Dossier

„Deutsch sitzt bei mir im Mund“

  • 17.11.2013, 23:28

Französisch im Bauch, Persisch im Herzen und Englisch im Kopf. Sprachenporträts machen gelebte Sprachenvielfalt sichtbar: Mit Farben zeichnen Menschen ihre Sprachen in eine Silhouette ein und veranschaulichen die eigene Mehrsprachigkeit. Vier (Wahl-)WienerInnen haben zu den Buntstiften gegriffen und erzählen ihre Geschichten. Ihre Zeichnungen hat Ulrike Krawagna zu Illustrationen verarbeitet.

Französisch im Bauch, Persisch im Herzen und Englisch im Kopf. Sprachenporträts machen gelebte Sprachenvielfalt sichtbar: Mit Farben zeichnen Menschen ihre Sprachen in eine Silhouette ein und veranschaulichen die eigene Mehrsprachigkeit. Vier (Wahl-)WienerInnen haben zu den Buntstiften gegriffen und erzählen ihre Geschichten. Ihre Zeichnungen hat Ulrike Krawagna zu Illustrationen verarbeitet.

Illustration: Ulrike Krawagna

„Dann zuckt das französische Wort“ - Luc (24)

Meine ersten Schritte habe ich als Kind in der Schweiz gemacht. Ich bin in Zürich aufgewachsen, deshalb nimmt den unteren Beinbereich das Schweizerdeutsche ein. Es stellt das stützende Fundament für mein Sprachverständnis dar.

Vom Schritt bis zur oberen Brust ist für mich der französischsprachige Teil. Wahrscheinlich weil meine Mutter aus Frankreich ist. Bis sieben oder acht bin ich hauptsächlich französischsprachig aufgewachsen. Zum Französischen habe ich auch den emotionalsten Bezug. Wenn ich mich verbrenne, dann zuckt nicht nur der Schmerz in mir, sondern gleichzeitig auch das französische Wort. Außerdem ist das der sinnlichste Teil des menschlichen Körpers. Und schon ziemlich früh hatte ich die triviale Assoziation, dass ein Großteil meines sinnlichen Lebensverständnisses auf französische Lebenswelten zurückgeht. Den Bereich von der oberen Brust bis zum Scheitel nimmt das Schriftdeutsche ein. Es wurde bei uns neben dem Französischen gesprochen, vor allem nachdem mein Vater, der aus Österreich stammt, mehr zuhause war.

Erst das Deutsche in Schriftform hat mir wirklich und endgültig eine Sprache eingehaucht, in der ich mich ausdrücken konnte. Das Französische habe ich schriftlich zu wenig beherrscht und das Schweizerdeutsche hatte zu viele Unzulänglichkeiten für mich. Durch das Lesen des Schriftdeutschen wurde eine Fülle an Gedanken und Spielereien freigesetzt. Wenn wir ganze Bücher in einer Sprache lesen, dann ist klar, dass gewisse Horizonterweiterungen untrennbar mit dieser Sprache verbunden sind. Meine Zwillingsschwester und ich haben eine eigene Sprache: Schriftdeutsch in schweizerdeutschem Tonfall. Das ist so dieses Zwillingsding. So spreche ich nur mit meiner Schwester.

Der Schweiz den Rücken zu kehren, war doch eine Zäsur. Es hat mir gut getan, nicht auf das Schweizerdeutsche angewiesen zu sein. Aber ich entwickle wieder eine Affinität zu Zürich. Es tut mir gut, wenn ich in der Schnellbahn sitze und unter dem Fenster auf Französisch, Deutsch und Italienisch steht, dass man sich nicht aus dem Fenster lehnen soll. Im Vergleich zu Wien ist Zürich wirklich ein sprachlich hybrider Raum. Das lerne ich jetzt, nach fünf Jahren, zu schätzen.“

 

Illustration: Ulrike Krawagna

„Liebe und Mathematik sind auf Russisch“ - Mascha (30)

„Die roten Stiefel stehen für das Russische. Das ist instinktiv so: Rot ist Russisch. Die Lederhose ist Österreichisch. Der Davidstern das Hebräische. Das Ferrari-Zeichen steht für Italien. Der Eiffelturm steht für Französisch. Und viel kleiner: English Tea, weil mein Englisch nur Schulenglisch ist.

Ich rede jeden Tag Deutsch. Ich lebe in Wien und bin eine russische Wienerin. Deshalb ist das Deutschsprachige ganz groß. Das Italienische wird klein gehalten. Ich rede zwar jeden Tag Italienisch, weil ich in einer Pizzeria arbeite, aber ich habe keine italienischen Wurzeln.

Geboren wurde ich in Tashkent, in der damaligen UdSSR. Die Staatssprache war Russisch. Und meine Eltern waren beide Russen. Nach dem Zusammen- bruch der UdSSR, da war ich sechs, sind wir ausgewandert. Mein Papa ist Jude, deshalb sind wir nach Israel gegangen. An meinem ersten Tag in der Schule in Israel hat man mich einfach in die Klasse gesetzt und gesagt: Jetzt lernst du was. Ich habe – eigentlich wie eine Idiotin – einfach abgeschrieben, was auf der Tafel stand. Und diese Zeichen haben für mich überhaupt keinen Sinn ergeben. Ich habe das von links nach rechts abgeschrieben, bis mich ein Mitschüler gefragt hat, was ich da mache. Das ist mir fest in Erinnerung geblieben. Das Russische habe ich in Israel mehr oder weniger vergessen. Alles war auf Hebräisch. Sogar mit meiner Mama habe ich nur Hebräisch geredet, auch wenn sie mir auf Russisch geantwortet hat. Mittlerweile habe ich das Hebräische ziemlich verlernt. Schreiben und Lesen kann ich kaum noch, obwohl ich auch in Israel alphabetisiert worden bin.

