt. Neben professionellen Schauspieler*innen wurden auch viele Lai_innen gecastet. Unter anderem Pearson, die selbst Drogendealerin war und mit 14 zu acht Jahren Gefängnis wegen Mordes verurteilt wurde. Zu Beginn nur Statistin wird ihre Rolle in weiterer Folge ausgebaut. Sie dealt nicht direkt mit Drogen, sondern ist dafür zuständig, Leute aus dem Weg zu räumen, bringt deshalb im Laufe der Serie dutzende Menschen um und scheint dabei nie von irgendwelchen Skrupeln geplagt zu sein. Sie steht symbolisch und am treffendsten für den Typus „Men with Tits“, da sie durch nichts als Frau zu erkennen ist. Nur am Ende, bevor sie von einem früheren Verbündeten hingerichtet wird, fragt sie diesen noch: „Does my hair look good?“, woraufhin ihr entgegnet wird: „You look good Felicia.“ Es ist das erste und einzige Mal, dass sie von einem der ihren mit Felicia angesprochen wird. Erst im Tod wird sie zur Frau.
[Anm. d. A.: Ich danke Laura Söllner für ihre Mithilfe.] Anne Marie Faisst arbeitet als Buchhändlerin und studiert nebenbei Internationale Entwicklung an der Uni Wien.

Das undynamische Duo
Ein Verkaufsort, eine Droge: Jay und Silent Bob vertreiben in zahlreichen Filmen des Regisseurs Kevin Smith Marihuana vor dem „Quick Stop“-Laden in Leonardo, New Jersey. Als Kinder haben sie sich dort kennengelernt und so ihren Platz im Leben gefunden. Sie sind die liebenswerte Version lästiger Dealer_innen an der Straßenecke: Zwar machen sie Radau und belästigen Passant_innen, doch erweisen sie sich immer wieder als Menschen mit gutem Herz. Wenn es die Handlung erfordert, begehen sie ihre kleinkriminellen Taten im nächstgelegenen Einkaufszentrum oder reisen auch quer durchs Land. Die beiden sind nicht eindimensional auf das Dealen reduziert. Ihr Erwerbsleben bleibt aber eine nicht näher ausgestaltete Facette wie auch ihre anderen Charakteristika – etwa der Kunstgriff, dass Silent Bob, wenn er denn mal redet, meist etwas Bedeutungsvolles zu sagen hat. Die beiden sind also nicht mehr (und sollen auch nicht mehr sein) als Cartoon- Figuren, quasi die straffälligen Enkel der Marx Brothers.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Grace Saves Herself
Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes erbt Grace Trevethyn einen Schuldenberg. Ihrem Haus, das sich unweit eines west-englischen Fischerdorfes befindet, droht die Zwangsversteigerung. Die Hauptfigur des Films Saving Grace ist eine begnadete Gärtnerin. Als ihr Hausangestellter Matthew sie darum bittet, seine angeschlagenen Hanfpflanzen aufzupeppeln und ihre Bemühungen binnen kürzester Zeit Wirkung zeigen, haben beide die rettende Idee: Grace und Matthew pflanzen hochpotentes Marihuana an. Bald wissen alle im Dorf – inklusive des örtlichen Polizisten – vom groß dimensionierten Drogenanbau. Aus Verständnis für die von finanziellen Nöten geplagte Grace unternehmen sie nichts. Größere Polizeirepression droht erst, als Grace und Matthew versuchen, ihre Ernte in London zu verkaufen. Auf dem Anwesen von Grace kommt es zum Showdown zwischen Polizei, einem hippieesken Kleindealer und dem Handlanger des potentiellen Großabnehmers. Dank eines Hanffeuers löst sich alles im kollektiven Rausch auf. Die Verarbeitung des Erlebten in Form eines Bestseller- Romans wirft schlussendlich das nötige Kleingeld für Grace ab.
Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Ein Schneemann in Kolumbien
Robin Hood, Familienmensch und Serienmörder: Die Serie Narcos nimmt sich dem Leben und Wirken Pablo Escobars an. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln all jener Lebenswelten und behördlichen Schutzbereiche, welche von Escobar berührt, beeinflusst oder gar eingerissen wurden. Die Hauptperspektive bleibt jedoch jene eines US-Drogenpolizisten. Die erste Staffel folgt dem Aufstieg vom kleinen Schmuggler zum internationalen Kokain- Großhändler. Gezeigt wird Escobar als Mann mit Ambitionen, dessen krimineller Hintergrund ihm aber den Eintritt in die Politik verwehrt. Eben diese Obrigkeit zwingt er mit Entführungen, Auftragsmorden und Terroranschlägen in die Knie. Er errichtet gar sein eigenes Gefängnis und sperrt sich dort selbst mit allen Annehmlichkeiten ein, um nicht an die USA ausgeliefert zu werden. Am Schluss der ersten Narcos-Staffel muss Escobar seine persönliche Festung verlassen, weil sich zwei Staatsgewalten (die US-amerikanische und die kolumbianische) nicht von einem einzelnen Mann die Stirn bieten lassen wollen.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Mutter Oberin!
Er hat stets feinen Stoff. „Mutter Oberin“/„Mother Superior“, aus der Kultromanverfilmung „Trainspotting“. „Was darf’s denn sein?“, fragt der von Keith Allen personifizierte Dealer mit Stil. Heroin natürlich. Was sonst? Intravenös. Wie sonst? Fixbesteck vergessen? Kein Problem; der fürsorgliche Mitvierziger aus der Lebensrealität des schottischen Autors Irvine Welsh entsprungen, hilft gerne aus. Lou Reeds „Perfect Day“ ertönt in der Verfilmung von Danny Boyle, mit dem damals blutjungen Ewan McGregor in der Hauptrolle. Als heroinaffiner Renton versinkt er prompt im roten Teppich, einem Grabe gleich. Zu viel war es. Zu rein. So zerrt die Oberin seinen bewusstlosen Körper möglichst sanft aus dem Arbeiter_innensiedlungs-Wohnblock auf die Straße und ruft ein Taxi. Denn Taxler_innen stellen keine Fragen. Die Oberin steckt Renton ein paar Pfund in die Hemdtasche. Tätschelt liebevoll die Wange – Kundenpflege aus dem Bilderbuch.
Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich.

Tarantinos Version eines Dealers
In „Pulp Fiction“ (1994) werden fast alle Formen von Kriminalität in irgendeiner Weise gezeigt. Der Lieblingsdealer von Vincent – dem Handlanger eines Gangsterbosses und Hauptfigur im Film – ist Lance. Er lebt mit seiner Frau in einem gemütlichen Vorstadthaus und muss zum Arbeiten dieses nicht mehr verlassen. Er begrüßt dort seine Stammkund_ innen und versorgt sie mit hochklassigem Stoff. Lance selbst ist den Drogen nicht abgeneigt, ist aber bei weitem kein Junkie. Er arbeitet also nicht, um sich seine Sucht zu finanzieren. Viel Platz bekommt er in Quentin Tarantinos Blockbuster nicht. Der Film lebt von der Vielzahl an coolen Typen und ihren Sprüchen. Die Welt der organisierten Kriminalität wird sehr stilisiert, voller Klischees und Verweisen auf Popkultur zelebriert. Sehr realitätsnah ist die Darstellung von Lance also nicht, der gern vor dem Fernseher hockt und um drei Uhr nachts genüsslich Frühstücksflocken verzehrt.
Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies in Wien.

