Dossier: Drogendealer*innen

Der Überwachungsstaat, das Gras und das Internet

  • 05.07.2016, 14:12
Technologien subtiler Überwachung sind im Drogengeschäft genauso omnipräsent wie aggressive Razzien. Ein Dealer erzählt, wie diese Formen der Kontrolle jenseits offensiver Repressionen seinen Alltag beeinflussen.

Technologien subtiler Überwachung sind im Drogengeschäft genauso omnipräsent wie aggressive Razzien. Ein Dealer erzählt, wie diese Formen der Kontrolle jenseits offensiver Repressionen seinen Alltag beeinflussen.

Wie in einem schlechten Film reagiert Alex,* als plötzlich die Polizei vor seiner Tür steht. Nein, die Beamten dürften nicht reinkommen. Er weiß, dass ihm vermutlich nur wenige Minuten bleiben, Beweise zu vernichten. Hektisch stopft der Student mehrere Kilo Gras in den Spülkasten der Toilette und verbrennt das Verpackungsmaterial, Anbaustation und sämtliche Pflanzen auf der Dachterrasse – 2000 Euro hätte Alex mit der zerstörten Ware noch verdienen können, die schuldet er jetzt Mo,* seinem Lieferant.

„Alex tauchte für mehrere Tage ab, da wusste ich, dass etwas nicht stimmt“, erzählt Mo, der sich selber durch das Dealen seit vier Jahren sein Studium in Wien finanziert. Um die fünfzig feste Kund*innen beliefert er, Alex hat er sich ins Team geholt, weil die Nachfrage so groß wurde. „In diesen drei Tagen hatte ich richtig Schiss, schließlich führen seine Spuren eindeutig zu mir.“ Mit Spuren meint Mo Telefonate, SMS, Besuche mit großen Rucksäcken. Bewegungs- und Kommunikationsabläufe, bei denen mittlerweile nicht nur Dealer*innen davon ausgehen, dass sie permanent aufgezeichnet, überwacht und ausgewertet werden.

BIG BROTHER IST TOT. Durch das Narrativ einer Gesellschaft, die nach Sicherheit verlange, rechtfertigen Firmen und staatliche Institutionen die allumfassende Datenakkumulation vom Einkaufsverhalten über die Urlaubspräferenzen bis hin zum Versicherungsstatus. Jede*r ist Teil der Massenüberwachung und damit a priori verdächtig. Nur durch völlige Transparenz können sich die Individuen von diesem Verdacht befreien: „Ich hab ja nichts zu verbergen“ heißt es oft, wenn Menschen breitwillig Informationen in sozialen Netzwerken preisgeben. Einstellungen wie diese begünstigen eine subtilere Form der massenhaften Datenerhebung, - Auswertung und –Kontrolle, die wesentlich auf der Teilhabe der Individuen selbst beruht.

„Big Brother“ als beobachtende und im Ernstfall strafende Instanz wird damit obsolet. Stattdessen treten Kontrollmechanismen in Kraft, die der Soziologe Zygmund Bauman als „Liquid surveillance“ bezeichnet. „Flüssige Überwachung“, deren Techniken nicht mehr auf das Verhalten Einzelner abzielen, sondern Abweichungen mithilfe von Rastern und Algorithmen aus einem Strom von Daten errechnen. Im Alltag kann sich das im Vergleich zu disziplinarischen Formen der Überwachung freiheitlicher anfühlen, als es eigentlich ist. Für das Drogengeschäft stellt diese subtile Überwachung ein spezielles Risiko dar.

Zwar habe er sich in sieben Jahren Dealen kein einziges Mal observiert gefühlt, „trotzdem wächst mit jedem Tag das Paket aus Spuren, das ich hinterlasse und damit die Wahrscheinlichkeit, morgen hochgenommen zu werden“, sagt Mo. Er ist deshalb sehr vorsichtig geworden: Ein Kurzzeit-Handyvertrag unter falschem Namen, kein Kontakt mit Kund*innen online und ganz bestimmte Codes, wie vor einem Deal am Telefon kommuniziert wird. Unter fünf Gramm lohnt sich für Mo der Verkauf nicht. Sich „auf einen Kaffee treffen“, bedeutet also „bring mir fünf Gramm mit“, zwei Kaffee sind zehn Gramm und so weiter. „Am Anfang ist die Kommunikation immer mit Schwierigkeiten verbunden, wenn die Terminologien noch nicht geklärt sind. Menschen passieren Fehler. So etwas wie Nachzahlen, Vorstrecken oder nur die Hälfte an Gras kaufen wollen ist mit der Bier-Metapher schwer auszudrücken.“ Die Codes variieren auch je nach Klientel: Student*innen bestellten häufig eher zwei Bücher statt Bier oder Kaffee.

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Er wirkt entspannt, während er über seinen Job redet. Auf die Frage, ob seine technischen Geräte verschlüsselt seien, zuckt er mit den Schultern und erwidert: „Welchen Unterschied würde das machen?“ Das tägliche Risiko gehöre zu den Arbeitsbedingungen seines Jobs. Sobald er das Gefühl hat, ein*e Kund*in sei nicht mehr vertrauenswürdig, täuscht er Probleme mit der Lieferung vor und löscht die Person aus seinem Telefonbuch.

ES LEBE BIG BROTHER. Im Gegensatz zum Dealen auf der Straße, wo autoritäre Überwachung à la Big Brother noch in Form von Razzien und Polizeigewalt funktioniert, wird für Dealer*innen wie Mo erst die Schnittstelle von Massen- und Individualüberwachung zur Gefahr. Da, wo nach einem vagen Verdacht plötzlich Datenpakete als umfassende Beweise abgerufen werden können, weil jemand aus dem Netzwerk ihn verraten hat oder selber hochgenommen wurde. Schneller als nach langwierigen Prozessen der Individualüberwachung kann Big Brother dann plötzlich vor der Tür stehen, begünstigt durch mangelnde Restriktionen der Vorratsdatenspeicherung oder die bereitwillige Weitergabe von Metadaten aus sozialen Netzwerken. Auch begünstigt durch partizipative Kommunikationsformate, die permanent dazu anregen, den digitalen Fingerabdruck zu vergrößern und einer vermeintlichen Norm anzupassen, die auf teilen, liken und posten beruht. Eine Überwachung, die so lange unsichtbar bleibt, bis Abweichungen von dieser vermeintlichen Norm erkennbar werden.

Was genau diese Abweichung in Alex Fall gewesen sein könnte, wusste Mo zum Zeitpunkt der drohenden Hausdurchsuchung bei seinem Kollegen nicht. Das Gefühl, selbst vielleicht schon mehrere Monate beobachtet worden zu sein, sei jedoch beklemmender, als jede Körperdurchsuchung, die er bis jetzt über sich ergehen lassen musste. „In diesem Moment kannst du nicht mehr klar denken. Mit den heutigen technischen Möglichkeiten ist alles nachweisbar. Ich hatte schon im Kopf, wie ich das meinen Eltern erzählen soll“, erinnert er sich.

Nach vier Tagen dann die Entwarnung: Alex Nachbarn erzählen ihm, dass im Haus eine Straftat begangen worden sei, die Polizei hätte deshalb mit allen Nachbar*innen sprechen wollen. Zu dem Zeitpunkt hat Alex bereits sein gesamtes Gras vernichtet. Für den Schaden wird er mehrere Monate weiter dealen müssen. Ob er danach damit aufhört, bezweifelt Mo: „So wie ich arbeite, in Cafés und von zu Hause aus, habe ich den entspanntesten Job der Welt. Ich habe mir die besten sieben Jahre meine Lebens damit finanziert, wenn ich jetzt ein paar Monate ins Gefängnis müsste, wäre das fast schon ein fairer Deal“, dann überlegt er kurz und fügt hinzu „obwohl, scheiße wäre es trotzdem.“

Eva Hoffmann studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Uni Wien.