Nach vier Jahren in Israel sind wir nach Wien gekommen. Als ich hier in die Schule gekommen bin, konnte ich kein Deutsch und Hebräisch hat niemand mit mir gesprochen – also was blieb übrig? Russisch! Meine damals beste Freundin war Russin. In der Schule sind wir immer nebeneinander gesessen. Wenn wir nicht nach Österreich gegangen wären, hätte ich viel von meinem Russisch vergessen. Jetzt spreche ich andauernd Russisch. Ich habe fast nur russische FreundInnen. Russisch ist die emotionalste Sprache für mich. Wenn ich schimpfe, schimpfe ich auf Russisch. Alles, was mein Herz betrifft, Liebe und Mathematik ist auf Russisch. Und meine Kinder werde ich auf jeden Fall auf Russisch großziehen.“

 

Illustration: Ulrike Krawagna

„Es war gar nicht komisch, die Sprache zu wechseln.“ - Katarina (28)

„Schwedisch ist meine Muttersprache. Schwedisch sitzt bei mir im Bauch, es kommt automatisch. Meine Zweitsprache ist Deutsch. Das sitzt bei mir im Mund. Manchmal muss ich darüber nachdenken, aber eigentlich kommt es einfach so raus. Englisch ist meine Drittsprache. Ich bin sehr gut in Englisch, habe es lange in der Schule gelernt, aber es ist für mich nicht so emotional. Weil ich manchmal länger nach den Worten suchen muss, sitzt es bei mir im Hirn.

Spanisch liegt im Herzen. Es ist eine Sprache, die ich gerne lernen würde. Auf meinem Weg in die Schule, saß jeden Tag vor mir im Bus ein chilenisches Pärchen. Die haben auf Spanisch miteinander gesprochen und das klang immer so schön.

Bei einem Schüleraustauch in Frankfurt an der Oder habe ich meinen Freund kennengelernt. Wegen ihm bin ich mit 19 nach Berlin gezogen. Ich habe dort einen viermonatigen Sprachkurs gemacht, da habe ich dann wirklich Deutsch gelernt. Unsere erste gemeinsame Sprache war Englisch. Aber nach drei Wochen hat es klick gemacht und wir haben nur noch Deutsch gesprochen. Es war gar nicht komisch, die Sprache zu wechseln, wir haben nicht darüber nachgedacht, es war einfach so. In Berlin habe ich zwei Jahre bei Ikea gearbeitet. Dort habe ich dann das Berlinerische gelernt und nach ein paar Wochen selber zum „Berlinern“ angefangen. Genau so war es in Wien: Wienerisch habe ich am Anfang auch nicht verstanden und jetzt spreche ich ein bisschen Dialekt.

Wenn mein Freund und ich uns am Anfang gestritten haben, war das schlimm. Beim Streiten habe ich es als Problem empfunden, dass ich die Sprache schlechter beherrsche als er. Heute denke ich nicht mehr darüber nach, ob ich Deutsch oder Schwedisch spreche. Deshalb fühle ich mich auch nicht unterlegen. Ich glaube, ich kann viele Sachen auf Deutsch, die ich auf Schwedisch nicht kann. Eben weil ich mein ganzes Studium in deutschsprachigen Ländern gemacht habe.

Schwedisch spreche ich nur alle zwei bis drei Wochen, wenn ich mit meiner Familie telefoniere. Aber ich lese regelmäßig schwedische Tageszeitungen im Internet. Das hält es ein bisschen lebendig. Manchmal wäre es schön, ein bisschen mehr Schwedisch zu sprechen oder zu hören. Ich habe aber nicht vor dorthin zurückzukehren. Ich habe mich so eingelebt in der deutschsprachigen Welt, ich fühle mich nicht mehr wirklich zuhause in Schweden.“

 

Illustration: Ulrike Krawagna

„Meine vielen Sprachen sind meine Geheimwaffe“ - Arzi (18)

„Aus der Ferne glauben die Leute, ich sei Österreicherin. Wenn sie näher kommen, denken sie, ich bin Albanerin. Und wenn sie noch näher kommen, glauben sie, dass ich Türkin bin. Deshalb habe ich diese Sprachen im Gesicht eingezeichnet.

Mein Vater ist Türke, meine Mutter Perserin. Ich bin in Wien geboren und aufgewachsen. In der Brust, also beim Herzen, ist das Persische. Wenn ich denke oder mit mir selber rede, dann tue ich das oft auf Persisch. Weil meine Mutter mit mir als Kind immer Persisch geredet hat, und das geht direkt da hinein. Wenn mein Vater noch da wäre und mit mir reden würde, wäre das vielleicht anders. Mein Vater hat mit mir Türkisch gesprochen. Seit ein paar Jahren sind meine Eltern geschieden. Zu meinem Vater habe ich keinen Kontakt mehr. Nach der Trennung wollte ich eine Zeit lang gar kein Türkisch sprechen, bis ich in der Volksschule türkische FreundInnen bekommen habe. Da habe ich wieder angefangen, Türkisch zu reden. Aber zuhause natürlich gar nicht mehr. Nur mit meinem Bruder, mit ihm spreche ich Türkisch, Persisch und Deutsch. Alles gemischt. Das ist so etwas wie eine Geheimsprache, das kann ich nur mit ihm machen.

