Feminismus

Selbstbestimmte Bewegungskultur

  • 14.01.2013, 07:20

Der Verein „Comot* – Bewegungskulturen & soziale Arbeit“ verfolgt mit seinem queer-feministischen Konzept einen außergewöhnlichen Ansatz. Claudia Aurednik hat für progress mit den Betreiber*innen, Trainer*innen und Trainierenden gesprochen.

Der Verein „Comot* – Bewegungskulturen & soziale Arbeit“ verfolgt mit seinem queer-feministischen Konzept einen außergewöhnlichen Ansatz. Claudia Aurednik hat für progress mit den Betreiber*innen, Trainer*innen und Trainierenden gesprochen.

Die beiden Sozialarbeiter*innen Sepideh Hassani und Mel Brugger haben 2012 den Verein „Comot*-Bewegungskulturen & soziale Arbeit“ gegründet. Comot ist die Abkürzung für „cultures of motion“ und soll auch auf das Wort „kommod“ im Sinne von gemütlich verweisen. Dies mag für viele Menschen irritierend klingen, da der Verein neben Yoga auch zweimal pro Woche Boxen und Thaiboxen anbietet. Doch für die Gründer*innen des Vereins sind diese Sportarten Teil ihres Konzepts, das Momente schaffen soll, in denen Bewegungen bewusst erlebt werden können. Bei Comot* stehen keine bestimmten sportlichen Ziele im Vordergrund, sondern die Beschäftigung mit dem Körper als Gesamtheit. Im Rahmen des Trainings sollen die Selbstwahrnehmung, Erweiterung und Entwicklung von Handlungskompetenzen gefördert werden.

Eine Besonderheit von Comot* ist dessen queer-feministischer Ansatz. Denn alle Angebote des Vereins finden finden innerhalb eines queer-feministischen Rahmens statt. Die meisten der Trainings sind für alle Geschlechter geöffnet. Comot* möchte mit diesem Ansatz insbesondere Menschen mit individuellen Identitätsentwürfen Raum bieten, die sich in hetero-normativen Zusammenhängen diskriminiert sehen. Ein einzigartiges und ehrgeiziges Konzept, das es in dieser Form in Österreich kein zweites Mal gibt. Seid Ihr neugierig geworden? Dann hört was die Gründer*innen Sepideh Hassani und Mel Brugger, die Yoga-Lehrer*in Silke Graf und die beiden Trainierenden Shiva und Julia in unserem progress-Podcast über den Verein Comot* erzählen!

Mel Brugger wird getragen von Sepideh Hassani und Silke Graf

Achtung: Comot* sucht bis 1. Februar dringend neue Trainingsräume. Falls Ihr dem Verein weiterhelfen könnt, so wendet euch an Mel Brugger und Sepideh Hassani: office@comot.at

Link zu den Trainingsräumlichkeiten

Infos über den Verein

 

„Da werden Gewalttäter bedient.“

  • 03.01.2013, 11:51

Irma Zenacek und Brigitte Hornyik engagieren sich seit Jahrzehnten für die Rechte von Frauen in Österreich. Aktuell wirken sie am Blog muetterohnerechte.noblogs.org mit, auf dem entrechtete Mütter Raum für ihre Fallgeschichten bekommen. Claudia Aurednik hat mit den beiden über Problematiken der jüngsten Änderungen im Familienrecht sowie den Einfluss der Väterrechtler gesprochen.

Irma Zenacek und Brigitte Hornyik engagieren sich seit Jahrzehnten für die Rechte von Frauen in Österreich. Aktuell wirken sie am Blog muetterohnerechte.noblogs.org mit, auf dem entrechtete Mütter Raum für ihre Fallgeschichten bekommen. Claudia Aurednik hat mit den beiden über Problematiken der jüngsten Änderungen im Familienrecht sowie den Einfluss der Väterrechtler gesprochen.

progress: Das Parlament hat vergangenen Dezember das Familienrecht novelliert. In den Medien wurde unter anderem von einem „Obsorgegesetz“ gesprochen, bei dem das Kindeswohl im Mittelpunkt stehen würde. Was sagen Sie dazu?

Brigitte Hornyik: Das Gesetz heißt eigentlich nicht Obsorgegesetz, sondern „Kindschafts- und Namensrechtsänderungsgesetz“. Es umfasst unter anderem solche Fragen wie: Welche Position haben die Kinder? Welche Rechte und Pflichten herrschen zwischen Eltern und Kindern? Und unter welchen Bedingungen kann man Kinder adoptieren? Aber natürlich sind bei Dingen, die Kinder betreffen auch Frauen mitbetroffen. Nicht zuletzt deshalb, weil in über 90 Prozent der Fälle die Kinder nach einer Trennung bei ihren Müttern bleiben.

Irma Zenacek*: Für mich stellt sich die Frage was der Begriff „Kindeswohl“ überhaupt bedeutet. Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, dass ich den Einfluss der Gesellschaft und der anderen Familienmitglieder unterschätzt hatte. Um ein Kind gut aufzuziehen, bräuchte es eine komplett andere Familienstruktur. Heute ist meine mittlerweile erwachsene Tochter zwar sehr stolz auf mich, aber die Rolle als Alleinerzieherin hat mich sehr viel Kraft gekostet.

progress: Auf dem Blog muetterohnerechte.noblogs.org wird das Gesetz kritisiert. Welche Problematik steckt hinter dem „Kindschafts- und Namensänderungsgesetz“?

Hornyik: In dem „Kindschafts- und Namensänderungsgesetz“ stehen schöne Worte zum Kindeswohl. Und auf der anderen Seite werden gerichtlich Verfügungen ermöglicht, die in meinem Augen nicht im Sinne des Kindeswohls sein können. Demnach kann ein Gericht eine sechsmonatige Abkühlphase sowie eine gemeinsame Obsorge während dieser Zeit anordnen. Da frage ich mich, inwiefern das kongruent sein soll. Das kann nur mörderisch für die Psyche der Kinder sein. Ich kenne selbst einige PsychotherapeutInnen die meinen, dass die neue Gesetzesregelung super für ihr Geschäft sei. Denn die Kinder, die Frauen und so manch sensibler Mann werden traumatisiert sein und Therapiebedarf haben.

Obsorge bedeutet nach der gesetzlichen Definition: das Kind pflegen, das Kind erziehen und das Kind vertreten. Und Vermögensverwaltung kommt als Sonderaspekt der Vertretung hinzu. Gemeinsame Obsorge heißt im Vertretungsbereich, dass jeder für sich alleine vertretungsbefugt ist. Das heißt, beide können zwei völlig verschiedene Dinge für das Kind entscheiden. Bereits vor mehr als zehn Jahren haben wir vor einer derartigen Regelung gewarnt. Damals wurde unter der schwarz-blauen Regierung die gemeinsame Obsorge beschlossen. Wahnsinnig gute Erfahrungen haben die RechtsanwältInnen mit dieser Gesetzesnovelle 2001 nicht gemacht. Und jetzt wurde das Gesetz auch noch aufgemotzt. Ich kann nur hoffen, dass es RichterInnen geben wird, die das Gesetz vernünftig vollziehen werden. Als Mutter und Vater wird man darauf angewiesen sein an welche RichterInnen man kommt.

In der Theorie klingt das Gesetz ja gut. Aber man soll sich bitte die Praxis anschauen: Da sind zwei Menschen, die können nicht miteinander. Er schlägt sie, sie kratzt und beißt meinetwegen und zudem haben sie ein schwieriges Scheidungsverfahren miteinander. Und dann sollen die beiden zur Besuchsmittlung und Mediation gehen. Und dann kommt noch die Familiengerichtshilfe und macht Anordnungen. Wie soll sich das in der Praxis bewähren? Ich bin da skeptisch.

Zenacek: Heinisch-Hosek verdient den Titel Frauenministerin meines Erachtens nicht, weil sie ein derartiges Gesetz mit beschlossen hat und somit gegen Frauen agiert. Auch das Gewaltschutzgesetz wurde durch das neue Gesetz ausgehebelt. Deshalb haben auch die Frauenhäuser massiv dagegen interveniert. Selbst wenn Gewalt in einer Beziehung im Spiel war, so müssen sich Frauen und Männer nun in sogenannten Besuchskaffees treffen. Das ist dann natürlich eine gute Gelegenheit die Frau einfach abzumurksen. Das haben wir ja schon x-fach erlebt – nicht nur in Österreich. Und außerdem gibt es auch Erfahrungsberichte aus Deutschland, weil die dort das Obsorgegesetz schon viel länger haben. Die Feministin Anita Heiliger hat über die Problematik zwei Bücher geschrieben. Eines davon heißt „Vater um jeden Preis.“ Was sie in ihren Büchern schreibt, ist einfach unfassbar. Das ist ein unglaublicher Rückschritt für die Frauen. Und außerdem ist es ja so, dass die Scheidungen primär von Frauen eingereicht werden. Diese wissen aber ganz genau, dass sie als Alleinerzieherinnen in die Armut abrutschen. Nach dem neuen Gesetz dürfen uneheliche Väter nun auch das Sorgerecht für Kinder einfordern. Meiner Ansicht nach könnte das so ausschauen: Ein Mann sagt zuerst zu einer Frau, dass sie abtreiben lassen soll und später pocht er doch auf die gemeinsame Obsorge. Wie es dann einer Frau damit geht, dass überlasse ich Ihrer Fantasie.

progress: Warum hat man sich ausgerechnet jetzt für diese Gesetzesnovelle entschieden?

Hornyik: Die Initiative für eine Gesetzesnovelle ist von den Väterrechtlern ausgegangen, die einen sehr guten Draht zur ehemaligen Justizministerin Bandion-Ortner hatten. Diese wollte auch keine überparteilichen Frauenorganisationen an der vorhergehenden Arbeitsgruppe teilnehmen lassen. Wir haben damals vom Frauenring - der größten Dachorganisation von Frauenvereinigungen - ein Sit-in vor dem Justizministerium gemacht. Danach wurde der Frauenring sehr wohl zugelassen. Die Väterrechtler waren jedoch von Anfang in der Arbeitsgruppe drinnen. Die jetzige Justizministerin Karl hatte dann nicht so ein Näheverhältnis zu den Väterrechtlern und war schon gesprächsbereiter. Von Frauenorganisationen, Kinderrechtlern, den SPÖ-Frauen und zahlreichen ExpertInnen wurden dann verschiedene Dinge hinein reklamiert. So beispielsweise fortschrittliche Regelungen im Namensrecht, neue Adoptionsregelungen, ein neues Recht für Mündelgelder.

In einigen Randbereichen hat man sich auch bemüht die Patchworkfamilien zu berücksichtigen. Aber das war ein Resultat überaus zäher Verhandlungen und vieler Arbeitsgruppensitzungen. Wir haben wirklich versucht etwas Positives herauszuholen. Die Gewaltfrage ist auch erst dank der Intervention der Frauenhäuser ausreichend berücksichtigt worden. Das bedeutet, dass Gewalt an einem Ehepartner durchaus ein Grund für den Entzug von Kontaktrechten sein kann oder dass sie bewirkt, dass einem Sorgerechtsantrag nicht stattgegeben wird. Gewalt betrifft aber zu 90 Prozent die Ehefrauen – auch wenn Väterrechtler immer wieder Geschichten über Frauen, die mit den Messern auf sie losgegangen sind, erzählen.

progress: Wer steckt hinter den Väterrechtlern?

