EU

Portugal surreal

  • 21.06.2017, 18:07
Europa driftet immer weiter nach rechts. Mit Ausnahme von Portugal, mit seiner Linksregierung unter Premier António Costa – auf deren Erfolge die GenossInnen der EU-Partnerstaaten neidvoll blicken.

Europa driftet immer weiter nach rechts. Mit Ausnahme von Portugal, mit seiner Linksregierung unter Premier António Costa – auf deren Erfolge die GenossInnen der EU-Partnerstaaten neidvoll blicken.

Die Choreografie der Baukräne über den Dächern Lissabons versinnbildlicht eine der Facetten der wirtschaftlichen Kehrtwende, die Portugal unter seiner Linksregierung glückt. Mitverantwortlich sind der Tourismusboom, steigende Auslandsinvestments und ein brummender Exportmotor. Nach Jahren der Tristesse ist nun knisternder Optimismus spürbar. „Selbst der Exodus junger PortugiesInnen reversiert sich zum Glück“, sagt Luis Fonseca zu progress. Bis zur Krise noch im Seehandel und in Angola tätig, arbeitet er zurzeit als Chauffeur: „Meine beiden Söhne, ein Architekt und ein Ingenieur, vor der Krise die Studien mit Quasi-Jobgarantie, sind im letzten Jahr wieder aus Lateinamerika zurück in ihre Heimat gekommen“, freut er sich.

PRAGMATISCHER OPTIMIST. Während die Sozialdemokratie europaweit orientierungs- und zahnlos in Opposition oder Zweckehe-gleichen Koalitionskompromissen ihre Wurzeln vergisst, erfreut sich Premier António Costa großer Beliebtheit. Ein überaus pragmatischer Optimist, dem es geglückt ist, zur Stützung seiner sozialistischen Minderheitsregierung die stets zerstrittene Linke – KommunistInnen (PCP) und Linksblock (BE) – zu einen.

Was Costas Polit-Antagonist Ex-Vizeregierungschef Paulo Portas (CDS-PP) – nun bei Mexikos Ölkonzern Pemex tätig – zu dessen Amtseinführung „Geringonça“ nannte (zu Deutsch „schräges, unsolides Konstrukt“), funktioniert nun – aller Unkenrufe zum Trotz.

Mehr noch, es gelang Costas Kabinett, der Wirtschaft Flügel zu verleihen. Costa sieht den Grund darin freilich pragmatisch: Er habe einfach alles exakt umgekehrt gemacht wie sein Vorgänger – der konservative Ex-Premier Pedro Passos Coelho (PSD).

EINFACHES REZEPT. „Eineinhalb Jahre sind vergangen, und der Teufel hat das Land nicht geholt“, sagte Costa Anfang Juni: „Wir haben das Land nicht neuerlich in eine Tragödie gesteuert. Ganz im Gegenteil.“ Wo die Vorgänger Pensionen und Gehälter gekürzt haben, um das Budget zu sanieren, habe man diese angehoben. Wo Steuern gestiegen seien, habe man diese gesenkt. „Das Rezept ist einfach“, so Costa: „Nicht mit Kürzungen saniert man den Haushalt, sondern mit dem Vertrauen der Familien und UnternehmerInnen.“ Was Jobs betrifft, blickten die Menschen nun sukzessive optimistischer in die Zukunft, sagt João Barata, der als Fotograf für eine Stadtgemeinde des Großraums Lissabon arbeitet: „Früher drehten sich Gespräche im Freundeskreis nur um die ‚Troika‘, die Krise und wie schlecht es allen geht, was Arbeitsplatzsicherheit, -konditionen oder eben Pensionskürzungen betrifft.“ Nun könne man wieder feiern. Sei es der Fußball-EM-Titel oder der Sieg beim Eurovision Song Contest, scherzt Barato: „In gewisser Weise hat sich die Kehrtwende auch in den Köpfen der PortugiesInnen vollzogen. Vom Pessimismus, der dominierte, zum Optimismus.“

Dafür setzt Costa populäre Maßnahmen. Etwa gegen die Energiearmut, oder das Anheben des gesetzlichen Mindestlohns um 25 Prozent binnen vier Jahren, der aktuell unter 650 Euro monatlich rangiert. Neben der Senkung der Mehrwertsteuer von 23 Prozent generell, in Hotellerie und Gastronomie auf 13 Prozent. Oder die Rücknahme der Privatisierung der Fluglinie TAP Portugal. Costa surft auf einer Welle der Beliebtheit, was sich in Wahlsonntagsumfragen zeigt. Mehr als 42 Prozent würden den Premier wiederwählen. Die Arbeitslosigkeit markierte im März bereits ihren Tiefststand seit sieben Jahren (9,8 Prozent laut Eurostat). Ein Defizit von 2,1 Prozent (2016) haben die Konten Lissabons seit der Nelkenrevolution 1974 nicht mehr gesehen.

„Die Stimmung ist deutlich optimistischer als vor ein paar Jahren. Wenn ich durch die Straßen gehe, fällt mir auf, dass viel mehr TouristInnen unterwegs sind“, sagt Sven Haidinger, österreichischer Motorsportjournalist, der sich 2015 in Lissabon niedergelassen hat. „Der Tourismusboom bringt natürlich Arbeitsplätze. Überall wird gebaut und renoviert, um die Stadt attraktiver zu machen.“ Es würden immer mehr Läden und Lokale aufsperren, deren Zielgruppe aber reiche TouristInnen seien. Oder die vielen EU-BürgerInnen, junge Selbständige und PensionistInnen, die es nach Portugal zieht. Erstere wegen der Lebensqualität, Zweitere wegen Steuerbefreiungen.

MUTIGER. „Meine portugiesischen FreundInnen verdienen zu wenig, um sich das leisten zu können“, sagt Haidinger weiter und warnt: „Lissabon läuft Gefahr, seine Authentizität und Identität zu verlieren.“ Positiv bemerkt er einen einsetzenden Startup- Boom in der jungen Bevölkerung: „Die PortugiesInnen sind heute mutiger geworden, neue Wege unternehmerisch auszuprobieren.“

Dafür gewährt Wirtschaftsminister Mário Centeno (PS) Förderungen. Weiters soll forcierte Altersteilzeit den jungen arbeitslosen PortugiesInnen den Einstieg ins Berufsleben erleichtern und zugleich die Zahl der Teilzeit arbeitenden jungen ArbeitnehmerInnen reduzieren, um deren Perspektiven zu steigern.