Bis zu meinem sechsten Lebensjahr konnte ich kaum sprechen. Als ich mit sechs in den Kindergarten gekommen bin, habe ich dort zu sprechen angefangen. Das war auch das erste Mal, dass ich mehr mit Deutsch in Kontakt gekommen bin. Am Anfang war das schwierig für mich. Ich war sehr zurückgezogen. Aber dann bin ich lockerer geworden, habe FreundInnen gefunden. Ich denke, dass man mit Deutsch mehr erreichen kann, als mit den anderen Sprachen. Und nachdem ich hier geboren bin, habe ich in Wien eher ein Heimatgefühl als im Iran oder in der Türkei. Trotzdem fühle ich mich überall wie eine Ausländerin.

Das Arabische habe ich in der Bauchgegend eingezeichnet, weil ich orientalischen Bauchtanz mache und viele FreundInnen aus dem arabischen Raum habe. Mit ihnen spreche ich Deutsch, aber ich benutze viele arabische Ausdrücke. Das Englische ist in den Armen, weil ich Hip Hop tanze. Hip-Hop-Bewegungen werden mit den Beinen und den Armen gemacht. Ehrlich gesagt, hasse ich Englisch, aber im Hip Hop klingt es super geil. Im linken Bein ist das Spanische, weil ich Salsa tanze. Das Indische sitzt im rechten Bein, das kommt vom Bollywood- Tanzen.

Ich kann die Leute ausspionieren, weil ich so viele Sprachen spreche. Und die merken das nicht einmal. Mein Zukünftiger soll auch so viele Sprachen können wie ich. Sonst würde er ja vor Eifersucht platzen. Meine vielen Sprachen sind meine Geheimwaffe. Eine meiner Geheimwaffen.“

Süpersexy, vui oag und urtoll

  • 01.11.2013, 01:26

Überblick über Mehrsprachigkeit

Über Sprachen sprechen

Während anderswo Mehrsprachigkeit selbstverständliches Resultat des Aufwachsens in mehrsprachigen Gemeinschaften ist, gilt es in Europa vor allem als Zeichen von Bildung und Weltoffenheit. Unsere Alltagsterminologie scheint dabei schon lange nicht mehr adäquat, um mit Sprachenvielfalt – vor allem unserer eigenen – umzugehen. Sind dir deine Fremdsprachen wirklich noch „fremd“? Spricht deine Mutter deine „Muttersprache“? Wie viele Sprachen hast du als „Erstsprache“ gelernt? Wie gebildet bist du in deiner „Bildungssprache“? Gilt dein Dialekt als „Zweitsprache“? Und wie kann Deutsch in Österreich die einzige „Landessprache“ sein, wenn die Menschen hier auch Türkisch, Serbisch, Kroatisch, Englisch, Bosnisch, Polnisch, Albanisch, Arabisch, Rumänisch, Italienisch, Persisch, Slowakisch, Slowenisch, Französisch, Tschechisch, Ungarisch, Romani und andere Sprachen sprechen? Dass wir über (diese) Sprachen sprechen, ist wichtig – wie wir über sie sprechen auch.

Akzente und Dialekte

„Woher hast du deinen Akzent?“ Diese Frage gestellt zu bekommen, ist manchen unangenehm bis peinlich, vor allem in einer „Fremdsprache“ – „Ich möchte doch wie ein_e Native klingen!” Fakt ist: Jeder Mensch hat einen Akzent (das heißt eine gewisse Aussprache), ob Native oder nicht, und wir alle sprechen einen Dialekt (das heißt verwenden eine gewisse Grammatik und Lexik), ob nun „Standard“ oder nicht. Kein Akzent oder Dialekt ist an sich besser oder schlechter als andere, manche genießen allerdings ein höheres Ansehen. So wird z.B. ein französischer Akzent oft als sexy bezeichnet, während Akzente von slawischen Sprachen schnell als ungehobelt abgetan werden. Wer in der Vorlesung ein Meidlinger L hören lässt, wird als ungebildet empfunden, wer nach der Ski-Abfahrt ein Interview auf Kärntnerisch gibt, als volksverbunden bejubelt. Und wer hat nicht schon mindestens einmal im ewigen Kampf zwischen „ur“ und „vui“ mitdiskutiert? Dabei sollte für erfolgreiche Kommunikation nur eines zählen: verstanden zu werden.

„A language is a dialect with an army and a navy.“

Diese Definition von Sprache als „Dialekt mit Armee und Flotte“ (bekannt geworden durch den Linguisten Max Weinreich, der das Zitat von einem Seminarteil nehmer aufschnappte) kann uns bewusst machen, dass es oft politische Hintergründe sind, die für die Unterteilung und Anerkennung von Sprachen entscheidend sind – und nicht etwa sprachhistorische, grammatische oder andere linguistische Aspekte. So gelten zum Beispiel Bosnisch, Kroatisch und Serbisch zurzeit trotz ihrer vielen Gemeinsamkeiten und gegenseitiger Verständlichkeit als jeweils eigene Sprachen, da Bosnien, Kroatien und Serbien als voneinander unabhängige Staaten mit eigener Identität verstanden werden. Hingegen werden unterschiedliche Sprachen, die im Raum China gesprochen werden und auf Basis linguistischer Merkmale ohne weiteres als verschiedene Sprachen bezeichnet werden können, oft als Dialekte einer einzigen Sprache „Chinesisch” verstanden.