Zenacek: Das geht sehr stark in die rechte bis rechtsextreme Ecke hinein. Ein aktuelles Beispiel ist Martin Stiglmayr von „Väter ohne Rechte“, der ins BZÖ als Assistent oder Zuarbeiter von Ewald Stadler eingestiegen ist. Bei den Väterrechtlern treffen sich dann auch die Abtreibungsgegner und Hetzer gegen Homosexuelle. Sie beraten auch ihre Klienten darüber wie sie Unterhaltszahlungen umgehen, und wie sie ein Scheidungsverfahren so lange wie möglich hinauszögern.

Einer ihrer Hardliner ist bei der Initiative „Humanes Recht“ aktiv und betreibt gleichzeitig auch die Homepage www.justiz-debakel.com. Das ist die Fortsetzung der Seite www.genderwahn.com, die wegen strafrechtlich relevanter Tatbestände vom Netz genommen wurde. Diese Websites sind voll von purem Frauenhass. Auf der Website von justitz-debakel.com sind sogar die Wiener Frauenhäuser fein säuberlich aufgelistet, damit die Männer wissen, wo ihre Frauen untergebracht sind. Ich verstehe nicht, wieso da nichts dagegen unternommen wird. Da werden Gewalttäter bedient, damit sie ihren Frauen und Kindern auflauern können.

Hornyik: Ich habe die Informationen über die Website an die Frauenhäuser und an das Frauenbüro der Stadt Wien (MA 57) weitergegeben. Ich kann nur sagen, dass sie davon wissen aber nichts dagegen tun. Ich kann das wirklich nicht verstehen. An mangelnder Information kann es jedenfalls nicht liegen.

Ergänzend zu den Väterrechtlern möchte ich noch darauf hinweisen, dass diese sich gerne auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Verfassungsgerichtshof hinsichtlich einer besseren Rechtsstellung für uneheliche Väter berufen. Als Verfassungs- und Menschenrechtlerin kann ich nur dazu sagen, dass ich das für eine mögliche und ideologisch gefärbte Auslegung betrachte. Gleiches wird man mir vorwerfen. Aber eine so derart weitreichende Auslegung, dass der Vater eines Kindes die Mutter gerichtlich zu einer gemeinsamen Obsorge vergattern kann, ist meiner Ansicht nach nicht geboten gewesen. Ich habe daraus die Schlussfolgerung gezogen, dass der österreichische Gesetzgeber da sehr weit vorgeprescht ist.

progress: Frau Hornyik, Sie waren an den Verhandlungen zur Gesetzesnovelle beteiligt. Wie sind diese verlaufen?

Hornyik: Ich war als Vertreterin des Frauenrings bei den letzten Sitzungen dabei und habe für diesen auch umfassende Stellungnahmen geschrieben. Diese sind auf den Parlamentsseiten nachzulesen. Ich möchte aber auf einen demokratiepolitischen Aspekt aufmerksam machen. Das Ende der Begutachtungsfrist der Gesetzesnovelle war am 5. November. Und bereits am 13. November ist die Regierungsvorlage im Ministerrat beschlossen worden. Jetzt soll mir mal jemand erklären, wie an die 50 abgegebenen Stellungnahmen innerhalb einer Woche berücksichtigt wurden. Ehrlich gesagt haben wir vom Frauenring ein bisschen das Gefühl gehabt, verscheißert worden zu sein. Und wir haben das maßgebliche Gefühl, dass da ein demokratiepolitischer Schaukampf abgehalten wurde. Ich glaube nämlich nicht, dass es möglich ist, in dieser kurzen Zeit alle Stellungnahmen zu lesen und zu überlegen, was man einbauen kann. Am 20.11. gab es dann ein Hearing im Parlament. Die Freiheitlichen haben natürlich Väterrechtler als Experten nominiert. Auch dieses Hearing war ein parlamentarischer Schaukampf, damit man sagen kann, wie demokratisch man nicht wäre. Das Gesetz wurde einfach durchgewunken. Das ist für mich eine demokratiepolitisch bedenkliche Sache. Denn wenn die zuständigen Bundesministerinnen in der Koalition sich einigen, dann hast du keine Chance mehr. Zivilgesellschaft, NGOs und Bürgerbeteiligung hin oder her. In der Vorphase im Juni und Juli haben wir aber noch etwas ändern können.

progress: Welche Punkte konnten von den Frauenorganisationen im Sommer verhindert werden?

Hornyik: Eine Forderung der Väterrechtler war die Doppelresidenz, diese konnten wir verhindern. Denn Doppelresidenz bedeutet, dass es keinen hauptsächlichen Aufenthaltsort für das Kind gibt. Und wenn das Kind zu beiden Teilen bei Papa und Mama wohnt, dann gibt es natürlich auch keine Unterhaltspflicht. Dies wäre ganz im Sinne der Väterrechtler gewesen. Doch das konnten wir verhindern. Aber im Bereich der gemeinsamen Obsorge hatten wir nicht viel Erfolg. Auch in anderen Bereichen konnten wir intervenieren. Beispielsweise wäre es nach der Geburt eines unehelichen Kindes möglich gewesen, dass der Vater am Standesamt einfach nur mit einer Unterschrift der Frau im Wochenbett die gemeinsame Obsorge festlegt. Das wäre ein Wahnsinn für all jene Frauen gewesen, denen es nach der Geburt nicht so gut gegangen wäre oder für Migrantinnen, die die deutsche Sprache nicht so gut beherrschen. Mittlerweile ist dieser Passus entschärft worden.

progress: Warum haben Väterrechtler so eine große Lobby?

Zenacek: Generell ist es so: Wenn Männer sich um Kinder kümmern würden, dann hätten es die Frauen viel leichter. Aber um diese Männer geht es den Väterrechtlern natürlich nicht. Es geht ihnen um jene, die sich aus der Verantwortung stehlen und keine Alimente zahlen wollen. Die Väterrechtler sitzen auch in allen Parteien – ich habe sie bis in die KPÖ in Österreich nachverfolgen können. Auch Grüne und Gewerkschafter sind bereits mit den Väterrechtlern gemeinsam aufgetreten.

Hornyik: Ich kann das nur bestätigen. Sobald Männer eine Scheidung hinter sich haben, sympathisieren sie politisch höchst unreflektiert mit den Väterrechtlern. Auch in der Praxis hab ich diese Erfahrungen gemacht. Und natürlich spielt die Tatsache, dass Männer in unserer Gesellschaft die ökonomische und politische Macht besitzen eine Rolle.

Zenacek: Eigentlich ist das ein politischer Revanchismus. Aber das hat natürlich alles gesellschaftliche Auswirkungen – auch wenn es sich im Privatleben abspielt. Denn das Private ist politisch – das ist nicht umsonst ein Slogan der feministischen Bewegung.

Hornyik: Wir werden immer gerne von jungen Frauen als Altfeministinnen und Männerhasserinnen dargestellt. Aber Recht ist – im Sinne der Rechtswissenschaft – ein Konfliktlösungsinstrumentarium. Dort wo Menschen es schaffen nach einer Trennung sich gemeinsam um die Kinder zu kümmern, da gratuliere ich ihnen. Da sage ich dann: fein, dass ihr das hingekriegt habt. Aber Recht muss praktikable Lösungen in Konfliktfällen anbieten. Und das hat wirklich nichts mit Altfeminismus und Männerhass zu tun.

Zu den Personen:

Irma Zenacek

ist seit über 35 Jahren autonome Feministin. Bereits mit 19 entschied sie sich dafür, sich gemeinsam mit Frauen zu organisieren und niemals in eine Partei einzutreten. Beruflich hat sie sich als Alleinerzieherin mit diversen Brotberufen über Wasser gehalten. Sie verfügt über ein jahrzehntelanges Know-how über die Probleme von Frauen in unserer Gesellschaft. Und sie findet, dass „für Abgehobenheit in den weiblichen Lebensrealitäten von Frauen kein Platz ist“. Schwerpunkte von Irma Zenaceks politischem Aktivismus sind: strukturelle und daher auch staatliche Gewalt gegen Frauen, Lesben und Mädchen, Sozialpolitik und Sozialraub, Alleinerzieherinnenrealitäten und die damit einhergehende Betätigung der Väter- und Männerrechtler, das Treiben militanter AbtreibungsgegnerInnen und das Selbstbestimmungsrecht der Frau in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie Frauen im Widerstand und Krieg. Außerdem beschäftigt sie sich mit feministischer Kunst und Schmuckdesign. Irmas Lebensmotto: „ Ich möchte nicht, dass mir eines Tages das Patriarchat auf die Schultern klopft und sagt: "Das haben Sie aber gut gemacht, Frau Zenacek! Ich hasse den Mief der Anpassung!“

*da die Interviewpartnerin investigativ zu Väterrechtlern und AbtreibungsgegnerInnen forscht, wurde der Name von der Redaktion geändert.

Brigitte Hornyik

wurde 1957 in Wien geboren und ist in einer konservativ-bürgerlichen Familie aufgewachsen. Ihre Mutter war eine beruflich und ökonomisch selbstständige Frau, die als Mittelschulprofessorin und zuletzt als Direktorin am Gymnasium Wiedner Gürtel tätig war. Brigitte Hornyik studierte Rechtswissenschaft an der Universität Wien. Im Zuge ihres Studiums wurde sie mit der Diskriminierung von Frauen durch Professoren und Assistenten konfrontiert. Während ihrer Tätigkeit als Studienassistentin und Universitätsassistentin am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht lernte sie die feministische Rechtswissenschaftlerin Neda Bei kennen, die ihre Mentorin wurde. Bereits damals veröffentlichte Hornyik ihre erste Publikation zum Thema Geschlechtergleichheit im Schulrecht. Während der 1980er Jahre war sie im Staatssekretariat der Frauenministerin Johanna Dohnal tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte umfassten die Ratifikation der UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW), Vorbereitung und Durchführung der ersten Enquete zum Thema Frau und Recht sowie Rechtsberatung. Von 1982 an arbeitete sie bis zum Juli 2012 als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Abteilungsleiterin und Bereichsleiterin am Verfassungsgerichtshof. Brigitte Hornyik ist Vorstandsmitglied im „Österreichischen Frauenring“, ehemalige Vorsitzende im Verein österreichischer Jurstinnen und Aktivistin der Plattform 20.000 Frauen.

Links:

Blog „Mütter ohne Rechte“: http://muetterohnerechte.noblogs.org/

Frauenring: www.frauenring.at

Verein österreichischer Juristinnen: www.juristinnen.at

Plattform 20.000 Frauen: zwanzigtausendfrauen.at

 

 

 

Sich selbst lieben lernen

  • 24.12.2012, 12:57

Die Energien fürs Schlankbleiben können Frauen für Sinnvolleres verwenden. Die ARGE Dicke Weiber erklärt im Interview, wie man als Dicke Diskriminierung begegnen kann.

Die Energien fürs Schlankbleiben können Frauen für Sinnvolleres verwenden. Die ARGE Dicke Weiber erklärt im Interview, wie man als Dicke Diskriminierung begegnen kann.

Dickendiskriminierung betrifft besonders Frauen. Einige dicke Frauen haben sich deshalb 2009 zur Arbeitsgemeinschaft Dicke Weiber zusammengeschlossen. Christine, Patricia, Bernadett und fünf weitere Frauen treffen sich seither jeden zweiten und vierten Freitag im Monat in der FZ-Bar (Frauenzentrum Wien), um Erfahrungen auszutauschen, sich selbst zu empowern und sich gesellschaftspolitisch zu positionieren. Sie sind links, feministisch, autonom. Sie setzen Aktionen wie ein Picknick am Antidiät-Tag, um zu zeigen, dass dicke Frauen sich nicht einschränken müssen, sondern alles dürfen, was sie machen wollen – auch in der Öffentlichkeit essen. Im Interview mit Martina Madner zeigen sie, wo man überall ansetzen muss, um das Bild von dicken Frauen zu verändern. Und dabei sind alle dicken Frauen herzlich willkommen.

progress: Es gibt Sängerinnen wie Beth Ditto von Gossip, Komikerinnen wie Hella von Sinnen oder Moderatorinnen wie Tine Wittler – sind dicke Frauen mittlerweile gesellschaftlich akzeptiert?