Dafür, dass Costa schön auf Linkskurs bleibt, und der EU und den Gläubigern die Stirn bietet, sorgen ohnehin die PCP, und allen voran BE-Chefin Catarina Martins. Sie mäßigte nach Drohungen um ein Euro-Austritts-Referendum zwar den Ton. Doch fordert sie im progress-Interview vehement ein, „dass der Aufschwung sich auf die Lebensqualität der ArbeitnehmerInnen und deren Rechte positiv auswirkt. Die Regierung muss ihr Versprechen halten, und den grundlegenden Verpflichtungen gegenüber den ArbeiterInnen nachkommen.“

Jan Marot studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien.

„Es muss ein Umdenken stattfinden“

  • 20.06.2017, 21:36
Während auf Athens Straßen gegen das neue Sparpaket demonstriert wird, sitze ich mit Syriza-Vorstandsmitglied Giorgos Chondors auf der Terrasse des Parteibüros. Ein Gespräch über linkes Regieren, Solidarität und die Zukunft Griechenlands.

Während auf Athens Straßen gegen das neue Sparpaket demonstriert wird, sitze ich mit Syriza-Vorstandsmitglied Giorgos Chondors auf der Terrasse des Parteibüros. Ein Gespräch über linkes Regieren, Solidarität und die Zukunft Griechenlands.

progress: Nachdem es Alexis Tsipras entgegen seiner anfänglichen Versprechen nicht gelungen ist, sich gegen die Sparpolitik durchzusetzen, haben nicht nur Griech*innen die Hoffnung auf eine menschlichere Politik verloren. Auf europäischer Ebene spricht man von einem Scheitern der Linken. Denken Sie, ist es überhaupt möglich, im Rahmen der EU „links“ zu regieren?
Giorgos Chondors:
Ich würde nicht sagen, dass es unmöglich ist. Denn dann müsste ich auch denken, dass es keinen Sinn macht, dass es linke Parteien überhaupt gibt. Wir mussten aber auch feststellen, dass die Regierung zu übernehmen nicht heißt, die Macht zu haben. Wir wissen jetzt, was möglich ist und was nicht. Die Kräfteverhältnisse in der EU sind total ungünstig, was unsere Politik betrifft, und weil sich dieses Kräfteverhältnis ständig nach rechts verschiebt, wird es noch ungünstiger.

Wenn man sich die Programme ansieht, wird schnell klar, dass die Sparpolitik von Anfang an der falsche Weg war und immer noch ist. Die Argumentation der Gläubiger, durch Einsparungen die Krise zu bewältigen, gilt längst in weiten Kreisen als überholt. Selbst der IWF und die Wirtschaftsminister der europäischen Kommission haben in einer Studie die Fehler der Austeritätspolitik eingestanden. Es ist ganz einfach: Wenn du die Kaufkraft kürzt, leidet die Wirtschaft. Gerade in Griechenland, wo sich diese in erster Linie auf den Binnenmarkt beschränkt, hat sich das bestätigt.

Deshalb hat all das weder mit wirtschaftlichen noch fiskalischen, sondern politischen Überlegungen zu tun. Das Ziel ist, das linke Projekt aus der Welt zu schaffen, indem man seinen Kontakt zu gewissen Bevölkerungsgruppen sozusagen abschneidet. Das heißt, unter der Politik dieser Regierung müssen vor allem jene Bevölkerungsgruppen leiden, die guten Bezug zu Syriza haben. Das ist die Überlegung dahinter.

Die deutliche Mehrheit der Griech*innen hat sich bei dem Referendum im Jahr 2015 gegen die Sparmaßnahmen der Gläubiger ausgesprochen. Wenige Tage später wurde – unter der Drohung des Grexits – einem weiteren Sparprogramm zugestimmt. Seitdem hat sich die soziale Krise weiterhin verschärft. Angesichts dieser humanitären Katastrophe, wäre es nicht sinnvoller gewesen, aus dem Euro auszutreten?
Der größte Teil der griechischen Bevölkerung, der mit „Oxi“ stimmte, hat damit noch lange nicht gemeint, aus dem Euro auszutreten. Das wissen wir nicht nur aus Umfragen, sondern auch aus den Wahlen. Jene Parteien, die für den Euro-Austritt plädierten, bekamen nicht einmal ein Prozent. Dafür gab es also keine Mehrheit.

Zudem bedeutet ein Euro-Austritt noch lange nicht, dass man die Schulden loswird. Faktisch wären die Schulden noch höher, da man sie in einer abgewerteten Währung zurückzahlen müsste. Ein ungeordneter Grexit hätte wahrscheinlich eine noch größere soziale Katastrophe mit sich gezogen. Aber die eigentliche Erpressung war nicht der Grexit, sondern dass der Euro-Austritt mit dem totalen Verlust der Bankeinlagen einhergegangen wäre. Über 85 Prozent der griechischen Konten hatten weniger als 2.000 Euro Einlage. Man kann sich vorstellen, welche Menschen dieser Schritt am härtesten getroffen hätte. Das Ausmaß der sozialen Katastrophe wäre kaum vorstellbar. Das könnten wir nicht verantworten. Für Griechenland ist der Euro-Austritt keine ideologische oder politische Diskussion, sondern eine rein pragmatische. Eine linke Regierung, die dafür da ist, die untere Schicht zu unterstützen, hat eine größere Verantwortung.

Neben den tragischen sozialen Auswirkungen der Sparpolitik birgt die Krise auch Momente der Solidarität. Menschen, die selbst von den Einschnitten betroffen sind, schaffen es, Tag für Tag zu helfen. Selbstorganisierte Flüchtlingsheime, Suppenküchen oder Solidaritätskliniken sind Ausdruck davon. Kann man von einem Wertewandel im Zuge der Krise sprechen?
Es ist eine großartige Erfahrung, wie sich eine Bevölkerung selbst organisieren kann, um einerseits Widerstand zu leisten und sich andererseits materiell zu unterstützen. Es geht dabei nicht nur um das Lindern von Not in einer Krisensituation. Diese Solidaritätsstrukturen eröffnen ebenso ein neues soziales Denken, was in gewisser Weise auch mit einem Wertewandel einhergeht. Dieses Modell ist ein alternativer Vorschlag für eine solidarische Gesellschaft. Eines muss man sich allerdings auch eingestehen: Man kann den Kapitalismus nicht mit der solidarischen Ökonomie ersetzen.