Europäischer Tag der Sprachen

Mehr als 200 Sprachen gelten als europäisch, die EU verwendet zurzeit 24 Sprachen als offizielle Amtssprachen und mehr als die Hälfte der in Europa lebenden Menschen geben an, in mehr als einer Sprache eine Konversation führen zu können. Vor dem Hintergrund dieser linguistischen Vielfalt wurde der 26. September vom Europarat zum „Europäischen Tag der Sprachen“ erklärt. An diesem Tag finden in vielen europäischen Ländern Veranstaltungen zum Thema Mehrsprachigkeit statt, die über die Sprachenvielfalt in Europa informieren und zum Sprachenlernen motivieren sollen – darunter gemeinsames Singen in mehreren Sprachen, Postkartenaustausch mit Menschen in anderen Ländern sowie „Speak-Dating“–Events und Online- Dialekt-Collagen. In Österreich wird an diesem Tag unter anderem die „Lange Nacht der Sprachen“ angeboten, in der Interessierte an verschiedenen Instituten in Sprachkurse schnuppern und sich Appetit aufs Sprachenlernen holen können.

Gebärdensprachen

Es gibt nur eine einzige Gebärdensprache und diese wird weltweit von allen Gebärdenden verstanden – das ist nur einer von vielen Mythen, die sich um Gebärdensprachen ranken. Tatsächlich sind Gebärdensprachen so vielfältig wie die Communities, in denen Menschen gebärdend kommunizieren. Aktuelle Schätzungen gehen von circa 200 aktiv verwendeten Gebärdensprachen aus, wobei zusätzlich, wie bei Lautsprachen, noch zahlreiche Gebärdendialekte unterschieden werden. Außerdem sind Gebärdensprachen in ihrer Grammatik nicht gezwungenermaßen den Lautsprachen ähnlich, mit denen sie oft assoziiert werden. Österreichische Gebärdensprache ist also nicht etwa „gebärdetes Deutsch“, sondern eine eigene Sprache, die von über 10.000 Menschen zur Kommunikation verwendet wird.

Übersetzen und Dolmetschen

Übersetzen und Dolmetschen ist in unserer mit der ganzen Welt verknüpften Gesellschaft so gefragt wie nie zuvor. Die meisten Übersetzungen werden aber von vielen gar nicht als solche wahrgenommen – oder fragst du dich, in welcher Sprache der Beipackzettel deines Medikaments ursprünglich geschrieben war? Dabei erfordern translatorische Tätigkeiten weitaus mehr als das bloße Beherrschen mehrerer Sprachen: Wer übersetzen und dolmetschen möchte, muss erkennen können, was sich hinter den Wörtern, Texten, Wertvorstellungen und sozialen Normen einer Gemeinschaft verbirgt und alle in einer gegebenen Kommunikationssituation relevanten Aspekte anderen verständlich machen. Das erfordert spezielles Expert_innenwissen, von dem eine hohe Sprachkompetenz und umfassende Kenntnisse kultureller Hintergründe nur Teile sind. In Österreich werden entsprechende Studiengänge in Wien, Graz und Innsbruck angeboten.

Michael En studiert Transkulturelle Kommunikation im Doktorat an der Universität Wien.

Wie der Kern in die Familie kam

  • 21.02.2013, 14:35

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Simon Sailer nimmt die Familie auseinander.

Kernfamilie. Als Kernfamilie wurde im deutschen Sprachgebrauch meist eine Haushaltsgemeinschaft bezeichnet, die aus Mutter, Vater und deren leiblichen Kindern besteht. Der Ausdruck bezeichnete also ein heterosexuelles Pärchen und deren gemeinsame, nicht adoptierte Kinder. In dieser Verwendung spiegelt er ein konservatives, heterosexistisches und völkisches Familienbild wider.

Allerdings unterliegt der Begriff derzeit einer Bedeutungswandlung. Die österreichische Regierung etwa bestimmt auf help.gv.at die Kernfamilie in Zusammenhang mit Aufenthaltsrecht als „Ehegatten, eingetragene Partner und ledige minderjährige Kinder (einschließlich Adoptiv- und Stiefkinder)“. 

Nuclear Family. Im Englischen entspricht der Begriff der „Nuclear Family“ dem deutschen Ausdruck „Kernfamilie“ – allerdings mit dem bemerkenswerten Unterschied, dass die üblichen Bestimmungen auch explizit auf gleichgeschlechtliche Paare und Adoptivkinder hinweisen. Im Unterschied zu der im deutschen noch üblichen völkischen und heterosexistischen Verwendung ist im Englischen die liberale Begriffsauffassung dominanter. Sie geht einfach von einem Erwachsenenpaar und deren sozialen Kindern aus. Die paarförmige Lebensweise bleibt dabei als der liberale Kern der „Nuclear Family“ aufrecht. 