Patricia: Nein, sie sind in erster Linie Showfiguren. Sie erfüllen einen Zweck: Hella von Sinnen ist zum Beispiel die komische Figur. Sie ist lustig, man darf über sie Witze machen. Humor ist schon okay, aber: Man sollte sich selbst ernst nehmen, Frauen werden ohnehin viel zu oft lächerlich gemacht. Und Beth Ditto ist ein Showgirl, das auf der Bühne steht. Da ist viel erlaubt, teilweise ist es
sogar notwendig, zu überzeichnen, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Bernadett: Beth Ditto ist sicher eine Ausnahmeerscheinung. Sie macht vieles, was dicke Frauen und Mädchen sonst nicht können oder dürfen. Insofern hat sie eine Vorbildfunktion. Das ist ganz wichtig. Wenn junge Menschen keine Vorbilder haben, sehen sie weniger, was möglich ist.
Patricia: Dicke Frauen haben eingeschränkte Lebensbedingungen. Es wird ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir manches nicht machen können: Querstreifen oder Miniröcke tragen, baden gehen oder Sport betreiben. Wir sollen nichts machen, wo das Körperfett sichtbar ist oder zu sehr wackelt. Für das Selbstvertrauen ist es deshalb wichtig, zu sehen, dass ich alles darf.

Wie würdet ihr das Lebensgefühl als Dicke beschreiben?

Christine: Ich habe mich lange Zeit überhaupt nicht gemocht und als hässlich und unförmig empfunden. Das ist eine Phase, die sehr viele dicke Frauen haben. Da erzeugt jede Werbung oder Zeitschrift, die zeigt, du kannst schlank und schön sein, bei dicken Frauen das Gefühl, versagt zu haben, und es entsteht ein sehr negatives Körpergefühl. Jetzt bin ich darüber hinweg, akzeptiere mich, so wie ich bin. Nicht jede Frau kann Kleidergröße 36 haben, weil wir einen unterschiedlichen Körperbau und Stoffwechsel haben.
Bernadett: Ich bin nicht nur dicke Frau, sondern auch noch ganz viel anderes, deshalb ist das Dicksein alleine gar nicht so ausschlaggebend für mein Lebensgefühl.
Patricia: Der Frauenkörper wird generell gerne als Problemfeld gesehen: Dabei geht es nicht nur um Körperfett, sondern auch um die Behaarung, das Alter, alles, was mit dem Menstruationszyklus zusammenhängt. Man gewinnt den Eindruck, der Frauenkörper an sich ist abnorm. Bei dicken Frauen ist es nochmals sichtbarer. Ich habe mich sehr lange geschämt. Man versucht, sich vielen  Situationen nicht auszusetzen. Mit der ARGE Dicke Weiber wollen wir das verändern und gehen deshalb gemeinsam essen, baden oder tanzen, was dicke Frauen sonst alleine nicht machen.

Ihr beschreibt dick als dick – auch in der ARGE Dicke Weiber, warum?

Christine: Wir wollen „dick“ nicht umschreiben, sondern dem Wort seine negative Bedeutung nehmen. Dick ist ein Eigenschaftswort wie groß oder klein und als solches wollen wir es wieder gesellschaftsfähig machen.

Hohes Gewicht wird oft als Übergewicht bezeichnet, was bringt das mit sich?

Bernadett: Wir wehren uns gegen den Begriff Übergewicht, weil wer bestimmt, über welchem Gewicht wir nicht drüber sein dürfen? Wir ziehen deshalb keine Gewichtsgrenzen.
Christine: ÄrztInnen behandeln dicke Frauen schon alleine wegen ihres Gewichts wie Kranke. Oft wird gar nicht der Ursache der Gelenksschmerzen oder der Grippe nachgegangen. Man hört erst mal nur: „Nehmen Sie ab.“ So kommt es, dass manche gar nicht mehr zu ÄrztInnen gehen und das ist dann wirklich gefährlich. Wir wollen deshalb eine Liste mit dickenfreundlichen ÄrztInnen erstellen und freuen uns über jedes Mail, das uns dabei weiterhilft.
Patricia: Es ist auch schlichtweg falsch, vorzugaukeln, dass es nur ein normiertes Gewicht gibt, mit dem man krank oder gesund ist.

Kann Dicksein keine Krankheiten mit sich bringen?

Patricia: Gesundheit hat mit dem Gewicht nichts zu tun. Gesundheit hängt von ganz vielen Faktoren ab, in hohem Maße von Stress, schlechten Lebensbedingungen oder einfach auch von der Genetik. Krankheit trifft dicke genauso wie dünne Menschen.
Bernadett: Es wird uns vorgelogen, dass eine gesunde Ernährung auch gleichzeitig schlank macht. Diese Zusammenhänge werden oft von jenen hergestellt, die ästhetische Probleme mit Dicken haben und sich von Vorurteilen leiten lassen. Das gibt es auch bei MedizinerInnen und ForscherInnen.
Patricia: Forschung ist nicht neutral, sondern oft bezahlt. Man muss deshalb sehr genau schauen, wer von den Ergebnissen profitiert und ob mit Pillen oder Diäten Geschäft gemacht werden soll. Dabei gibt es längst Forschung zu „Health at every size“. ÄrztInnen könnten sich also von der Meinung, dick bedeutet krank zu sein, befreien. Stattdessen wächst der Bereich in der Medizin, der sich  rein mit Ästhetik beschäftigt, wie Schönheitsoperationen. Und das hat überhaupt nichts mehr mit Gesundheit zu tun.
                                                                                                                                                                                                                                     
Manche  meinen, alle wollen schlank sein, Dicke würden sich nur selbst belügen.

Christine: Nein, es wird uns suggeriert, dass alle schlank sein wollen müssen. Dicke werden als dumm, faul, unbeherrscht, ...
Bernadett: … dreckig und krank bezeichnet.

Christine: Gerade junge Frauen können deshalb oft gar nicht sagen, dass sie nicht schlank sein wollen.
Patricia: Solange man Diäten macht, heißt es: „Du bemühst dich.“ Sobald man aber offen sagt, ich bleibe so wie ich bin, merkt man, wie stark der Druck ist. Dann heißt es: „Du hast dich abgeschrieben, du lässt dich gehen, du schadest dir.“ Deshalb haben viele eine Hemmschwelle, zu uns in die Gruppe zu kommen, weil sie von anderen hören, dass sie sich aufgeben, wenn sie sich als dick  akzeptieren.
                                                                                                                                                                                                          
Wo macht sich Dickenfeindlichkeit besonders negativ bemerkbar?

Christine: In der Arbeitswelt werden vor allem junge, schlanke, schöne Frauen eingestellt – insbesondere dort, wo Frauen gesehen werden. Dicke Frauen dürfen in den Augen vieler Unternehmen offenbar nicht Repräsentantinnen sein.
Patricia: Auch im pädagogischen Bereich heißt es, dass dicke Frauen zum Beispiel als Kindergärtnerinnen keine guten Vorbilder sind.
Bernadett: An Dicken fehlt es auch im Gesundheitsbereich, es gibt keine dicken Trainerinnen.
Patricia: Ich habe mich früher mal als Kosmetikerin in einem Fitnesscenter beworben. Der Leiter hat mir gesagt, dass ich kein gutes Vorbild sei, weil ich nicht gesund sei. Auf meinen Einwand, dass ich ihm gerne meinen Gesundheitsstatus nachweise, hat er dann doch offen gesagt, dass es rein ums Optische gehe,  Gesundheit also nur ein Vorwand gewesen sein.

Disqualifizieren sich jene mit solchen Vorurteilen nicht selbst?

Christine: Leider ist diese Art von Vorurteilen gesellschaftlich anerkannt.
Patricia: Wir alle wachsen mit dieser  Ästhetik auf, bekommen vorgesagt, was gut aussieht und was nicht. Gerade, wenn man noch nicht gefestigt ist, sollte man sich beispielsweise Austria’s Next Topmodel nicht anschauen, weil es Ästhetik formt. Ich habe bemerkt, dass sich, wenn ich mir Bilder von starken, schönen, dicken Frauen ansehe, das, was ich schön finde, verändert. Vielfalt wird normal.
Bernadett: Es geht dabei auch um die Eigen- und Fremdsicht, die oft miteinander einhergehen. Deshalb versuchen wir das wieder voneinander zu trennen. Es ist wichtig, dass man sich selbst, wenn man in den Spiegel schaut, schön findet. Es geht nicht darum, sich von außen sagen zu lassen, dass man schön sei. Diese Bewertung „Du bist attraktiv oder nicht attraktiv“ steht anderen gar nicht zu.

Welchen Unterschied macht es, ob man dicke Frau oder dicker Mann ist?

Christine: Dicke Männer werden noch eher akzeptiert. Sie kommen zum Beispiel in Filmen öfter und auch mit attraktiven  Partnerinnen vor. Dicke Frauen dagegen sind oft dünne mit Fettanzug, sie sind eher Witzfiguren oder sie leiden unglaublich unter ihrem Gewicht.
Patricia: Im Bullen von Tölz sollte zum Beispiel die Kommissarin ausgetauscht werden, weil sie zugenommen hatte. Jung, erfolgreich, attraktiv und dick geht nicht zusammen. Auch in der Politik gibt es dicke Männer, aber kaum dicke Frauen.

Ändert sich das Schönheitsideal nicht laufend?

Patricia: Ja, aber es geht in Richtung Unisex und Einheitsmensch. Ich habe nicht den Eindruck, dass Vielfalt mehr Platz bekommt. PolitikerInnen sprechen immer öfter von Vielfalt, es gibt Gesetze gegen Diskriminierung.

Sorgt das für mehr Akzeptanz?

Christine: Ob sich PolitikerInnen gegen eine Art der Diskriminierung engagieren, hängt davon ab, wie modern oder schick die sogenannte Andersartigkeit ist.

Ist MigrantIn- oder Lesbischsein also cooler als Dicksein?

Patricia: Nicht für alle und es kommt darauf an, um wie viele MigrantInnen oder Lesben es sich handelt. (Lacht) Für eine einzelne  oder wenige setzt man sich ein. Aber Dicksein ist sicher nicht schick.
Christine: Witze bilden Gesellschaft sehr gut ab und zeigen den Unterschied: Witze über MigrantInnen oder Homosexualität sind in politisch reflektierten Kreisen verpönt, Witze über Dicke gelten aber durchaus als salonfähig.

Wo überschneiden sich Frauen- und Dickendiskriminierung?

Christine: Schlanke und dicke Frauen werden auf ihren Körper reduziert. Dickenfeindlichkeit wirkt sich also auch auf dünne aus,  weil diese oft in Panik leben, einmal dick zu werden. Und damit wird ein großer Teil der Energie ans Schlankbleiben gebunden, die Frauen für Sinnvolleres nutzen könnten.
Patricia: Dickendiskriminierung ist ein Teil des Schönheitsterrors, der betrifft alle, insofern ist es ein feministisches Thema. Bei der Diskriminierung durch Infrastruktur geht es auseinander: Wenn in U-Bahnstationen oder Cafés zu schmale Sessel ein normales Sitzen für Dicke verunmöglichen, schließt sie das speziell aus. Aber bei beidem gilt: Frau muss die Attraktivität und Lebenslust, die  in einer steckt, entdecken und sich lieben lernen. Ich bin das ja schon, ich muss es nur wissen.