* Die Protagonist*innen dieses Textes möchten anonym bleiben.

„Drogenfreier Volkskörper“

  • 22.06.2016, 14:02

Rechtsextreme Drogenpolitiken, rechtsextremer Drogenkonsum.

Wenngleich FPÖ-Politiker_innen sich tagesaktuell immer wieder zu drogenpolitischen Themen positionieren, bleibt die Thematik im Parteiprogramm der FPÖ jedoch weitgehend ausgespart. Anders verhält es sich bei der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD), in deren Parteiprogramm Drogenkriminalität „hohe Priorität“ zugeschrieben wird, die „härter zu ahnden“ wäre. Die Alternative für Deutschland (AfD) wiederum fordert „Süchtigen […] im Wege der kontrollierten Abgabe“ Zugang zu Drogen zu ermöglichen und glaubt, damit Kriminalität und „Schwarzmarkt“ bekämpfen zu können. Als gemeinsamer Nenner dieser durchwegs unterschiedlichen Positionen fungieren im rechtsextremen Parteienspektrum vor allem die Ablehnung liberaler Drogenpolitiken sowie die rassistische Aufladung damit verbundener Diskurse. Dabei werden Feindbilder geschaffen, die den Vertrieb von Drogen ausschließlich bei vermeintlich „Fremden“ orten. Es handle sich, so die Konstruktion, um organisierte „ausländische“ Banden, die versuchen würden, den „Volkskörper“ sprichwörtlich zu vergiften. National Gesinnte hingegen würden und müssten jegliche Form der Verbreitung von Drogen aus selbigem Grund ablehnen. Das „eigene Volk“ müsse „sauber“, „rein“ beziehungsweise „drogenfrei“ gehalten werden. Die tiefe Verankerung des Feinbildes des „ausländischen Drogendealers“ in Gesellschaft, Politik und Medien ermöglicht es Vertreter_innen der extremen Rechten, sich als „Saubermacher_ innen“ und „Beschützer_innen des Volks“, insbesondere der angeblich bedrohten Jugend zu inszenieren. Zudem eignet sich das Drogenthema, als vermeintlich politisch wenig belastetes, um in der sogenannten Mitte der Gesellschaft zu punkten.

WIDERSPRÜCHLICH. Dennoch spiegeln sich die prohibitionistischen Forderungen rechtsextremer Parteien nicht unbedingt im Verhalten ihrer Anhänger_innen wider, da in regelmäßigen Abständen gegen Angehörige rechtsextremer und neonazistischer Szenen nicht nur wegen Konsums von, sondern auch Handel mit Drogen ermittelt wird. So war beispielsweise der 2010 aufgeflogene neonazistische Kulturverein Objekt 21 nahe Attnang- Puchheim in Drogen- und Waffenhandel involviert. Auch in Deutschland lag im Zuge von Ermittlungen immer wieder die Vermutung nahe, dass sich neonazistische Szenen über Drogenhandel finanzieren. Zudem sind Fälle bekannt, in denen Rechtsextreme ihre Taten, wie das Zeigen des Hitlergrußes oder auch Gewalt gegen Menschen, (vor Gericht) mit vorangegangenem Drogenkonsum zu entschuldigen versuchten.

Auch in den Reihen der FPÖ selbst kommt es immer wieder zu „Skandalen“ im Zusammenhang mit Drogenmissbrauch. So standen zum Beispiel letztes Jahr eine Polizeibeamtin und FPÖ-Bezirksfunktionärin sowie ein Mitglied der Polizeigewerkschaft Aktionsgemeinschaft Unabhängiger und Freiheitlicher (AUF) in Innsbruck im Visier von Ermittlungen wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz. Widersprüchlichkeiten in rechtsextremen Drogenpolitiken werden auch in Bezug auf die Haltungen rechtsextremer Parteien zu Tabak und Alkohol evident. Abgesehen davon, dass die „Volksdroge“ Alkohol in den meisten rechtsextremen Kreisen ohnehin nicht als Suchtmittel anerkannt wird, inszeniert sich die FPÖ in Abgrenzung zur Regierung als „Raucher_ innenpartei“. Während in Bezug auf andere Suchtmittel selbstbestimmte Konsummöglichkeiten gänzlich abgelehnt werden, tritt die FPÖ in der von ihr ins Leben gerufenen Petition „Nein zum absoluten Rauchverbot“ für „die Wahlfreiheit der Konsumenten und Gastronomen“ ein.

PANZERSCHOKOLADE. Bereits im Zweiten Weltkrieg dürfte die Haltung der Nationalsozialist_innen gegenüber Drogen alles andere als ablehnend gewesen sein. Adolf Hitler selbst soll mit sogenannten Nachtschattendrogen und Strychnin experimentiert, Josef Goebbels Morphium und Hermann Göring Kokain konsumiert haben. In der deutschen Wehrmacht und Luftwaffe wurde vor allem im Blitzkrieg gegen Polen Pervitin, heute bekannt als Crystal Meth, eingesetzt, um einerseits die Konzentrations- und Leistungsfähigkeit der Soldaten zu steigern und andererseits ihre Angstgefühle einzudämmen. Über 200 Millionen „Stuka-Tabletten“, „Hermann-Göring- Pillen“, „Panzerschokolade“ und „Fliegermarzipan“, wie die entsprechenden „Aufputscher“ genannt wurden, sollen zwischen 1939 und 1945 eingesetzt worden sein.

STRAFEN STATT HELFEN. Darüber hinaus lässt sich sagen, dass rechtsextreme Ideologie, anstelle von Prävention und Ursachenbekämpfung oder der Förderung eines selbstbestimmten, verantwortungsvollen Konsumverhaltens, auf Repression, härtere Strafen und Ausbau von Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen setzt. Von vielen rechten und rechtsextremen Parteien sowie ihren Anhänger_innen werden jedoch nicht nur liberale Drogenpolitiken abgelehnt, sondern auch Unterstützungsprogramme für Suchterkrankte. Die Forderung nach „Zwangstherapie für Drogenabhängige“, wie sie von der FPÖ-Nationalratsabgeordneten Dagmar Belakowitsch- Jenewein aufgestellt wurde, ignoriert beispielsweise, dass nicht jeder Konsum mit einer Suchterkrankung gleichzusetzen ist und die Wirksamkeit derartiger Maßnahmen nicht durch Zwang, sondern ausschließlich durch (freiwillige) Bereitschaft der Betroffenen erreicht werden kann.

Auch Waldarbeit oder landwirtschaftliche Tätigkeiten, wie es die FPÖ begleitend zum Entzug vorgeschlagen hat, zielen nicht notwendigerweise auf die Heilung ab. Vielmehr wird deutlich, dass sich hinter der Ablehnung von Suchthilfe auch gängige Muster menschenfeindlicher, sozialdarwinistischer Politiken verbergen, in denen schwächere Mitglieder der Gesellschaft nicht unterstützt, sondern im Gegenteil als Last für die Allgemeinheit erachtet werden. Die AfD fordert in ihrem Parteiprogramm beispielsweise, „nicht therapierbare Alkohol- und Drogenabhängige sowie psychisch kranke Täter […] nicht in psychiatrischen Krankenhäusern, sondern in der Sicherungsverwahrung unterzubringen“. Hinzu kommt außerdem, dass sich rechtsextreme und neonazistische Gewalt auch immer wieder gegen soziale Randgruppen wie Konsument_innen von Drogen und Suchterkrankte richtet.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit und studiert Politikwissenschaften im Doktorat an der Uni Wien.

Zwischen U-Bahnhof und Grauem Haus

  • 22.06.2016, 13:50
Drogen und die Justiz – aus dem Alltag einer Rechtspraktikantin.

Drogen und die Justiz – aus dem Alltag einer Rechtspraktikantin.