Geschichte der bürgerlichen Familie. Der Begriff der Familie unterlag im Lauf der Zeit zahlreichen Wandlungen. Sowohl wer zum Kern der Familie gerechnet wird, hat sich verändert, wie auch die innere Familienstruktur, also die Aufgabenteilung und der Status der einzelnen Tätigkeiten. So bezeichnete das lateinische Wort famulus, das der Familie ihren Namen gab, das häusliche Eigentum des Mannes: nach damaligem Recht seine Ehefrau, Kinder, SklavInnen und Nutztiere. In der vorindustriellen Familie waren alle im Haus lebenden Männer und Frauen am geschlechtsspezifisch arbeitsteilig organisierten Haushalt beteiligt. Die moderne bürgerliche Familie mit ihrer deutlichen Trennung von Haus- und Erwerbsarbeit bildete sich erst im 19. Jahrhundert prägnanter aus und traf schon relativ früh auf Kritik seitens sich herausbildender feministischer Gruppierungen.

Patchworkfamilie. Dass die Kernfamilie nicht mehr die einzige Form des aktuellen Familienbildes darstellt, hat sich mittlerweile herumgesprochen. In den 1990ern erfuhren alternative Familienformen eine sprachliche Aufwertung, die mit einer wachsenden gesellschaftlichen Akzeptanz einherging. Familien, die aus Kindern aus unterschiedlichen Beziehungen, Alleinerziehenden oder wechselnden sozialen Eltern und Bezugspersonen bestehen, werden jetzt mit dem Ausdruck Patchworkfamilie bezeichnet.

Schon sprachlich verweist der Begriff auf Zerstückelung und Zusammensetzung. Die zunehmende Individualisierung in den Industriestaaten führt zu einer erhöhten Beweglichkeit und Flexibilität und damit einhergehend auch zu einer freieren Allianzenbildung im familiären Bereich. Die Menschen beginnen sich, entgegen der Redewendung, ihre Familie auszusuchen.

Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit. Ob Homo- oder Heteropärchen, Patchwork- oder Kernfamilie, jedenfalls wird in den gängigen Debatten immer von fixierten und klar definierten Geschlechtern ausgegangen. Es gäbe eben Frauen und Männer, die sich in homo- oder heterosexuellen Beziehungen zusammenschließen und Kinder ausbrüten. Diese Auffassung spiegelt sich auch gesetzlich wider und stellt Menschen, die sich weder als männlich noch weiblich definieren wollen, beziehungsweise ihr Geschlecht ändern oder geändert haben vor einige Schwierigkeiten. Weil das Familien- und Adoptionsrecht von zwei feststellbaren und feststehenden Geschlechtern ausgeht, werden die Möglichkeiten von Inter- und Transpersonen erheblich eingeschränkt. Das Recht sieht vor, dass sie sich einer aufwendigen Prozedur unterwerfen und sich schließlich auf ein Geschlecht mit „passendem“ Namen festlegen. 

Die kleinste Zelle der Gesellschaft. Friedrich Engels bezeichnet die Ehe als kleinste Zelle der zivilisierten Gesellschaft – eine Formulierung, die häufig in unkritischer Weise aufgegriffen und wiedergegeben wird, obwohl Engels die Unterdrückung von Frauen durch Männer im selben Absatz als die erste Klassenunterdrückung bezeichnet. An der Ehe lasse sich die Natur der voll entfaltenden Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft ablesen – eine Position übrigens, mit der sich Simone de Beauvoir kritisch auseinandersetzt. Sie gesteht Engels zwar zu, eine vergleichsweise fortschrittliche Position zu vertreten, zeigt sich aber vor allem davon enttäuscht, dass er eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung voraussetzt, anstatt sie zu erklären. De Beauvoir vermutet gerade in der Frage der Kindergeburt und -versorgung den ersten Vorteil, der es Männern erlaube, Herrschaft über Frauen zu erlangen und diese zu verfestigen. Sie geht von einem körperlichen Unterschied aus, der einst eine Entwicklung in Gang gesetzt habe, in einer modernen Gesellschaft aber keine Rolle mehr spielen müsse.

Liebe wird durch teilen mehr

  • 20.02.2013, 16:11

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Alternative Familienmodelle abseits des Mutter-Vater-Kind-Paradigmas: Von der Leihoma, dem neuen großen Bruder und einer Beziehung, an der mehr als nur zwei teilnehmen.

Fabian erzählt mit strahlenden Augen von seinem kleinen Bruder Tim. „Wir bauen Lego und spielen Rennbahn. Das mache ich extrem gern. Das ist auch ein bisschen wie ein Alibi: Dass man das machen darf und nicht komisch angeschaut wird als Erwachsener“, lacht Fabian. Dabei hat Fabian Tim erst vor ein paar Monaten kennengelernt. Und streng genommen ist Tim auch nicht wirklich sein Bruder.

Fabian und Tim haben sich über das Mentoring-Programm Big Brothers Big Sisters gefunden, das seit 110 Jahren besteht. In den USA ist es die bekannteste Sozialmarke. Weltweit wurden bisher etwa zwei Millionen Kinder von großen Geschwistern betreut. Im Juni 2012 wurde das erste Büro von BBBS in Wien eröffnet. Bereits im ersten halben Jahr haben sich 50 Familien und 140 MentorInnen gemeldet. Aktuell gibt es in Wien schon 21 Mentor-Mentee-Tandems. Ziel ist, Kinder in schwierigen Lebenssituationen zu fördern. Viele der betreuten sind Kindervon Alleinerziehenden.