Weitere Infos: argedickeweiber.wordpress.com

Martina Madner ist Journalistin und Moderatorin und hat Politik- und Kommunikationswissenschaft an der Uni Wien studiert.

Die Kunststücke des Lebens

  • 18.12.2012, 18:55

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Ruth Klüger über ihre Beziehung zu Österreich, Vertrauen und Eitelkeit.

Zur Linzer Premiere ihres Films kommt Ruth Klüger mit dem ICE von ihrem Zweitwohnsitz in Göttingen angereist, auf ihrem Kindle hat sie eine ganze Bibliothek gespeichert und kurz vor dem Treffen über die Situation der Frauen in Ägypten gelesen. Auf die Frage, ob sie das Interview autorisieren möchte, winkt sie ab: ,,Schicken Sie mir einfach das pdf – nicht die Printausgabe. Bücher sterben sowieso aus.’’ Dass progress-Redakteurin Vanessa Gaigg das nicht so sieht, findet sie konservativ.

progress: Am Anfang Ihres Filmes Das Weiterleben der Ruth Klüger steht das Zitat „Wiens Wunde, die ich bin, und meine Wunde, die Wien ist, sind unheilbar“ – wie fühlt sich das jetzt für Sie an, nach Österreich, nach Linz, zu kommen?

Klüger: Ich komm’ ganz gern her und rede mit Leuten wie Ihnen. Sie sind ja nicht mal mehr meine Kindergeneration, vielleicht meine Enkelgeneration. Linz kenne ich nicht so gut, abgesehen davon, dass es diese entsetzliche Euthanasieanstalt hier gab, die ich des Langen und Breiten besucht habe.

Sie meinen Hartheim?

Ja, dieses schöne Schloss, wo die ersten Gaskammern waren. Der Rest von Österreich ist mir überhaupt fremd, ich konnte den Dialekt auch nicht verstehen im Zug. Ich komm’ eigentlich aus Wien, ich komm nicht in dem Sinn aus Österreich.

Wie hat sich die Beziehung zu Wien verändert über die Jahre?

Das hat sich insofern verändert, als ich da jetzt Freunde habe. Das ist eine Gruppe von Frauen – es sind vor allem Frauen – die sich um die Zeitschrift AUF gebildet hat, die ja leider eingegangen ist. Aber wenn ich in Wien bin, gehe ich über gewisse Plätze und durch gewisse Straßen und man wird erinnert, dass man hier mit dem Judenstern herumgelaufen ist und ganz unsicher war, nicht  hergehört hat. Das geht nicht weg.

Im Film sieht man auch, wie Sie Ihre alte Wohnung besichtigen.

Ja, weil mein Sohn darauf bestanden hat. Aber wir konnten nicht rein, Gott sei Dank.

Der Kontrast, der Sie vor allem interessiert, ist der zwischen Opfer und Freiheit und nicht der zwischen Opfer und Täter. Wann haben Sie zum ersten Mal in Ihrem Leben das Gefühl erreicht, frei zu sein?

Zum ersten Mal in meinem Leben ... Das war, als wir weggelaufen sind, von diesem Todesmarsch nach Bergen-Belsen. Das war ein großes Gefühl von Freiheit. Man beherrscht dann eine Situation, nicht nur in der Wirklichkeit, sondern auch geistig – dass man sich über die Dinge erheben kann. So, dass man nicht gebunden ist an die Täter.

Ist es wichtig, sich nicht als Opfer fühlen zu müssen?

Naja, das Opfer wird bemitleidet und als minderwertig angesehen. Und das will man natürlich nicht sein. Aber wenn Opfer einfach bedeutet, dass einem was angetan wurde, dann kommt man nicht hinweg über diesen Begriff. Aber: Man ist noch was anders. Man ist vor allem was anderes. Ich sag ja: Ich stamm’ nicht aus Auschwitz, ich stamm’ aus Wien. Wien bedeutet mir etwas, aus Wien hab ich was gemacht. Wien ist ein Teil meiner Eigenständigkeit. Aber Auschwitz nicht. Das ist der Opferteil. Und den lehn ich ab, als mir nicht zugehörig.

Als Sie und Ihre Mutter nach Amerika emigriert sind, da gab es keine Anlaufstelle oder Möglichkeit, das Erlebte mit Hilfe zu  verarbeiten.

Ja, das war eine schwere Zeit. Ich hatte das weggeschoben, was in Europa passiert ist. Und wollte einfach nur weiter, neu anfangen. Es ist alles auf mich zugekommen, Erinnerungen, Schuldgefühle, außerdem hab ich mich mit meiner Mutter nicht gut verstanden.

Ihre Mutter hat ja bis zu ihrem Tod Angst gehabt, wenn sie amerikanische PolizistInnen sah, weil sie glaubte, dass sie sie deportieren.

Sie ist paranoid geblieben bis zum Tod, aber hat ganz gut damit gelebt. Das weiß man auch oft nicht, dass die Leute, die so halb verrückt sind, ganz gut auskommen mit ihrer Verrücktheit. Meine Mutter hat New York gehasst.

Sie haben bereits als Kind Gedichte auswendig gelernt ...

Und verfasst!

... wie kam der Zugang zur Literatur so früh, wurde der familiär gefördert?

Das hat dazugehört. Ich hab angefangen mit Kinderversen. Wissen Sie, in so einem mittelständischen jüdischen Haushalt waren die Bücher einfach da.

Können Sie sich noch an Kinderbücher erinnern, die Sie gelesen haben?

Ja klar, Biene Maja und Bambi und Hatschi Bratschi – wie hieß das nur?

Luftballon?

Ja siehst du wohl – da fliegt er schon! Das war ein Nazi, der das geschrieben hat. Das hab’ ich vor einigen Jahren herausgefunden, sehr zu meinem Betrübnis. Das war so ein lustiges Buch, der konnte das. Und dann hab ich immer klassische Gedichte oder  Antologien von klassischen Gedichten gelesen. Wörter zu lernen, die man nicht versteht, das hat mich überhaupt nicht gestört. So wie man ja auch Unsinnwörter als Kind ganz gern hat.

Warum glauben Sie, dass die Kindheit so eine große Bedeutung hat?

Naja, weil ich eine Freudianerin bin. Das hat Freud entdeckt, und vorher hat man es nicht so richtig gewusst. Das ist die Wurzel von allem, man kommt nicht darüber hinweg. Freud hat gedacht, bis zum Alter von sechs, aber das geht noch weiter. Ich glaub’, da hat er die Grenze zu eng gezogen. Man hat ja früher gedacht, alles was vorgeht, bevor man so ein richtiges Verständnis hat, ist  unwichtig.

Sie beschreiben Ihre unterschiedlichen Wohnorte zwar oft als vertraut, so auch ihren Zweitwohnsitz in Göttingen, aber trotzdem schreiben Sie in ,,unterwegs verloren’’, dass man sich nirgendwo ganz wohlfühlen sollte. Wieso?

Schreib ich das?

Ja, ich habe es so interpretiert, dass man nie allen Menschen völlig vertrauen sollte, egal, wie wohl man sich fühlt.

Einerseits muss man vertrauen, wenn man überhaupt nicht vertraut, dann ist man verrückt. Das war das Problem meiner Mutter, sie hat nicht genug Vertrauen gehabt. Ich will das nicht überkandidln, aber wenn man einem Menschen gegenüber steht, musst du ihm glauben, außer, du hast einen Grund dazu, es nicht zu tun. Alles andere ist abwegig. Das steckt auch dahinter, wenn Kant so absolut gegen die Lüge  ist. Das ist das Verbrechen schlechthin. Weil die Gesellschaft nur zusammenhält, wenn man einander vetraut. Und andererseits besteht eben die Notwendigkeit, Zweifel zu hegen und zu hinterfragen. Und das auszubalancieren ist eines der großen Kunststücke des Lebens.

Für jede Person?

Für jede Person! Aber wenn man zu einer Minderheit gehört, die verfolgt wurde, dann steckt natürlich ein Misstrauen in einem, zu Recht.

Sehen Sie Feminismus immer noch als Notwendigkeit an?

Ja sicher, das ist ganz klar. Die meisten Studierenden der Geisteswissenschaften sind Frauen und die Professoren sind Männer. Bei der Belletristik ist das haaresträubend: Die meisten Leser sind Leserinnen, die meisten Rezensenten – jedenfalls für wichtige Bücher –  und Herausgeber von Zeitschriften sind natürlich Männer. Aber das weltweite Problem ist weibliche Versklavung. Damit meine ich  diese Massen von Mädchen, Kindern, aber auch erwachsenen Frauen, die Sklavenarbeit verrichten müssen oder sexuell  missbraucht werden. Das ist ein Problem, das in diesem Ausmaß früher nicht bestanden hat. Das geht uns was an. Und ich meine  eben, dass jede Missachtung von Frauen, jeder sexistische Witz und jede Form von Missachtung schon die Wurzel und die Grundlage bildet für die massivere Ausbeutung von Frauen auf anderen Gebieten. Und darum ist es wichtig, dass man auch Sprache kontrolliert. Ich bin immer schon für political correctnes. Das bedeutet ja eigentlich nur, dass man die Leute nicht beleidigt.

In Österreich ist political correctness ganz verpönt.

Ja ich weiß, aber verpönt sein sollte die political incorrectness.

Sie haben im Film angesprochen, dass sie mit dem sozialistischen Bewusstsein aufgewachsen sind, dass Schönheit bei einer Frau keine große Rolle spielen sollte. Welche Rolle spielt das jetzt mit 81?

(lacht) Dass ich meinen Lippenstift nicht finden kann und ihn auch nie verwende. Ja, mit 81 spielt das natürlich keine Rolle mehr. Warum sollte man sich schön machen wollen mit 81?

Warum vorher?

Auch nicht besonders. Das hat bei mir nie so eine Rolle gespielt, so dass ich meistens als verschlampt galt. Oder unrichtig angezogen. Ich frag’ lieber meine Freundinnen, was man sich anziehen soll. Das hat sicher auch was mit diesem frühen sozialistischen Bewusstsein zu tun, dass von den Menschen ausging, die ich auch im Lager, besonders in Theresienstadt, gekannt hab. Das waren Sozialisten und Zionisten. Dieses Jagen nach Schönheitsidealen ist etwas Bürgerliches, das abgeschafft werden soll,weil es sich nicht lohnt.

Das heißt, Sie haben ein sozialistisches Umfeld gehabt?

Ja, wenn Sie so wollen, hab ich dort irgendwie eine Grundlage für ein politisches Denken aufgegabelt, die weitergewirkt hat. Aber das war schwer zu sagen, weil wir sind nach Amerika gekommen und der Umkreis dort war liberal-demokratisch und jüdische Emigranten waren doch alle Roosevelt-Bewunderer.

Was stört Sie eigentlich an ,,Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus“?

Weil’s wieder geschehen ist. Man sagt „Nie wieder“ und dann schauen Sie sich mal all die Massaker an, die inzwischen passiert sind. Es ist absurd zu sagen, es soll nicht wieder passieren. Und das andere ist, dass das Gedenken abschrecken soll von  Wiederholungen. Aber das kann auch das Gegenteil sein, nämlich dass die Erinnerung an das, was geschen ist, auch die Neonazis inspiriert. Die sagen: Diese SS-Leute waren doch fesch! Sie schauen mich entsetzt an, das ist aber schon passiert. Der Leiter der Buchenwald-Gedenkstätte hat mir mal gesagt, dass die Neonazis nach Buchenwald gekommen sind, um ihre Versammlungen dort zu haben. Und man konnte sie nicht rausschmeißen, denn man kann ja nicht die Öffentlichkeit aussperren. Das war zumindest kurze Zeit lang ein Problem.

