Europäische Union

Körbe im Kopf

  • 29.04.2016, 17:36
Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

progress: Du bist aus der Schweiz. Warum interessierst du dich für Europa?
Jan Gassmann:
Genau aus dem Grund. In erster Linie sind wir Schweizer, dann mal Weltbürger und irgendwann vielleicht noch Europäer. Dadurch, dass die EU in einer Schieflage ist, ist die Schweiz in der angenehmen Position, sich raushalten zu können. Trotzdem sollte es eine Mitverantwortung der Schweiz geben. 1992 stimmten die Schweizer knapp gegen eine EU-Mitgliedschaft, seitdem ist dies ein Tabuthema. Die Schweizer gehören aber zum Kern Europas und ich persönlich sehe mich auch als Europäer. Ich las viel über die Krise in der EU, war aber selber nicht davon betroffen. Eine Zeit lang gab es überall Beiträge über die Jugend in der EU, dann plötzlich war das Thema uninteressant und die Artikel blieben aus. Dabei war die Krise, dort wo wir als Filmteam waren, für die Jugend total aktuell. Das war auch die Motivation, „Europe, She Loves“ zu machen.

Im Film gibt es eine starke Diskrepanz zwischen den Nachrichten, die im Radio oder Fernseher liefen und den Reaktionen der vier Paare, die du darstellst. Habt ihr beim Drehen die Nachrichten absichtlich laufen lassen?
Oft hat sich das zufällig ergeben, dass eine Nachrichtensendung lief. Es gibt diese ewige Berieselung und du nimmst die Nachrichten auch wahr, aber du kannst sie nicht richtig verarbeiten. Das was von den Medien kommt, hat einen starken Stellenwert. Gleichzeitig hat man einen kleinen Papierkorb im Kopf, wo alle diese Informationen hineingehen. Denn es sind keine Gesichter mehr dahinter, sondern nur Zahlen. Ich konnte filmen, worüber die Medien berichten. Die Gesichter hinter den Nachrichten zeigen – das war mein Thema.

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Eine Meldung ist die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssos durch einen Neonazi der „Goldenen Morgenröte“-in Athen. Woraufhin Penny und Nicolas auf eine Solidaritätsdemo für Fyssos gehen. Wie ist die politische Stimmung in den anderen Ländern, die im Film vorkommen?
In Tallinn gibt es die Spannung zwischen der russischen und der estnischen Community. Die haben sehr wenig miteinander zu tun. Die russische Minderheit will sich wieder Russland annähern, während die Esten einen Zaun an der Grenze zu Russland gebaut haben. In Dublin war vielmehr das Thema präsent, dass die alten Parteien überholt waren und es nur noch Protestparteien gab. Nach dem „Celtic Tiger“ war die Arbeiterpartei total am Boden, die Konservativen beschädigt. Dort waren einfach alle total genervt von Politik. In Sevilla waren die Bürgerbewegungen interessant. Als wir dort waren, war die Frage wichtig, ob die Bürgerbewegungen es ins Parlament schaffen würden. Es gab aber auch andere Themen. Der Bildungsminister José Ignacio Wert hatte alle Erasmus-Zuschüsse gekürzt; auch für die Studierenden, die bereits im Ausland waren. Sie mussten deswegen nach Spanien zurückkehren. Dagegen gab es auch eine Demonstration.

Abschottung ist also ein länderübergreifendes Thema?
Wir sind die erste Generation, die keine Limitierungen hatte. Die Vermischung und dass die Leute sich frei bewegen können, tut uns doch gut. Dass man jetzt wieder zurück muss in seine nationale kleine Nussschale und sich absperrt, das finde ich schrecklich.

Bietet ein Studium den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive?
Es ist die Frage, was du daraus machst. Die Unterschiede zeigen sich an Karo und Juan aus Sevilla. Karo hat nach dem Film doch noch einen Masterplatz in Barcelona bekommen. Sie weiß, dass sie das Studium zu Ende bringen muss. Da tut sich ein Zwiespalt auf, weil die Jungen wissen, dass sie einen Abschluss brauchen, um im Ausland einen Job finden zu können. Sie sind aber auch mit ihren Städten und ihrem Land verbunden. Diese EMigration, weil es nicht anders geht, die funktioniert für die meisten innerlich dann doch nicht wirklich. Ich würde dennoch allen empfehlen zu versuchen etwas zu studieren. Andererseits, ist da Juan, der nie studiert hat. Er machte eine Graphikerausbildung, war Gabelstaplerfahrer, Rettungsschwimmer und ist jetzt Security. Seine Eltern sind ebenfalls Securities. Juan ist talentiert, kommt aber aus einer Klasse, bei der es gar nicht zur Diskussion stand, dass er ein Studium beginnen könnte. Seine Position ist noch viel unklarer als die von Karo, weil er überall einsetzbar ist, aber keine Chance hat, sich beruflich zu definieren.

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Die Protagonist_innen arbeiten alle in prekären Jobs als Kellnerin, Tänzerin, Security oder Pizzalieferant. Siobhan und Terry aus Dublin sind arbeitslos. War Arbeit ein Thema?
Am Anfang ging ich thematisch an den Film heran. Ich dachte, die Arbeitssituation ist eigentlich das Wichtigste. Erst während dem Dreh und als ich die Paare besser kannte, habe ich gemerkt, dass die Arbeit zwar ein Teil des Films sein wird, aber ich werde nicht zehn Mal zeigen, wie jemand Pizza ausliefert.

Die Repetition, die auch harte Arbeit charakterisiert, kommt dafür in Bezug auf Sex vor.

Ist es natürlich auch. (Lacht) Normalerweise ist im Spielfilm der Sex immer ein Klimax oder der Anfang von etwas Neuem. Ich versuchte Sex in meinem Film zu demystifizieren und in einen Alltag einzuflechten. Sex als etwas, was man macht, weil er nichts kostet und man halt zusammen ist.