Auch Ilona, Tims Mutter, kümmert sich alleine um ihren Sohn. Tim sei ganz ohne Vaterkontakt. „Es ist toll zu wissen, dass er jetzt mal ein Jahr lang jemand fix in seinem Leben hat, den er als Vorbild sieht. Ich kann mir natürlich auch die Bedienungsanleitung für einen Solarbaukasten nehmen, aber das kommt bei einem Kind ganz anders an, wenn das jemand macht, der technikbegeistert ist. Das ist ein ganz anderes Begreifen und Lernen.“

Und umgekehrt hat sich Fabian einen kleinen Bruder gewünscht, der neugierig ist, mit dem er ins Museum gehen und dem er viel erklären kann. Das trifft sich gut, denn Tim liebt das Technische Museum. „Es macht extrem Spaß. Und es ist ein wunderbares Gefühl, wenn ich sehe, dass Tim sich darüber freut.“ Durch ein bewährtes Matching-Verfahren wird für jedes Kind eine passende MentorIngefunden. „Gemeinsame Interessen sind gute Türöffner für die persönliche Beziehung“, erklärt Judith Smetacek, die Geschäftsführerin von Big Brothers Big Sisters Österreich.

Suche nach dem Puzzleteil. Intensiven Gesprächen mit den MentorInnen über Motivation, Interesse und Erwartungen folgen Telefonate mit drei vom Mentor genannten Referenzpersonen aus Familie, Freundeskreis und Arbeitsumfeld – um Selbstbild und Fremdbild zu vergleichen. „Oft ist man so fasziniert von dem Programm, vergisst aber, dass das in der aktuellen Lebenssituation vielleicht gar nicht umsetzbar ist. Daher ist dieser Gegencheck wichtig, um zu sehen, ob die Lebenssituation so stabil ist, dass eine langfristige, vertrauensvolle Beziehung zu einem Kind ohne Beziehungsabbruch jetzt gerade möglich ist“, erklärt Smetacek. Die Rollen zwischen Kernfamilie sowie großen Brüdern und Schwestern sind klar abgegrenzt. „Die Rolle des Mentors ist nicht die Erziehung des
Kindes. Er ist dazu da, um das Kind zu stärken, das Kind wertzuschätzen, ein Ansprechpartner zusätzlich zur Familie zu sein“, sagt Smetacek. Natürlich merkt man aber auch den Einfluss des großen Bruders. Seit Tim weiß, dass Fabian Vegetarier ist, möchte auch er meist ohne Wurst zu Abend essen.

Der Zeitraum für eine Mentoring-Beziehung ist auf acht bis zehn Stunden im Monat über mindestens ein Jahr festgelegt. Nach diesem Jahr kann das Mentoring-Verhältnis verlängert werden. Im Schnitt dauert eine Mentoring-Beziehung zwischen zwei und drei Jahren. „Eine neue Welt wird ein Stück weit erschlossen“, erklärt Smetacek. „Manchmal kommen verschiedene Nationen zusammen. Verschiedene Generationen sind es immer. Und verschiedene Biographien. Man lernt voneinander und miteinander.“ Internationale Studien zeigen, dass Kinder, die im BBBS-Mentoring großgeworden sind, sozial kompetenter sind als die Vergleichsgruppe. Sie können besser mit Konflikten umgehen und treten für ihre Wünsche und Bedürfnisse ein. Andere Vereine, wie etwa das Hilfswerk oder die Caritas, vermitteln Leihomas und Leihopas, wenn Großeltern in der Familie fehlen. Sie verbringen durchschnittlich zwei bis vier Stunden pro Monat mit ihrem neuen Enkelkind.

Ziel ist auch hier, dass Kinder in ihrer Leihoma oder ihrem Leihopa eine zusätzliche Bezugsperson finden. Mehrere Generationen sollen zusammengeführt werden. Karl, 58, Pensionist, ist Leihopa in Ausbildung. „Ich möchte eine erfüllende Tätigkeit, in die ich meine Lebenserfahrung einsfließen lassen kann“, sagt er. „Ich will der Gesellschaft etwas zurückgeben. Gerade in der Arbeit mit Kindern bekommt man ein großes Echo und viel Freude zurück.“

Alternativen. Die Zusammensetzung der Familie ändert sich. Wo früher noch das traditionelle Vater- Mutter-Kind-Modell das verbreitetste war, haben andere Familienformen in den letzten Jahrzehnten aufgeholt.  Heutzutage sind fast zehn Prozent aller Familien Patchworkfamilien. Die Anzahl der Alleinerziehenden hat in den vergangenen 50 Jahren um mehr als ein Drittel zugenommen.  Die Familienmodelle sind vielfältig. Und manche zeigen, dass es auch ganz anders gehen kann. Jacky und Paul sitzen in der Devi´s  Pearl Bar in Zürich und erzählen von ihrer Beziehung. Oder besser gesagt: von ihren Beziehungen.

Jacky ist verheiratet, hat mit Paul eine zweite Beziehung und noch eine Fernbeziehung in Bern. Paul hat eine Beziehung mit Jacky und eine Fernbeziehung in Wien. Er lebt mit seiner langjährigen Freundin zusammen, sie wird aber bald ausziehen – aus praktischen Gründen, damit beide mehr Privatsphäre haben, wenn sie sich mit anderen PartnerInnen treffen wollen. „Monogamie ist in unserer Gesellschaft verankert wie Schwerkraft in der Physik. Das wird einfach als von Gott gegeben angenommen. Ich glaube nicht, dass das so sein muss“, sagt Paul.