Das heißt, man muss der Gedenkkultur kritisch gegenüberstehen?

Mir geht das Getue an den Gedenkstätten ein bisschen auf die Nerven. Ich sehe die Heroisierung der Opfer, der Helden und Märtyrer irgendwie als falsch und verlogen an. Ich habe schon Leute empört, wenn ich sowas gesagt habe. Ein KZ war ein Saustall, eine Jauche. Das ist weder heroisch noch märtyrer-artig. Und das will man nicht hören, aber so ist meine Erinnerung.

Sie finden ja auch die Glorifizierung des Widerstands oft verlogen.

Über den Widerstand ist einiges zu sagen. Dort, wo Widerständler die Oberhand hatten, zum Beispiel in Buchenwald, hatten sie oft Gelegenheit, die Listen zu verändern, die in Vernichtungslager geschickt wurden. Und da haben sie natürlich ihre eigenen Leute geschützt und lieber Juden geschickt. Außerdem ist es ihnen überall besser gegangen, außer natürlich, wenn sie erschossen oder zu Tode gequält wurden. Aber wenn man sich Filme ansieht von der Befreiung von gewissen Konzentrationslagern, einschließlich Buchenwald, natürlich waren da alle Häftlinge verhungert, aber die Juden waren wirklich am Rande des Todes. Das andere, das ideelle daran ist, dass die Veherrlichung des Widerstands dazu führt, dass das Ausmaß des Widerstands übertrieben wird.

Es ist also auch gefährlich, wenn man sich dann im Nachhinein Schuld abladen kann, indem man daran glaubt, dass es genug oder viel Widerstand gab.

Ja. Dachau war das erste Lager, das erste KZ in Deutschland, und da war eine ganze Reihe von Politischen, aber später auch eine ganze Menge Juden. Und die werden irgendwie beiseite geschoben. Bei einem Treffen des Vorstands (Anm.: der Gedenkstätte Dachau) wurde darüber gesprochen, dass man sich hüten muss vor der ,,Auschwitzisierung’’ von Dachau. Also bitte dieses Wort ,,Auschwitzisierung’’, das heißt, dass Dachau als jüdisches Lager betrachtet wird. Was sind das für Konflikte, die da aufkommen?
Von wegen: Wer waren die ärgeren Opfer oder die bewundernswerteren Opfer? Das Ganze ist ja eine Frage, wie sowas zustande kommen kann und konnte, und was das über uns als Menschen aussagt, dass es geschehen ist.

Wie fühlt sich das an, wenn Zivildiener für die Instandhaltung der ehemaligen KZs verantwortlichsind?

Ich hab jetzt nichts mehr mit ihnen zu tun. Früher hab ich mit verschiedenen gesprochen, die das wahnsinnig ernst genommen haben. Aber ich konnte es nicht recht ernst nehmen. Aber ich respektiere das, dass sich so viele junge Leute damit auseinandersetzen wollen. Wenn sie es ernst meinen und darüber nachdenken wollen, wird vielleicht doch eine bessere Welt entstehen.

Viele Leute unserer Generation haben Angst davor, dass es in absehbarer Zeit keine Möglichkeit mehr gibt, mit ZeitzeugInnen zu reden.

Ja ich weiß, das wird fortwährend gesagt. Darum bin ich auf einmal so beliebt geworden, weil niemand weiß – ich bin 81 –, ob ich noch 82 sein werde. Das ist mit uns allen so. Aber ist es wirklich derartig wichtig? Die Vergangenheit wird in das Bewusstsein der nächsten Generation eingearbeitet, und was diese Generation damit macht, ist nicht vorauszusagen. Die Überlebenden der KZs haben weiß Gott genug gesagt und geschrieben. Nicht gleich – nicht in den ersten Jahren, aber danach. Und wenn es darauf ankommt, das Zeugnis derjenigen, die es mitgemacht haben, zu bewahren: Das haben sie. Aber es ist ein Problem, über das man natürlich nicht aufhören sollte, sich den Kopf zu zerbrechen.
Das, was mich nach wie vor immer umtreibt, ist, warum gerade in Deutschland und Österreich? Das waren doch Länder, die ganz hoch gebildet waren. Als hätte man nichts gelernt in der Kindheit. Das war nicht Unwissenheit. Das ist übrigens eines der Dinge, die mich stören an diesem beliebten Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink. Da ist das Problem, dass die Verkörperung des Nazismus durch eine Analphabetin erfolgt. Und Analphabetismus hat es praktisch nicht gegeben in Deutschland. Das heißt, die Implikation ist irgendwie, dass Unwissenheit ein Grund war. Aber das war nicht der Fall. Warum ist Antisemitismus in dieser Mordsucht ausgeartet, gerade in Deutschland? Wenn Sie das herausfinden können, philosophisch oder historisch, das wär’ was.

Es gibt ja HistorikerInnen, die behaupten, die Shoah hätte in jedem Land stattfinden können.

Ja, aber sie hat nicht. Das ist der Punkt. Sie hätte können in dem Sinne, dass es überall Antisemitismus gab und zwar oft virulenten, schäumenden Antisemitismus, aber Tatsache ist, dass er nicht ausgeartet ist in Massenmord.

In Israel gibt es viele junge Menschen, die sich die KZ-Nummern von ihren Großeltern eintätowieren lassen.

Ich hab das gehört, das ist irre. Das ist eine Mode, die ich ablehne.

Die Anschrift der Universität Wien hat ja bis vor kurzem noch Karl Lueger im Namen getragen.

Ich habe mich vor langer Zeit aufgeregt über diese fortwährende Bewunderung für den Lueger. Er hat ja noch immer dieses blöde Denkmal am Karl Lueger Platz, nicht? Zumindest eines weniger!

Im Film gibt es eine Szene, wo Sie mit einem langjährigen Freund, Herbert Lehnert, diskutieren. Der war Wehrmachts-Soldat.

Ja, und ein Nazi, sagt er selber. Wie kann man da befreundet sein? Er ist es ja schon längst nicht mehr. Der ist durch die amerikanische Re-education völlig bekehrt und kein Faschist. Das ist ein guter Demokrat, aber es steckt eben noch immer  irgendwas in ihm – das diese Vergangenheit nicht vertuschen will – aber ein bisschen leichter machen will. Und darüber sprachen wir eben in der Filmszene, wie wir herumgelaufen sind am Strand. Um diese Stelle noch einmal zu rekapitulieren: Er sagt: ,,Die Nazizeit war nur eine Epoche von zwölf Jahren in einer Geschichte, die 1200 Jahre alt ist.“ Meine Antwort darauf wäre: Wenn ein 40Jähriger vor Gericht steht und sagt: Ich habe nur einen Nachmittag gebraucht, um meine Familie und die Nachbarn umzubringen, und der Rest meiner vierzig Jahre war ich unschuldig, so ist das eigentlich kein Alibi. Das hängt von der Tat ab und nicht von der Länge. Die Nazizeit ist ein gewaltiger Einschnitt in die deutsche Geschichte und es ist nicht eine Frage, wieviele Jahre sie angedauert hat. Wir haben verschiedene Perspektiven. Aber: Haben Sie nicht schon genug? Ich glaub’ ich bestell jetzt diese Grünkernknödel mit rotem Rübengemüse.

Das war wirklich meine letzte Frage. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Vanessa Gaigg.

Anonym und kostenlos

  • 09.12.2012, 18:53

Zehn Mitarbeiterinnen sitzen schichtweise am anderen Ende dieser Nummer: 0800 222 555. Seit 1998 gibt es die bundesweite Frauenhelpline. Sie bietet Beratung kostenlos, rund um die Uhr und mehrsprachig. progress traf die Telefonberaterin Angelika Eisterer an ihrem Arbeitsplatz.

Zehn Mitarbeiterinnen sitzen schichtweise am anderen Ende dieser Nummer: 0800 222 555. Seit 1998 gibt es die bundesweite Frauenhelpline. Sie bietet Beratung kostenlos, rund um die Uhr und mehrsprachig. progress traf die Telefonberaterin Angelika Eisterer an ihrem Arbeitsplatz.

In dem Büro stehen ein Schreibtisch mit Telefon und Computer, Ordner und zwei Betten. „Für die Nachtschichten, für den Fall dass es vielleicht länger keine Anrufe gibt“, sagt Angelika.

progress: Wie viele Anrufe kommen denn so im Schnitt?

Eisterer: Laut unserer jährlichen Statistik sind es durchschnittlich etwa 30 Anrufe am Tag mit 24 Stunden. Ein Tag besteht aus drei Diensten und das verteilt sich eben auch. Es gibt Zeiten, in denen es ganz dicht ist und dann gibt es wieder Zeiten, in denen es vielleicht einen Anruf in der Schicht gibt und wenn man das nicht statistisch erfasst, dann merkt man das als Beraterin nicht, wie viele Anrufe es sind. Man kriegt eher mit, heute ist ein heftiger Tag oder heute ist ein ruhigerer Tag.

progress: Und wenn in einer heftigen Zeit die Leitung besetzt ist?

Eisterer: Das sollte natürlich nicht passieren, aber wenn, dann gibt es einen Spruch am Tonband, das sagt: „Die Beraterin ist gerade in einem Gespräch. Bitte rufen Sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder an“. Wir rufen nicht zurück, obwohl wir eigentlich die meisten Nummern sehen, weil die übertragen werden. Aber wir sind anonym und eine Helpline, darum rufen wir aus Prinzip nicht zurück.
Oft kann es ja so sein, dass das Handy oder Telefon von der Familie benutzt wird und dann geht vielleicht der Mann dran oder wer anderer, was natürlich auch problematisch oder sogar gefährlich für die Anruferin sein kann.

progress: Wer ruft denn alles an?

Eisterer: Es ist ein Teil direkt betroffener Frauen, ein anderer Teil sind Frauen oder auch Männer aus dem sozialen Umfeld. Manchmal sind das Leute, die sagen, sie kennen wen. Das sind dann sowohl Frauen als auch Männer, die einfach für eine bestimmte Frau eine Unterstützung wollen. Es gibt auch einen sehr geringen Teil an Männern oder Tätern, die tatsächlich Hilfe für sich wollen und auch Männer, die Opfer sind.

progress: Gibt es auch feindlich gesinnte Anrufe?

Eisterer: Ja, auch. Es gibt einen gewissen Teil derjenigen, die meiner Meinung nach in ein Täterprofil hineinpassen. Das sind eben sozusagen klassische Täter, die uns beschimpfen wollen, oder sich irgendwie rechtfertigen wollen. Das geht hin bis zu laufenden Belästigungen.

progress: Sind auch Vaterrechtler dabei?

Eisterer: Die gibt es auch, die anrufen, ja. Ich weiß natürlich immer nur das, was am Telefon thematisiert wird, aber natürlich. Wenn sie davon anfangen, merkt man da natürlich schon die Richtung. Ich merke persönlich, dass ich meinen Beratungsstil etwas geändert habe, seitdem sie gesellschaftspolitisch einen starken Aufwind bekommen haben.

progress: Inwiefern?