Lest hier den begleitenden Artikel über die realen Drogendealer*innen

Auf in das Alter der Pflichten

  • 24.05.2016, 12:55
Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

„Willkommen, meine kleinen Engel. Von nun an müsst ihr den Hijab tragen und euch gut benehmen.“ Eine Reihe aufgeregter, neunjähriger Mädchen wird mit diesen Worten auf ihrem „Fest of Duty“ begrüßt. Nach Vorstellung der Islamischen Republik Iran befinden sich die Mädchen nun im „Alter der Pflicht“. Das „Fest of Duty“ ist ein rituelles Fest, welches die Neunjährigen über ihre Pflichten als erwachsene muslimische Frauen aufklärt. Eins, das erst nach der Islamischen Revolution erschaffen wurde und so die Aufmerksamkeit der iranischen Filmemacherin Firouzeh Khosrovani, weckte:

Es war 2005. Ich lebte und studierte zu dieser Zeit in Italien. Eines Tages sah ich im Staatsfernsehen diese Zeremonie, die an einer iranischen Volksschule durchgeführt wurde. Als ich neun war, gab es das „Fest of Duty“ noch nicht. Das heißt es wurde nicht direkt nach der Islamischen Revolution, sondern erst einige Jahre später erfunden. Ich fand es sehr spannend, wie den kleinen Mädchen gelehrt wird, dass sie von nun an den Hijab tragen müssen. Das ist sehr früh: Mit neun gibt es ja noch nichts zu verdecken.

Gleichzeitig ist es ein sehr schlaues Ritual: Mit Hilfe von Spielen, mit Vorführungen, mit sehr viel Details wird den Mädchen auf attraktive Weise gelehrt, was es heißt eine muslimische Frau zu sein. Es gibt keinen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben. Die Mädchen können in diesem Alter noch gar nicht verstehen, dass mit diesem Ritual versucht wird, ihnen ein sehr rigoroses Wertesystem beizubringen. Das hat mich alles sehr interessiert. Daher filmte ich einer diese Zeremonien und sprach mit den Kindern. Acht Jahre später kam ich zurück und sah mir das Ergebnis dieser Art des Lehrens an. Ich wollte herauszufinden wie die Mädchen nun im Teenager-Alter über Religion und ihre weiblichen Pflichten dachten.

Das Ergebnis zeigt Khosrovani am Beispiel zweier Mädchen: Auf der einen Seite, Maryam. Mit Überzeugung trägt sie den Hijab. Sie spricht viel mit Gott – vor allem wenn sie Probleme hat, die sie mit niemand anderen teilen will. Wieso sie den Tschador tragen soll, erschließt sich ihr jedoch nicht. Er ist unpraktisch, es ist zu heiß darunter: „Wer sagt, dass Gott von uns verlangt unter den härtesten Bedingungen zu leben?“ Und doch, in der Öffentlichkeit trägt Maryam wie die anderen Frauen in ihrer Familie auch, den Tschador – eine Art Umhang, der vor der Revolution verboten war.

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Auf der anderen Seite, Melika: Zu Hause trägt sie bewusst keine Kopfbedeckung. Nur hin und wieder ein Baseballcappy, beim Tanzen zu Black Eyed Peas zum Beispiel. Ihre alleinerziehende Mutter wirkt wie eine gute Freundin. Melika träumt davon Schauspielerin zu werden, im Westen, denn dort gäbe es mehr Freiheiten. Gleichzeitig hadert sie mit der Frage, welche Rollen sie spielen könnte und welche nicht. Schließlich will sie, dass ihre Filme auch im Iran gesehen werden.

16-Jährige Teenager also, die egal ob mit oder ohne Hijab am Kopf, ihre eigenen Meinungen entwickeln, inklusive aller Probleme die damit einhergehen. Die beiden waren vor dem „Fest of Duty“ beste Freundinnen. Die Entscheidung einen Hijab zu tragen oder nicht war mit ein Grund, dass ihre Freundschaft auseinanderdriftete. Ob die Religion öfters zwischen Beziehungen kommt?

Früher, zu Beginn der Islamischen Revolution, war das auf jeden Fall ein größeres Thema. Heute wird es immer weniger, da die Menschen trotz unterschiedlichem Zugang zur Religion stärker im Dialog stehen. Es gab aber eine Zeit, in der die zwei Pole komplett getrennt waren.
Mir war es sehr wichtig, dass ich ein ausgewogenes Bild der beiden Familien zeige. Beim Schneiden des Films war es eine große Herausforderungen, beiden Mädchen gleich viel Raum zu geben, fair zu sein und keine der beiden unterschiedlichen Lebensweisen zu beurteilen. Mir war es auch wichtig, dass aus dem Film nicht ersichtlich wird, ob ich als Filmemacherin religiös bin oder nicht, ob ich einen Hijab trage oder nicht.

„Rough Cut“: Ein weiterer Film von Firouzeh Khosrovani. Er wurde bereits 2007 veröffentlicht. Die Kurzdoku beurteilt im Gegensatz zu „Fest of Duty“ sehr bewusst. Am Beispiel eines nach der Islamischen Revolution eingeführten Gesetzes zeigt Khosrovani, wie weibliche Körper von moralischen Institutionen kontrolliert werden: Im Namen des Anstands werden die Brüste weiblicher Schaufensterpuppen abgeschnitten, jedes Zeichen von Weiblichkeit eliminiert. „Fest of Duty“ hingegen zeigt zwei jugendliche Mädchen, die sich – zumindest zu Hause – selbst entscheiden, wie sie mit ihrem Körper umgehen. Hat sich etwas in den vergangenen Jahren geändert?

Man muss zwischen der Gesellschaft und dem Staat unterscheiden. Wenn es um den Staat geht, hat sich nichts verändert. Den Hijab im öffentlichen Raum zu tragen, ist verpflichtend. Das heißt, hier geht es nicht darum, wie man entscheidet. Es wird vom Staat diktiert. Im privaten Bereich ist es sehr wohl eine Frage der eigenen Entscheidung und hier ist eine Änderung bemerkbar. Du kannst dich dafür entscheiden, einen Hijab zu tragen, aber du kannst auch dagegen rebellieren und ihn nicht tragen. Es passiert immer öfters, dass die neue Generation mit den Traditionen ihrer Familie bricht.

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Dementsprechend ist es nach wie vor nicht einfach, kritische Filme über die iranische Gesellschaft zu machen, wie sieben weibliche Filmemacherinnen aus dem Iran im Rahmen des kollektiven Filmprojekts „Profession: Documentarist“ erzählen. Eine der Filmemacherinnen ist Firouzeh Khosrovani. Gab es mit „Fest of Duty“ noch keine Probleme, haben sich bei „Rough Cut“ die Behörden bei der Filmemacherin gemeldet:

Ich habe ‚Fest of Duty‘ noch nicht im Iran gezeigt. Sollten die Behörden trotzdem auf den Film aufmerksam werden und mir Probleme machen, habe ich keine Angst. Ich kann den Film legitimieren, da ich eben nicht bewertet habe. Ich zeige kein negatives Bild des Islams. Im Gegenteil, man sieht eine offene religiöse Familie.

Bei ‚Rough Cut‘ hingegen wurde ich beschuldigt, ein negatives Bild des Irans im Ausland zu transportieren. Es war aber kein negatives Bild, sondern die Realität. Die Behörden wollten nicht, dass ich Filme über die iranische Gesellschaft mache und mich dabei auf absurde Gesetze fokussiere ­ wie im Fall der verstümmelten Schaufensterpuppen. Sie hatten Angst, dass das von den Medien außerhalb des Irans als Zensur interpretiert werden könnte. Ich antwortete ihnen: Wenn ihr so beunruhigt über absurde Gesetze seid, wieso gibt es diese Gesetze dann?

Dass „Fest of Duty“ als Film konzipiert wurde, der nur schwer von offizieller Seite kritisiert werden kann, liegt nicht daran, dass sich Khosrovani nach den Problemen rund um „Rough Cut“ entmutigen ließ. Das lässt zumindest das neue Projekt, an dem die Filmemacherin arbeitet, vermuten:

Mein neues Projekt ist weniger dokumentarisch. Ich will die Geschichte der Islamischen Revolution, aber auch der derzeitigen iranischen Gesellschaft durch meine Familie, durch die Bilder, durch eine intime Geschichte erzählen.