„Zu zwei Drittel sind wir ja Sozialarbeiter_innen.“ Das sagt meine Ausbildungsrichterin immer, wenn sie das Gefühl hat, der Mensch auf der Anklagebank müsste eigentlich gar nicht da sitzen. Die meisten von unseren Leuten hier, sagt sie, die hätten nur irgendwen gebraucht, der sie an der Hand nimmt und ein bisserl durchs Leben führt.

Seit fast drei Monaten mache ich jetzt Gerichtspraxis, meine erste Zuteilung ist eine Strafabteilung in Wien. Ungefähr die Hälfte der Fälle, die wir verhandeln, haben irgendetwas mit Drogen zu tun. Teenager, die mit einem Joint erwischt worden sind. Ein bisschen ältere Teenager, die mit ein paar mehr Joints erwischt worden sind. Ein bisschen kaputtere Teenager, die auf Heroin-Cold-Turkey im Verhandlungssaal sitzen und keinen zusammenhängenden Satz mehr herausbringen. Und natürlich die erwachsenen Gegenparts zu diesen Teens. Die Leute, die ihre Verhandlung verschieben wollen, weil sie keine Urlaubstage mehr haben und der Chef nichts mitbekommen soll. Die, die sich fürchten ihre Mindestsicherung zu verlieren, wenn sie wegen Drogen verurteilt werden. Die, die auf einmal verschwinden, obdachlos gemeldet sind, aber auch in keiner Einrichtung mehr auftauchen. Die, die mit den Drogen für all die anderen handeln.

KLASSENJUSTIZ, GANZ UNGENIERT. Alle diese Leute, die mir auf der Bank gegenüber sitzen, haben eines gemeinsam: Sie sind das, was der Dekan meiner Fakultät bei meiner Sponsionsfeier mit einem süffisanten Grinsen und ein wenig Abscheu im Gesicht als „bildungsfern“ bezeichnet hat. Die meisten haben keinen formalen Bildungsabschluss, weder eine Lehre, noch eine Schule. Viele sind schon jahrelang beim AMS als arbeitssuchend gemeldet, obwohl sie noch keine achtzehn sind.

Das ärgert meine Ausbildungsrichterin, und mich ärgert es auch. Weil es nämlich nicht so ist, dass die Menschen aus sozial schwächeren Schichten mehr Drogen konsumieren als der Rest der Gesellschaft. Sie sind nur die einzigen, die kontinuierlich verfolgt werden. Armut und Perspektivlosigkeit gehen mit einer erhöhten Kriminalitätsgefährdung, gerade im Bereich der leichten und mittelschweren Delikte, einher. Das bedeutet aber nicht, dass die anderen Teile der Gesellschaft keine Drogen konsumieren. Jede Person mit intaktem olfaktorischem Organ, die jemals auf einer Studierendenparty oder in einer dieser wunderbaren Discos, die 20 Euro Eintritt verlangen, war, weiß das. Keine mir bekannte Person aus dem studentischen Milieu ist jemals wegen einer verdammten Cannabiszigarette vor ein Strafgericht gesetzt worden. Nein, da wird das wegen Geringfügigkeit eingestellt, mit Diversion gleich bei der Staatsanwaltschaft vorgegangen – wenn man überhaupt dort landet. Das ist auch richtig so, dafür gibt es ja diese Instrumente. Nur kommt eine Mindestsicherungsbezieher_ in anscheinend nicht in den Genuss dieser.

IN DEN SCHUHEN DEINER DEALER_IN. Am deutlichsten sieht man das bei jenen, die mit den Drogen für all die anderen handeln. Und damit meine ich nicht die Person, die im VIP-Bereich irgendeines Clubs kleine weiße Plastiktüten auspackt. Diejenigen, die den ganzen Tag auf der Straße stehen, Wind und Wetter ausgesetzt sind, bei Schritt und Tritt beobachtet werden, jederzeit erwischt werden könnten, andauernd erwischt werden. Der Boulevard nennt sie gerne Straßendealer_in.

Die allermeisten sind wahnsinnig jung, haben keinen sicheren Aufenthaltstitel, viele sind Asylwerber_innen oder U-Boote. Sie sprechen kaum oder nur sehr schlecht Deutsch, viele auch kein Englisch. Sie haben Angst. Sie haben alle Angst. Angst vor Gefängnis, Deportation, vor weißen Menschen in Uniformen und ihrer Reaktion auf dunkle Haut. Angst vorm Stummund Taub-Sein. Denn sie sind viel zu oft beides. Wenn sie bei der Verhandlung einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin zur Verfügung gestellt bekommen, ist das oft das erste Mal seit Wochen, dass sie richtig mit ihrer Umwelt kommunizieren können. „Was soll ich denn anderes machen? Mir bleibt ja nichts anderes über. Ich darf nicht arbeiten, ich darf nicht in die Schule, ich darf nirgends hin.“ Sagt uns die Dolmetscherin. Seine Hände zittern, die Tränen kämpfen mit der Panik um den Platz in seinen Augen. Eine Diversion – das ist eine Art Vergleich mit dem Staat, bei dem man nicht verurteilt wird – bekommen nicht mehr viele von ihnen. Weil sie schon zu oft erwischt worden sind, weil die Gewerbsmäßigkeit im Raum steht. Und sie trifft auch fast immer zu – wer Drogen verkauft, um davon zu leben, tut es nunmal gewerbsmäßig.

Ein Drittel der österreichischen Bevölkerung hat schon einmal Cannabis konsumiert, unter den Jüngeren ist dieser Anteil noch höher: Ich bin Juristin, ich habs nicht unbedingt mit Zahlen oder Statistiken, so etwas wie Methoden lernen wir nicht. Den Theorien des freien Marktes stehe ich – gelinde ausgedrückt – skeptisch gegenüber, aber eines weiß ich: Es gäbe den Markt nicht ohne entsprechende Nachfrage.

Drogen sind medizinisch betrachtet böse zu Menschen. Sie zerstören unsere Hirne und Nervensysteme, sie machen uns abhängig und unsere Wahrnehmung kaputt. Das ist unbestritten. Dass das Konsumieren von Drogen, das Weitergeben und Handeln, strafbar ist, ist ein vollkommen anderes Kapitel. Dass restriktive Drogenpolitik und vor allem gerichtliche Verfolgung jedoch nicht alle gleichermaßen trifft, sondern dass die Verfolgung „bildungsferner“ Teile der Gesellschaft einen derartigen Überhang zu haben scheint, ist nicht einmal unseres bürgerlichen Rechtsstaats würdig.

Eine liberale Drogenpolitik hat viele Vorteile: Sie senkt die Krankheiten und Ansteckungsraten bei den Süchtigen, sie erhöht den Reinheitswert der Suchtgifte und macht sie so berechenbarer, sie bringt nicht zuletzt Steuern ein. Liberale Drogenpolitik wird aber die Probleme derjenigen, die den Straßenhandel am Gürtel betreiben, nicht lösen. Was es braucht sind legale Fluchtwege, vernünftige Aufenthaltstitel mit Arbeitsmarktzugang, eine Sozialpolitik, die ihren Namen verdient – wenn die Armut sinkt und Zukunftsperspektiven bestehen, dann sinkt die Kriminalität.

Tamara Felsenstein hat Rechtswissenschaften studiert und absolviert gerade ihre Gerichtspraxis.

Verweise:
http://derstandard.at/1369362961278/Ueber-das- Etikett-Auslaenderkriminalitaet
http://www.neustart.at/at/_files/pdf/webpublikationen/arbeit_faelle/nulltoleranz_schlechter.pdf
http://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3- 531-94164- 6_14#page-1
http://www.bmg.gv.at/cms/home/attachments/1/0/6/CH1040/CMS1164184142810/bericht_zur_drogensituation_2015.pdf
 

„Solidarität zeigen mit Dealer_innen“

  • 22.06.2016, 13:35
Gras für die einen – Abschiebung für die anderen? Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

Gras für die einen – Abschiebung für die anderen?