Eisterer: Bei vielen unserer Gesprächen mit Frauen geht es auch um das Thema Obsorgeregelungen, also auch um juristische Beratung. Oft, bevor eine Frau in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen, muss Rechtliches geklärt werden. Bei Scheidung und Trennung spielt oft  die Sorge um das Kind bzw. um die Kinder eine große Rolle. Frauen haben oft Angst ihre Kinder zu verlieren,  was durch Väter, die stark um ihre Rechte kämpfen, auch passieren kann. Vor der Obsorgedebatte hab ich diesen Frauen noch sagen können, sie hätten da wenig zu befürchten, aber nun und auch zukünftig kann ich ihnen das nicht mehr so bestimmt vermitteln, weil nicht mehr sie, sondern RichterInnen entscheiden können und entscheiden werden. Das bringt Frauen in eine sehr große Unsicherheit  – oder in die Ausweglosigkeit beim Gewalttäter bleiben zu müssen, weil sie denken, dann können sie wenigstens noch mit dem Kind zusammen sein. Ich merke da schon, dass sich da der politische Wind gegen Frauen ordentlich gedreht hat.  Diese Situation ist für Frauen sehr belastend, aber auch für uns.

progress: Wie geht es denn nach einem Anruf weiter?

Eisterer: Wir sind ja für ganz Österreich zuständig und haben hier eine dicke Mappe am Tisch liegen, wo sämtliche Beratungsstellen österreichweit drinnen stehen, nach Thema geordnet, damit wir sie natürlich schnell finden.
Grundsätzlich gilt es erst einmal, das Anliegen zu klären. Am Telefon find ich das noch schwieriger als in der persönlichen face-to-face Beratung, weil Menschen in der Krise natürlich nicht geordnet erzählen. Da muss man natürlich zuerst herausfinden, was ist jetzt der Problemfall. Was ist jetzt und was ist in der Vergangenheit passiert. Dann geht es in erster Linie natürlich immer um die Sicherheit. Das heißt, es geht darum zu klären, liegt eine akute Gefährdung vor und was kann dagegen getan werden. Da kommen de facto eigentlich immer nur zwei Sachen ins Spiel. Das eine ist die Polizei zu rufen und die andere Möglichkeit ist, selber wegzugehen wie etwa in ein Frauenhaus. Wenn es sich um keine akute Situation handelt, dann kann die Beraterin mit der Anruferin einen Sicherheitsplan besprechen für den Fall, dass es wieder gefährlich werden wird, wie kann sie sich und ihre Kinder schon im Vorfeld davor schützen, wen kann sie miteinbeziehen, einweihen.
Manchmal rufen auch Frauen aus ländlichen Gegenden an, wo es rundherum oder in der Nähe keine Hilfseinrichtung gibt, die sie aufsuchen könnte. Für diese Frauen ist die Frauenhelpline besonders wichtig, damit sie sich Hilfe holen können.

progress: Warum bist du Telefonberaterin geworden?

Eisterer: Ja, also ich bin Psychologin und Sozialarbeiterin, wobei wir hier im Team ganz unterschiedliche Fachkompetenzen haben. Wir haben Psychologinnen,  Sozialarbeiterinnen und Frauen, die aus ganz unterschiedlichen beruflichen Kontexten kommen und langjährige Gewaltexpterinnen sind, weil sie bereits in adäquaten Hilfseinrichtungen gearbeitet haben. Wir haben auch Beraterinnen, die auf Arabisch, Englisch, Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, Rumänisch und Türkisch beraten können.

Ich persönlich habe die letzten Jahre im Gewaltschutzzentum in Niederösterreich gearbeitet, wo ich viele gewaltbetroffene Frauen und Kinder beraten habe. Ich bin seit zwölf Jahren Sozialarbeiterin und ich kennen viele Formen von Gewalt, ich war beim Jugendamt und in der Flüchtlingsarbeit tätig. Ich kenn das Thema Gewalt von verschiedenen Seiten. Ich verfüge durch meine langjährige Tätigkeit über ein umfassendes Wissen, auch über das Netz an Einrichtungen, die Hilfe anbieten. Dieses Wissen aus der Praxis ist für die telefonische Beratung bei der Frauenhelpline sehr hilfreich und nützlich. Im Vergleich zur Arbeit im Gewaltschutzzentrum, wo ich Frauen zur Polizei, zum Gericht und zu sonstigen Stellen begleitet habe, was oft sehr zeitaufwendig und stressig war, ist die Arbeit bei der Frauenhelpline etwas weniger belastend, aber ebenfalls sehr sinnvoll und erfüllend für mich, weil ich den Frauen mein praktisches Wissen und die Erfahrungen gut und kompetent vermitteln kann.

progress: Wie sieht der der normale Tagesablauf aus?

Eisterer: Es gibt zwei Tagdienste von 8.00 bis 14.00 Uhr  und von 13.30 bis 19.30 Uhr. Die Nachtschicht geht von 19.00 bis 8.30 Uhr. Wie man sieht, gibt es da immer eine halbstündige Übergabezeit, wo man mit den Kolleginnen alle Anrufe bespricht und weitergibt. Ausführliche Besprechungen gibt es bei den wöchentlichen Teamsitzungen, bei denen es zu ausführlichen „Fallbesprechungen" kommt. Vor allem die sogenannten Mehrfachanruferinnen, also Frauen, die öfter anrufen müssen, weil sie sich in einer Krise befinden und laufend Hilfe brauchen. Einige Frauen begleiten wir schon seit mehreren Jahren. Das sind Frauen, die aufgrund von ihren Gewalterfahrungen psychisch oder psychiatrisch erkrankt sind und die die Frauenhelpline als wichtige Stütze sehen, um ihren Alltag  bewältigen zu können.

progress: Wie wird da die Anonymität gewahrt?

Eisterer: Wir dokumentieren jeden Anruf, wo wir bestimmte Daten festhalten, die für uns intern relevant sind bzw. die uns die AnruferIn mitteilt. Wie etwa das Geschlecht, das Alter und die Herkunft der AnruferIn und welche Anliegen am Telefon besprochen werden, welche Hilfe wir angeboten haben und wie oft sie schon angerufen hat. In den meisten Fällen haben wir keine Namen, was auch nicht notwendig ist. Frauen die öfters bei uns anrufen bekommen von uns Bezeichnungen wie „Frau aus Wels“, dann können wir uns untereinander darüber verständigen und orientieren, ob es sich um eine langjährige Anruferin handelt. Wir bieten auch eine E-Mail-Beratung an.

progress: Treffen Sie die Langzeitanruferinnen auch persönlich?

Eisterer: Nein, nie.

progress: Prinzipiell?

Eisterer: Ja, wir sind eine reine telefonische Beratungsstelle für ganz Österreich und unsere Adresse wird nicht öffentlich genannt, aus Sicherheitsgründen.  Wir bekommen genug belästigende Anrufe und wir wollen nicht, dass plötzlich jemand vor der Tür steht.

 

„Die Nummer 0800/222 555  soll in jedem Haushalt bekannt sein“, sagt Maria Rösslhumer, Leiterin der Frauenhelpline.

Die Webseite der Frauenhelpline.

Eine von fünf

  • 05.12.2012, 14:56

Im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen wird heuer zum dritten Mal die Lehrveranstaltung „Eine von fünf“, vom 26.11 - 07.12, veranstaltet. Lisa Zeller besuchte die Vorlesung und sprach mit den Initiatorinnen.

Im Rahmen der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen wird heuer zum dritten Mal die Lehrveranstaltung „Eine von fünf“, vom 26.11 - 07.12, veranstaltet. Lisa Zeller besuchte die Vorlesung und sprach mit den Initiatorinnen.

Gleich vier erschütternde Ereignisse unterstreichen die Aktualität des Themas: Zeitnah zum und am 25. November, dem Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, wurden zwei Tötungsdelikte in Wien und zwei Mordversuche an Frauen in Niederösterreich verübt. „Eine derartige Häufung von dramatischen Vorfällen gab es  noch nie“, sagt Mag.a Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin vom Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser und Initiatorin der Vorlesung.

Gerade als Andrea Berzlanovich die Frage stellt, ob diese massiven Übergriffe verhindert werden hätten können, stürmt ein Mann in den Hörsaal und brüllt eine abseits des Podiums sitzende Frau an: „Wo warst du? Vier Anrufe in Abwesenheit und du hebst nicht ab!“. Verwirrung und Betroffenheit macht sich im Hörsaal breit. Verängstigt versucht die Frau sich zu rechtfertigen. Doch er schreit weiter, bis sie schließlich aus dem Raum flüchtet. Seine drohenden Rufe: „Wo bist du!?“, lassen keinen positiven Ausgang erwarten. Die Gerichtsmedizinerin deutet an: „So oder ähnlich kann es sich auch in den vier Familien zugetragen haben, bevor es zu den Bluttaten gekommen ist“. Die unter die Haut gehende Szene wurde von den beiden SchauspielpatientInnen Doris Buchner und Hagnot Elischka nachgestellt. Die Thematik „Häusliche Gewalt“ wird während der Ringvorlesung also nicht nur theoretisch, sondern ebenso praktisch behandelt.

Mehr als nur Frauenhaus. Natürlich könne sie nicht beantworten, ob diese Gewalttaten hätten verhindert werden können, meint Mag.a Maria Rösslhumer. Die Polizei ermittle, ob es schon im Vorfeld Anzeichen für Gewalt gegeben habe. Einer der Täter sei bereits einmal nach dem Sicherheitspolizeigesetz verwiesen worden.

Die 30 Frauenhäuser in Österreich haben 759 Plätze für gewaltbetroffene Frauen und Kinder. Gemessen an der EinwohnerInnenzahl fehlen für die Erreichung der EU-Empfehlung allerdings 71 Plätze. Insgesamt fanden im vergangenen Jahr in den österreichischen Frauenhäusern 3371 Frauen und Kinder Schutz und Unterstützung. Davon waren knapp mehr als die Hälfte Migrantinnen. „Dies liegt aber nicht daran, dass Frauen mit Migrationshintergrund öfters von Gewalt betroffen seien, sondern daran, dass sie sich eher seltener an die Polizei wenden.", erklärt Rösslhumer. „Die Gründe dafür sind vielfältig, sei es aus Angst, nicht ernst genommen zu werden oder weil sie schlechte Erfahrungen gemacht haben oder aus Angst abgeschoben zu werden", fügt sie hinzu.

Frauenhäuser bieten auf Wunsch kostenlose Prozessbegleitung zu Polizei und Gerichten an. Der Verein selbst betreibt auch eine kostenlose Telefonberatung. Außerdem arbeitet der Verein umfassend im Bereich der Prävention und versucht, die jungen (potentiellen) Opfer von Gewalt zu erreichen, etwa mit Empowerment-Workshops für Kinder und Jugendliche an Schulen, in denen diese gegen Gewalt in der Familie gestärkt werden sollen. Vor allem sollen die TeilnehmerInnen den Unterschied zwischen Konflikt und Gewalt  klar erkennen. Hierbei ist die Grenze nicht so leicht zu ziehen, zumal es verschiedene Formen von Gewalt gibt: psychische, physische, sexuelle und soziale Gewalt.

Außerdem werden auch Workshops für die LehrerInnenschaft angeboten. Hier zeigte sich, dass viele der teilnehmenden LehrerInnen beruflich bereits mit dem Thema konfrontiert und daher nahezu alle der Ansicht waren, dass die Gewaltproblematik fix in deren LehrerInnen-Ausbildung integriert werden sollte.

Gewalt an Frauen trifft auch Kinder. Die Wichtigkeit der Arbeit mit und für Kinder verdeutlicht Mag.a Dr.in Barbara Schleicher von der Gesundheit Österreich GmbH. Sie geht auf die gesundheitlichen Auswirkungen von Gewalt auf Frauen und Kinder ein. Gewalt gegen schwangere Frauen wirkt sich auf die ungeborenen Kinder aus. Nach einer deutschen Prävalenzstudie haben gewaltbetroffene Schwangere ein höheres Früh- und Fehlgeburtenrisiko sowie Ess- und Schlafstörungen. Die Kinder werden häufig mit einem niedrigeren Gewicht geboren.