In „Europe, She Loves“ kommen nur heterosexuelle Paare vor. Wie hast du sie ausgewählt?
Wir casteten fast hundert Paare. Dass es die vier wurden, die im Film porträtiert sind, war eine Bauchentscheidung. Wichtig war mir auch die Kombination aus verschiedenen Paaren, deswegen wollte ich auch die estnische Familie mit Veronika und Harri. Die Idee war, die Veränderungen, die man zwischen 20 und 30 durchmacht, darzustellen. In einer Paarbeziehung sucht man gemeinsam einen Kompromiss, eine Zukunft oder eine Entscheidung. Darin spiegelt sich gut, was auch im EU-Parlament in Brüssel passiert. Die kleinen Dinge, die zu einem Zusammenleben beitragen, zeigen sich schön in der Paarbeziehung. Dass es nur heterosexuelle Paare waren, hat sich so ergeben. Außerdem hätte ich es schade gefunden, wenn man im Nachhinein immer die drei Hetero-Paare mit dem homosexuellen verglichen hätte. Da hätte ich dann gern ein schwules oder lesbisches Pärchen gewollt, das nicht noch zusätzlich ein Klischee erfüllt.

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Im Abspann spielt das Lied „Europe Is Lost“ von Kate Tempest. Ist Europa verloren?
Für mich ist der Song und das, was er sagt, im Kern sehr positiv. Alles aus dem Film ist darin kondensiert. „Europe Is Lost“ fragt auch danach, wann wir wir endlich wieder aufwachen werden. Ich glaube an Europa- Es ist schade, dass man dem Experiment EU nicht wirklich eine längere Zeit zugesteht, fünfzehn Jahre EU sind nicht lange. Ich bin aber auch nicht super Pro-EU. Es ist eine komplexe Materie, aber man muss dem Konzept eine Chance geben, dass es sich erarbeiten und sich daraus etwas ergeben kann.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Die Linke hat beim Rassismus versagt

  • 21.05.2014, 13:07

Große Teile der griechischen Bevölkerung leiden unter der Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik. Dagegen formiert sich politischer Widerstand. Wie dieser zu beurteilen ist, darüber sprach progress online mit Stefanos, einem Aktivisten der athenischen Antifa Negative.

Große Teile der griechischen Bevölkerung leiden unter der Wirtschaftskrise und Austeritätspolitik. Dagegen formiert sich politischer Widerstand. Alessandro Volcich hat für progress online mit Stefanos, einem Aktivisten der athenischen Antifa Negative, darüber gesprochen.

progress online: Du bist Mitglied der Gruppe Antifa Negative. Ihr kritisiert andere griechische linke Gruppen für ihre Haltung gegenüber dem Rassismus. Könntest du eure Kritik etwas ausführen?

Stefanos: Die antiautoritäre und anarchistische Szene geht gegenüber MigrantInnen und der Frage des Rassismus mit einer altmodischen Klassenanalyse vor. Sie solidarisieren sich mit MigrantInnen nicht weil sie Opfer rassistischer Staatspolitik oder nazistischer Gewalt sind, sondern weil sie als ArbeiterInnen gelten. Und das sind noch die vernünftigeren. Andere solidarisieren sich mit MigrantInnen in keinster Weise. Das alles war für uns erstickend, weil wir glauben, dass es genügt, Opfer rassistischer Gewalt zu sein, um unterstützt zu werden.

Kannst du mir ein Beispiel nennen, wie die Linke beim Rassismus versagt hat?

Im Jahr 2004 gewann die griechische Fussballnationalmannschaft die UEFA EURO. Kurz danach gab es ein Match zwischen der griechischen und der albanischen Nationalmannschaft und die albanische gewann. Darauf kam es in ganz Griechenland zu Angriffen gegen Menschen, die man für AlbanerInnen hielt. Es gab viele Verletzte und sogar einen Mord. Die Antwort der Mainstream-Linken, der heutigen Syriza, war eine Demo mit der Parole: „Griechen sind keine Rassisten". Die AnarchistInnen hingegen marschierten unter dem Motto:  „Wir sind gegen beide Nationalismen, den griechischen und den albanischen". Aber das hatte mit der Situation nichts zu tun. Denn es gab ja keinen Konflikt zwischen zwei Armeen, sondern einer Welle rassistischer Gewalt.

Und das war noch vor der Wirtschaftskrise.

Es war gleich nach den Olympischen Spielen, zur Zeit eines Konjunkturhochs.

Kommen wir zur aktuellen Situation. Wie entwickelten sich in den letzten Jahren die Reaktionen auf die Wirtschaftskrise?

Als Griechenland den Deal mit dem IWF abschloss, das „Memorandum", gab es eine Protestbewegung im ganzen Land. Dabei kam es überall - am Syntagma-Platz in Athen war es besonders deutlich - zu dem, was man den „oberen" und „unteren Platz" nannte. Am oberen Platz, gleich vor dem Parlament, standen die Nazis und andere rechte Spinner mit Griechenlandfahnen und brüllten antisemitische Parolen, dass Giorgos Papandreou (ehemaliger Premier, Anm.) Jude sei. Auf der unteren Seite stand die Linke, die des Mainstreams und die radikale, und hielt Reden über direkte Demokratie. Und sie alle standen da friedlich Seite an Seite – während gleichzeitig im Zentrum Athens ein Pogrom gegen MigrantInnen stattfand. Das ist symptomatisch für die Reaktion der griechischen Gesellschaft auf die Krise, dass es heute keine Trennlinien mehr zwischen den Griechen gibt. Nun vergessen wir rechts und links. Ich weiß nicht, ob das je etwas bedeutet hat - heute tut es das jedenfalls nicht mehr. Die Opposition verläuft heute zwischen der leidenden griechischen Bevölkerung und den Verrätern, die die Maßnahmen des IWF unterstützen. Es ist eine populistische Hysterie.

 

„Goldene Morgenröte ist die griechische Hisbollah"

 

Wie hat die neonazistische Goldene Morgenröte (Chrysi Avgi) es geschafft, politisch aufzusteigen?

Es gibt sie seit 1980 und sie waren eine marginale Nazi-Gruppe. Sie haben einige militante Aktionen gemacht, wie Angriffe auf AntifaschistInnen oder MigrantInnen. Wobei während der 1990er und 2000er Jahre rassistische Morde meist nicht von Chrysi Avgi verübt wurden, sondern von normalen Griechen. Chrysi Avgi waren schwach und bekamen 0,0-irgendwas bei den Wahlen. Bei den Syntagma-Protesten intervenierten sie wie jede politische Gruppe es bei einer sozialen Bewegung machen würde. Und da wurden sie zum ersten Mal der Durchschnittsbevölkerung bekannt. Danach erhielten sie gute Wahlergebnisse und kamen ins Parlament.