Ein Trailer des neuen Projektes zeigt zerrissene Familienfotos. Zerrissen wurden sie von der Mutter der Filmemacherin. Nach der Islamischen Revolution zerstörte sie alle Fotos, auf denen Frauen ohne Hijab zu sehen waren, da der Revolutionsführer Ayatollah Khomeini es verbot, Bilder zu betrachten, die Frauen ohne Hijab zeigen. Die Fotos könnten Männer erregen.

„So wurde ein Teil meiner Familiengeschichte zerrissen und ausrangiert“, erklärt Khosrovanis Stimme im Trailer „Radiograph of a Family“ und bettet abschließend die individuelle Geschichte in den Kontext der iranischen Gesellschaft ein: „Diese Geschichte ist nicht nur meine Geschichte. Es ist die Geschichte vieler iranischen Familien, deren Leben zweigeteilt wurde: vor und nach der Revolution.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Die Suffragetten im Kino

  • 10.03.2016, 18:18
Protest, Hungerstreik, Bomben. Die Aktionen der sogenannten „Suffragetten“ sind fast in Vergessenheit geraten. 100 Jahre später kommt der Kampf ums Wahlrecht und um die Gleichstellung von Mann und Frau ins Kino. Der Film „Suffragette – Taten statt Worte“ zeichnet die historischen Ereignisse nach.

Protest, Hungerstreik, Bomben. Die Aktionen der sogenannten „Suffragetten“ sind fast in Vergessenheit geraten. 100 Jahre später kommt der Kampf ums Wahlrecht und um die Gleichstellung von Mann und Frau ins Kino. Der Film „Suffragette – Taten statt Worte“ zeichnet die historischen Ereignisse nach.

Im Abspann wird es spannend. Es sind Zahlen und Länder, die vor Augen führen, wann das Frauenwahlrecht umgesetzt wurde: 1918 in Österreich, 1920 in den USA, 1944 in Frankreich, 1971 in der Schweiz und 1974 in Jordanien. In Saudi-Arabien haben Frauen seit 2015 das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen.

Keine Vielfalt. Es ist erstaunlich, dass es mehr als 100 Jahre gedauert hat, bis der Kampf der „Suffragetten“ (von englisch/französisch „suffrage“ – Wahlrecht) filmisch verarbeitet worden ist. Oder vielleicht auch nicht: Denn Frauen spielen in der Filmindustrie, sowohl auf der Leinwand wie auch hinter den Kulissen, eine Minderheitenrolle. Die Geschichte von Frauen wird selten erzählt – und wenn, dann als kitschige „Sissi“-Variante. Nur 17 Prozent der Mitglieder jener Jury, die Jahr für Jahr die Oscars vergibt, sind Frauen. Die tragenden Figuren in den 100 erfolgreichsten Hollywood-Produktionen sind der Studie „It’s a Man’s (Celluloid) World“ von Martha M. Lauzen zufolge vorwiegend männlich.

Kein Wunder also, dass sich bisher nur wenige Filme und Serien dem Thema gewidmet haben. 1964 singt Winifred Banks in Walt Disneys „Mary Poppins“ den Song „Sister Suffragette“ – eine frühe Hommage an die Frauenrechts- Bewegung und deren prominente Vorkämpferin, Emmeline Pankhurst (1858-1928). Die Erfolgs-Serie „Downton Abbey“ lässt in einer Episode Lady Sybil zur Suffragette werden. In der Serie „Upstairs, Downstairs“ wird Elizabeth während einer Demonstration verhaftet und gerät mit anderen Suffragetten sowie Serienfigur Rose in Gefangenschaft. Hinter Gittern wird Rose Zeugin von Zwangsernährung und Misshandlung. 2013 strahlte die BBC die Sitcom „Up the Women“ aus. Der Kampf um Frauenrechte wird darin geographisch von London nach Banbury verlagert. Margaret (gespielt von Jessica Hynes) versucht, ihre Handarbeitsgruppe in eine Suffragetten- Gruppe zu verwandeln, erhält jedoch Gegenwind von Gruppenmitglied Helen (Zitat: „Das aktuelle System funktioniert perfekt. Ich sage meinem Mann, was er wählen soll.“). In „Up the Women“ steht interessanterweise nicht der Kampf „Frauen gegen Männer“ im Vordergrund: Hier stehen sich Frauen gegenseitig im Weg. Nach zwei Staffeln mit neun Episoden lief die durch Ironie und Wortwitz glänzende Sitcom 2015 aus.

Zum ersten Mal aber steht mit bei „Suffragette – Taten statt Worte“ eine ganze Kinoproduktion – und nicht nur einzelne Episoden oder eine Fernsehserie – im Zeichen des Kampfs um das Wahlrecht für Frauen.

Eine von vielen. Die Entscheidung der Regisseurin einen einzelnen Menschen zu porträtieren – und nicht etwa die Galionsfigur der Suffragetten, Emmeline Pankhurst – erweist sich als richtig. Carey Mulligan brilliert in der Rolle der fiktiven Wäschereimitarbeiterin Maud Watts. Seit ihrer Kindheit schuftet sie in einer Wäscherei im Londoner East End, wird vom Fabrikanten missbraucht und ohne schulische Ausbildung zu einem tristen Dasein verurteilt. Machtlos, weil rechtelos – was ihr Kind, ihre Arbeit und die Politik betrifft. Zufällig, über ihre Kollegin Violet, gerät sie in Kontakt mit der Suffragetten-Bewegung und beschließt sich zu engagieren. Emmeline Pankhurst dagegen, die historisch bedeutsame Frauenrechtlerin, hat, gespielt von Meryl Streep, nur einen Fünf-Minuten-Auftritt. Ihre Rede an die Frauen geht nicht nur Maud Watts ins Ohr, sondern auch den ZuschauerInnen 2016 im Kinosaal.

Es geht dabei – und das ist ein wesentlicher Verdienst von Regisseurin Sarah Gavron – nicht nur um das Frauenwahlrecht. „Ein anderes Leben ist möglich“, lässt die Regisseurin Maud sagen, und drückt damit aus, worum es den Suffragetten auch ging: Den besseren Zugang zu Arbeit und Bildung.

„Deeds, not words“. Nach diesem Motto kämpften um die Jahrhundertwende tausende Frauen aus allen Schichten der Gesellschaft in Großbritannien und den USA für ihre Rechte. Nachdem jahrzehntelang friedliche Mittel nicht zum Erfolg geführt hatten, änderten die Suffragetten gegen 1910 ihre Taktik. Sie setzten Landsitze in Brand, sprengten Briefkästen, warfen Steine in Schaufenster und wehrten sich mit Hungerstreiks gegen miserable Haftbedingungen. Die Behörden reagierten mit Zwangsernährung, Inhaftierung und Überwachung auf die militanten Aktionen.

Die spektakulären Aktionen der Suffragetten stellt die Regisseurin im Film nicht in Frage. Gewalt als radikales Mittel zum Zweck erscheint legitim. Eines war den Suffragetten durch ihre Aktionen jedenfalls sicher: die Aufmerksamkeit von Medien und Öffentlichkeit. Am 4. Juni 1913 warf sich Emily Wilding Davison beim English Derby in Epsom vor ein königliches Pferd und verstarb einige Tage später. Ob Unfall, Leichtsinn oder Selbstmord – sicher war den Suffragetten das Licht der Wochenschau-Kameras beim Begräbnis von Davison, der zum gewaltigen Protestzug der wurde. Die Original-Wochenschauaufnahmen geben dem Film von Gavron Glaubwürdigkeit – und beeindrucken auch heute noch.

Susanne Weber hat Politikwissenschaft in Wien und Brüssel studiert und arbeitet als Pressereferentin.

Arbeitet nie

  • 08.03.2016, 16:31
Von der Herrschaft des Spektakels zur Revolution: Ein Rückblick auf die Guy-Debord-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum.

Von der Herrschaft des Spektakels zur Revolution: Ein Rückblick auf die Guy-Debord-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum.