Das Bündnis „Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen“ setzt sich mit der herrschenden Drogenpolitik auseinander und kritisiert Medien und Politik dafür, Drogendealer_innen in eine Sündenbockposition zu drängen.

progress: Am 1. Mai 2016 seid ihr mit einem Flugblatt zum ersten Mal an die Öffentlichkeit gegangen. An wen richtet sich eure Initiative?
Kiberei, was geht? Initiative gegen Polizei auf unseren Straßen:
Wir wollen uns solidarisch zeigen mit Dealer_innen und all jenen, die von der Polizei täglich und nicht nur entlang des Gürtels schikaniert, kontrolliert oder festgenommen werden. Und wir wollen unterstützende Interventionsformen entwickeln sowie kompakte Rechtshilfeinformationen zur Verfügung stellen. Zeug_innen von Polizeikontrollen und Racist Profiling sagen wir: Geht nicht einfach vorbei, sondern schaut hin, bleibt stehen, mischt euch ein, fragt die betroffenen Personen, ob sie Unterstützung brauchen. Eine weitere Gruppe, die wir ansprechen wollen, sind die Anrainer_ innen. Viele sind mit der massiven Polizeipräsenz in ihrem Grätzl überhaupt nicht einverstanden, auch nicht mit der willkürlichen Vertreibung unerwünschter Gruppen oder Jugendlicher. Auch jene, die mehr oder weniger aktiv Teil der stattfindenden Gentrifizierung sind, wollen wir ansprechen und in die Verantwortung nehmen. Schließlich wollen wir uns in den medialen und politischen Diskurs einmischen und sagen: Wir lassen uns die rassistischen Politiken und die Polizei auf unseren Straßen, die unter dem Deckmantel von Sicherheit und Sauberkeit daherkommen, nicht länger gefallen.

In eurem Flyer kritisiert ihr studentisch- bildungsbürgerliche Drogenkonsument_ innen dafür, zwar beim Gemüsekonsum, nicht aber bei Graseinkauf auf „Fair Trade“ zu achten.
Die Leute, die ihre Drogen entlang des Gürtels oder an anderen Orten Wiens kaufen, die wegen Vertreibung und Gentrifizierung ständig wechseln, denken oft nicht an die Arbeitsbedingungen ihrer Straßendealer_innen. Häufig sind das Asylwerber_innen oder Sans Papiers, denen der Zugang zu legaler Lohnarbeit verwehrt ist. Um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, bleiben ihnen informalisierte und illegalisierte Tätigkeiten. Dealen ist eine der wenigen und zudem männlich* dominierten Jobmöglichkeiten, die bleiben. Die Bedingungen: niedrigster Lohn, anstrengende und stressige Arbeit und hohes Risiko. Dealer_innen ohne Papiere riskieren lange Gefängnisstrafen, Nachteile im Asylverfahren und ihre Abschiebung. Die im Juni in Kraft getretene Verschärfung des Suchtmittelgesetzes trifft die Straßendealer_innen, nicht die Konsument_innen. Dass Konsument_innen ihre Substanzen relativ bequem und sicher einkaufen und sich manche davon gleichzeitig über die Sichtbarkeit von Drogenbusiness und Drogennutzer_innen beschweren, ist absurd. Die Konsument_innen könnten ihre Privilegien dafür einsetzen, das Risiko, dem die Dealer_innen ausgesetzt sind, zu vermindern.

Wie schätzt ihr die Rolle der rotgrünen Stadtregierung in Wien ein?
Die Stadt Wien betreibt seit Jahren eine Säuberungspolitik, mit der unerwünschte Gruppen von zentralen öffentlichen Plätzen vertrieben werden. Ein prominentes Beispiel dafür ist die Karlsplatz-Renovierung und die Vertreibung der dortigen Drogenszene. Das Problem von kurzsichtiger Nicht-vor-meiner-Nase-Politik ist, dass es lediglich zu einer Verschiebung in andere Stadtteile kommt – derzeit beispielsweise bei der Josefstädter Straße und der Gumpendorfer Straße. Statt strukturelle Probleme (wie mangelnde Arbeitsmöglichkeiten, ein Defizit an leistbarem Wohnraum, das überlastete Gesundheitssystem, etc.) zu bearbeiten, wird vielmehr eine Stimmung der Angst erzeugt. Diese wird dann noch dazu rassistisch codiert, was dazu führt, dass die marginalisiertesten Personen als Sündenböcke präsentiert werden.

Der grüne Bezirksvorsteher Neubaus, Thomas Blimlinger, richtete sich im Februar mit einem Brief an alle Haushalte, schürte die Ängste der „besorgten Bürger_innen” und stimmte ein in die aus mehreren Richtungen erfolgten Rufe nach mehr Polizei. Dass die massive Polizeipräsenz zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl beiträgt, wagen wir aber zu bezweifeln.

Repressive Aktionen gegen vermeintliche oder tatsächliche Drogendealer_innen werden medial zumeist als Erfolge präsentiert. Wo sind die Leerstellen der herrschenden Art der Berichterstattung?
Es existieren kaum Beiträge, die ohne die Narrative vom 16. Bezirk als Gefahrenzone, Geflüchteten als kriminellen und gefährlichen Drogendealern* und der Polizei als Akteurin in der Wiederherstellung von Sicherheit auskommen. Eine kritische Sichtweise auf rassistische Polizeikontrollen und auf die fast permanente Polizeipräsenz am Gürtel fehlt. Es ist erstaunlich, wie viele Medien – auch so genannte Qualitätsmedien – Meldungen der Polizei direkt, wörtlich und ohne weitere Recherche übernehmen. Manche Darstellungen durch Journalist_innen, die auf stereotype Weise von vor Ort berichten, können nur als Klassenkampf von oben gesehen werden. Medien sind einerseits aktiv an der Herstellung eines Klimas rassistischer Hetze beteiligt, andererseits an der Rechtfertigung von immer mehr Polizeipräsenz und -repression an immer mehr Orten Wiens.

Welche drogenpolitischen Perspektiven würdet ihr favorisieren? Was sich rund um den Gürtel abspielt, ist ein Beispiel dafür, wie Drogenpolitik, Stadtentwicklung und Asyl-/ Migrationspolitiken ineinandergreifen. Das müsste sich auch in den Entwicklungen widerspiegeln, die wir uns wünschen – bloß umgekehrt. Es reicht also nicht, Drogenhandel und -konsum zu entkriminalisieren, so aber vielleicht neue Ausschlüsse zu schaffen. Es braucht auch einen generellen Perspektivenwechsel. Hin zu: Wer hier ist, ist von hier. Und ein Bekenntnis, dass die Städte für alle sind, die in ihnen leben. Ohne Blaulicht, ohne Papiere.

Kontakt zur Initiative: wasgeht@riseup.net

Interview: Florian Wagner

Subjektive Unsicherheit

  • 22.06.2016, 13:03
Es ist das selbstgesetzte Ziel der Stadt Wien, keine örtlich verfestigte Drogenhandelsszene aufkommen zu lassen. Um dieses zu erreichen, arbeiten mehrere Stellen zusammen: Die Polizei, die Sucht- und Drogenkoordination und politische Entscheidungsträger_innen.

Es ist das selbstgesetzte Ziel der Stadt Wien, keine örtlich verfestigte Drogenhandelsszene aufkommen zu lassen. Um dieses zu erreichen, arbeiten mehrere Stellen zusammen: Die Polizei, die Sucht- und Drogenkoordination und politische Entscheidungsträger_innen.