Falls es eine Zukunftsvision für Griechenland gibt, hat solidarische Ökonomie Platz darin?
Zukunftsvisionen für Griechenland kann es in absehbarer Zeit nur dann geben, wenn es die Kräfteverhältnisse zulassen. Auf europäischer Ebene muss ein Umdenken stattfinden. Dazu gehört, dass die Vormundschaft endlich aufhört. Sollte dies passieren, ist die Implementierung der solidarischen Ökonomie in den wirtschaftlichen Wiederaufbau vorgesehen. Dazu versucht die Regierung, die Erfahrungen der verschiedenen solidarischen Initiativen – von den Solidaritätskliniken bis hin zu landwirtschaftlichen Kooperativen – zu institutionalisieren. Es geht darum, die Idee der solidarischen Ökonomie zu verbreiten, Projekte zu vernetzen und zu unterstützen. Auf diesem Gebiet passiert zurzeit sehr viel. Ziel ist es, einen sozialen und demokratischen Weg aus der Krise zu finden. Solange die Programme allerdings noch laufen, ist es sehr schwer, eigenständige Politik zu machen.

Lisa Edelbacher hat Politikwissenschaft und Publizistik an der Universität Wien studiert und arbeitet nun als freie Journalistin.

Wem gehört die Sonne?

  • 11.08.2014, 16:29

Die rechtskonservative Regierung in Madrid hat die Nutzung von Sonnenenergie für den Eigenbedarf unmöglich gemacht. Ein Präzedenzfall, der in anderen EU-Staaten bereits NachahmerInnen findet – zu Lasten der KonsumentInnen.

Die rechtskonservative Regierung in Madrid hat die Nutzung von Sonnenenergie für den Eigenbedarf unmöglich gemacht. Ein Präzedenzfall, der in anderen EU-Staaten bereits NachahmerInnen findet – zu Lasten der KonsumentInnen.

KritikerInnen nennen sie „Sonnensteuer“ oder „Sonnenmaut“. Und unter dem Motto #DeSOLbediencia, ein Wortspiel, zusammengesetzt aus den spanischen Wörtern für „zivilen Ungehorsam“ (desobediencia) und Sonne (sol), wird der Widerstand der Bevölkerung gegen ein Quasi-Verbot der Nutzung von Solarenergie für den Eigenbedarf in Spanien zuletzt deutlich forciert. Privathaushalten wurde mit der jüngsten Reform der rechtskonservativen Regierung unter Ministerpräsident Mariano Rajoy praktisch verunmöglicht, Strom aus Fotovoltaik-Anlagen auf ihren eigenen Dächern, Balkonen oder in ihren Gärten zu nutzen. Wer seine Paneele zur Erzeugung von Ökostrom pflichtgemäß ans Netz anschließt, dem wird seit der Reform mit eklatant höheren Stromrechnungen gedankt, was die Nutzung, zumindest finanziell, absurd macht. Jenen, die ihre Paneele nicht ans Stromnetz anschließen und behördlich melden, drohen drakonische Strafen von bis zu einer Million Euro und in bestimmten Fällen sogar bis zu
60 Millionen Euro.

Offizielles Ziel der Reform sei, „die Energiewende zu beschleunigen“ und die Subventionskosten zu senken, wie man im Energieministerium in Madrid betont. Klima- und UmweltschützerInnen warnen hingegen vor gegenteiligen Effekten und einer deutlichen Verzögerung in puncto Umstieg auf erneuerbare Quellen. Tatsächlich wird Sonnenenergie nämlich unrentabel für die KleinstproduzentInnen und für KonsumentInnen exorbitant teurer. Tausende SpanierInnen haben bereits begonnen, ihre Paneele abzumontieren und zu entsorgen. Gas, Öl und Uran. Es mag hochgradig paradox erscheinen, dass gerade im sonnigen Spanien die ohnehin von Krisen geplagten BürgerInnen um ein augenscheinliches Allgemeingut, die Sonne, gebracht werden. Daran zeigt sich jedoch deutlich, in welche Richtung die Energiepolitik der Konservativen steuert. In die Sondierung neuer Erdöl- und Erdgasvorkommen vor den Balearen und den Kanaren wird massiv investiert und der von der sozialdemokratischen PSOE anberaumte Ausstieg aus der Atomenergie immer weiter aufgeschoben. Auch das AKW Santa María de Garoña bei Burgos, baugleich mit dem in Japan havarierten Fukushima-Reaktor und seit 1971 in Betrieb, soll noch viele Jahre Strom liefern.

„KleinsterzeugerInnen werden von der Regierung behandelt, als hätten sie ein AKW am Dach“, kritisiert Mario Sánchez-Herrero, Mitinitiator der #DeSOLbediencia-Kampagne. Der Soziologe und Politikwissenschafter betont, dass eine Forcierung der Produktion nachhaltiger Energie über Selbstversorgung und die Einspeisung der dabei anfallenden Überschüsse jedoch der einzige Weg wäre, um die Preise für die EndverbraucherInnen zu senken. Stattdessen sind die Energiepreise seit 2007 um etwa 70 Prozent gestiegen. Die spanischen Energiekonzerne schwelgen derweil in satten Gewinnen von sieben bis acht Milliarden Euro jährlich, und rangieren selbst angesichts eines krisenbedingt eingebrochenen Verbrauchs im Spitzenfeld der EU-Stromerzeuger.

Todesstoß für KMUs. Klagen gegen das neue Gesetz wurden längst vorbereitet und auch eingereicht, unter anderem von kleinen und mittleren Unternehmen (KMUs), die es in den Konkurs getrieben hat. Auch Klagen vor EU-Gerichten sind angedacht. Denn sollte Madrid damit durchkommen, drohen auch in anderen EU-Staaten solche Szenarien: Die einst großzügig durch die öffentliche Hand geförderten Anlagen, die den BesitzerInnen über Einspeisevergütungen überdies monatlich eine kleine Gutschrift auf der Stromrechnung brachten, müssen nun auf eigene Kosten abmontiert werden. Spaniens Nachbar Portugal bereitet bereits ein vergleichbares Gesetz vor, mehr und mehr Unternehmen ziehen sich deshalb aus dem Geschäftsfeld zurück.

Einmal mehr zeigt sich durch die umstrittene spanische Reform auch, wie nahe sich Energiekonzerne und Politik stehen. Ein Blick in die Aufsichtsräte der Energiegiganten zeigt deutlich, dass diese zu einem Großteil mit Ex-PolitikerInnen besetzt sind: Der sozialistische Ex-Premier Felipe González ist bei Gas Natural tätig, der konservative Ex-Premier José Maria Aznar bei Endesa, Javier Solana bei Acciona, um nur die wichtigsten zu nennen. Bereits jetzt kursieren im Internet „Wetten“, wo Energie- und Industrieminister José Manuel Soria (PP) nach seiner Politkarriere landen wird. Der Ibero-Erdölgigant Repsol führt derweil im Wettranking.