Demo gegen die Goldene Morgenröte in Athen. Foto: Dieter Diskovic

Wie reagierten die anderen politischen Kräfte auf den Aufstieg der Chrysi Avgi? Immerhin eine offen antisemitische und rassistische Partei.

Das erste, was alle sagten war, dass ihre WählerInnen vom politischen Establishment enttäuscht waren und keine Nazis sind. Die Linke versuchte zum einen darauf hinzuweisen, dass sie gewalttätig wären. Das war sinnlos, denn damit übernahmen sie die Propaganda der Chrysi Avgi und beförderten ihr Image als brutale, unbesiegbare Kraft. Oder aber sie sagten, dass Chrysi Avgi keine echten Patrioten wären. Die konservativen und Zentrumsparteien sagten, dass die Chrysi Avgi es geschafft hätte, Antworten auf die Probleme der Leute zu geben, wie die illegale Migration und Kriminalität. Und deshalb müsse man so wie die Chrysi Avgi werden, damit sie nicht mehr gewählt werden. Ein Mitglied der sozialistischen Pasok, Andreas Loverdo (Anm.: ehemaliger Gesundheitsminister) sagte, dass Chrysi Avgi sei die erste Volksbewegung seit 30 Jahren und sie sei die „griechische Hisbollah", was für ihn etwas Gutes sei. Das ist nichts ungewöhnliches, die griechische sozialistische Partei hat eine lange Geschichte des Antisemitismus.

Erst nach dem Mord durch zwei Mitglieder von Chrysi Avgi an einem Griechen, dem Antifaschisten und Rapper Pavlos Fyssas, scheint Chrysi Avgi eine rote Linie überschritten zu haben, denn die Regierung griff danach hart durch, verhaftete einige Parteimitglieder, Parlamentsabgeordnete und sogar ihre Führung. Wie siehst du die Rolle des Staats als „Antifa"?

Während sie mit der einen Hand das machen, verrichten sie mit der anderen die Arbeit der Chrysi Avgi. Gleich nach den Verhaftungen führte die Polizei riesige Schleierfahndungen im Zentrum Athens durch und verhafteten jeden, der nicht griechisch genug aussah. Um die zwanzig Prozent hatten keine Papiere. Man kann von einer terroristischen Operation sprechen. Sie haben auch Romasiedlungen überfallen, um zu zeigen, dass auch der Staat damit umgehen kann. Der Antiziganismus war hoch oben auf der Agenda der Chrysi Avgi. In Thessaloniki hatte man Transfrauen massenweise unter dem Vorwand illegaler Prostitution verhaftet.

Graffito am Polytechnikum in Athen in Erinnerung an dem linken Rapper Pavlos Fyssas aka Killah P., der am 18. September 2013 von einem Neonazi ermordet wurde. Foto: Dieter Diskovic

 

„Sie haben Merkel zum Symbol gemacht"

 

Nun zur linken Partei Syriza. Sie versteht sich selbst als "Koalition der radikalen Linken". Wie radikal ist sie wirklich?

In ihrem Verständnis bedeutet Radikalismus, gegen die vom IWF auferlegten Maßnahmen zu sein und sie spielen mit einer Anti-EU-Rhetorik. Einer ihrer Flügel möchte auch aus der EU austreten, aber das ist nicht Parteilinie. Meistens sind sie etwas zweideutig und sagen, sie wollen in der EU bleiben, aber ohne IWF-Maßnahmen. Und sie bedienen sich Slogans wie: „Wir stehen einer neuen deutschen Besatzung bevor". Sie haben also keine klassische Klassenanalyse, sondern eine populistische, die den Bänkern vorwirft, nichts zur Wirtschaft beizutragen und Instrumente der deutschen Regierung zu sein. Sie haben dabei Merkel zum Symbol gemacht, oft auch mit sexistischen Untertönen.

Slavoj Zizek, ein Fan von Syriza, hat ihrem Vorsitzenden Alex Tsipras sogar den Rat gegeben, sich mit der „patriotischen Bourgeoisie" zu verbünden.

Aber das ist ja schon längst in ihrem Programm! Das schlimmste war, als es Gespräche zwischen Syriza und den Unabhängigen Griechen (Anel), eine rechtspopulistische Partei, gab. Beide sind gegen den IWF und die EU. Tsipras hat sich mit Panis Kammenos, dem Vorsitzenden der Anel, getroffen und es war die Rede davon, eine Koalition bilden zu können - was unheimlich wäre. Die Anel sind der rechte „lunatic fringe". Das sind Leute, die in diese Chemtrails-Verschwörungen glauben und dass George Soros die Wirtschaft kontrolliert.

Und so eine Koalition würde bei der Basis durchgehen?

Syriza war einmal eine sehr kleine linke Partei. Vor der Krise wurden sie von einigen Radikalen gewählt, weil sie sympathische Positionen hatten, wie beispielsweise gegenüber dem Zwang zum Militärdienst. Als sie so schnell viele Stimmen bekamen, haben sie alles auch nur entfernt Progressive aufgegeben. Anfang diesen Jahres gab es einen Skandal um Theodoros Karypidis, einem Kandidaten Syrizas zu den Lokalwahlen. Die Vorgeschichte war die kürzliche Restrukturierung des öffentlichen Fernsehens. Man hat alle TV-Stationen geschlossen, jede und jeden entlassen und einen neuen Kanal mit dem Namen NERIT mit neuem Personal eröffnet. Karypidis postete auf Facebook, wie NERIT vom hebräischen Ner, der Kerze zu Hannukah, stammt und wie die Juden zu Hannukah ihren Hass gegen die Griechen feiern würden. Er war aber schon davor antisemitisch aufgefallen und Syriza hat ihn trotzdem nominiert. Es gab dann eine interne Auseinandersetzung über seine Absetzung, bevor man es am Ende dann doch tat. Um noch eins drauf zu setzen, veröffentlichte man einen Artikel in der parteieigenen Zeitung Avgi, wo man dem American Jewish Committee, das über den Vorfall berichtete, verboten hatte, sich in interne griechische Angelegenheiten einzumischen.