„Wir brauchen uns nicht die Illusion zu machen, dass wir die einzige Großstadt sein werden, in der es überhaupt keine Drogen gibt, aber es kommt drauf an, welche Maßnahmen man setzt und ob die Situation eskaliert oder moderat bleibt“, meint Michael Dressel, Leiter der Wiener Sucht- und Drogenkoordination. Mit der Liberalisierung des Strafrechts zu Jahresbeginn, wurde es erschwert, Menschen wegen Drogenhandels festzunehmen. Damit einhergehend wurde der Verkauf von Haschisch und Marihuana im öffentlichen Raum sichtbarer und von Teilen der Bevölkerung stärker als Problem wahrgenommen. Der Cannabishandel entlang der Linie U6 entwickelte sich zu einem medial breit diskutierten Thema. Die Politik reagierte und Anfang Juni trat eine Novelle des Suchtmittelgesetzes in Kraft, die den Drogenhandel im öffentlichen Raum als eigenen Tatbestand unter Strafe stellt. Es drohen nun bis zu zwei Jahre Haft.

Die Novelle ruft auch Kritiker_innen auf den Plan. „Die Sinnhaftigkeit der neuen Regelung ist fragwürdig“, bemängelt Nikolaus Tsekas, Leiter des Vereins Neustart Wien, der im Auftrag des Justizministeriums Bewährungshilfe für verurteilte Straftäter_ innen leistet. „Damit erreichen wir nur, dass die Polizei nicht zahnlos wirkt. Das Ziel, Menschen von straffälligen Handlungen abzuhalten, werden wir damit nicht erreichen“, erklärt er. Auch die Polizei beobachtet, dass Personen, die wegen Cannabishandels verurteilt wurden, nach der Entlassung oft wieder im Drogenhandel tätig sind.

WARUM ALSO DAS NEUE GESETZ? „Es haben sich vermehrt Bürgerinnen und Bürger an mich gewandt, die sich Sorgen machen bezüglich der Sicherheits- und Drogenproblematik entlang der U6 und die Gesetzesänderung hat den Menschen Sicherheit gegeben“, schildert Veronika Mickel, ÖVP-Bezirksvorsteherin des 8. Wiener Gemeindebezirks. Für die städtische Politik und die Bezirksvertretungen ist die Zufriedenheit der wahlberechtigten Bevölkerung entscheidend. Das Sicherheitsgefühl hat aber oft wenig mit der realen Bedrohungslage zu tun, sondern ist äußerst subjektiv. „Es gibt heute nachweislich weniger Kriminalität, trotzdem haben wir als Gesellschaft das Gefühl, in einer unglaublich gefährlichen Zeit zu leben“, erklärt Neustart-Leiter Tsekas.

Dabei wird das Problem oft erst durch mediale Panikmache als solches wahrgenommen. In der aktuellen Diskussion spielt auch Rassismus eine große Rolle. Zwar sind laut Michael Dressler von der Sucht- und Drogenkoordination mindestens die Hälfte der im Drogenhandel Tätigen Österreicher_ innen. Diese werden aber in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen. Als störend empfunden wird die Anwesenheit von „fremden Männern“ in den U6-Stationen. Gerade aber die Dealer (der Straßenverkauf von Cannabis ist ein fast ausschließlich männliches Business), die aus Nigeria, Marokko, Algerien, Afghanistan oder Tschetschenien kommen, haben oft keine andere Erwerbsmöglichkeit, da sie vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind. „Wenn ich keine Transferleistungen des Staates bekomme, aber auch nicht legal arbeiten darf, habe ich nur die Möglichkeit, mir auf andere Weise Geld zu beschaffen“, erklärt Tsekas. Den Leuten sei es dann lieber, leichte Drogen zu verkaufen, als bewaffnete Raubüberfälle zu begehen.

Michael Dressel dagegen zeigt sich überzeugt, dass gegen den öffentlichen Drogenhandel nur polizeiliche Maßnahmen helfen. Daher hat sich auch die Sucht- und Drogenkoordination für die aktuelle Gesetzesänderung stark gemacht. Der maßgebliche Input kam allerdings von der Exekutive selbst, erklärt Roman Hahslinger, Sprecher der Landespolizeidirektion Wien: „Unsere Anregung war es, den Drogenhandel strenger unter Strafe zu stellen.“ Denn wenn die gesetzlichen Bestimmungen schärfer seien, so Hahslinger, könne eine festgenommene Person in Untersuchungshaft überstellt werden und sei zumindest einmal eine gewisse Zeit lang weg vom Drogenhandel.

KAUFEN JA, VERKAUFEN NEIN. Die Menschen, die Haschisch oder Marihuana entlang der U6 kaufen, sind in der Regel „sozial integriert“, heißt es von Seiten der Sucht- und Drogenkoordination. „Das sind Leute, die kiffen wollen und sich schnell was kaufen“, meint Dressel. Dass die neue Rechtslage zu weniger Konsum führen wird, glaubt er nicht: „Es ist eine Frage von Angebot und Nachfrage. Wenn die Leute kiffen wollen, dann werden sie sich das irgendwo besorgen.“ Für Dressel ist wichtig, dass sich die Arbeit der Exekutive nicht gegen die Konsument_innen richtet. Die Kriminalisierung der Käufer_innen sei in den letzten zehn, fünfzehn Jahren zurückgegangen, erzählt er.

Dies ist ein Indiz dafür, dass der Konsum von Hanfprodukten in den letzten Jahren gesellschaftlich immer mehr toleriert, der Cannabisverkauf allerdings nach wie vor als Störung der öffentlichen Sicherheit empfunden wird. Die damit einhergehende Politik, die zwischen Duldung und Repression schwankt, geht auf Kosten der Dealer_innen. Doch wer auf der Straße Marihuana verkauft, tut das in kleinen Mengen und baut Cannabis nicht selbst an. Darüber hinaus sind die meisten Händler_innen mittellos und können sich oft nicht einmal die Miete leisten.

Während das neue Suchtmittelgesetz das Ziel verfolgt, Cannabishändler_innen zwischenzeitlich aus dem Verkehr zu ziehen, würde es wohl eine nachhaltigere Wirkung zeigen, wenn man legale Erwerbsmöglichkeiten zulässt. Zielführender wäre daher eine Öffnung des Arbeitsmarktes für Asylwerber_innen, aber auch für „Geduldete“, also Menschen mit negativem Asylbescheid, deren Abschiebung aber legal nicht durchführbar wäre. Nikolaus Tsekas sieht die aktuelle Debatte als guten Anlass, um auch in Österreich Modelle anderer Staaten zu diskutieren, in denen Cannabis in den letzten Jahren erfolgreich legalisiert wurde. Denn der Handel und Konsum von Hanfprodukten findet mit oder ohne strengere Gesetze statt.

Die Novelle des Suchtmittelgesetzes wirkt wie eine Kompromisslösung zwischen konservativen und links-liberalen Kräften: Die einen wollen, dass Drogen und Armut im öffentlichen Raum nicht sichtbar sind, die anderen wollen, dass Cannabiskonsument_ innen unbehelligt bleiben. Abgewälzt wird der Konflikt auf die, denen nichts anderes übrig bleibt, als Haschisch und Marihuana zu verkaufen. Denn wer nicht wählen darf, für den wird auch keine Politik gemacht.

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus tätig.

Fiktion …

  • 22.06.2016, 12:32
Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Zur Darstellung von Drogendealer_innen in Filmen und Serien ...