„Energiewende gegen die Wand“. Auch in Deutschland wurde gerade beschlossen, die Steuerlast für Eigenheim-Solaranlagen zu erhöhen. Zukünftig werden auch Privathaushalte, die mit Sonnenenergie Strom für den Eigenbedarf produzieren, mit der sogenannten EEG-Umlage (Erneuerbare-Energien-Gesetz) von 40 Prozent belastet. Rentabel wären solche Anlagen somit nicht mehr, sind sich ExpertInnen einig. „Hier droht der größte Rückschritt seit Beginn des Klimaschutzes in Deutschland. Wer Klimaschützer derart bestraft, wird die Energiewende gegen die Wand fahren“, warnte etwa Carsten Körnig, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Solarwirtschaft e.V. in der FAZ. Er kritisierte zudem, dass Förderkürzungen für Fotovoltaik in Deutschland längst die Nachfrage nach solchen Anlagen für Eigenheime einknicken haben lassen.

In Österreich formierte sich im Frühjahr bereits seitens der Grünen Widerstand gegen die Besteuerung von Solaranlagen ab 5.000 Kilowattstunden Jahresverbrauch, die seit dem Vorjahr zu entrichten ist. Die Grünen fordern eine Befreiung von so kleinen Anlagen, die in etwa den Strom erzeugen, den ein Vier-Personen-Haushalt in einem Jahr verbraucht. Wie schwer es in Österreich ist, eine Mini-Solaranlage zu montieren beschreibt beispielsweise Simon Niederkircher auf seinem lesenswerten Solar-Zwerg-Blog (siehe Webtipps).

Eine Selbstversorgung der BürgerInnen mit erneuerbaren Energien ist in der EU seitens der regierenden Großparteien mit ihrem Naheverhältnis zu Energiekonzernen nicht gewünscht, wenn nicht sogar gefürchtet. Um sie trotzdem zu verwirklichen, bedarf es einer raschen, weitreichenden Mobilisierung der EU-Bevölkerung, unterstreicht Sánchez-Herrero: „Wir müssen dieses Stück Freiheit erkämpfen!“ Nur so sei eine wahre Energiewende möglich: „Nachhaltig, sauber, grün und vor allem mit und in den Händen der BürgerInnen.“

Webtipps:

http://desolbediencia.org/
http://www.ecooo.es/
http://solarzwerg.wordpress.com/

Jan Marot arbeitet als freier Journalist in Granada.

Das Ende der EUphorie?

  • 24.05.2014, 16:58

Die Jugend fühlt sich von der EU im Stich gelassen. Arbeitslosigkeit und ein Mangel an Perspektiven nehmen ihnen zusehends das Vertrauen in Europa. Immer mehr junge Menschen sehen sich nach politischen Alternativen um.

Wer als junger Mensch in der EU mitreden möchte, muss viel Zeit und Geduld investieren, weiß Emma Hovi aus eigener Erfahrung. Die 24-jährige Wahl-Berlinerin war nach ihrer Schulzeit ein Jahr im Vorstand der Europäischen SchülerInnenvertretung OBESSU aktiv. Freundschaften konnte Hovi während dieser Zeit viele knüpfen. Aber die Arbeit in der Interessenvertretung hat sie zynisch werden lassen. „Wie wichtig die Jugend sei, wird in den Institutionen der EU überall betont. Wenn junge Menschen aber tatsächlich mitreden möchten, stehen sie schnell vor verschlossenen Türen“, meint Hovi. Ein ranghoher Kommissionsbeamter als Gast bei einer der vielen Veranstaltungen der Jugendorganisation sei eine Ehre gewesen, aber keine Selbstverständlichkeit.

Seit Ausbruch der Finanzkrise sinkt der Zuspruch, den die Europäische Union bei ihren BürgerInnen findet, stetig, das zeigen viele Statistiken. Laut Eurobarometer gab im Herbst 2013 nur noch ein Drittel der EU-BürgerInnen an, Vertrauen in die Europäische Union und ihre Politik zu haben. Dass sie damit noch besser abschnitt als die nationalen Regierungen, ist ein schwacher Trost. Den höchsten Zuspruch bekam die EU von den unter 24-Jährigen. Befürchtet wird aber, dass selbst diese Zahlen kippen könnten. Die Sparpolitik in Griechenland hat nicht nur drastische Folgen für das Land, sie hat auch Ratlosigkeit bei der Bevölkerung der anderen EU-Länder hinterlassen. Die Bilder aus Griechenland liegen vielen jungen EuropäerInnen schwer im Magen. Viele suchen bei nationalistischen Parteien einfache politische Antworten auf die Krise. Das sinkende Interesse der Jugend für die EU zeigte sich aber schon an der niedrigen Beteiligung bei der letzten EU-Wahl: 2009 nahmen weniger als ein Drittel der Jugendlichen ihr Wahlrecht in Anspruch, so eine Studie des Europäischen Jugendforums. Ein Ergebnis, dem die EU mit mehr jugendpolitischen Maßnahmen entgegenwirken möchte. Mit dem sogenannten „Strukturierten Dialog“ sollen Jugendorganisationen bei der Ausarbeitung politischer Zielsetz­ungen schrittweise eingebunden werden. Auch im Entwicklungsplan „Europa 2020“, der den Rahmen für die Politik der nächsten Jahre vorgibt, hat die Jugend einen hohen Stellenwert und in der gegenwärtigen Krise entstanden gleich drei Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit. Gleichzeitig ist die europäische Jugendpolitik mit dem Problem konfrontiert, dass die Kompetenzen in dieser Hinsicht meist auf nationaler Ebene liegen. Was auf europäischer Ebene diskutiert wird, findet daher oft keine direkte Umsetzung. Jugendorganisationen können sich auf europäischer Ebene noch so engagieren, Resultate ihrer Bemühungen sind in den meisten Fällen nicht mehr als Empfehlungen und vage Absichtserklärungen.