„Da häufig Ärztinnen und Ärzte die ersten und die einzigen Ansprechpersonen für Opfer sind, ist das Erkennen von Gewalt nicht nur ausschlaggebend für die konkrete Unterstützung in der Notsituation, sondern auch für die Aufklärung der Gewalttat“, meint Berzlanovich.

Dies war auch die Motivation, die Vorlesungsreihe an die Medizinische Universität zu bringen. „Österreich ist ein Vorbild, wenn es um Opferschutzgesetze, Unterstützung- und Beratungseinrichtungen geht, aber leider zählt die gesundheitliche Versorgung der Gewaltopfer noch nicht dazu“, sagt Schleicher. „Es ist eine Tatsache, dass MitarbeiterInnen aus Praxen und Krankenhäusern die Probleme gewaltbetroffener Patientinnen nicht lösen und die Gewaltsituation nicht beenden können, aber sie können, sollen und müssen als Nahtstelle zwischen den Opfern und spezialisierten Unterstützungseinrichtungen fungieren.“ Die Wahrnehmung einer gewaltbedingten Verletzung seitens der Ärztinnen und Ärzte, eine gerichtstaugliche  Dokumentation sowie die Vermittlung an frauenspezifische Einrichtungen helfen den Frauen enorm. Aber die Patientin muss damit einverstanden sein.

Über Generationen hinweg. Über 90% der Kinder sind bei Misshandlungen  der Mutter anwesend. Viele Kinder und Jugendliche, die sich schützend vor die Mutter stellen, erfahren  dabei selbst Gewalt. Gewalt ist über Generationen hinweg beobachtbar. „Während Söhne aus gewalttätigen Herkunftsfamilien später dazu neigen, selbst Gewalt als Durchsetzungsmittel anzuwenden, sind Mädchen stärker gefährdet, Partnergewalt zu tolerieren“, sagt Schleicher. Jede Gewalterfahrung hat Auswirkungen auf die kognitive und emotionale Entwicklung der Kinder und kann sich in Verhaltensauffälligkeiten wie pathologischem Lügen, Schutzbehauptungen, autodestruktive Tendenzen sowie in Bindungsstörungen bemerkbar machen. „Gewalt gegen Frauen zieht sich quer durch alle sozialen Schichten und  ist im Sozialbau ebenso wie in der Prominentenvilla anzutreffen“, erklärt die Gastvortragende. 

365 Tage gegen Gewalt. Die interdisziplinäre Vorlesung „Eine von fünf. Gewalt und Gesundheit im sozialen Nahraum“ trägt ihren Namen aufgrund der Tatsache, dass jede fünfte Frau in Österreich in ihrem Leben von Gewalt in einer Beziehung betroffen ist. Zuerst fand die Lehrveranstaltung an der Politikwissenschaft, dann an der Rechtswissenschaft ihren Platz, erst im WS 2010/2011 erreichte das Thema durch Gerichtsmedizinerin Berzlanovich die Studierenden der Medizin. „Ziel ist es, angehende MedizinerInnen für das Thema zu sensibilisieren. Ich wünsche mir aber, dass sich auch Kolleginnen und Kollegen im niedergelassenen Bereich und in den Krankenhäusern eingehender informieren“.

Sie schätzt es sehr, dass sich über 100 TeilnehmerInnen aus unterschiedlichsten Studienrichtungen und Berufen angemeldet haben. Das korreliere ausgezeichnet mit der interdisziplinär ausgerichteten Vorlesungsreihe und sei eine gute Basis, um das gemeinsam Erarbeitete für die berufliche Tätigkeit entweder unmittelbar oder in der Zukunft zu nützen.

Die Lehrveranstaltung dieser Art ist österreichweit bislang die einzige. „Eigentlich wollen wir sie in ganz Österreich anbieten“, sagt Rösslhumer. Bei ihren Anfragen sei sie allerdings nicht auf große Begeisterung gestoßen, da viele Universitäten der Ansicht seien, dass ohnehin genug in diesem Bereich passiere. „Vielleicht probieren wir es nächstes Jahr wieder einmal“, fügt sie hinzu.

Die 16 Tage gegen Gewalt an Frauen reichen vom 25. November bis zum 10. Dezember. „In diesem Zeitraum soll besonders auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht werden“, sagt Rösslhumer, „obwohl wir natürlich wissen: Gewalt passiert 365 Tage im Jahr“.

Links:

Bundesweite Frauenhelpline: http://www.frauenhelpline.at/

Gewalt ist nie ok: http://www.gewalt-ist-nie-ok.at/

Gesundheit Österreich GmbH: http://www.goeg.at/

Verein Österreichische Autonome Frauenhäuser: http://www.aoef.at/cms/index.php

Inhalte der Vorlesung: http://www.meduniwien.ac.at/hp/gerichtsmedizin/lehre/medizin/auswirkungen-haeuslicher-gewalt/

 

 

 

„Oh Yeah, She Performs“

  • 16.11.2012, 12:37

„Oh Yeah, She Performs“. Eine Filmrezension.

„Oh Yeah, She Performs“. Eine Filmrezension.

„Nicht voyeuristisch, sondern gefühlvoll“ wirft Miriam Unger  in ihrem neuen Film „Oh Yeah, She Performs“   einen Blick hinter und vor die Bühne des Lebens von Clara Luzia, Luise Pop, Gustav und Teresa Rotschopf, vier österreichische Ausnahmemusikerinnen mit einer unbeirrbaren „Do it yourself“-Attitüde. Gezeigt  wird keine verklärte Romanze des KünstlerInnendaseins, sondern dessen Realität mit all seinen emotionalen und finanziellen Schwierigkeiten; mit langwierigen Soundproben und dem Nachdenken über den Seelenstrip, der da auf der Bühne hingelegt wird.

„Wir sind am Tun gewachsen”, beschreibt Vera von Luise Pop den Karriereweg ihrer Band, bestehend aus mehreren Frontfrauen und einem Mann.
Zwei Jahre lang begleitet Unger diese vier außergewöhnlichen  Frauen, bei ihrem Tun und Wachsen. Eine Reise, welche uns unter anderem durch die Schwangerschaft von Gustav führt, die Entwicklung Theresa Rotschopfs zur Solokünstlerin zeigt und uns die Möglichkeit gibt, mit Clara Luzia im Gras zu sitzen und ihr beim Erzählen von Geschichten aus ihrer Schulzeit zu lauschen. Der Blick der Regisseurin ist intim, die Musikerinnen scheinen sich während der Gespräche wohl zu fühlen und lassen sich bereitwillig bei ihrem Schaffen über die Schulter schauen. Ihr Film, sagt Unger, ist „ein Film über das Arbeiten“. Das Private sollte nur im Zusammenhang mit der Arbeit der Künstlerinnen geschehen. Diese gelungene Mischung lässt auf wunderbare Art beim Publikum das Gefühl des Mittendrinseins entstehen.

„Oh Yeah, She Performs“ erzählt die Geschichte von vier bemerkenswerten Frauen, die ihrer Leidenschaft und Überzeugung folgen und sich dabei gegen die immer noch Männer dominierte Musikbranche auflehnen. Was Miriam Unger mit dem ihrem Film, strotzend vor starken Frauen hinter und vor der Kamera erreichen möchte? Natürlich vor allem den Bekanntheitsgrad der Musikerinnen steigern.  „Aber auch, dass die Kraft dieses Filmes als Funke auf kommende Generationen übergeht und dazu ermutigt, Eigeninitiative zu zeigen. Er ist gesungene Zivilcourage und ein Symbol zum Lautwerden“.

„Oh Yeah, She Performs“ ist seit 9. November österreichweit im Kino.

Offizielle Webseite zum Film

Trailer zum Film:

 

Vienna Rollergirls vs. Zürich City Rollergirlz: „Keep on rollin´ 2“

  • 12.11.2012, 14:10

Am 27. Oktober 2012 fand in Wien das zweite Roller Derby Spiel Österreichs statt. Die Vienna Rollergirls gewannen den Bout mit einem Spielstand von 273:202 gegen die Zürich City Rollergirlz. Claudia Aurednik interviewte für progress die Spielerinnen bei ihrer After Bout Party im Marea Alta.

Am 27. Oktober 2012 fand in Wien das zweite Roller Derby Spiel Österreichs statt. Die Vienna Rollergirls gewannen den Bout mit einem Spielstand von 273:202 gegen die Zürich City Rollergirlz. Claudia Aurednik interviewte für progress die Spielerinnen bei ihrer After Bout Party im Marea Alta.

 

 

Informationen über die Zürich City Rollergirlz:

http://www.facebook.com/zurichcityrollergirlz

http://rollerderby.ch/page/

Informationen über die Vienna Rollergirls:

http://www.facebook.com/ViennaRollergirls

http://www.viennarollergirls.com

„Um die Rechte der Kinder geht es nicht"

  • 29.09.2012, 19:54

Die Väterrechtsbewegung hat in Österreich in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen. Zu den Interessen der Väterrechtler zählt jedoch nicht nur das Wohl des Kindes. progress hat sich in der Väterrechtsszene umgeschaut.

 

Die Väterrechtsbewegung hat in Österreich in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen. Zu den Interessen der Väterrechtler zählt jedoch nicht nur das Wohl des Kindes. progress hat sich in der Väterrechtsszene umgeschaut.

Vergehen der gefährlichen Drohung, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Verbrechen der Verleumdung, Nötigung, Vergehen der beharrlichen Verfolgung. So lautet die Anklage gegen Herwig Baumgartner, vierfacher Vater und Leitfigur der österreichischen Väterrechtsbewegung. Seit Jahren führt er einen erbitterten Kampf um die Obsorge für seine Kinder. Vor allem aber führt er einen Kampf gegen die Justiz – und gegen seine Expartnerin. Das Resultat: Seine Exfrau muss für längere Zeit mit ihren Kindern in einem Frauenhaus Schutz suchen. Auch RichterInnen und GutachterInnen werden von Baumgartner bedroht, verleumdet und gestalkt. Besonders auf Frauen hat er es abgesehen: Eine Verurteilung wegen 21 Delikten als geistig abnormer Rechtsbrecher und vier Jahre Haft sind die Folgen für den 58-jährigen Akademiker. Baumgartner ist kein inzelfall in der Väterrechtsbewegung. Viele der führenden Väterrechtler sind vorbestraft, Körperverletzung und gefährliche Drohung sind häufige Vergehen.

Anita Pirker* arbeitet für die Stadt Wien im Familienrechtsbereich und vertritt Kinder oder Elternteile in Pflegschaftsverfahren vor Gericht. Pirker erzählt von den Mitteln, mit denen radikale Väterrechtler arbeiten: „Wir hatten eine Klientin, eine Mutter, die hat sich mit ihren Kindern nicht mehr aus der Wohnung getraut. Die Väterrechtler sind immer vor ihr gegangen, neben ihr gegangen à la Big Brother is watching you.“ Stalking und Bedrohung sind nach Pirkers beruflicher Erfahrung keine Seltenheiten. Auch sie selbst wird bedroht, auf diversen Internetplattformen verleumdet und von Väterrechtlern zu Veranstaltungen verfolgt. Vor einigen Wochen gipfelte der Psychoterror in einer Morddrohung gegen Pirker. „Das war nicht ohne. Ich bin in kein Lokal mehr hineingegangen mit dem Rücken zum Fenster. Und ich bin kein ängstlicher Mensch.“

Genderwahn und Trennungsopfer. Internetplattformen spielen für die Vernetzung der Väterrechtsbewegung eine wichtige Rolle. Schnell verliert man den Überblick: väter-ohne-rechte.at, humanesrecht.com und trennungsopfer.at sind nur die bekanntesten Beispiele. Im von Herwig Baumgartner errichteten Forum genderwahn.com wird unter Synonymen wie Frauenhausjäger, EureHeiligkeit, Volk oder Hades gepostet. Unter der ursprünglichen Domain ist Genderwahn nicht mehr zu finden, da wiederholt strafrechtliche Tatbestände gesetzt wurden. Das Forum wird jedoch unter justiz-debakel.com unverändert weitergeführt. Das Spektrum der Einträge reicht von antidemokratischen, faschistoiden Aussagen bis zu Drohungen, Verleumdungen und Diffamierungen verschiedener Personen. Gemeinsam ist den meisten Postings der unverblümten Hass auf Frauen.