Die uneindeutige Weiblichkeit von Snoop
Felicia „Snoop“ Pearson in der HBO-Serie The Wire wird von Felicia Pearson gespielt. Neben professionellen Schauspieler*innen wurden auch viele Lai_innen gecastet. Unter anderem Pearson, die selbst Drogendealerin war und mit 14 zu acht Jahren Gefängnis wegen Mordes verurteilt wurde. Zu Beginn nur Statistin wird ihre Rolle in weiterer Folge ausgebaut. Sie dealt nicht direkt mit Drogen, sondern ist dafür zuständig, Leute aus dem Weg zu räumen, bringt deshalb im Laufe der Serie dutzende Menschen um und scheint dabei nie von irgendwelchen Skrupeln geplagt zu sein. Sie steht symbolisch und am treffendsten für den Typus „Men with Tits“, da sie durch nichts als Frau zu erkennen ist. Nur am Ende, bevor sie von einem früheren Verbündeten hingerichtet wird, fragt sie diesen noch: „Does my hair look good?“, woraufhin ihr entgegnet wird: „You look good Felicia.“ Es ist das erste und einzige Mal, dass sie von einem der ihren mit Felicia angesprochen wird. Erst im Tod wird sie zur Frau.
[Anm. d. A.: Ich danke Laura Söllner für ihre Mithilfe.] Anne Marie Faisst arbeitet als Buchhändlerin und studiert nebenbei Internationale Entwicklung an der Uni Wien.

Das undynamische Duo
Ein Verkaufsort, eine Droge: Jay und Silent Bob vertreiben in zahlreichen Filmen des Regisseurs Kevin Smith Marihuana vor dem „Quick Stop“-Laden in Leonardo, New Jersey. Als Kinder haben sie sich dort kennengelernt und so ihren Platz im Leben gefunden. Sie sind die liebenswerte Version lästiger Dealer_innen an der Straßenecke: Zwar machen sie Radau und belästigen Passant_innen, doch erweisen sie sich immer wieder als Menschen mit gutem Herz. Wenn es die Handlung erfordert, begehen sie ihre kleinkriminellen Taten im nächstgelegenen Einkaufszentrum oder reisen auch quer durchs Land. Die beiden sind nicht eindimensional auf das Dealen reduziert. Ihr Erwerbsleben bleibt aber eine nicht näher ausgestaltete Facette wie auch ihre anderen Charakteristika – etwa der Kunstgriff, dass Silent Bob, wenn er denn mal redet, meist etwas Bedeutungsvolles zu sagen hat. Die beiden sind also nicht mehr (und sollen auch nicht mehr sein) als Cartoon- Figuren, quasi die straffälligen Enkel der Marx Brothers.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Grace Saves Herself
Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes erbt Grace Trevethyn einen Schuldenberg. Ihrem Haus, das sich unweit eines west-englischen Fischerdorfes befindet, droht die Zwangsversteigerung. Die Hauptfigur des Films Saving Grace ist eine begnadete Gärtnerin. Als ihr Hausangestellter Matthew sie darum bittet, seine angeschlagenen Hanfpflanzen aufzupeppeln und ihre Bemühungen binnen kürzester Zeit Wirkung zeigen, haben beide die rettende Idee: Grace und Matthew pflanzen hochpotentes Marihuana an. Bald wissen alle im Dorf – inklusive des örtlichen Polizisten – vom groß dimensionierten Drogenanbau. Aus Verständnis für die von finanziellen Nöten geplagte Grace unternehmen sie nichts. Größere Polizeirepression droht erst, als Grace und Matthew versuchen, ihre Ernte in London zu verkaufen. Auf dem Anwesen von Grace kommt es zum Showdown zwischen Polizei, einem hippieesken Kleindealer und dem Handlanger des potentiellen Großabnehmers. Dank eines Hanffeuers löst sich alles im kollektiven Rausch auf. Die Verarbeitung des Erlebten in Form eines Bestseller- Romans wirft schlussendlich das nötige Kleingeld für Grace ab.
Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Ein Schneemann in Kolumbien
Robin Hood, Familienmensch und Serienmörder: Die Serie Narcos nimmt sich dem Leben und Wirken Pablo Escobars an. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln all jener Lebenswelten und behördlichen Schutzbereiche, welche von Escobar berührt, beeinflusst oder gar eingerissen wurden. Die Hauptperspektive bleibt jedoch jene eines US-Drogenpolizisten. Die erste Staffel folgt dem Aufstieg vom kleinen Schmuggler zum internationalen Kokain- Großhändler. Gezeigt wird Escobar als Mann mit Ambitionen, dessen krimineller Hintergrund ihm aber den Eintritt in die Politik verwehrt. Eben diese Obrigkeit zwingt er mit Entführungen, Auftragsmorden und Terroranschlägen in die Knie. Er errichtet gar sein eigenes Gefängnis und sperrt sich dort selbst mit allen Annehmlichkeiten ein, um nicht an die USA ausgeliefert zu werden. Am Schluss der ersten Narcos-Staffel muss Escobar seine persönliche Festung verlassen, weil sich zwei Staatsgewalten (die US-amerikanische und die kolumbianische) nicht von einem einzelnen Mann die Stirn bieten lassen wollen.
Markus Grundtner hat Rechtswissenschaften sowie Theater-, Film- und Medienwissenschaft studiert. Er arbeitet als Konzipient in Wien.

Mutter Oberin!
Er hat stets feinen Stoff. „Mutter Oberin“/„Mother Superior“, aus der Kultromanverfilmung „Trainspotting“. „Was darf’s denn sein?“, fragt der von Keith Allen personifizierte Dealer mit Stil. Heroin natürlich. Was sonst? Intravenös. Wie sonst? Fixbesteck vergessen? Kein Problem; der fürsorgliche Mitvierziger aus der Lebensrealität des schottischen Autors Irvine Welsh entsprungen, hilft gerne aus. Lou Reeds „Perfect Day“ ertönt in der Verfilmung von Danny Boyle, mit dem damals blutjungen Ewan McGregor in der Hauptrolle. Als heroinaffiner Renton versinkt er prompt im roten Teppich, einem Grabe gleich. Zu viel war es. Zu rein. So zerrt die Oberin seinen bewusstlosen Körper möglichst sanft aus dem Arbeiter_innensiedlungs-Wohnblock auf die Straße und ruft ein Taxi. Denn Taxler_innen stellen keine Fragen. Die Oberin steckt Renton ein paar Pfund in die Hemdtasche. Tätschelt liebevoll die Wange – Kundenpflege aus dem Bilderbuch.
Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich.

Tarantinos Version eines Dealers
In „Pulp Fiction“ (1994) werden fast alle Formen von Kriminalität in irgendeiner Weise gezeigt. Der Lieblingsdealer von Vincent – dem Handlanger eines Gangsterbosses und Hauptfigur im Film – ist Lance. Er lebt mit seiner Frau in einem gemütlichen Vorstadthaus und muss zum Arbeiten dieses nicht mehr verlassen. Er begrüßt dort seine Stammkund_ innen und versorgt sie mit hochklassigem Stoff. Lance selbst ist den Drogen nicht abgeneigt, ist aber bei weitem kein Junkie. Er arbeitet also nicht, um sich seine Sucht zu finanzieren. Viel Platz bekommt er in Quentin Tarantinos Blockbuster nicht. Der Film lebt von der Vielzahl an coolen Typen und ihren Sprüchen. Die Welt der organisierten Kriminalität wird sehr stilisiert, voller Klischees und Verweisen auf Popkultur zelebriert. Sehr realitätsnah ist die Darstellung von Lance also nicht, der gern vor dem Fernseher hockt und um drei Uhr nachts genüsslich Frühstücksflocken verzehrt.
Katja Krüger-Schöller studiert Gender Studies in Wien.

Lest hier den begleitenden Artikel über die realen Drogendealer*innen

… und Wirklichkeit

  • 22.06.2016, 12:31

… und wie sich ihre echten Gegenstücke zwischen Repression, Prekarität, Ruhm und Reichtum bewegen .