E wie EU-Wahl: am 25. Mai wird das EU-Parlament gewählt. Foto: Alexander Gotter U wie Union: 28 Mitgliedsstaaten zählt die EU. Foto: Alexander Gotter R wie Rechte: Viele befürchten einen Wahlsieg von rechten Parteien. Foto: Alexander Gotter

Krisenerscheinungen. So klein die politische Macht der EU in manchen Bereichen auch scheint, umso stärker spürbar sind die Auswirkungen ihrer Krisenpolitik. Unter dem Banner der Austeritätspolitik erklärte die EU die Konsolidierung desgriechischen Staatshaushaltes durch rigide Sparmaßnahmen zum primären Ziel und entschied damit, Kapitalinteressen absoluten Vorrang zu geben. Die Aufzählung der Einsparungen in Griechenland liest sich wie eine Checkliste zur Demontage des sozialen Wohlfahrtstaats: Kürzungen wurden vor allem im öffentlichen Dienst, bei Gehältern und Pensionen sowie bei sozialen Subventionen und im Gesundheitswesen vorgenommen, das Arbeitsrecht wurde flexibilisiert und Schutzbestimmungen abgebaut. Mit buchhalterischem Erfolg: 2013 bilanzierte Griechenland zum ersten Mal in seiner Geschichte positiv. Der Preis dafür war jedoch immens hoch. So zeigten sich selbst der Internationale Währungsfond und die EU-Kommission im Vorjahr erstaunt angesichts der gesellschaftlichen Auswirkungen ihrer Sparziele. Zu diesem Zeitpunkt lehnten in einer Gallup-Umfrage 94 Prozent der Menschen in Griechenland und 51 Prozent innerhalb der anderen EU-Länder die Maßnahmen ab und verlangten nach Alternativen. Eine Jugendarbeitslosenquote jenseits der 60 Prozent, prekäre Arbeitsbedingungen und unterfinanzierte Universitäten haben der jungen Generation die Zukunft verbaut. Selbst AbsolventInnen von etablierten Studienfächern wie Medizin, Architektur oder Rechtswissenschaften müssen heute um jedes unterbezahlte Praktikum kämpfen. Während sich die Miete für eine kleine Bleibe in Athen auf 300 Euro beläuft, liegt der Mindestlohn für junge ArbeitnehmerInnen knapp über 500 Euro. Viele junge Erwachsene mussten wieder zurück ins Elternhaus ziehen. Nicht wenige flüchten sich vor den deprimierenden Zukunftsaussichten in Rauschwelten oder Suizid. In Griechenland wurde in den letzten Jahren das Gegenteil der zuvor geplanten europäischen Jugendmaßnahmen umgesetzt, was für eine Hochkonjunktur der Kritik sorgte. 

Katerina Anastasiou will über die Zustände in Griechenland informieren. Die 30-jährige Griechin lebt seit zehn Jahren in Wien und engagiert sich bei der Organisation solidarity4all. Sie sei oft erschrocken, wie wenig und wie einseitig hierzulande die Medien von ihrer Heimat berichten, erzählt die junge Linke, die an der jetzigen EU nur wenig Gutes sieht. Die Krise habe die negative Seite vieler politischer Maßnahmen der letzten Zeit deutlicher in Erscheinung treten lassen. Mit Hilfe der Reise- und Niederlassungsfreiheit haben viele GriechInnen versucht der Misere zu entkommen, nur um andernorts feststellen zu müssen, dass aus ihrer Notlage erneut Profit geschlagen wird. Einiger ihrer Bekannten seien hochqualifiziert nach Wien gekommen und sahen sich hier damit konfrontiert, dass ihnen zwar adäquate Jobs angeboten wurden, aber mit einer unüblich niedrigen Bezahlung, schildert Anastasiou. Für sie fehlt es hier an einem solidarischen europäischen Bewusstsein: „Damit wird die Chance vergeben, gemeinsam gegen etwas aufzutreten!“

Mit vielen anderen ist Anastasiou auf der Suche nach Alternativen zum gegenwärtigen System. Vereinzelt und mancherorts seien solche durchaus greifbar: „Als 2011 die Proteste vom Syntagma-Platz in Athen verschwanden, lag das nicht nur an der repressiven Polizeigewalt“, erzählt Katerina Anastasiou, „nach dem ersten Schock begannen die Menschen ihr Schicksal schlichtweg selbst in die Hand zu nehmen.“ Mittlerweile finden sich vielerorts kommunale Strukturen, die medizinische Versorgung bieten, Lebensmittel und Dienstleistungen zur Verfügung stellen und Bildungsangebote geschaffen haben, ohne viel Gegenleistung zu erwarten. Diese kommunalen Solidaritätsbewegungen setzen dort an, wo staatliche Strukturen fehlen. Deshalb beabsichtigt Anastasiou auch in naher Zukunft wieder zurück nach Griechenland zu gehen. Um „dabei sein zu können, wenn etwas Neues entsteht“. Das Vorgehen der EU im Fall Griechenland und der Vorrang von finanziellen vor sozialen Interessen bestätigt all jene, die die EU seit jeher als neoliberales Konstrukt sahen. In der Krise offenbart sie nun auch dem Rest von Europa ihre politischen Prioritäten. 

Davon profitieren aber auch rechte EU-KritikerInnen. Im April gründete die FPÖ-Jugend zusammen mit den Jugendorganisationen vom Front National, von Vlaams Belang und den Schwedendemokraten die Initiative Young Europeans Alliance for Hope (YEAH). In ihrem Manifest befürworten sie die Nation als „überlegene Form der Gemeinschaft“. Wenn es darum geht, die europäische Integration zu kritisieren, können selbst rechtspopulistische Parteien transnational kooperieren. Mit absehbarem Erfolg: In Österreich liegt die FPÖ bei den Jungen wie gewohnt auch in den Umfragen zur Europawahl weit vorne. Europaweit wird ein starker Zuwachs für jene Parteien, die regelmäßig gegen die EU wettern, erwartet.

Reine Rhetorik? Sind die Bemühungen der EU um verstärkte jugendpolitische Maßnahmen, BürgerInnenrechte, soziale Inklusion, europäische Integration und die Genese einer europäischen Identität nur Rhetorik? Will die EU weg vom neoliberalen Status Quo, muss sie diese Ziele ernsthaft verfolgen. Der Politikwissenschafter Stefan Seidendorf beschäftigt sich mit der Frage, was es braucht, damit die EU zu einer solidarischen Gemeinschaft wird. Er nennt drei wesentliche Faktoren: Erstens, die Ausformung europäischer Institutionen, durch die eine legitime rechtliche Grundlage für ihre Politik entsteht. Zweitens, ein klar abgegrenztes Gruppenbewusstsein, das zwischen Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern unterscheiden lässt. Und drittens, einen gemeinsamen Sinnhorizont, der sich aus einer geteilten Vergangenheit und Symboliken der Gemeinschaft eröffnet. Gibt es dieses Gruppenbewusstsein und diesen Sinnhorizont bei jungen EuropäerInnen bereits?