Charakteristisch für die Väterrechtsbewegung ist die starke Vernetzung untereinander: Personelle Überschneidungen und Links auf Homepages führen sehr schnell zur FPÖ, zur Männerpartei oder zum rechtspopulistischen Onlinemagazin Wien-Konkret. Einige Plattformen machen keinen Hehl aus ihrer sexistischen, zum Teil rechtsextremen Ausrichtung, andere geben sich liberaler. Norbert Grabner ist Obmann des Vereins Vaterverbot, neben Väter ohne Rechte der zweite große Akteur in der österreichischen Väterrechtsszene. Er versucht sich als gemäßigter Vertreter von Väterrechten zu positionieren.Offizielle Kontakte zu radikalen Väterrechtlern wie Herwig Baumgartner streitet er ab, gesteht aber ein: „Das heißt nicht, dass ich deren Telefonnummern nicht habe.“ Und auch Vaterverbot kann keine glaubhaft liberale Position vermitteln. Auch hier wird pauschal gegen Frauen agitiert und männliche Gewalt verharmlost. Und wie bei allen anderen Väterrechtsvereinen geht es nicht vorrangig um das Wohl des Kindes, sondern vor allem um eines: Macht.

Macht und Kontrolle. „Väterrechtler denken ausschließlich an ihre Rechte, um die Rechte der Kinder geht es dabei so gut wie gar nicht“, erzählt Maria Rösslhumer vom Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser. Eine der Hauptforderungen der Väterrechtler ist das Recht des Kindes auf beide Elternteile. Aber auf die Frage, welche weiteren Kriterien für das Kindeswohl wichtig seien, ist Norbert Grabner von Vaterverbot vorerst ratlos: „Was das Kindeswohl ausmacht? Jetzt auf Rechte von Vätern bezogen?“, fragt er unsicher.

Auch Frauenministerin Gabriele Heinisch-Hosek sieht das Erlangen beziehungsweise den Erhalt von Kontrolle über Frauen sowie finanzielle Interessen als Hauptmotive der Väterrechtsbewegung. „Die Väterrechtsorganisationen zeichnen sich durchwegs durch antifeministische Inhalte aus“, kritisiert die Frauenministerin im Gespräch mit progress.

Viele Forderungen zielen auf die Einschränkung von weiblicher Selbstbestimmung und auf Macht über Frauen ab. So will Vaterverbot Frauen die Möglichkeit nehmen mit ihren Kindern den Wohnort zu wechseln: Entweder dableiben oder die Kinder aufgeben. „Die Mutter kann gerne ans Ende der Welt ziehen, aber sie darf das Kind nicht aus dem Familienverbund reißen“, setzt sich Grabner gegen weibliche Selbstbestimmung ein.

Ein Kind brauche einen Vater, so eine der Kernbotschaften der Väterrechtsbewegung. Andreas Kemper, kritischer Männlichkeitsforscher aus Deutschland, hält die Argumentationen von Väterrechtlern für biologistisch: Biologische Vaterschaft werde idealisiert und über soziale Elternschaft gestellt. Pseudowissenschaftliche Ansätze, die behaupten, Kinder von Alleinerzieherinnen würden sehr viel wahrscheinlicher an ADHS leiden und wären einer größeren Selbstmordgefahr ausgesetzt, stützen diese Argumentation. In Medizin und Wissenschaft sind solche Behauptungen allerdings nicht anerkannt. Die Qualität des Kontaktes zum Vater wird dabei von Väterrechtlern vollkommen außer Acht gelassen. Anita Pirker erzählt von einem neunjährigen Mädchen, das länger als ein Jahr gegen ihren Willen gezwungen wurde, einmal monatlich ihren gewalttätigen Vater zu besuchen. Gewalt sei der häufigste Grund, warum Besuchsrechte verweigert würden. „Kinder brauchen eine fixe Bezugsperson, eine stabile. Wenn es zwei sind, umso besser. Aber prinzipiell können Kinder mit einer guten Bezugsperson, mit jemandem, der für sie da ist, gut leben“, sagt Pirker. Sie hält nichts von der Behauptung, Kinder würden in jedem Fall einen Vater brauchen, und kritisiert, dass Besuchsrechtentscheide oft gegen das Wohl des Kindes getroffen würden.

Unterhalt und Männerarmut. Unterhaltszahlungen sind der Väterrechtsbewegung ein besonderer Dorn im Auge. Beim Durchstöbern diverser Foren entsteht das Gefühl, die Hauptbeschäftigung von Alleinerzieherinnen sei es, Männer bei jeder Gelegenheit finanziell auszunutzen und sich mit dem Unterhalt ein schönes Leben zu machen. So ist Norbert Grabner von Vaterverbot fest davon überzeugt, wesentlich mehr Väter würden aufgrund von Unterhaltszahlungen unter der Armutsgrenze leben als Mütter. Armutsstatistiken zeigen jedoch klar: Weibliche Alleinerzieherinnen sind die am stärksten von Armutsgefährdung betroffene Gruppe. In Väterrechtsforen wird oft debattiert, wie Unterhaltszahlungen umgangen werden können. Auch Grabner findet es in vielen Fällen gerechtfertigt, Unterhalt zu verweigern. Dass mit diesem Vorgehen nicht nur Frauen, sondern auch Kindern massiv geschadet wird, scheint dabei nebensächlich zu sein. Die Verweigerung von Alimenten und Unterhaltszahlungen bedeutet momentan für viele Frauen, Kinder und Jugendliche, am Existenzminimum zu leben. Warum dieser Missstand von Väterrechtlern nicht thematisiert wird? „Es gibt genug andere, die die Männer ankreiden, da müssen es wir nicht auch noch machen“, meint Grabner.

Väterrechtler wie Grabner sehen Männer selten bis nie im Unrecht. Rechte werden ingefordert – Pflichten werden jedoch nicht thematisiert. So fordern Väterrechtler auch erst zum Zeitpunkt der Trennung Väterrechte ein. „Ein Vater, der in einer aufrechten Beziehung lebt, hat überhaupt nicht das Bedürfnis, die Kinder regelmäßig zu Gesicht zu kriegen. Der kommt am Abend heim und seine Kinder sind jeden Tag bei ihm.“ Dieses Verständnis von Kinderbetreuung macht deutlich, dass Erziehungsarbeit in Österreich immer noch fast zur Gänze von Frauen geleistet wird und Väterrechtler effektiv nichts an diesem Umstand ändern wollen. Für Grabner ist es dennoch unverständlich, dass in Pflegschaftsverfahren in den meisten Fällen Frauen die Obsorge zugesprochen wird. Männer hätten keine Chance, selbst wenn sie einer der knapp fünf Prozent der Väter seien, die in Karenz gehen. Dem widerspricht Anita Pirker, die aus ihrer alltäglichen Erfahrung etliche Fälle kennt, in denen Männern die Obsorge zugesprochen wurde. Es sei jedoch nicht verwunderlich, dass Frauen auch nach einer Trennung Hauptbezugsperson des Kindes bleiben sollen: „Tatsache ist, dass Frauen die meiste Erziehungsarbeit leisten.“

Gemeinsamkeit Verordnen? Politisches Lobbying steht neben der Koordination von Internetforen längst im Mittelpunkt der Arbeit der Väterrechtsbewegung. Dies wird besonders in der Debatte um die automatische gemeinsame Obsorge sichtbar. Sowohl in der Medienberichterstattung als auch im Gesetzwerdungsprozess wird Väterrechtlern große Aufmerksamkeit geschenkt, indem sie zum Beispiel von Justizministerin Beatrix Karl in politische Entscheidungsprozesse miteinbezogen werden. Der wohl strittigste Punkt in der Debatte ist die Forderung nach einer gemeinsamen Obsorge nach Scheidungen, worin sich ÖVP und Väterrechtler einig sind. „Meine Position und die der ÖVP hat sich nicht geändert – die gemeinsame Obsorge soll der Regelfall sein“, stellt Karl auf Anfrage von progress klar. Bei der Forderung nach einer automatischen gemeinsamen Obsorge geht es um zehn Prozent der Scheidungen – sogenannte strittige Scheidungen, die nicht einvernehmlich gelöst werden können. Ein Grund, warum Frauenministerin Heinisch-Hosek eine Automatik ablehnt: „Eine automatische gemeinsame Obsorge lehne ich ab, weil die Pflege und Erziehung eines Kindes nur im guten Einvernehmen der Eltern vernünftig funktionieren kann.“ Vielerseits wird kritisiert, dass Gemeinsamkeit nicht verordnet werden könne – vor allem in strittigen Fällen, in denen ein massiver Konflikt zwischen Vater und Mutter besteht. Kinder würden so oft zum Spielball eben jener Konflikte.

Bei strittigen Scheidungen spielt nicht selten auch Gewalt eine Rolle. Frauenhaus-Vertreterin Rösslhumer kritisiert an der Forderung, „dass Gewalt an Frauen und an Kindern bereits bei der derzeitigen Regelung kaum berücksichtigt wird, bei einer gesetzlich festgelegten und automatischen Regelung wird die Situation nicht besser. Die gemeinsame Obsorge ist oft eine Verlängerung der Gewaltspirale“.

Männer als Opfer von Gewalt. Gewalt ist in der Väterrechtsbewegung ein viel diskutiertes Thema. Mit falschen Zahlen wird argumentiert, Männer seien hauptsächlich Opfer. Vaterverbot.at behauptet, 53 Prozent der familiären Gewalt gehe von Frauen aus. Rösslhumer zeichnet ein anderes Bild und nennt zum Beispiel den Österreichischen Frauenbericht, in dem häusliche Gewalt als männliches Phänomen dargestellt wird: „Männer werden auch Opfer von Gewalt, aber häufig durch andere Männer in der Öffentlichkeit, seltener im privaten und Familienbereich. Frauen und die Kinder sind die Hauptbetroffenen von Gewalt in der Familie.“ Durch die von den Väterrechtlern vorgenommene Umkehrung der Täter und Opfer wird männliche Gewalt gegen Frauen und Kinder von diesen vollkommen negiert.

Die Verharmlosung von Gewalt geht auch mit der Diffamierung und offenen Bekämpfung von Frauenhäusern einher. Häufig wird die Abschaffung von Frauenhäusern gefordert, noch häufiger werden Adressen von Frauenhäusern mitsamt Fotos und Lageplänen im Internet verbreitet. „Es kann fatale Folgen für Frauen und deren Kindern haben, wenn Gewalttäter die Adressen herausfinden, den Betroffenen auflauern und sie in Lebensgefahr bringen“, berichtet Rösslhumer.

Es stellt sich die Frage, wie die Verharmlosung von Gewalt und der Kampf gegen Gewaltschutzeinrichtungen mit dem Wohl des Kindes vereinbar sind. Möglicherweise würde Norbert Grabner die Frage stellen: „Jetzt auf Rechte von Vätern bezogen?“.

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