Hanf-Omas
Kurznachrichten über Drogenrazzien und hopsgenommene Dealer_innen sind generell ein dankbares journalistisches Genre. Umsomehr gilt das, wenn ältere Frauen, die Cannabisplantagen betreiben und irgendwann erwischt werden, im Mittelpunkt der Berichterstattung stehen. Sie entsprechen einerseits überhaupt nicht dem Bild der gefährlichen Dealer_ innen, andererseits verstecken sich hinter den lustig anmutenden Meldungen oft tragische Geschichten. So standen im Februar 2014 eine 63-Jährige und ihr Mann aus dem Hunsrück vor Gericht, weil sie aus medizinischen Gründen 47 Cannabispflanzen im Keller gehegt hatten. Die Rentnerin baute das Gras an, um eine drohende Erblindung zu bekämpfen. Die teuren Medikamente konnte sich die ehemalige Putzkraft nicht leisten. Das Gericht hatte Mitleid und sprach nur eine Verwarnung aus. Doch nicht jede Hanf-Oma ist so liebenswert: Im schweizerischen Malters verteidigte eine 65-Jährige für 17 Stunden mit Waffengewalt ihre Plantage gegen die Polizei. Sie wurde bei der Erstürmung ihrer Wohnung erschossen.

Meth-Enkel
Nicht nur Großeltern agieren manchmal als Drogendealer_ innen, auch ihre „Enkel“ sind teilweise schon in sehr jungen Jahren aktiv. Im Vereinigten Königreich wurde zum Beispiel im Juli 2014 ein 13-Jähriger im nordenglischen Barrow dabei erwischt, wie er Heroin und Meth dealte. Angeblich wurde der Jugendliche von einer Gang zum Dealer ausgebildet und lebte bei Süchtigen, die er zur Miete mit kostenlosen Drogen versorgte. Dieses Modell scheint in Nordengland beliebt zu sein: Die Polizei berichtete von zwei weiteren Fällen, in denen 14-Jährige in einer sehr ähnlichen Situation gewesen wären. 2012 will die Polizei im Vereinigten Königreich insgesamt über 12.000 Dealer_innen festgenommen haben, die nicht nur minderjährig, sondern auch unter 16 Jahren alt waren. Die meisten von ihnen handelten jedoch mit leichten Drogen wie Cannabis und nicht mit als „class A drugs“ bezeichneten harten Drogen. Für den Dealer aus Barrow wurde unterdes keine Gnade angekündigt. Die Gerichte würden in solchen Fällen „Strafen verteilen, die dem geleisteten Schaden an der Gesellschaft entsprechen“, so eine Polizeisprecherin.

Verschärftes Gesetz
Die Diskussionen über die Wiener U-Bahnlinie U6, bei der vor allem bürgerliche Journalist_innen die Präsenz von Schwarzen Menschen, die sie als Drogendealer_innen zu identifizierten glaubten, beklagten, sind in einer Gesetzesnovelle mit anschließender Polizeiaktion gemündet. Großkotzig kündigte die Wiener Polizei „bis zu 200 zusätzliche Festnahmen“ innerhalb der ersten 24 Stunden an und ließ in Großraumzellen mehr Betten aufstellen. Außerdem wurde das Personal aufgestockt. Insgesamt waren es dann gigantische 14 mutmaßliche Dealer_innen, die in den ersten 24 Stunden nach Inkrafttreten der Gesetzesnovelle verhaftet wurden. Dabei umfasst der neue Straftatbestand den Handel mit illegalen Drogen im öffentlichen Raum und an anderen Orten, wenn „das Verhalten durch unmittelbare Wahrneh mung dazu geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen“. Dieser Gummiparagraph lässt sich hervorragend dazu einsetzen, Drogenszenen von einem Ort zum nächsten zu jagen. So freut sich die Wiener Polizei bereits jetzt darüber, die Dealer_innen von der U6 verjagt zu haben. Aber Wien hat ja noch einige andere U-Bahnlinien.

Vom Gangsta zum legalen Dealer
Nachdem in einigen US-Bundesstaaten der Konsum von Cannabis legalisiert wurde, stellt sich dort eine paradoxe Situation ein: Während ehemalige Dealer_innen, viele davon People of Color, weiterhin ihre Gefängnisstrafen absitzen, haben Cannabis- Start-ups den legalen Markt übernommen. Geführt werden diese meist von Weißen Menschen, die davor nicht im Fokus polizeilicher Ermittlungen bezüglich Drogenkriminalität standen. Allerdings gibt es natürlich auch Ausnahmen: Der Rapper Snoop Dogg ist vor einiger Zeit mit einer eigenen Linie von Cannabisprodukten ins Geschäft eingestiegen – diesmal legal. In den 1990ern stand der Rapper nämlich nicht selten wegen Drogendelikten vor Gericht, unter anderem auch wegen Dealens. Nun ist aber alles anders: Mit „Leafs by Snoop“ vertickt der Rapper im US-Bundesstaat Colorado legal acht verschiedene Cannabissorten in stylisch designten Schachteln, außerdem gibt es Konzentrate und Kekse zu erwerben. Snoops Cannabisimperium wird von einer eigenen Marihuana-Medienfirma abgerundet: „Merry Jane“ soll Cannabis und Popkultur vermengen.

52 Milliarden
Als reichster Drogenboss galt der mittlerweile 85-jährige Amerikaner Frank Lucas. Sein Drogengeschäft begann er in den 1960ern im New Yorker Stadtteil Harlem. Seine Strategie bestand vor allem darin, das Monopol der italienischen Mafia in New York zu brechen. Dafür reiste er nach Bangkok und kontaktierte dort einen entfernten Verwandten, der Verbindungen zur U.S. Army hatte. So begann der Schmuggel direkt aus dem sogenannten „Goldenen Dreieck“. Wie genau dieser von statten ging, darüber gehen die Meinungen auseinander. In manchen Versionen wird von Särgen toter US-Soldaten berichtet, andere Quellen geben nachgemachte Särge oder „nur“ Möbel an. Lucas vertraute nur Verwandten und guten Freund_innen seine Drogengeschäfte an, weil er der Meinung war, dass die Chance, dass diese ihn bestehlen würden, geringer sei. Mit den großen Profitmargen, die er aus dem Direktverkauf seines „Blue Magic“-Heroins ohne Zwischenhändler_innen erzielte, konnte er viel Besitz anhäufen, unter anderem auch eine Rinderfarm in North Carolina. Als er 1975 jedoch festgenommen wurde, verschwand angeblich sein gesamter Besitz. In „American Gangster“ wurde Lucas’ Leben verfilmt, allerdings mit einigen Änderungen, damit die Geschichte genügend Dramatik für das Mainstream-Kino bietet.

Online-Dealer_innen
Der Handel mit Drogen läuft auch im Netz. Wer abgelegen wohnt oder schlicht keine Lust hat, bei Straßendealer_innen zu kaufen, kann sich im Darknet so ziemlich alles besorgen, was das Herz begehrt. Die geheimen Seiten sind nur über das verschlüsselte und anonyme TOR-Netzwerk erreich bar, bezahlt wird in der Kryptowährung Bitcoins. Die bekannteste Seite für alles Illegale war „Silk Road“, benannt nach der historischen Seidenstraße. Aufge setzt und betreut wurde der Darknet-Marktplatz von Ross Ulbricht, der besser unter dem Pseudonym „Dread Pirate Roberts“ bekannt war. 2013 stellte sich heraus, dass Ulbricht ziemlich unsicher gehandelt hatte: das FBI kam ihm auf die Schliche, nahm ihn fest und beschlagnahmte "Silk Road". Ulbricht wurde daraufhin unter anderem wegen Drogenhandels und Auftragsmord zu lebenslanger Haft verurteilt.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien und nein, das hat nichts mit Drogenanbau zu tun.

Lest hier den begleitenden Artikel über die fiktiven Drogendealer*innen

Grasgrüne Hoffnungsschimmer

  • 21.06.2016, 19:48
In Granadas Nordbezirk Almanjáyar bringen zahllose Indoor-Cannabisplantagen die Stromnetze an ihre Belastungsgrenzen. Und deren Blüten den krisengeplagten BewohnerInnen ein illegales Einkommen. Ein Lokalaugenschein.