O wie Organisation: immer mehr junge Menschen organisieren sich selbst, um der Krise zu entkommen. Foto: Alexander Gotter P wie Parlament: 751 Abgeordnete werden gewählt. Foto: Alexander Gotter A wie Aufbruchsstimmung: Trotz der Krise sind viele junge Menschen hoffnungsvoll. Foto: Alexander Gotter

Die Studierenden von heute sind die erste Generation, die in die Europäische Union hineingeboren wurde. Der Vertrag von Maastricht wurde Ende 1993 ratifiziert. Jene, die damals gerade erst zur Welt gekommen sind, sind heute Anfang zwanzig. Sie sind mit der EU groß geworden und haben ihre Entwicklung miterlebt. Sie haben die Einführung des Euros miterlebt, Krieg und Gewalt kennen sie zum Großteil nur aus der Zeitung. Von der Reisefreiheit des Schengener Abkommens profitieren sie seit ihrem ersten Urlaub und seit 25 Jahren lernen sie über Programme wie Erasmus andere europäische Länder kennen. 250.000 Studierende nehmen mittlerweile jährlich am Austauschprogramm teil. Es zählt zu den erfolgreichsten Projekten der EU. Heuer wurde es erneuert: ERASMUS+ vereint nun weitere Austauschprogramme in den Bereichen Bildung, Jugend und Sport unter einen Namen. In den nächsten sieben Jahren stehen dafür knapp 15 Milliarden Euro zur Verfügung. Vier Millionen Jugendliche sollen davon profitieren. Dieses Engagement seitens der EU hat seine Effekte: Der Eurobarometer vom Herbst 2013 wies SchülerInnen und Studierende als einzige demografische Gruppe aus, die der EU mehrheitlich vertraute. Das liegt vermutlich auch daran, dass Jugendliche im Bildungsbereich am Ehesten noch mit ihren Programmen in Kontakt kommen. Immerhin fünf Prozent der Jugendlichen nahmen laut der Youth on the Move-Studie von 2011 schon an einem Austauschprogramm teil. Die restlichen 95 Prozent kommen mit EU-Projekten, wenn überhaupt, nur selten in Kontakt.

Sie begeben sich entweder selbst auf Recherche, oder müssen sich mit den wenigen Medienberichten begnügen. Die geringe Rolle, die die EU zuweilen in den Nachrichten hat, haben die Medien der einzelnen Mitgliedsstaaten zu verantworten, die der EU oft nur wenig Beachtung schenken: Dazu gesellt sich auch oft eine antieuropäische Rhetorik. Wenn Zeitungen über „PleitegriechInnen“ oder „RumänInnenbanden“ schreiben und PolitikerInnen Blame-Shifting in Richtung EU betreiben, hindern sie damit die EU daran, eine Gemeinschaft zu werden. Derzeit sieht sich eine knappe Mehrheit der EU-BürgerInnen noch als EuropäLeague of Young VoterserInnen, aber gleichzeitig zeigen Studien, dass die Heimatverbundenheit wieder am Steigen ist, zwei Drittel der EuropäerInnen glauben außerdem nicht mehr, dass ihre Stimme in Europa Einfluss hat.

Diese Einstellung versuchen viele Initiativen im Vorfeld der EU-Wahl zu ändern. Johanna Nyman betreut eine davon. Die Biologie-Studentin sitzt im Vorstand des Europäischen Jugendforums und koordiniert das Projekt League of Young Voters, das Jugendlichen und Jugendorganisationen als Austausch-Plattform dienen soll. Die Initiative sei eine Reaktion auf die erschreckend niedrige Wahlbeteiligung unter den Jugendlichen bei der Europawahl 2009, so Nyman. Die Erfahrung, dass Anliegen vielerorts gleich sind und die JungwählerInnen in der EU eine größere Gruppe sind als erwartet, soll diese zurück an die Wahlurnen bringen. Die Plattform selbst findet noch geringen Anklang, aber aus der Idee entstanden weitere Projekte: Auf MyVote2014.eu können UserInnen mittels 15 Fragen herausfinden, welche Partei am besten zu ihren eigenen Vorstellungen passt.

Dazu bekommen sie Informationen über die Abgeordneten und ihre Parteien. Das Prinzip kommt dem Nutzungsverhalten von Jugendlichen in Bezug auf Online-Medien: Schnell, interaktiv und optisch ansprechend wird der Einstieg in die Meinungsbildung erleichtert.

Welche Krise? Ist es ein Irrglaube, wenn wir als Studierende in Zentraleuropa, die mitunter auch von der EU profitieren, annehmen, ohne EU ginge es nicht? Einige Sozialwissenschafter wie etwa Alex Demirović weisen immer wieder darauf hin, dass nicht die Demokratie selbst, sondern ihre alten Institutionen in der Krise stecken. Systeme wie Staaten oder die EU befinden sich in einer Situation, in der die Parlamente nur noch reine Mitbestimmungsgremien sind. Wichtige Entscheidungen werden intransparent anderswo getroffen. Solange der Staat aber seinen Aufgaben nachkommt, dominiert ein Verständnis von Demokratie, das ohne Staat nicht denkbar ist. Die Soziologin Donnatella della Porta vom European University Institute sieht in der Vertrauenskrise durchaus auch positive Seiten. Durch sie öffnen sich Räume für neue Formen des demokratischen Zusammenlebens. Selbst wenn kommunale Bewegungen wie in Griechenland noch keinen alternativen Modellcharakter für die EU haben, zeigen sie doch auf, was politische Partizipation jenseits des Wahlgangs heißen kann.

In welche Richtung sich Europa bewegen wird, werden die nächsten Jahre entscheiden. Das hängt nicht allein davon ab, ob die Europäische Union die Folgen ihrer Krisenpolitik eindämmen kann. Um aus der Identifikationskrise herauskommen, braucht es passende demokratische Rahmenbedingungen und eine gemeinsame Öffentlichkeit. Erste zaghafte Schritte wurden dahingehend schon unternommen. Beispielsweise wurde die österreichische „Ausbildungsgarantie“ für Jugendliche 2014 von der Mehrheit der Mitgliedstaaten übernommen und in den nächsten beiden Jahren stehen sechs Milliarden Euro zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit zur Verfügung. Bei den Europawahlen im Mai besteht erstmals die Möglichkeit direkt mitzuentscheiden, wie die Kommission zukünftig aussehen soll. Die größte Parlamentsfraktion wird auch den/die KommissionspräsidentIn stellen, so die Abmachung unter den Mitgliedsstaaten. Unabhängig davon, wie stark die Wahlbeteiligung ausfallen und wie das EU-Parlament nach den Wahlen zusammengesetzt sein wird, die Union wird uns auf jeden Fall noch eine Weile erhalten bleiben, auch wenn neue Formen der politischen Organisation entstehen. „Solange das so ist, kann man auch gleich wählen gehen – Veränderung ist ja schließlich keine Entweder-Oder-Frage“, meint Johanna Nyman vom Europäischen Jugendforum. Oder man macht es wie Alina Böling: Da auch sie findet, dass die EU etwas stagniert, entschloss sich die 24-jährige Finnin kurzerhand selbst für das Europäische Parlament zu kandidieren, um so neuen Input geben zu können. Jeder wisse schließlich, so Böling, dass eine demokratische und funktionierende Union mehr als nur den Euro und Wirtschaftspolitik braucht.