Jacky und Paul leben polyamourös. In vielen Verständnissen von Polyamorie geht es in erster Linie nicht um Sex, sondern darum, emotionale Bindungen zu mehr als einem Partner oder mehr als einer Partnerin zu leben.

Polyamourösität. Das polyamouröse Lebensmodell gibt Paulnicht zuletzt auch stabilere,  länger andauernde Beziehungen: „Wenn man auch mal was anderes sieht, hat man einen Kontrast und Abwechslung, und dann kann man eine Beziehung viel länger führen.“ Jacky erzählt von ihrem langen Entwicklungsprozess. Denn: man ist nicht einfach plötzlich polyamourös. Es findet ein grundlegender Paradigmenwechsel statt. „Du bekommst vorgelebt, dass Monogamie toll ist, und wenn dein Partner sich verliebt oder fremdgeht, ist die Beziehung sofort in Gefahr und du musst dich trennen. Genau da ist die Problematik. Du wirst sehr beeinflusst von außen, von der Familie, den Medien, von Freunden. Du musst dir aber überlegen: Was möchte ich?“

Als Jackys Mann Jürg vorbeikommt und sich zu ihnen setzt, nimmt Jacky einmal Pauls und dann Jürgs Hand. Sie lehnt sich unbewusst mal in die eine, mal in die andere Richtung, hakt sich mal bei Jürg ein, und gibt Paul einen Kuss, als sie kurz auf die Toilette verschwindet. Es scheint alles ausgeglichen zwischen den dreien. Keine Vernachlässigung eines Partners zugunsten des anderen, keine Eifersucht, keine Spannungen. Und genauso selbstverständlich und liebevoll handhaben Jacky und Jürg auch den Umgang ihrer jeweiligen Partner und Partnerinnen mit der gemeinsamen Tochter. „Vor einem Kind kannst du nichts verstecken. Die spüren das und es wäre nicht fair, ihm irgendetwas vorzumachen. Unsere Tochter kennt alle unsere Partner, und sie weiß auch, wenn ich einen Abend bei Paulbin. Je mehr Liebe sie bekommt, desto besser.“ Wenn Paul bei Jacky übernachtet und Jürg bei seiner Freundin ist, wird auch das vor ihrer gemeinsamen Tochter nicht verheimlicht.

War Paul am Abend da, fragt sie am nächsten Morgen auch nach ihm, um „Guten Morgen“ sagen zu können. „Ich glaube, dass ich mittlerweile eine Bezugsperson geworden bin, die wichtig ist für sie“, sagt Paul.

Ehrlichkeit als Schlüssel. So normal das polyamouröse Familienleben momentan für ihre  Tochter ist, machen sich Jacky und Jürg natürlich auch Gedanken darüber, wie ihre Tochter mit dem Thema in Zukunft umgehen wird, wenn sie die Andersartigkeit dieses Familienmodells von der Gesellschaft reflektiert bekommt. „Heutzutage ist die Gesellschaft schon offener als früher“, sagt Jürg. „Wenn sie Fragen hat, wird sie kommen. Sie wird von uns jede Frage ehrlich beantwortet bekommen. Ich werde vor ihr nichts verstecken“, sagtJacky. Sehr wichtig ist ihr, dass ihre Tochter Selbstverteidigung lernt. „Das gibt Selbstvertrauen“, fügt Paul hinzu. Zu Jackys und Pauls Beziehung gehört auch, dass sie Erziehungsfragen besprechen. „Ich führe eine Beziehung zu meinem Mann. Ich führe eine mit Paul. Und alles, was mich beschäftigt, teile ich mit allen“, sagt Jacky. Paul möchte aber für Jackys Tochter keinesfalls eine zusätzliche Person sein, um etwa ein „Nein“ ihrer Mutter zu umgehen. Für die direkte Erziehung ihrer Tochter sind ganz klar nur Jacky und Jürg zuständig. Bezugsperson ist er aber trotzdem, das ist ihm wichtig: „Liebe wird durch teilen mehr“, ist Paul überzeugt.

Festung Familie

  • 20.02.2013, 15:54

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Die Familie erlebt bei den Jungen ein Revival. Anstelle des romantischen Ideals tritt eine Mischung aus Pragmatismus und Unsicherheit. Die Familie dient immer mehr als Festung, zum Schutz vor der Gesellschaft. Ein Kommentar von Simone Grössing.

Seit geraumer Zeit fallen sie auf: Vom Laptop grinsen sie auf uns herab und winken uns zu – es sind strahlende Gesichter beim Familienessen, bei der gemeinsamen Weihnachtsfeier oder beim Familienurlaub.

Es sind Fotos, die von jungen Social-Media-UserInnen in Umlauf gebracht werden. Es handelt sich um Bilder von intakten, harmonischen Familien, deren Mitglieder sehr gerne Zeit miteinander verbringen zu scheinen. Was zu anderen Zeiten für viele junge Menschen als peinlich und weniger wichtig galt, scheint wieder verstärkt ein Statussymbol und Teil der eigenen Identität zu sein: die Familie.

Auch Statistiken belegen das Comeback familiärer Werte unter den Jungen. So auch die umfangreiche, vom Institut für Jugendkulturforschung Wien durchgeführte Jugendwerte-Studie aus dem Jahr 2011. Für 81 Prozent der befragten 16- bis 24Jährigen ist die Familie „sehr wichtig“, für 77 Prozent FreundInnen und Bekannte. Damit hat der Lebensbereich „Freunde und Familie“ in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen.