Ein kühler Jännerabend, die sonst so belebten Wiener Straßenzüge zwischen Oper, Hotel Sacher und Albertina sind wie ausgestorben. Es ist der Abend des sogenannten Akademikerballs und die Innenstadt ist zur Sperrzone erklärt worden. Dennoch hat sich eine beachtliche Menschenmenge durch die Absperrungen gekämpft und sammelt sich im heillos überfüllten Foyer des Österreichischen Filmmuseums. Der Jänner ist im Filmmuseum traditionell gut besucht, doch an diesem Abend sind es nicht Claudia Cardinale oder Marcello Mastroianni, die ins Kino locken, sondern die Wartenden haben sich zum Auftakt der Guy-Debord-Retrospektive eingefunden. Das Filmmuseum ist das erste Museum der Welt, das eine solche Schau veranstaltet und dafür alle Filme von Debord in seine Sammlung aufgenommen hat. Das liegt nicht zuletzt auch am Aufführungsverbot, das Guy Debord 1984 verhängte, nachdem sein Freund, Verleger und Produzent Gérard Lebovici ermordet worden war. Erst nach Debords Freitod 1994 gelangten die Filme wieder ans Tageslicht, und die Retrospektive des Filmmuseums ist die erste Gelegenheit seit den Filmfestspielen in Venedig 2001 Debords filmisches Werk im Kino zu sehen.

CONTRE LE CINÉMA. Aus dem winterlichen Wien ins frühlingshafte Cannes des Jahres 1951. Der 19-jährige Guy Debord besucht das Filmfestival, das schon damals Filmschaffende internationalen Ranges anzieht. Dort zeigt der Rumäne Isidore Isou seinen ersten (und einzigen) Film „Traité de bave et d'éternité“, der sogleich einen Skandal verursacht und den jungen Debord nachhaltig prägt. Seit einigen Jahren lebt Isou in Paris und hat dort eine Künstler_innengruppe in der Tradition der Vorkriegsavantgarden gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Kunst zu revolutionieren. Die Lettristische Gruppe, so ihr Name, will mit der Dominanz des Wortes brechen und stattdessen den einzelnen Buchstaben zur Keimzelle ihrer Kunst machen.

„Traité de bave et d'éternité“ ist zugleich lettristisches Manifest, Kampfansage gegen das Kino und Stilexperiment. Isou spielt mit dem Verhältnis von Bild und Ton, indem er langen Voice-over-Passagen scheinbar zusammenhangslose Filmaufnahmen gegenüberstellt. Mit Fortdauer des Films wagt er sich an immer kühnere Formen des Experimentierens: Er zerkratzt und bemalt das Filmmaterial und kombiniert diese abstrakten Formen mit Rezitationen lettristischer Lyrik. Debord tritt schwer beeindruckt der Lettristischen Gruppe bei und schon 1952 erscheint sein erster eigener Film „Hurlements en faveur de Sade“, der bei seiner Erstaufführung ebenfalls für laute Proteste im Publikum sorgt. Der Kinobesuch unterscheidet sich bei Debords erstem Film radikal von einer herkömmlichen Filmaufführung: Über weite Strecken sind weder Bilder auf der Leinwand zu sehen, noch Musik oder Dialoge zu hören. Im dunklen Kinosaal beginnt das Publikum schließlich seinen Unmut kundzutun und wird so Teil des Kunstwerks. Debord antizipiert damit Tendenzen des experimentellen Kinos der Siebziger Jahre, das unter dem Sammelbegriff „Expanded Cinema“ ähnliche Einbindungen der Zuschauer_innen anstrebte.

REVOLUTION: THEORIE UND PRAXIS. Mit den Jahren entwickelte sich Debord vom avantgardistischen Künstler zum politischen Aktivisten, der Kunst nicht unabhängig von Politik und Gesellschaft betreiben wollte. Debord war eine ehrgeizige Persönlichkeit und entschlossen, seine eigenen Ideen umzusetzen, weshalb er sich schließlich zusammen mit einigen Gleichgesinnten vom Lettrismus abspaltete und die Situationistische Internationale gründete. Die Grundsätze dieser Gruppe lassen sich nur schwer zusammenfassen. Debords Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“, situationistisches Manifest und Stichwortgeber der Maiunruhen 1968, lässt sich zwar in einer hegelianisch-marxistischen Denktradition verorten, bricht aber bewusst mit gängigen linken Denkweisen und Strömungen seiner Zeit. Kommunismus, Maoismus und Sozialdemokratie bewegen sich nach Debords Sicht in der vorgegebenen Logik der Spektakelgesellschaft und unterscheiden sich darin nur marginal von der herrschenden Klasse der Kapitalisten. Das Spektakel kontrolliert und beschränkt zunehmend die Zeit und den Lebensraum der Menschen und sorgt dafür, dass die Menschen von realitätsfernen Bildern betäubt, unmündig und ohne Handlungsmacht bleiben: „Das Spektakel ist der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist.“ Der Situationismus war auf der Suche nach Möglichkeitsbedingungen einer Revolution, die schon damals in Westeuropa nur mehr schwer denkbar war. Anderen linken Bewegungen warfen die Situationist_innen vor, in Passivität zu verharren und sich im Wälzen grauer Theorie zu gefallen. Sie wollten stattdessen aktiv handeln, ganz im Sinne Michail Bakunins: „In den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale mehr Ideen entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen allein die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, dass irgendjemand imstande ist noch eine neue zu erfinden. Die Zeit der Ideen ist vorbei, die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen.“

Diese Tatsachen liegen im Schaffen konkreter Situationen, die aus einer Verbindung künstlerischer und politischer Praxis entstehen, und in denen gegen die Spektakelherrschaft vorgegangen wird, indem deren eigene Erzeugnisse gegen sie gewendet werden. Diese Vorgehensweise der Zweckentfremdung, Verfremdung und Umdeutung der Waren des Spektakels bezeichnen die Situationist_innen als détournement; in den Worten von Jacques Rancière: „Das ‚détournement‘ besteht nicht darin, die Hochkultur zu profanieren oder die nackte Realität der Ausbeutung hinter dem schönen Schein zu enthüllen. Es versucht nicht, ein Bewusstsein zu produzieren, indem es denjenigen die Mechanismen der Welt enthüllt, die angeblich an deren Unkenntnis leiden. Es will eben jene Güter vom Feind zurückerobern, die dieser zu seiner Waffe gegen die Anteillosen gemacht hat. […] Es ist die direkte Wiederaneignung dessen, was in die Repräsentation entrückt worden ist.“ Was ist also naheliegender, als sich am breiten Bilderfundus der Filmgeschichte zu bedienen und ihre Bilder in filmischer Form gegen sie zu wenden?

APRÉS MAI. Im Kinosaal des Österreichischen Filmmuseums haben sich einstweilen Direktor Alexander Horwath, Debords Witwe Alice Becker-Ho und der Filmemacher Olivier Assayas eingefunden. Assayas verbindet eine besondere Beziehung sowohl mit dem Österreichischen Filmmuseum, das ihm 2012 eine große Retrospektive und eine Buchpublikation widmete, als auch mit Debord, seinem geistigen Ziehvater. Geboren 1955 und aufgewachsen in der wohlbehüteten Pariser Vorstadt, war er zu jung, um die Maiunruhen 1968 mitzuerleben. Das Gefühl, die großen Ereignisse seiner Generation verpasst zu haben und womöglich niemals den revolutionären Geist dieser Zeit zu spüren, prägte sein Leben und Werk. In Richard Linklaters „Dazed and Confused“ bezeichnen die jugendlichen Protagonist_innen die Siebziger als ein langweiliges Jahrzehnt, das die aufregenden Versprechungen der Sechziger nicht erfüllen konnte. Ihre Lebenserfahrung ist jener von Olivier Assayas nicht unähnlich. Es ist ein Lebensgefühl zwischen revolutionärem Eifer und Ziellosigkeit. Sein intellektueller Werdegang führte Assayas über Anarchismus, George Orwell, Malerei und Rockmusik schließlich zu den Schriften und Filmen von Guy Debord. Die Gruppe hatte sich zwar 1972 nach einer wechselhaften Geschichte voller Ausschlüsse und internen Verwerfungen aufgelöst, aber ihr politisches, künstlerisches und philosophisches Programm diente fortan als Inspiration und Leitfaden für Assayas’ Leben und Arbeit. Wenig verwunderlich also, dass er sich aktiv für die Verbreitung der Ideen Debords einsetzt. So machte er es nach dessen Tod überhaupt erst möglich, dass die Filme wieder gezeigt werden und war auch maßgeblich an der 2004 erschienenen DVD-Edition von Debords gesammeltem filmischem Werk beteiligt.