In Granadas Nordbezirk Almanjáyar bringen zahllose Indoor-Cannabisplantagen die Stromnetze an ihre Belastungsgrenzen. Und deren Blüten den krisengeplagten BewohnerInnen ein illegales Einkommen. Ein Lokalaugenschein.

Wer den Duft kennt, weiß was hier wuchert. In jedem Straßenzug zwischen den tristen, oft verwaisten 1970er-Wohnblöcken der Satellitensiedlung am äußersten Stadtrand der andalusischen Provinzhauptstadt Granada riecht es fein süßlich nach Cannabis. Nicht nur an diesem tiefgrauen, regnerischen Maitag, der zum Alltag in Almanjáyar passt.

Ein Schuss aus einem Druckluftgewehr ertönt. Die getroffene Katze miaut schmerzerfüllt. Gelächter. An der Ecke spielen Kinder und Jugendliche, die eigentlich in der Schule sein sollten, mit Airsoft-Pump-Guns. Streunerjagen ist ein willkommener Zeitvertreib. Außenstehende sind hier nicht gern gesehen, denn neben dem Cannabis gehören auch der Verkauf von Kokain und Sexarbeit zu der hier alles dominierenden Schattenwirtschaft.

Der Cannabisanbau stieg über die vergangenen Jahre immens an, vor allem mit der in Granada nichtendenwollenden Krise. „Er prägt den Alltag der von Massenarbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit geplagten Bewohner_innen“, weiß José Lombardo. Der gelernte Installateur hält sich mit Gelegenheitsjobs und zeitweise als Aushilfs-Pizzakoch finanziell über Wasser. Seit mehr als zehn Jahren lebt er hier. Wie er progress erklärt, will er „auch am Boom um die Cannabisplantagen, die leerstehende Wohnungen, Keller, Garagen, ja selbst Industrieflächen füllen, teilhaben“. Jedoch legal: „Guano-Dünger, Kokosmatten, Samen, alles was man für den Anbau braucht“, will er zu seinem Geschäft machen. Und sich eine Ausbildung als Schädlingsbekämpfer leisten.

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SIE KAUFEN ALLES. „Kontrolliert wird der Anbau und Handel von hier vor Dekaden an den Stadtrand umgesiedelten Roma-Familienclans“, sagt Lombardo. „Kund_innen kommen aus Holland, Tschechien, Deutschland. Erst vor wenigen Wochen hat man zwei Franzosen festgenommen, die 34 Kilo im Auto transportierten“, sagt er.

„Sie kaufen alles“, weiß sein Jugendfreund Juan Heredía*, der anonym bleiben will. Heredía ist „Kleinstbauer“. Er hat eine potente Grow- Lampe und 16 Pflanzen, wie er sagt. Dank eines Sozialtarifs ist seine Stromrechnung gering. „30 Euro im Monat.“ Seine größte Sorge ist, dass man ihm seine Ernte stiehlt. „Wo das Geld quasi an ‚Bäumen‘ wächst, gibt es Neider_innen.“ „Warum nach Marokko fahren, um Kif oder Haschisch zu kaufen? Und es über eine EU-Außengrenze schmuggeln, wenn man in Granada für 1000 Euro das Kilo Indoor-Cannabis kaufen kann?“, erklärt sich die Policía Nacional die Plantagenschattenwirtschaft.

Angebot bestimmt die Nachfrage und vice versa. So habe es sich längst bis nach Mitteleuropa durchgesprochen, dass man hier „Qualität für einen Euro das Gramm bekommt“. Sofern man ausreichend große Mengen abnimmt. Die Polizei kommt kaum mit der Beschlagnahme von Pflanzen nach. Fast 12.000 Stauden wurden im Vorjahr vernichtet. Das ist Rekord in Spanien und stellt fast ein Viertel der landesweit konfiszierten Cannabispflanzen dar. Periodische Razzien tun dem Anbau jedoch kein Ende.

Die stetigen Routinekontrollen bei der Ausfahrt aus dem Stadtteil nerven Lombardo indes: „Zwei, drei Mal die Woche wird mein Auto komplett durchsucht.“ Was er mittlerweile mit einberechne, wenn er ins Zentrum fährt.

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STROMAUSFALL. Die „Maria“ hat für die lokale Ökonomie sowie in den angrenzenden Bezirken La Paz, Rey Badis aber auch Cartuja sukzessive an Bedeutung gewonnen. Insbesondere, weil knapp 80 Prozent, ein Großteil der jungen SpanierInnen, bereits lange Zeit erwerbslos sind. Immerhin verdient man als Tagelöhner_ in im Gras-Gewächshaus mehr als bei der harten Olivenernte. 50 bis 80 Euro, die bei einem gesetzlichen monatlichen Mindestlohn von knapp 650 Euro locken. „Wer mehr als 200 Pflanzen hat, braucht Hilfe, um die Blüten vom Blattwerk zu befreien“, weiß Lombardo: „Das muss schnell gehen. Zeit ist Geld. Kund_innen stehen Schlange.“

Der Indoor-Plantagenanbau führt jedoch auch zu Problemen. Angezapfte Stromleitungen strapazieren die Netze über die Grenzen der Belastbarkeit. Stromausfälle sind die Regel. Zwei Trafostationen waren mit dem Strombedarf restlos überfordert. „Sie haben sie durchgeheizt“, sagt Lombardo, schüttelt den Kopf und lacht: „Das Licht ging flächendeckend aus.“ Mittlerweile begleiten stets Angestellte des Stromgiganten Endesa die PolizistInnen bei Razzien. Mehrfach haben Anwohner_innen, die nichts mit dem Grasanbau am Hut haben, protestiert. Endesa gab an, dass der Stromverbrauch in Almanjáyar den von Juncaril, dem größten Industriegebiet bei Granada, übertreffe. Dieser Fakt macht die Dimensionen begreifbar

Im Zuge der „Operation Urko“ nahm die Polizei zum Jahreswechsel 2015 19 Plantagen in Wohnungen, Garagen und Kellern aus. Alleine in dieser Aktion – einer von vielen – wurden stattliche 2.200 Pflanzen beschlagnahmt, außerdem 5,7 Kilogramm getrockneter, verkaufsfertiger Cannabisblüten in Topqualität. 212 Halogen-Hochleistungsanbaulampen, Verteilerstecker, Zeitschaltuhren, Ventilatoren, Klimaanlagen, Pumpen und Co. zeugten vom Grad der Professionalität.

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LAXES STRAFRECHT. Erst Monate nach der Razzia wurden sieben Männer ausgeforscht und festgenommen. Von Seiten der Ermittler_innen wird nicht nur das Stillschweigen der Anwohner_innen, sondern mehr noch das „zu laxe Strafrecht“ lamentiert. Wer unbescholten als Plantagenbesitzer_ in entlarvt wird, „kann zwar nicht auf die Eigenbedarfs-Strategie bauen“, scherzt Lombardo. Aber man komme schlimmstenfalls mit einer bedingten Haftstrafe davon.

Jemi Sánchez, Sozialarbeiterin, langjährige sozialistische Bezirksrätin für Almanjáyar und nun Neo-Stadträtin, weiß: „Die Bewohner_innen werden hier im Stich gelassen. Es ist nicht sicher hier, dreckig, und es gibt keine Arbeit.“ Sie fordert im progress-Gespräch Lösungen ein, für fast 30.000 Menschen, die in den Nordbezirken leben. Höchste Zeit wäre es. Womöglich klappt es nun unter Francisco Cuenca Rodríguez vom sozialistischen PSOE, der seinem in Korruptionsskandale verwickelten Vorgänger als Bürgermeister nachfolgt. Ein weiterer Hoffnungsschimmer. Auf eine Wende abseits grasgrüner Geschäfte.

* Name der Redaktion bekannt

Jan Marot studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in Wien und Zürich und arbeitet seit 2007 als freischaffender Auslandsjournalist.