 

„Jüdische Mörder"

 

Welche Rolle spielt denn der Antisemitismus in Griechenland generell?

Vor ein paar Tagen (am 25.3., Anm.)  feierte man den Nationalfeiertag der Unabhängigkeit Griechenlands vom Osmanischen Reich. Bei dieser Gelegenheit wird die Hymne gesungen, die das Gedicht eines nationalistischen Dichters der Zeit ist. Darin wird das Massaker an Juden und Muslimen von Tripoli gefeiert. Der Antisemitismus ist schon alt und wird generationsweise weitergegeben. Als Christine Lagarde vom IWF sagte, dass sie eine Liste von griechischen Millionären habe, die ihr Geld unversteuert in die Schweiz gebracht hätten, war das erste was Evangelos Venizelos, dem Vorsitzenden von Pasok, in den Sinn kam, dass die ersten paar Namen der Liste Juden seien.

Ist es generell so, dass sich der Antisemitismus unverblümt äußert, man also nicht den Umweg über Israel oder irgendwelcher Codes zu nehmen braucht?

In Griechenland ist der Antisemitismus noch nicht so tabuisiert wie in anderen europäischen Ländern. Es treten beide Formen auf. Wobei Linke die versteckte Form bevorzugen, aber nicht ausschließlich. Während der israelischen Intervention im Libanon veröffentlichte die „Neue linke Strömung", NAR, auf der Titelseite ihrer Zeitung das Bild eines Vaters mit seinem angeblich von israelischen Truppen getöteten Sohn. Die Bildunterschrift dazu war: „Jüdische Mörder, dafür werdet ihr bezahlen".

Foto: Dieter Diskovic

Inmitten von all dem, wie sieht da eure, also Antifa Negatives, Praxis aus?

Es ist eine schwierige und pessimistische Situation. Wir sind wenige und nicht sehr beliebt. Wir führen öffentliche Debatten, versuchen uns und andere zu bilden. Wir haben auch eine Broschüre über Homophobie und Antifaschismus herausgebracht. Mit anderen Gruppen, mit denen wir eine gewisse gemeinsame Basis haben, machen wir Demos in Nachbarschaften, wo es ein Naziproblem oder besser, ein griechisches Problem gibt. Für uns soll Kritik keine Kompromisse eingehen.

 

Das Interview wurde am 27.3. auf Englisch geführt und anschließend vom Autor ins Deutsche übersetzt.

Alessandro Volcich lebt in Wien und publiziert gelegentlich.

 

Populismus in der EU: „Wir gegen die da oben in Brüssel“

  • 18.07.2014, 16:16

Die Schweizer Initiative gegen Masseneinwanderung hat das Verhältnis zu Europa verschlechtert. Auch in anderen Staaten haben bei der EU-Wahl populistische Anti-EU-Kräfte gewonnen. Gewählt werden sie oft von jungen Leuten, die von Initiativen wie Erasmus und Co eigentlich profitieren.

Die Schweizer Initiative gegen Masseneinwanderung hat das Verhältnis zu Europa verschlechtert. Auch in anderen Staaten haben bei der EU-Wahl populistische Anti-EU-Kräfte gewonnen. Gewählt werden sie oft von jungen Leuten, die von Initiativen wie Erasmus und Co eigentlich profitieren.

Der Traum vom Auslandssemester in Spanien oder Großbritannien ist für Schweizer Studierende erst einmal ausgeträumt. Im Februar stimmten die Schweizer BürgerInnen der so-genannten Initiative gegen Masseneinwanderung zu, in der die rechtspopulistische Schweizer Volkspartei SVP eine Kontingentierung von Einwanderern fordert. Aufgrund des Schweizer Systems der direkten Demokratie, muss die Regierung diese Initiative nun umsetzen und darf erst einmal keine internationalen Verträge abschließen, die dieser Initiative widersprechen.

 

 

Die ersten Leidtragenden sind Studierende. Denn die Kontingentierung widerspricht dem EU-Prinzip der Personenfreizügigkeit und bricht damit die bilateralen Verträge, die die Schweiz mit der Europäischen Union geschlossen hat. Die EU hat nun die Verhandlungen zum neuen Erasmus-Plus-Programm und zu Horizon 2020, dem entsprechenden Programm für ForscherInnen, erst einmal auf Eis gelegt. Die Schweiz wird nicht mehr als Partner- sondern als Drittstaat behandelt.

Die Schweizer Regierung und die Unis versuchen nun zu retten, was zu retten ist: Studierende, die ins Ausland gehen wollen, werden nun nicht mehr von der EU sondern vom Schweizer Nationalfonds unterstützt. Fast 23 Millionen Franken stellt die Regierung dafür zur Verfügung. Die Abkommen mit den Partnerunis müssen die Schweizer Universitäten neu verhandeln. Die meisten europäischen Unis sind wieder eingestiegen, Großbritannien und Italien haben ihre Verträge aber nicht erneuert. „Ob wirklich alle StudentInnen, die wollen, ins Ausland gehen wollen, wird sich zeigen, wenn alle Bewerbungen durch sind. Ich denke aber es sollte klappen“, sagt Dominik Fitze von der Schweizer StudentInnenvertretung. „Die Ersatzlösungen bedeuten, dass Auslandssemester grundsätzlich möglich sind. Nur eben nicht unbedingt im gewünschten Zielland.“ Horizon 2020 stellt das größere Problem dar. Das Programm soll Forschungsaufenthalte ermöglichen und länderübergreifende Projekte finanzieren. Dabei geht es natürlich auch um die Frage, wer den Vorsitz bei solchen Projekten bekommt.