VOM FEUER VERZEHRT. An diesem Abend werden zwei Kurzfilme von Debord gezeigt, die er in der Anfangszeit der Situationistischen Interna- 13 tionale produziert hat. „Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps“ (1959) und „Critique de la Séparation“ (1961) sind in vielerlei Hinsicht Vorboten Debords späterer Langfilme. In bester lettristischer Tradition vertraut Debord auf einen begleitenden Off-Kommentar, der oft in Kontrast zu den Bildern und Textelementen steht. Die Konfrontation von Bild, Text und Ton soll zu fruchtbarer Überforderung und dialektischer Synthese führen. Debords Filme sind, so Assayas, außerhalb der Logik des Kinos hergestellt und folgen deshalb auch nicht den Regeln des konventionellen Filmemachens, wie sie die Spektakelgesellschaft vorschreibt. Frei nach dem Motto seines Vertrauten Gil J. Wolman: „Most films only merit being taken apart and used to create new works“, bedient sich Debord ausgiebig bei Hollywood- und Werbefilmen, zitiert Schriftsteller_innen und Philosoph_innen und fertigt daraus komplexe Bild-Ton-Collagen. Debords spätere Filme schließen trotz zwölf Jahren Pause nahtlos an seine früheren Arbeiten an. Auch in „La société du spectacle“ (1973) und in seinem Opus magnum „In girum imus nocte et consumimur igni“ (1978) greift er auf ähnliche Inszenierungsmittel zurück: Der kreative Einsatz von Found Footage und parallel dazu die philosophischen Erörterungen des Off-Kommentars führen zu einem elaborierten Katz-und-Maus-Spiel zwischen Bild und Ton. Es ist „der schmale Grat zwischen Poesie und Philosophie“, wie Assayas es ausdrückt, der Debords gesamtes Schaffen, aber insbesondere seine Filme auszeichnet. Sie sind überaus komplex, doch lässt man sich auf den ungewöhnlichen Rhythmus, die komplizierte Sprache und die ungewöhnliche Ästhetik ein, so offenbart sich eine Gedankenwelt, die Debords schriftstellerischer Arbeit in nichts nachsteht. Es war immer Debords Anliegen alle Bereiche seines Lebens miteinander zu verschränken – seine Kunst, seine Philosophie und seine Politik sollten in seiner Lebenspraxis aufgehen.

In Anbetracht seiner filmischen Arbeiten kann man nur anerkennend bemerken, dass er reüssierte. Alexander Horwath: „[Debord’s writings, films and art] should be seen as very much one thing.“ Guy Debords Werk zeichnet ein unbändiger Wille aus, die Schockstarre der Spektakelgesellschaft zu durchbrechen und aktiv Veränderung herbeizuführen. Im Zeitalter des postmodernen Relativismus, der für utopisches Denken nur ein zynisches Lächeln übrig hat, ist das ein umso wertvollerer Gedanke.

Rainer Kienböck studiert Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

Auszeit von der Außenwelt

  • 20.03.2015, 18:20

In seinem Dokumentarfilm „Wie die anderen“ gibt Constantin Wulff Einblick in das Innenleben einer psychiatrischen Abteilung und das Seelenleben von jungen Menschen. Schauplatz: Tullner Landesklinikum. Abteilung: Kinder- und Jugendpsychiatrie.

In seinem Dokumentarfilm „Wie die anderen“ gibt Constantin Wulff Einblick in das Innenleben einer psychiatrischen Abteilung und das Seelenleben von jungen Menschen. Schauplatz: Tullner Landesklinikum. Abteilung: Kinder- und Jugendpsychiatrie. 

„Ich heiße Leonie. Alle fragen, warum ich so seltsam bin. Keiner weiß eine vernünftige Erklärung. Dabei wäre ich gerne genauso wie die anderen.“ Junge PatientInnen mit unterschiedlichen Hintergründen, Krisensituationen und Schicksalen eint ein Wunsch: Sie wären gerne wie die anderen. „Die anderen“, das sind Gleichaltrige und FreundInnen in einer Welt, die sich außerhalb der Abteilung für Kinder und Jugendpsychiatrie des Landesklinikums Tulln weiterdreht. Leonie erzählt das im Rahmen einer Therapiesitzung, die sich nicht als solche inszeniert. Liegt die Diagnose einmal vor, wird schnell klar: Ein Patentrezept zur Behandlung gibt es nicht. Durch spielerische Gesprächssituationen, geschickte Kreativitätstechniken und musikalische Klangexperimente will das ärztliche Personal mehr über das Seelenleben junger PatientInnen in Erfahrung bringen. Diese sind von problematischen Vorgeschichten und traumatischen Erlebnissen gezeichnet. Angstzustände, Bulimie, Medikamentensucht, Schizophrenie und Suizidgedanken begleiten ihren Alltag.

PERSONALMANGEL ALS HERAUSFORDERUNG. Das ärztliche Personal selbst findet sich oft an den persönlichen Grenzen. Im Fokus steht ein Arbeitsalltag zwischen hingebungsvoller Aufopferung und zeitlichem Druck, der von ÄrztInnenmangel geprägt ist. „Es ist nicht mehr fünf vor, sondern zehn nach Zwölf“, ist das Resümee einer arbeitsinternen Besprechung, in die das Publikum als stille BeobachterIn mitgenommen wird. Neben mangelnden Ressourcen und bürokratischen Hürden werden auch dienstliche Grenzen debattiert. Etwa, wie es gelingen kann, bei Verdacht auf (sexuellen) Missbrauch einzuschreiten. Oft sind dem ärztlichen Personal nämlich beim Bemerken von Verletzungen bei ihren PatientInnen die Hände gebunden. Eine problematische Schlüsselszene, deren Ergebnis letztendlich über die Zukunft von jungen Menschen entscheiden kann.

INNENANSICHT MIT AUSSENBLICK. „Wie die anderen“ spielt sich ausschließlich im Inneren des Tullner Landesklinikums ab – ohne dabei den Blick nach Außen zu verlieren. Die taktisch kluge Kameraführung macht es möglich, Blicke und Gesten in den Fokus zu rücken und Worte überflüssig zu machen. Beispielsweise wenn es darum geht, die Freude von PatientInnen über einen Fortschritt oder den Frust des ärztlichen Personals über Handlungsunfähigkeit einzufangen. Der Film führt das Publikum gänzlich ohne Kommentar, Musik und Wertungen durch die kühlen Gänge und Zimmer der Klinik. Das Tabuthema „Psychiatrie“ löst sich in zwischenmenschlichen Dialogen auf, die von sozialer Wärme und einem einfühlsamen Miteinander geprägt sind. Die letzten Szenen werfen nochmals besorgniserregende Fragen auf, deren Beantwortung dem Publikum überlassen wird.

„Wie die anderen“ 
Regie: Constantin Wulff
95 Minuten
ab 11. September 2015

 

Sandra Schieder studiert Journalismus und Public Relations an der FH JOANNEUM in Graz.