 

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie in Wien.

Teuer bezahlte Meinungen

  • 13.07.2012, 18:18

Lobbyismus ist praktisch die einzige Möglichkeit, um in der EU-Politik mitzureden, sagt die Politologin Pia Eberhardt. Wie das funktioniert? Ein Interview.

Lobbyismus ist praktisch die einzige Möglichkeit, um in der EU-Politik mitzureden, sagt die Politologin Pia Eberhardt. Wie das funktioniert? Ein Interview.

PROGRESS: LobbyistInnen vertreten Firmeninteressen in der Kommission und im EU-Parlament. Was ist so schlimm daran?

EBERHARDT: Lobbyismus ist nicht per se schlimm. Er bedeutet im Grunde nur die organisierte Vertretung von Interessen – also bestimmte Meinungen in das politische System einzubringen. Das hat es schon immer gegeben. Problematisch ist aber, welche Rolle der Lobbyismus auf EU- Ebene in Brüssel spielt. Dort spielt die Wirtschaft eine überdimensionale Rolle, sehr viel stärker als auf nationaler Ebene. Es gibt keine öffentliche Debatte auf europäischer Ebene, denn die spielt sich fast nur auf nationaler Ebene ab. Lobbyismus wird damit praktisch zur einzigen Möglichkeit, Inputs in das politische System einzubringen.

Aber versuchen nicht auch Gewerkschaften und die Zivilgesellschaft die EU-Politik zu beeinflussen?

Gewerkschaften und Arbeitnehmerverbände sind zwar auch präsent, aber nicht so stark wie in der österreichischen Sozialpartnerschaft. Es gibt keine genaue Zahl, aber rund 70 Prozent der Lobbyisten in Brüssel vertreten Kapitalinteressen, das ist schon ein krasses Ungleichgewicht der Kräfte. Die andere Frage ist, um welche Interessen sich der EU-Apparat überhaupt kümmert. Gehört zu werden, spielt eine große Rolle. In vielen Politikfeldern bindet die Kommission die Gewerkschaften einfach nicht ein, oder erst, wenn alles schon entschieden ist.

Die Interessen von Industrie und Finanz dominieren also in Brüssel. Auf welche Art nehmen die LobbyistInnen dieser Branche in Brüssel Einfluss?

Sie haben ein breites Arsenal an Instrumenten. Das geht von ganz normalen Treffen mit Beamten, Netzwerke aufbauen, Leute anrufen bis zum Verfassen von Positionspapieren. Gerade im Parlament ist es wichtig, Informationen auf wenig Raum und gut verständlich zusammenzufassen. Die Abgeordneten werden mit einem Wust an Entscheidungen konfrontiert; die Lobbyisten erklären ihnen kompakt auf einer DIN-A4-Seite, worum es bei dieser oder jener Abstimmung ihrer Meinung nach geht. Das macht außer ihnen sonst kaum jemand in Brüssel. Diese Informationen werden auch von den Beamten in der Kommission genützt.
In ihrer Arbeit organisieren Lobbyisten zudem Vorträge und Veranstaltungen und geben vermeintlich wissenschaftliche Studien in Auftrag, die in Insider-Medien im Umfeld der EU besprochen werden. Sie gestalten damit öffentliche Diskurse und bestimmen mit, was an den Stammtischen im Brüsseler EU-Viertel geredet wird.

Auf welche Art unterscheiden sich solche Geflechte denn noch von Korruption?

Wir wissen von einigen Fällen von Korruption. Etwa einem deutschen Beamten in der Generaldirektion Handel, dem britische Journalisten undercover hunderttausend Euro angeboten haben. Das ergab dann eine große Aufdecker-Story in der Sunday Times. Solche Fälle sind aber die Ausnahme. Es geht meist um ganz legale, institutionalisierte Einflussnahme. Trotzdem, in beiden Fällen spielt der Faktor Geld eine Rolle. Alle Lobbyisten arbeiten für Geld. Und natürlich haben diejenigen, die mehr Geld zur Verfügung haben, auch mehr Einfluss. So scharf würde ich die Grenze zwischen Korruption und Lobbyismus nicht ziehen.

Die EU-Kommission formuliert die Gesetze, wird aber ständig von LobbyistInnen hofiert. Ist die Politik deswegen ein Opfer dieser Interessensvertretungen?

Nicht immer, die Kommission organisiert sich zum Teil ihre eigenen Lobbystrukturen, dafür gibt es konkrete Beispiele. Etwa hat die Kommission bei großen Konzernen angerufen und europaweite Treffen von Industriebereichen ins Leben gerufen, die es vorher nicht gab. Denn wenn sie die Industrie im Boot haben, haben sie ein ganz wichtiges Druckmittel gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten, um ihre Vorschläge durchzusetzen. In vielen Fällen muss man sich das so vorstellen, dass die Kommission fast kollegial mit Lobbyisten von Konzernen zusammenarbeitet. Oft entstehen gemeinsame Positionen einer Branche erst, indem die EU-Kommission sie abfragt.

Manchmal werden die PolitikerInnen nach ihrer Amtszeit selbst zu LobbyistInnen. Etwa sitzt nun der österreichische Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel im Aufsichtsrat des deutschen Atomkonzerns RWE. Gibt es das auch in Brüssel?

Solche „Drehtür-Effekte“ gibt es in Brüssel noch viel häufiger als auf nationaler Ebene, weil es keinen öffentlichen Aufschrei gibt. Hohe Kommissionsbeamte regulieren oft heute noch einen bestimmten Bereich und arbeiten morgen schon im selben Feld für die Industrie. Das ist problematisch. Man fragt sich: Was hat der in seiner Zeit als Beamter getan, um den Job zu bekommen. Diese Leute nehmen ihre Netzwerke mit, die wissen genau, wer welche Kompetenzen hat und wie der Apparat funktioniert. Die Industrie will diese Leute haben.