Appell an Bund und die EU. Schweizer Studierende, Lehrende und Rektoren haben sich nun zusammengeschlossen, um Erasmus für die Schweiz zu erhalten: Auf der Website not-without-switzerland.org appellieren sie an EU und den Schweizer Bund, Lösungen zu finden, so dass die Austauschprogramme wieder aufgenommen werden können. „Diese zur Hochschulwelt gehörige Internationalität, an der wir alle partizipieren und von der wir profitieren, wird gegenwärtig in Frage gestellt. Dagegen sprechen wir uns vehement aus. Wir, die unterzeichnenden Hochschulen, Bildungsinstitutionen, Dozierenden, Forschenden und Studierenden der Schweiz und Europas,  appellieren an die politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in der Schweiz, in Brüssel und in den europäischen Staaten, alles daran zu setzen, dass die Schweizer Hochschulen an den erwähnten Programmen teilnehmen können“, heißt es darin. Fast 31.000 UnterstützerInnen haben bereits online unterzeichnet.

Doch der Appell hat einen Schönheitsfehler: Er kommt zu spät. Genau das kritisieren wiederum einige andere Hochschulangehörige in einem offenen Brief. Die Studierenden und WissenschaftlerInnen hätten sich vor der Abstimmung engagieren müssen, Studierende als die einzigen Opfer zu stilisieren greife zu kurz. Das sei nur ein Teil des Problems, kritisieren sie. „Wir fordern die Studentenschaft auf, sich ihrer politischen Verantwortung bewusst zu werden und sich mit ihren MitbürgerInnen ohne schweizerischen Pass zu solidarisieren.“

„Die Kritik ist teilweise berechtigt. Was man der Wissenschaftsgemeinschaft vielleicht vorwerfen kann ist, dass sie zu spät reagiert hat“, gibt Dominik Fitze zu. Tatsächlich zeigen die Wahlanalysen zur Masseneinwanderungsinitiative, dass junge und gebildete SchweizerInnen nicht zur Abstimmung gegangen sind, obwohl sie die Bevölkerungsgruppe sind, die am eindeutigsten gegen die Initiative eingestellt waren. Die Abstimmung wurde nicht zuletzt von der ungewöhnlich starken Mobilisierung von politisch wenig Interessierten beeinflusst, heißt es in der VOX-Analyse (Analysen nach jedem Schweizer Volksentscheid) zur Abstimmung. Doch dass die Verträge mit der EU und damit Programme wie Erasmus in Gefahr waren, war schon vor der Abstimmung klar. Warum sind trotzdem so viele Junge zu Hause geblieben? „Unter den Studenten wurde das schon diskutiert“, sagt Dominik. „Aber wir haben prinzipiell das Problem, dass die Folgen nicht richtig kommuniziert wurden. Sie SVP hat immer gesagt, die EU könne sich nicht leisten, die Verhandlungen mit der Schweiz abzubrechen.“

EU-Skepsis in ganz Europa. Die Schweiz ist zwar bekanntlich kein EU-Mitglied, doch sie steht mit ihrer EU-Skepsis nicht alleine da. Bei der EU-Wahl haben Anti-EU Parteien wie Front National in Frankreich, Ukip in Großbritannien oder auch die FPÖ in Österreich stark zugelegt. Und auch in Österreich war die FPÖ bei Männern unter 30 die Nummer eins. Ausreißer seien das keine mehr, sagt Politikwissenschaftler Josef Melchor von der Uni Wien, der zu EU-Integration und Populismus geforscht hat.

Es sei aber nicht alleine Informationsmangel, der dem Populismus von rechts auch unter Jugendlichen solchen Auftrieb verleiht. Studierende und ForscherInnen seien von Programmen wie Erasmus zwar begeistert, für viele aus unteren Schichten bringen Studierendenaustauschprogramme aber gar nichts. Daher sehen ArbeiterInnen die EU oft sehr kritisch, was eben auch junge, also zum Beispiel Lehrlinge, betrifft. „Das ist auch ein Problem der Politik. Auf EU-Ebene gibt es zwar viel Förderung für Forschung und Kultur, aber keine Diskussion über Mindestlöhne oder Arbeitszeiten, also Themen, die ArbeiterInnen betreffen“,  erklärt Melchior. Für Studis ist der Austauschaufenthalt in Schweden, England oder Frankreich vielleicht ein tolles Erlebnis, für weite Teile der Bevölkerung ist die EU aber ein Eliten-Projekt. Sie machen in ihrem Alltag kaum positive Erfahrungen mit EU-Projekten, sondern eher mit stärkerer Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Das hat auch Dominik in den SVP-Kampagnen beobachtet: „Die SVP ist gar kein Fan von Erasmus. Die haben das einfach in Kauf genommen, oder sogar akzeptiert.“

Dazu kommt eine generelle Politikverdrossenheit der Jugend. Gerade in den neuen Mitgliedsstaaten sind Unter-30-Jährige am Wahltag meist zu Hause geblieben. Und für Studierende ist die EU meist einfach eine Selbstverständlichkeit, meint Melchior: „Sie sehen es einfach nicht als notwendig, das bei einer Wahl noch mal extra zu deklarieren.“

 

 

Keine Reaktion von Links. Was jetzt notwendig sei, sei eine Antwort der anderen Parteien, erklärt der Politikwissenschaftler. Bei der Abstimmung in der Schweiz war die SVP als einzige Partei für die Initiative. Alle anderen, von den Konservativen über die Sozialdemokraten bis hin zu den Grünen, warnten vor Diskriminierung, wirtschaftlichen und außenpolitischen Problemen. Aber sie konnten sich nicht durchsetzen. Laut Melchior sei ein Problem, dass rechtspopulistische Parteien oft tatsächlich Probleme ansprechen, die von der „Mainstream-Politik“ ignoriert werden. Diese teilweise legitime Politik komme im Paket mit emotional aufgeladenen Themen – in der Schweiz etwa gerechtfertigte Kritik an der EU zusammen mit dem „Ausländer“-Thema. Andere Parteien überlassen dann das Feld den Populisten. „Diese Kritik kommt dann einfach unter die Räder, die populistischen Parteien haben das Monopol darauf. Es braucht aber eine Reaktion von den anderen Parteien.“ Die anderen Parteien hätten also kommunizieren müssen, dass die Initiative gegen Masseneinwanderung zwar falsch sei, aber zugeben, dass es tatsächlich Probleme gibt.