Vom Wegschauen und Hinsehen

  • 23.10.2014, 03:12

Vom Wegschauen und Hinsehen

26. September 1980, München: Bei einem Anschlag auf das Oktoberfest werden 13 Menschen durch eine Bombe getötet, 211 werden verletzt. CSU-Rechtsaußen- Politiker Franz Josef Strauß macht im laufenden Bundestagswahlkampf sofort „linke Terrorgruppen“ für den Anschlag verantwortlich. Einer der mutmaßlichen Bombenleger stirbt vor Ort: Gundolf Köhler, Mitglied einer rechtsextremen paramilitärischen Gruppe.

Hier setzt der Film „Der Blinde Fleck“ an – ein mehrfach ausgezeichneter Spielfilm, der bei Erscheinen leider nur in wenigen Kinos zu sehen war. Erzählt wird die Geschichte des Rundfunkjournalisten Ulrich Chaussy (Benno Fürmann), der der offiziellen Version nicht glauben will. Während die Staatsanwaltschaft Gundolf Köhler nämlich zu einem Einzeltäter mit Sexualproblemen erklärt, versucht Chaussy, dessen Verbindungen in die rechte Szene aufzudecken.

Die These Chaussys: Köhler ist kein Einzeltäter. Es handle sich vielmehr um einen politisch motivierten Anschlag von rechts, der von den ermittelnden Behörden systematisch vertuscht wird. Im Spielfilm wird diese Vertuschung akribisch nachgezeichnet. Es wird vorgeführt, wie Beweismittel vernichtet werden, Zeug_innen von Behörden verunsichert und in den Selbstmord getrieben sowie geheime Informationen lediglich an ausgewählte, eingeweihte Journalist_innen weitergegeben werden.

Der Film beruht auf wahren Begebenheiten und stieß durchaus auf Widerstände. Auf der Suche nach Unterstützung habe man viele Absagen kassiert, schreibt Produzent Daniel Harrich auf der Website zum Film, derblindefleck-film.de. Passenderweise endet „Der Blinde Fleck“ mit dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrundes, einer rechten Terrorgruppe, die über Jahre Menschen mit Migrationshintergrund ermordete und der gerade am Oberlandesgericht München der Prozess gemacht wird. Die Polizei hatte zunächst jahrelang gegen die Hinterbliebenen der Opfer ermittelt, weil sie „Ausländerkriminalität“ vermutet hatte. Der blinde Fleck existiert also weiter.

Der Film ist am 23. 10. um 13:55 Uhr auf ARTE zu sehen und seit 13. Mai 2014 auf DVD und Blu-ray erhältlich.

Christian Bunke studiert Journalismus und Neue Medien an der FHWien.

Not your Manic Pixie Dream Girl

  • 20.08.2014, 09:46

Was auf den ersten Blick nach einer starken Frauenfigur aussieht, entpuppt sich schnell als sexistische Fantasie männlicher Filmemacher. Seit Jahren füllen Manic Pixie Dream Girls ganze Kinosäle.

Was auf den ersten Blick nach einer starken Frauenfigur aussieht, entpuppt sich schnell als sexistische Fantasie männlicher Filmemacher. Seit Jahren füllen Manic Pixie Dream Girls ganze Kinosäle.

Kaum ein Indie-Film mit männlichem Protagonisten und romantischen Plot-Lines kommt ohne diese Trope aus. Sei es Natalie Portman in „Garden State“ oder Zooey Deschanel in so gut wie jeder ihrer Rollen: Dem Manic Pixie Dream Girl zu entkommen, wird zur Herausforderung.

Indie-Chicks wie aus dem Bilderbuch. Der Begriff „Manic Pixie Dream Girl“ (MPDG) stammt vom US-amerikanischen Journalisten Nathan Rabin und kam zum ersten Mal 2007 in seiner Rezension von Cameron Crowes Indie-Klassiker „Elizabethtown“ vor. Das MPDG hat im Film die Funktion, dem verbitterten, desillusionierten Protagonisten die schönen Seiten des Lebens zu zeigen. Sie weckt in ihm den Hunger auf Abenteuer, Sorglosigkeit und gleichzeitig hilft sie ihm bei der Suche nach einem Lebenssinn. Stets tritt sie als attraktive, frappante, künstlerisch angehauchte Twenty-Something mit einem Hang zur Impulsivität und Verträumtheit auf. Ihre Garderobe ist Vintage, ihre Haare trägt sie in unkonventionellen Farben oder mit schickem Pony, ihr Musikgeschmack ist etwas off-beat – so außergewöhnlich, wie The Shins oder The Smiths eben sein können. Im Prinzip verkörpert sie das Gegenteil von Spießigkeit, gerne spielt sie mitten im mit Familien gefüllten Park das „Penis-Spiel“ oder „Mutter-Vater-Kind“ bei Ikea. Selbst labelt sie sich häufig als Feministin.

Sie kann sehr vieles sein, was sie aber definitiv nicht ist, ist ein mehrdimensionaler, durchdachter Charakter, dessen Funktion über den Bruch der Alltagsmonotonie des Protagonisten hinausgeht. Außerdem wird die Figur in der Regel von weißen Schauspielerinnen gespielt, was die stereotype Verknüpfung von Hipness mit Weißsein reproduziert. Während tätowierte, flamboyante Weiße als edgy und alternativ gelesen werden, werden People of Colour in selbiger Montur als „ghetto“ beschimpft.

Wrong on so many levels. Dabei wirkt das MPDG zunächst einmal autonom, selbstbestimmt und stark – sie verkörpert damit all jene Eigenschaften, die Frauen in Hollywoodstreifen oft abgesprochen werden. Doch das Einzige, was sie tatsächlich tut, ist Männern die Augen zu öffnen. Von ihren eigenen Erfolgen, Zielen oder ihrem Hintergrund erfahren wir wenig bis nichts. Stattdessen wird sie zum „Missing Piece“ idealisiert, ihre Makel und Macken werden romantisiert und eventuelle Hinweise auf Mental Health Issues werden banalisiert. Die unkritische Rezeption macht es schwer, die Problematik offenzulegen.

In Michel Gondrys „Eternal Sunshine Of The Spotless Mind“ geht es hoch auf die Meta-Ebene. Auch hier gibt es ein MPDG. Clementine, die von Kate Winslet gespielt wird, passt in die typische Schablone der Trope, klärt den Protagonisten aber auch darüber auf, dass sie keine Lust hat, Typen aus ihrer Trübsal zu retten. Sie sagt im Film: „Too many guys think I'm a concept, or I complete them, or I'm gonna make them alive. But I'm just a fucked-up girl who's lookin' for my own peace of mind; don't assign me yours.“

Dass die Figur des MPDG eine Illusion ist, wird selten verstanden. So überträgt sich die Sehnsucht nach einer solchen Person von der Leinwand ins Leben. Die einen versuchen, in das Muster der MPDGs zu passen und sie zu imitieren, die anderen suchen nach ihrem MPDG – oder vielmehr ihrer Manic Pixie Dream Person.

Anspruch und Realität. Die britische Journalistin Laurie Penny schreibt in ihrer Kolumne „I was a Manic Pixie Dream Girl“ für New Statesman darüber, auf eine sexuelle Fantasie reduziert und wie eine seltene Pokémon-Karte gejagt zu werden. In der Vergangenheit passte sie selbst in das Klischee des MPDG. Es war keine Ausnahme, dass sie im Supermarkt oder auf Partys von wildfremden Typen angesprochen wurde. Spannenderweise verloren diese das Interesse, sobald sich herausstellte, dass sie eine erfolgreiche Autorin mit Ambitionen ist und kein planloses Mädchen, das gerne Joy Division-Lieder auf der Gitarre covert. Es ist nichts Schlimmes daran, eine solche Person zu sein. Aber Laurie Pennys Erfahrungen machen sexistische Ansprüche sichtbar: Solange der Typ erfolgreicher als sein MPDG ist, läuft alles nach seinen Vorstellungen. Sie bleibt ein hübsches Anhängsel, ein Prestige-Objekt zur Vervollständigung seines artsy Lifestyles. Könnte sie mit ihrer Karriere die seinige überschatten, ist sie allerdings instantly dismissed.