Die KapitalvertreterInnen haben aber nicht nur konkrete Interessen. Sie entwickeln auch Vorstellungen, wie es mit der Europäischen Union als ganzes weitergeht. Wie sehen die aus?

Es gibt bestimmte Gruppen, die strategisch planen. Die bekannteste ist der European Round Table of Industrialists, ein informeller Zirkel, der aus vier Dutzend Konzernchefs und einer Konzernchefin besteht. Er war ein entscheidender Vordenker für die Währungsunion, für die folgenden Marktliberalisierungen und für die Lissabon-Strategie. Er hat aber schon Jahre vorher begonnen, die Wettbewerbsfähigkeit als zentrales Konzept für Europa zu platzieren. Gruppen wie diese haben die Kapazität, darüber nachzudenken, wo die Union in zwanzig Jahren stehen soll und ihre Botschaft in den politischen Raum zu streuen. Die Konzernchefs arbeiten ganz strategisch am Projekt Europa. Sie haben erkannt, dass es wichtig ist, Ressourcen für die langfristige Planung freizumachen. Bei linken Parteien und Gewerkschaften gerät das oft im Alltagsgeschäft unter die Räder.

Rechtsdrall in EUropa?

  • 13.07.2012, 18:18

Konservative dominieren Parlament und Kommission der Europäischen Union. Welche Aussichten hat eine progressive EU-Politik?

Konservative dominieren Parlament und Kommission der Europäischen Union. Welche Aussichten hat eine progressive EU-Politik?

„Wenn man die Globalisierung regulieren will, da kann man mir erzählen, was man will, wenn man da nicht Europa als Hebel hat, dann hat man gar keinen“, sagte vor kurzem Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Europäischen Grünen, der bekannt ist für seine pro-europäischen Positionen. Hat er Recht?
Im Juni haben die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ein neues Parlament gewählt. Dieses wird von konservativen und rechten Parteien dominiert – deutlicher als jemals zuvor. Die einst starken SozialdemokratInnen wurden auf ein Viertel der Sitze reduziert, aus dem linken Lager legten nur die Grünen zu. 

Auf nationaler Ebene, die bei der Ernennung der EU-KomissarInnen wichtig ist, sieht es für die Linke nicht besser aus: Nur sieben von 27 RegierungschefIinnen in der EU werden von ihr gestellt. (in Spanien, Portugal, Griechenland, Österreich, Ungarn, Slowakei, Großbritannien).
Bis Mitte der neunziger Jahre stellte die Fraktion der SozialistenInnen und SozialdemokratInnen die Mehrheit im EU-Parlament – doch diese Zeiten einer linken Hegemonie sind vorbei, die Rechten haben nun das Sagen in Europa. Und das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem der EU-Vertrag von Lissabon kurz vor der Ratifizierung steht, was die EU sehr viel mächtiger machen wird.
Mit der positiven Abstimmung in Irland scheint der Lissabon-Vertrag – also de facto die EU-Verfassung – greifbar. Die Union wird mit dem Vertrag eine Rechtspersönlichkeit, die die Kompetenzen der Nationalstaaten noch enger beschneiden wird. Eine Persönlichkeit, deren Wesen vom Wunsch nach „freiem und unverfälschtem Wettbewerb“ bestimmt sein wird. Wie mit einem solchen Charakterzug die „Globalisierung reguliert“ werden soll, ist sehr fraglich.
Auf andere Charakterzüge wurde dafür verzichtet, als die Lissabonner „Rechtspersönlichkeit“ erschaffen wurde, sagen KritikerInnen des Vertrags. „Grundsätzliche Dinge wie ein europaweiter Mindestlohn und ein Streikrecht fehlen in der europäischen Gesetzgebung“, kritisiert der Innsbrucker Politologe Arno Tausch. EU-Staaten könnten sich weiterhin gegenseitig Konkurrenz um die niedrigsten Löhne und Sozialstandards machen, um Unternehmen eine Niederlassung schmackhaft zu machen. „Die Ungleichheit zwischen Armen und Reichen wird so immer größer, das ist ein Tanz ums goldene Kalb“, sagt Tausch.
Befürworter des neuen Grundvertrages beharren trotz solcher Kritik, dass der Vertrag von Lissabon Europa demokratischer und sozialer machen wird. Die Rechte des Parlaments gegenüber der EU-Kommission und dem Rat der EU würden gestärkt werden. Das vom Volk direkt gewählte Parlament hätte nun erstmals die Möglichkeit, in vielen entscheidenden Politikbereichen seine Meinung durchzusetzen. Soziale Mindeststandards könnten durch den Vertrag erstmals in der ganzen EU durchgesetzt werden.
Gegner des Vertrags wollen das nicht glauben. Sie orten bei der dem EU-Parlament angedachten Rolle demokratische Defizite. Auch in naher Zukunft wird es nicht das Recht haben, eigene Gesetze vorzuschlagen. Die Initiative liegt weiter bei der Kommission, die von den einzelnen Regierungen bestellt wird. Auch das „Europäische Volksbegehren“, das im Vertragswerk vage angesprochen wird, blieb bislang undefiniert.

Besonders betroffen von einem auf Wettbewerb aufgebauten Europa sind die neuen Mitgliedsländer des ehemals kommunistischen Osteuropas. Der Politikwissenschaftler Ulrich Brand sieht die Öffnung neuer Märkte in den östlichen Beitrittsländern als wesentliches Motiv für die EU-Osterweiterung. Versprechungen vom Segen der Marktwirtschaft hätten zu einer wirtschaftlichen „Kolonialisierung durch den Westen“ im Osten Europas geführt. „Es gab zwar einen Wohlstandszuwachs im Osten, aber es öffnete sich auch die Schere zwischen Arm und Reich“, sagt Brand. In zehn Jahren werde die Wende anders diskutiert werden, ist der studierte Betriebswirt sicher. „Es wird gefragt werden: Welche Alternativen sind verpasst worden?“ Mit der Privatisierung von Staatsbetrieben sei jedenfalls „Volksvermögen“ verschleudert worden.
Daniel Cohn-Bendit kann das nicht gegen den Lissabon-Vertrag aufbringen, er setzt auf eine Veränderung von innen. Die Europäischen Grünen müssten es schaffen, „die notwendige Transformation des Kapitalismus zu verbinden mit einer europäischen Positionierung“, sagte er vor kurzem einer österreichischen Tageszeitung.
Wie er sich damit gegen die rechte Mehrheit behaupten will? „Es geht mir auf den Geist, dass es immer nur gegen Nicolas Sarkozy geht, ich bin für Europa“, sagte Cohn-Bendit.