Das Beispiel der Schweiz zeigt, was geschieht, wenn es keine solche Antwort gibt. Die Aussetzung der Erasmus-Verhandlungen ist nur ein kleiner Teil des Problems. Schon jetzt beklagen Uni-Rektoren, dass viele ForscherInnen aus dem Ausland skeptisch wären eine Stelle in der Schweiz anzunehmen, aus Angst, dass sie in zwei Jahren wieder abgeschoben werden können. Die Regierung versucht nun, das Abstimmungsergebnis in einen gemäßigten Gesetzesentwurf zu packen. Auch über eine weitere Abstimmung, um die erste zu revidieren, wird schon diskutiert.

 

 

Magdalena Liedl studiert Anglistik und Zeitgeschichte an der Uni Wien.

Zahlen bitte!

  • 13.07.2014, 13:16

Studierende in Europa finanzieren ihre Bildung zunehmend privat - trotz der politischen Erkenntnis, dass dies eine öffentliche Verantwortung sein sollte. Die nationalen Unterschiede sind markant.

Studierende in Europa finanzieren ihre Bildung zunehmend privat - trotz der politischen Erkenntnis, dass dies eine öffentliche Verantwortung sein sollte. Die nationalen Unterschiede sind markant.

Maria* hat „Hospitality Management” am International University College in Dobrich, einer privaten Universität in Bulgarien, studiert. Sie beschreibt eine der Methoden ihrer Universität Gelder aus der Privatwirtschaft aufzutreiben: „Meine Universität hatte eine Verbindung zu Restaurants und Hotels in Zypern, und ich habe dort so wie andere Studierende ein Praktikum gemacht. Als wir uns über den niedrigen Lohn beschwerten, antwortete die Chefin, dass sie einen Teil uns zahle und einen Teil unserer Universität”.

Der Staat zahlt mehr. Seit 2010 ist der Europäische Hochschulraum offiziell Wirklichkeit und in vielen Bereichen ist die Kooperation zwischen den europäischen Ländern und Hochschulen weit fortgeschritten. Fast überall wird nach dem Bachelor/Master-System studiert, in ECTS „abgerechnet”, und die Studierendenmobilität steigt. Bei der Finanzierung der Hochschulen gibt es jedoch bisher wenig europäische Gemeinsamkeiten.

Ein Blick in die Eurostat-Datenbanken und Untersuchungen der europäischen Studierendenorganisation ESU bringt markante Unterschiede zu Tage. So werden z.B. in den skandinavischen Ländern circa zwei Prozent des BIP für höhere Bildung ausgegeben. In Süd- und Osteuropa liegen die Werte typischerweise zwischen 0.8 und 1.1 Prozent und im Westen zwischen einem und 1.5 Prozent. Da die Studierendenzahlen aber kaum mit der Finanzierung zusammenhängen, sind die Ausgaben je Studierender und Studierendem noch unterschiedlicher.

In Skandinavien und Westeuropa werden jährlich zwischen 12.000 und 16.000 Euro pro StudentIn ausgegeben. Im Süden und Osten sind es zwischen fünf- und achttausend Euro. Dabei werden die meisten Mittel in Ländern aufgewendet, in denen die Hochschulen überwiegend öffentlich finanziert sind. Das ist hauptsächlich in Nord- und Westeuropa der Fall, wo typischerweise unter 20 Prozent der Ausgaben für höhere Bildung aus privaten Quellen stammen.

Versteckte Kosten. Derzeit studiert Maria an der Universität Roskilde. Ihre Erfahrungen mit den Studiensystemen in Dänemark und Bulgarien illustrieren die Unterschiede im europäischen Hochschulraum auf eindrückliche Weise. „Meiner Erfahrung nach gibt es in Bulgarien einen großen Unterschied zwischen privaten und öffentlichen Universitäten,” erzählt Maria: „In den öffentlichen Institutionen ist die Ausstattung sehr schlecht und die Lehrenden kriegen einen sehr niedrigen Lohn. Meine eigene Universität hatte Geld, die Klassen waren kleiner, wir hatten viele Computer und waren gut ausgestattet”.

Für die besseren Studienbedingungen bezahlen Studierende am International University College in Dobrich circa 1500 Euro pro Semester – die öffentlichen Studiengebühren liegen zwischen 70 und 800 Euro. Um diese Summe aufzubringen – 3000 Euro sind circa die Hälfte des Median-Jahreseinkommens – arbeitete Maria oft im Ausland, zum Teil in dem bereits erwähnten Arrangement, welches der Universität gleich doppelt Einkommen bescherte.

Aber auch für ihre KollegInnen an den öffentlichen Hochschulen gab es vielerlei „versteckte“ Kosten. „Manchmal mussten sie Bücher von ihren ProfessorInnen kaufen und diese bei den Prüfungen vorzeigen – das ist eine recht übliche Praxis. Manchmal werden Studierende negativ benotet, und die Lehrenden verlangen, dass die Studierenden zusätzliche Klassen belegen. Da diese nicht im Curriculum stehen, kosten sie extra,” erklärt Maria.

Erfahrungen mit der gängigen Prüfungspraxis waren an beiden Hochschulen, öffentlich und privat, oft demotivierend. „Da es so viele Studierende an den öffentlichen Hochschulen gibt, ist die Bewertung oft sehr zufällig. Aber auch an meiner Schule war es oft nicht möglich die Prüfung nach der Bewertung zu sehen, oder anderweitig Feedback zu kriegen”.

Mit ihrer derzeitigen Studiensituation in Dänemark ist Maria hingegen sehr zufrieden: „Bei den Prüfungen wird man zum Denken angeregt und man ist aufgefordert sich eine eigene Meinung zu bilden und Kritik zu üben statt auswendig zu lernen,” sagt sie. Die dänische Studienbeihilfe und die öffentliche Finanzierung der Universitäten ist ebenfalls ein Faktor: „Ich muss nicht über Geld nachdenken, obwohl ich nur 15 Stunden pro Woche arbeite. In Bulgarien ist es schwierig zu studieren, da die meisten Studierenden neben dem Studium sehr viel arbeiten müssen”.

Fortschreitende Privatisierung. Rok Primovic ist Vorsitzender der europäischen Studierendenorganisation ESU, die nationale Studierendenvertretungen vernetzt und auf europäischer Ebene Lobby- und Forschungsarbeit betreibt. „In finanzieller Hinsicht kann von einem europäischen Hochschulraum nicht die Rede sein,” sagt er: „In den letzten 15 Jahren war das eine Diskussion, die niemand führen wollte”. Obwohl es ein Bekenntnis der MinisterInnenkonferenz des europäischen Hochschulraums zu öffentlicher Finanzierung gibt, wurde diese nie konkretisiert.