Diese Verhaltensmuster zeigten sich jahrelang in den Romanzen der Autorin, sodass sie es in Erwägung zog, ihren Intellekt und ihren Erfolg vor Typen nicht vollständig zu enthüllen, aus Angst, ihr würden ihre Weiblichkeit und ihre Attraktivität abgesprochen. Die Technik, „sich dumm zu stellen“, ist nichts Neues. Genau jene, die ein MPDG suchen, verachten sie gerne. Emanzipation schreiben sie sich dick auf die Fahnen, in der Praxis taucht sie nicht auf. Von Selbstreflexion keine Spur.

Durch die Reproduktion dieses Klischees verfestigt sich das Bild, Frauen seien stets zweitrangig und niemals mehr als eine Vervollständigung von Männern. Wie die Autorin Chimamanda Ngozi Adichies das in jenem Zitat formuliert, das auch Beyoncé aufgegriffen hat: „We say to girls: ‚You can have ambition, but not too much. You should aim to be successful, but not too successful. Otherwise, you will threaten the man.“

Kekse für den Typen, Knäckebrot für das Girl. Außerdem ist die Fantasie vom MPDG sehr heterosexuell geprägt. Obwohl einige MPDGs in der Vergangenheit auch lesbische Beziehungen geführt haben – sei es die College-Flamme Charlie von Zooey Deschanel in „(500) Days of Summer“ oder Ramona Flowers Exfreundin Roxie, die eine der sieben bösen Exe in „Scott Pilgrim vs. The World“ ist – werden diese nur als Phasen abgestempelt, der Begriff der Bisexualität fällt nie. Vielmehr sind diese „Eskapaden“ Ausdruck der Abenteuerlichkeit des MPDG und regen die männliche Fantasie weiter an.

Ein MPDG erscheint oft in Begleitung eines Nice Guys, eines leicht nerdigen Typen, der ein Frauenversteher™ ist und im Gegensatz zu Bad Boys stets in der Dauerschleife von Friendzones hängt – einfach, weil er zu „nett“ ist. „(500) Days of Summer“ ist ein Paradebeispiel dafür. Summer ist an keiner festen Beziehung interessiert und lässt trotzdem ein sexuelles Verhältnis zu. Für den Protagonisten ist das unlogisch, scheinbar kennt er nur die Dichotomie zwischen platonischer und romantischer_sexueller Beziehung. Als Summer letztlich einen anderen Mann heiratet, wird sie automatisch als kaltherzige „Bitch“ abgestempelt. Das typische Nice Guy-Denkmuster, in dem alle, die nicht an ihm interessiert sind, „Schlampen“ sind. Ihm wird von vielen Seiten applaudiert, das MPDG geht hingegen, dank tief verankerter Misogynie, leer aus. Offensichtlich muss noch viel getan werden, bis alle verstehen, dass Frauen nicht dafür da sind, die Schlüppis irgendwelcher Nerds nasswerden zu lassen.

Hengameh Yaghoobifarah studiert Medienkulturwissenschaft an der Universität Freiburg.

„Warum reden sie über meine Generation?“

  • 05.04.2014, 12:28

Entgegen der gängigen Darstellung der zweiten Generation von Migrant_innen als ewig Fremde und Dauergäste, macht das transnationale Film- und Multimediaprojekt „with wings and roots“ sichtbar, wie Kinder von Migrant_innen in Berlin und New York allen Herausforderungen zum Trotz Zugehörigkeit neu denken und leben.

Entgegen der gängigen Darstellung der zweiten Generation von Migrant_innen als ewig Fremde und Dauergäste, macht das transnationale Film- und Multimediaprojekt „with wings and roots“ sichtbar, wie Kinder von Migrant_innen in Berlin und New York allen Herausforderungen zum Trotz Zugehörigkeit neu denken und leben. 

Seneit blickt in die Kamera und schmunzelt: „Wenn mich jemand fragt, woher ich komme, sag’ ich manchmal aus Spaß, weil ich sie ärgern will: aus Mannheim. Ich mach’ das gerne, so provokativ zu sagen: Wieso? Ich bin auch Deutsche! Das find’ ich total amüsant.“ Dabei ist das keineswegs ein Witz. Die junge Frau, die heute in Berlin lebt, ist tatsächlich in der baden-württembergischen Quadratestadt aufgewachsen. Nichtsdestotrotz provoziert diese biographische Tatsache so manche_n deutsche_n Bürger_in, weil Seneit, die als Kind mit ihren Eltern vor dem Bürgerkrieg in Eritrea geflohen ist, eben Seneit heißt und schwarz ist. „Die Deutschen reden zwar über Integration und so, aber letztendlich ist es so: Bei den einzelnen Deutschen ist einfach noch nicht angekommen, dass es auch schwarze Deutsche gibt, oder viele andere Deutsche mit einem anderen sozialen und kulturellen Hintergrund“, konstatiert Seneit und fügt hinzu: „Leben in Deutschland ist ein bisschen so wie auf einer Party zu sein, auf die man eigentlich nicht so richtig eingeladen wurde.“

Die Vielfalt der zweiten Generation. Seneit ist eine von vielen, die ihre Geschichten im Rahmen des Projekts „with wings and roots“ erzählt haben. Vor fünf Jahren begann dessen Gründerin, die in Brooklyn lebende Dokumentarfilmerin Christina Antonakos-Wallace, in Berlin und New York Interviews mit Kindern von Migrant_innen zu führen. „Das hat auch viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun“, erzählt sie im Interview mit progress: „Ich wollte einen Film über meine Altersgenoss_innen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle.“ Antonakos- Wallaces Anspruch war dabei von Anfang an, die Kreativität und die Intelligenz jener Menschen in den Mittelpunkt zu rücken, über die Mainstream- Medien in Zeiten der Integrationsdebatte zwar viel zu sagen haben, dabei aber allzu oft Stereotype einer orientierungslosen „zweiten Generation“ reproduzieren: geprägt von Bildungsdefiziten, gefangen in Parallelgesellschaften oder zerrissen zwischen scheinbar miteinander unvereinbaren Kulturen. Der tatsächlichen Vielfalt der Stimmen, Perspektiven und Lebensrealitäten von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte wird dabei kaum Raum gegeben.

Angetreten, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und eine Plattform zu schaffen, die es Kindern von Migrant_innen erlaubt, für sich selbst zu sprechen, ist „with wings and roots“ mittlerweile zu einem vielschichtigen Bildungs- und Multimediaprojekt herangewachsen, an dem mehr als 30 Personen ehrenamtlich mitarbeiten. Zwei Kurzfilme und Bildungsmaterialien, mit denen unter anderem in Schulklassen und Workshops gearbeitet wird, sind entstanden. Noch heuer wird ein abendfüllender Dokumentarfilm veröffentlicht. Außerdem wird Seneits Geschichte gemeinsam mit jenen von über 50 weiteren jungen Menschen auf einer zweisprachigen, interaktiven Webseite der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Aus einer Vielzahl kurzer Videoclips wird im Netz eine umfassende Geschichtensammlung geschaffen, in der ganz unterschiedliche junge Berliner_ innen und New Yorker_innen ihre Positionen und multiplen Zugehörigkeiten in Zusammenhang mit der Migrationserfahrung ihrer Eltern und Großeltern, vor allem aber auch mit den Exklusions- und Inklusionsmechanismen der deutschen und der amerikanischen Gesellschaft reflektieren. Mit Hilfe einer aufwendig gestalteten Zeitleiste der deutschen und amerikanischen Migrationsgeschichte wird dort auch aufgezeigt, wie diese individuellen Geschichten mit gesellschaftlichen und politischen Ereignissen verzahnt sind: von der deutschen Kolonialgeschichte bis zu aktuellen Diskussionen rund um eine Reform der Immigrationsgesetze in den USA. „Damit ist auch der Anspruch verbunden, Wissenslücken zu schließen“, erklärt Olga Gerstenberger, die in den letzten zwei Jahren intensiv an der Erstellung dieser Zeitleiste mitgearbeitet hat: „Die Stereotype in den Köpfen der Menschen haben nämlich einerseits viel mit historischen Prägungen zu tun und gleichzeitig auch mit einem gewissen Nicht-Wissen.“

Christina Antonakos-Wallace, Regisseurin und Produzentin von „with wings and roots“. Foto: with wings and roots

Auch der komparative Zugang soll dazu beitragen, das Thema Migration in ein neues Licht zu rücken, erklärt Christina Antonakos-Wallace: „Das Thema in einem neuen und transnationalen Kontext zu sehen, soll dem Publikum auf beiden Seiten des Atlantiks die Möglichkeit geben, zu erkennen, dass die Dinge nicht unbedingt so sein oder bleiben müssen, wie sie sind. Der Vergleich soll in Frage stellen, dass die jeweiligen Vorstellungen von nationaler Identität und Fremdheit natürlich oder unveränderbar seien.“ Als Vorbild will sie aber weder die deutsche, noch die US-amerikanische Gesellschaft verstanden wissen, denn wie ein roter Faden durchzieht eine Gemeinsamkeit die sonst so heterogenen Geschichten, die junge Menschen auf beiden Seiten des Ozeans erzählen: das Dilemma, in einem Umfeld aufzuwachsen, das sie alltäglich daran erinnert, dass sie nicht „wirklich“ dazu gehören, zugleich aber konstant ihre Verpflichtung betont, sich zu integrieren.

Herkunftsdialoge. Obwohl Dina nicht in Mannheim, sondern in New York aufgewachsen ist, kennt auch sie die von Seneit angesprochene Krux nur allzu gut. Sie blickt ernst in die Kamera: „Wenn die Leute mich fragen, woher ich komme, denke ich, aus New York. Und dann, wenn sie nicht zufrieden sind, mit dieser Antwort, fragen sie: Wo kommst du wirklich her? Als ob das ‚wirklich‘ alles klären würde. Oder: ‚Wo kommen deine Eltern her?’“ Der Migrationsforscher Mark Terkessidis bezeichnet diese „Herkunftsdialoge“ als „subtile Form der Verweisung“, die immer auch kommuniziert: Mit deinem Aussehen und deinem Namen gehörst du eigentlich woanders hin. Die alltägliche Frage nach der „wirklichen Herkunft“ spiegelt wider, „wie eng Zugehörigkeit heute noch immer definiert wird“, erklärt Christina Antonakos-Wallace. Akim, dessen Familie in den 80er-Jahren aus Vietnam geflüchtet ist, fasst das in einem ihrer Kurzfilme so zusammen: „Hier in Deutschland ist man halt noch immer ein Ausländer. Und man ist ja offensichtlich ein Ausländer. Aber das Krasse ist ja auch, wenn man nach Vietnam geht, dass man dann auch ein Ausländer ist.“

Derya, die sich selbst als „Deutsch-Türkin, weder türkisch noch deutsch, eben Deutsch-Türkin“ bezeichnet, sieht die Logik der Deplatzierung auch im deutschen Integrationsdiskurs verankert: „Als es damals im Fernsehen oder in den Zeitungen anfing, dachte ich: ‚Hä? Warum Integration? Warum reden sie von meiner Generation? Ich bin doch integriert. Ich bin doch hier aufgewachsen.‘“ Und sie ergänzt: „Man kennt ja die Straßen in- und auswendig. Und dass man dann nicht akzeptiert wird oder mit irgendwelchen Vorurteilen belastet wird, trifft einen schon sehr oft.“

Sonny erzählt davon, wie es war als Sikh in Charlotte, North Carolina, aufzuwachsen: „Während dieser Zeit hatte ich ein wahres Verlangen, weiß zu sein. Ich wollte nicht diese fremde Gestalt sein, wo immer ich hinging. Ich wollte John heißen, eine gute Frisur haben und Basketball spielen.“ Von Mobbing in der Schule, „Ausländerklassen“ und Hauptschulempfehlungen, „weil für Ausländerkinder eben nicht mehr geht“, wird in der Geschichtensammlung viel erzählt; aber auch davon, wie Juliana, allen Entmutigungen durch LehrerInnen und ihr Umfeld zum Trotz, die Highschool abschließt, wie Ipek in Berlin ihre erste lesbische Gruppe gründet und Sonny heute in New York als Teil der Sikh Coalition gegen rassistische Diskriminierung kämpft.

Sonny ist eines von 50 Kindern von Migrant_innen aus Berlin und New York, die im Rahmen des Projekts „with wings and roots“ ihre Geschichte erzählt haben. Foto: with wings and roots

Welche Rolle für die jungen Protagonist_innen dabei ihre Wurzeln spielen, ist völlig unterschiedlich. „In einer Gesellschaft wie dieser, in der es einen großen Assimilationsdruck gibt, ist es, denke ich, sehr wichtig für uns als zweite Generation von Einwanderer_ innen, uns mit unserer Herkunft zu identifizieren und stolz darauf zu sein,“ sagt Sonny. Zugleich kritisiert er ein Verständnis von Kultur als etwas, das es zu bewahren und konservieren gilt. Akim stellt fest: „Wurzeln? Wenn man die lange genug kocht, werden sie auch weich“ und schenkt Tee ein. Und Dina meint: „Ich denke es ist wichtig für manche Leute, mit ihren Wurzeln verbunden zu bleiben. Aber ich habe das Gefühl, dass mich diese Frage nie betreffen wird.“

Bewegte Zugehörigkeiten. Nicht zuletzt thematisiert „with wings and roots“, welch vielfältige Antworten die Kinder von Migrant_innen auf die Frage nach der eigenen Zugehörigkeit und dem Zuhause finden: „Ich glaube, gerade jetzt ist Brooklyn Zuhause, aber ich denk, dass ich ein anderes Zuhause auch woanders kreieren kann“, sagt Sonny dazu. „Heimat ist für mich, wo ich meinen Kopf hinlege“, meint Miman und deutet das Bild vom Leben zwischen den Welten im positiven Sinne um. Statt als Anlass zur Krise sieht er es als Vorteil: „Ich bin halt zwischen zwei Stühlen aufgewachsen, ich durfte zwei Kulturen erleben und ich hab das für mich so geregelt, dass ich mir von beiden das Beste genommen habe.“ Seneit strahlt regelrecht, wenn sie erzählt: „Für mich ist das Beste einfach nur, dass ich die Wahlmöglichkeit habe. Ich kann gerne in Deutschland leben und mich wohlfühlen und ich  kann gerne in Eritrea leben und mich wohlfühlen. Und das find ich toll. Da fühl ich mich reich.“ Eine eindeutige Identität gibt es für sie nicht: „Das ist einfach wie so ein ganzer Blumenstrauß.“ Auch Dina lacht, als sie sagt: „Ich denke, ich bin mehr als alles andere Amerikanerin, da ich sehr verwirrt bin. Denn auch so viele andere Amerikaner_innen, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, sind verwirrt.“ Und schließlich äußert auch sie Zweifel, ob es tatsächlich eindeutiger Antworten auf die Frage der Zugehörigkeit bedarf: „Mag es eine komplizierte Angelegenheit sein! Ehrlich gesagt, mag ich es, dass es schwierig ist, diese Frage zu beantworten.“

Anna Ellmer hat in Wien und Paris Kultur- und Sozialanthropologie studiert.

Für ein ausführliches Interview mit der Regisseurin und Produzentin Christina Antonakos-Wallace lies weiter  unter Bewegte Zugehörigkeiten.

 

Für weitere Informationen über „with wings and roots“: http://withwingsandrootsfilm.com.

Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh.

„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder einen Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen, über Facebook und/oder die Website mit dem Team in Kontakt zu treten.  

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