Laut Rok ist Bulgarien mit den großen Unterschieden zwischen privaten und öffentlichen Institutionen eher ein Einzelfall. „In Bulgarien gibt es diesen Trend, da die Studierendenzahlen stark gestiegen sind, ohne dass die öffentlichen Investitionen entsprechend erhöht wurden. Die privaten Institutionen können hohe Gebühren verlangen und es entsteht eine Art Trennung nach sozialen Klassen. In den meisten westeuropäischen Ländern ist die finanzielle Ausstattung der öffentlichen Hochschulen gut, und die Unterschiede nicht so spürbar – die privaten Universitäten füllen dort eher eine Nische”.

Nichtsdestotrotz ist die Privatisierung öffentlicher Bildung auch ein allgemein europäischer Trend und Marias Studienbedingungen in Dänemark Teil eines skandinavischen Idylls. „Obwohl die Staaten recht unterschiedliche Verteilungen wählen, geht der allgemeine Trend dahin, dass Studierende und deren Familien mehr Kosten übernehmen. Studiengebühren werden erhöht, Beihilfen gesenkt oder der Zugang dazu verschärft,” erklärt Rok. In vielen Ländern steigen insbesondere die „versteckten“ Kosten für Bücher, Registrierungen, Bewerbungen, etc. In den Mittelmeerländern, aber auch Irland und Großbritannien ist der Trend am stärksten.

Wer für die Kosten eines Studiums aufkommt, ist in Europa insgesamt also höchst unterschiedlich und Bildungschancen hängen auch deshalb stark mit der eigenen Herkunft zusammen. Das Projekt des gemeinsamen Hochschulraums wird dadurch letztendlich in Frage gestellt. „Bologna ist nicht gerade in Hochform, und viele Länder verlieren Interesse daran. Es gibt eine Diskussion darüber, wie der Prozess weiter betrieben werden kann. Für manche Staaten und die Europäische Kommission wäre die Lösung auch über Finanzen zu diskutieren,” berichtet Rok und ergänzt: „Die ESU fordert ebenfalls eine Diskussion darüber auf europäischer Ebene”. Bleibt zu hoffen, dass das derzeitige politische Klima in Europa diese Bestrebungen nicht zu Nichte macht.

*Name geändert. Vollständiger Name der Redaktion bekannt.

Robin Tschötschel studiert Global Studies an der Universität Roskilde und lebt in Kopenhagen.
Foto: cc-by Jixar

Verhindern wir gemeinsam ein postdemokratisches Europa

  • 28.09.2012, 20:48

Plädoyer für eine europäische Volksabstimmung zum Fiskalpakt.
Ein Gastkommentar von der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE Katja Kipping.

Plädoyer für eine europäische Volksabstimmung zum Fiskalpakt.
Ein Gastkommentar von der Vorsitzenden der Partei DIE LINKE Katja Kipping.

Wir erleben gerade die schlimmste ökonomische und politische Krise der Europäischen Union. Warum? Weil es der Finanzmarktindustrie gelungen ist, ihre falsche Erzählung über die Ursache der Krise durchzusetzen. Sie wird nun nicht mehr als Krise der Finanzinstitute und ihrer Fehlspekulationen wahrgenommen, sondern als Staatsschuldenkrise. Dabei sind die tatsächlichen Ursachen der  Krise am besten mit drei U zu beschreiben: Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen, Ungleichgewichte bei der Vermögensverteilung und die Unterregulierung der Finanzmärkte. Einige Fakten zur Verdeutlichung: Die reichsten 10 Prozent verfügen über circa zwei Drittel des Vermögens.

Europaweit ist die Lage ähnlich: Die 3,1 Millionen Dollar-Millionäre verfügen laut dem World Wealth Report von Capgemini und Merrill Lynch gemeinsam über 10,2 Billionen USDollar Netto-Vermögen. Diesem Reichtum in den Händen von circa einem Prozent der Bevölkerung steht eine immer weiter steigende Armutsquote gegenüber. In der EU sind heute mehr als 16 Prozent der Menschen von Armut betroffen. Die Schattenbanken, auch bekannt als Hedgefonds, haben inzwischen einen finanziellen Umfang, der jenem der normalen Geschäftsbanken nahekommt. Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss der Exportnation Deutschland beträgt 170 Milliarden Euro. Als Folge der Krisenerzählung der  Finanzwirtschaft wurde in Europa unter deutschem Druck der „Fiskalpakt“ durchgesetzt. Er verpflichtet die unterzeichnenden Staaten, eine  Schuldenbremse in ihren Verfassungen zu verankern, die weitere  Kreditaufnahmen faktisch verbietet. Übersteigt die Verschuldung 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, sollen sie bestraft werden. Das klingt zunächst  vernünftig. Wer hat schon gerne Schulden?

Dabei weiß jedeR EigenheimbesitzerIn mit Durchschnittseinkommen, dass das eigene Domizil nur über einen Kredit finanziert werden kann. Die Schuldenquote der EigenheimbesitzerInnen ist in Bezug auf ihr Jahreseinkommen schnell höher als die der Staaten, die als hochverschuldet gelten. Aber nicht nur Menschen oder Unternehmen müssen manchmal investieren. Das Gleiche gilt für Staaten.  Straßen, Schulen und Schwimmbäder werden über Jahrzehnte genutzt. Deshalb ist es nur logisch, dass diese Investitionen auch über Jahre finanziert werden. Staatliche Investitionen führen in der Regel sogar zu mehr Einnahmen. Der Staat investiert in Infrastruktur und Bildung und schafft damit die Voraussetzung, dass Unternehmen Gewinne und Menschen gute Löhne erzielen können. Durch gezielte Investitionen kann der Staat sogar einem Absinken der Einnahmen in einer Krise entgegenwirken. Diese Logik galt  übrigens als Grundgesetz, bis sie durch die Schuldenbremse ersetzt wurde.

Kritisch wird es für den Staat erst, wenn seine Einnahmen zurückgehen – so wurden die Spitzensätze der Einkommenssteuer in den USA von 1950 bis heute von 90 Prozent auf 35 Prozent, in Deutschland von 95 Prozent auf 45 Prozent und in Frankreich von 60 Prozent auf 40 Prozent gesenkt. Der Spitzensatz der Einkommenssteuer ist zwischen 1998 und 2007 EU-weit um 4,9 Prozentpunkte zurückgegangen. Auch vermögensbezogene Steuern sind immer weiter gesunken. Heute beträgt ihr Aufkommen als Anteil des BIP in der EU noch 2,1 Prozent. Diese seit Jahrzehnten betriebene Politik des Einnahmeverzichtes ist letztlich der Grund für die Schuldenkrise der Staaten. Doch von einer stärkeren Besteuerung von Reichtum ist heute kaum die Rede.

Unverbindliche Lyrik. Den Fiskalpakt als „Schuldenbremse“ zu bezeichnen, ist ein Euphemismus. Treffender ist, ihn als Investitionsbremse zu bezeichnen. Das faktische Investitionsverbot ist volkswirtschaftlich kontraproduktiv. So als würde man einem Unternehmen verbieten, in neue Maschinen zu investieren und es zwingen, weiter mit nicht mehr wettbewerbsfähigen zu arbeiten. Die Folge ist klar: Die Pleite wird wahrscheinlicher, nicht unwahrscheinlicher. Der Fiskalpakt wird Deutschland zwingen, jährlich 25 Milliarden Euro einzusparen. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik weist allerdings darauf hin, dass in Deutschland ein zusätzlicher Investitionsbedarf von mindestens 75 Milliarden Euro pro Jahr besteht. Bei konsequenter Umsetzung der Schuldenbremse setzt das eine extreme Erhöhung der Steuereinnahmen voraus, die nicht mit einer europäischen Transaktionssteuer oder einer leichten Erhöhung der  Einkommensteuer zu erzielen ist. Der Fiskalpakt wird also notwendige Investitionen verhindern und zu Sozialabbau führen.

Postdemokratische EU. Im Fiskalpakt manifestiert sich zudem der postdemokratische Zustand der europäischen Gesellschaft. Der von oben verordnete Sparzwang erhält auf einmal europaweit Verfassungsrang. Der europäische Demos wird nicht gefragt. Eigentlich hätte der Fiskalpakt eine Modifikation der europäischen Verträge nötig gemacht. Aber die Exekutiven haben den Fiskalpakt am Europarecht vorbei als völkerrechtlichen Vertrag  durchgesetzt. Mit dem Fiskalpakt steht der Kontinent, auf dem einst das Demokratieprinzip geboren wurde, vor einer autoritären Wende. Was jetzt auf dem Spiel steht, ist der Kern der Demokratie, nämlich, dass Parlamente über die Verwendung von Steuern, über Investitionen und Einsparungen eigenständig entscheiden.

Setzt sich die Logik des Fiskalpakts durch, vollziehen die Parlamente letztlich nur noch die neoliberale Spardoktrin. Die Demokratie wird in eine Zwangsjacke der Alternativlosigkeit gesteckt. Sie wird zu einer Veranstaltung von  TechnokratInnen, bei der einzig darum gestritten werden darf, wer am effektivsten spart, wer Frauenhäuser, Universitäten und Sozialsysteme am besten zusammenstreicht. Mit dem Fiskalpakt haben die Neoliberalen ihr ökonomisches Paradigma in Marmor gemeißelt.

Das Projekt Europa steht am Scheideweg. Mit dem Fiskalpakt werden die Weichen in Richtung Sozialabbau gestellt. Der Euro wird scheitern. Eine  gemeinsame Währung kann die verstärkten sozialen Unterschiede in Europa einfach nicht aushalten. Um das zu sehen, muss man kein Linker sein. Selbst der US-Präsident Barack Obama kann dem Sparkurs nichts abgewinnen. In Deutschland klagt meine Partei, DIE LINKE, deshalb gegen Fiskalpakt und  EURettungsschirm. Beide sind mit unseren Vorstellungen von Demokratie und Sozialstaat nicht vereinbar. Ein Vertrag, der so stark in die demokratischen und sozialen Rechte eingreift, sollte nur per europaweiter Volksabstimmung beschlossen werden. Zwei Alternativen könnten zur Auswahl stehen. Zum einen der Fiskalpakt, also Investitionsbremse und Sozialabbau. Diesen Weg möchte Schwarz-Gelb gemeinsam mit Rot-Grün einschlagen. Oder zum anderen eine Politik, die an der Wurzel der Krise ansetzt und endlich eine europäische Wirtschafts- und Sozialunion auf den Weg bringt. Dafür ist eine Umverteilung von oben nach unten und über eine couragierte Regulierung der Finanzmärkte unabdingbar.

So eine Abstimmung könnte auch einen positiven Aspekt verstärken: Lange galt die EU als ein Projekt der Bürokraten in Brüssel. Die Öffentlichkeit konzentrierte ihre Aufmerksamkeit vor allem auf das eigene Land. Doch immer mehr Menschen  blicken über den nationalen Tellerrand. Die Wahlen in Griechenland und Frankreich wurden auch in Deutschland mit großem Interesse verfolgt.

Namen wie Alexis Tsipras und François Hollande sind in aller Munde, als handle es sich um Fußballstars. Eine europäische Öffentlichkeit und ein europäischer Demos sind auf einmal da. Sie sind der Hoffnungträger für eine soziale und demokratische Erneuerung der EU. Vorerst werden sie die europäische Idee vor  dem Fiskalpakt erteidigen müssen.

Die Dresdnerin Katja Kipping (Jahrgang 1978) wurde im Juni 2012 mit 67 Prozent zur Bundesvorsitzenden der Partei DIE LINKE gewählt. Als Vertreterin der innerparteilichen Strömung der emanzipatorischen Linken, die nicht an die „Erwerbsarbeit als allein selig machende Bestimmung des Menschen“ glaubt, tritt sie trotz Gegenwind aus der eigenen Partei als vehemente Befürworterin des Bedingungslosen Grundeinkommens auf. Die deklarierte Feministin ist  außerdem Mitbegründerin des Instituts Solidarische Moderne sowie des Magazins prager frühling.