Gesellschaft vs. Familie. Dass zwischenmenschliche Beziehungen wieder eine wichtigere Rolle im Leben junger Menschen spielen, sehen viele als positive Entwicklung.  Aber wird die Jugend wirklich wieder sozialer? Angesichts der Vielen, die sich im Online-Chat mehr zu sagen haben als im realen Leben, oder weit verbreiteter politischer Verdrossenheit, erscheint diese Interpretation realitätsfern. Der Zweifel ist gerechtfertigt, zeigt die Jugendwerte-Studie: Zu den Ursachen für das Comeback der Familie zählen eher Faktoren wie ein erhöhtes Bedürfnis nach Sicherheit und zunehmender Individualismus als ein wachsendes soziales Bewusstsein. Ironischerweise scheint der Rückzug in die Familie einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur gesellschaftlichen Individualisierung zu leisten, während sie gleichzeitig eine der Ursachen für diese Entwicklung ist. Indizien dafür finden sich in Statistiken, die belegen, dass bei den Jungen eine starke Individualisierung stattgefunden hat, die mit dem Verlust von Vertrauen in Zusammenhalt und Politik einhergeht. „Von der Gesellschaft erwartet man sich kaum noch etwas“ und „die  Orientierung im sozialen Nahbereich“ sei die Konsequenz – so die Jugendwerte-Studie.

Pragmatisch und individualistisch. Von der Familie erhoffen sich viele Sicherheit und Rückhalt. Man wendet sich aber nicht nur mit emotionalen Bedürfnissen an sie, sondern die Familie soll auch in finanziellen Angelegenheiten unter die Arme greifen. Während in skandinavischen Ländern wie etwa Dänemark der Staat für die Finanzierung von Studierenden aufkommt, muss man sich in Österreich auf die Familie verlassen. Hier kann man etwa, wenn keine Unterstützung von den eigenen Eltern kommt, diese auf Unterhalt klagen, oder muss sich selbst über Wasser halten. Wo der Sozialstaat nicht mehr greift, muss man sich verstärkt auf die Familie verlassen und ist so an sie gebunden. Diese Abhängigkeitsverhältnisse gehen oft über die Studienzeit hinaus. Viele werden lebenslang von ihren Eltern finanziell unterstützt, bekommen Häuser und Autos vererbt – anders könnten sie von ihren Jobs kaum leben. Geredet wird darüber aber nur selten. Trotz der zunehmenden Relevanz der Familie hat sich über die Jahre hinweg der Zugang zu ihr verändert.

Das zeigt sich auch am steigenden Heiratsalter, späteren Schwangerschaften oder dem Rückgang von Geburten. Auch der Umgang mit Konventionen ist anders als vor etwa zehn Jahren. Beispielsweise wird das traditionelle Familienbild heute von vielen als ein „romantisch verklärtes Ideal“ betrachtet, das laut den Jungen als „erstrebenswert, aber nur mehr schwer zu realisieren“ gilt. Es scheint, als wüssten sie, dass sie hart und lange arbeiten werden müssen, und sie haben gesehen, dass dabei kaum Zeit für die Kinder bleibt  und Ehen immer wieder unter diesen Umständen auseinanderbrechen. Sie sind  realistisch und pragmatisch. Am Boden bleiben und sich keine großen Illusionen machen – so lautet die Devise.

Politisches Potenzial? Angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise und des damit  einhergehenden Abbaus des Sozialstaates ist es wahrscheinlich, dass sich der Trend zurück zur Familie verstärken wird. Die Gefahr besteht nun, dass sich eine ganze Generation in die Familie flüchtet, um sich dort von der Gesellschaft zu erholen, anstatt sie aktiv mitzugestalten und sich für andere Lebensentwürfe stark zu machen. Vielen Linken ist die bürgerliche Familie deswegen schon lange ein Dorn im Auge – sie gilt für sie als Basis des kapitalistischen Systems.

Dennoch scheint die Verteufelung der Retrowelle von Familien- und Kinderwunsch eine schlechte Antwort auf diese Entwicklung zu sein. Denn diese sind nicht das Problem,  sondern vielmehr Ausdruck einer Zeit, die von Unsicherheiten bestimmt wird. Junge zweifeln an ihrer Zukunft, und fragen sich, was aus ihnen werden soll. Die Angst schreit dabei oft lauter in ihren Köpfen als so manches in ihnen schlummernde Bedürfnis. Natürlich würde es vor allem für junge Frauen einen enormen Rückschritt bedeuten, wenn die Fixierung auf die Familie als Herz der Gesellschaft noch stärker zunehmen würde. Aber  diese Ausdrücke zu verurteilen, wäre der falsche Weg. Vielmehr gilt es gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die uns furchtloser leben lassen, uns den Rücken stärken und das „da draußen“ weniger nach Schlachtfeld aussehen lassen. Wir müssen die verstärkten Wünsche nach Sicherheit und Geborgenheit also nicht bekämpfen, wie manche glauben, sondern in eine andere Richtung lenken. In ihnen steckt eine wichtige  Voraussetzung für Gemeinschaft und Zusammenleben und somit auch ein großes politisches Potenzial. Anstatt diese Bedürfnisse aber (nur) auf die Familie zu projizieren, sollten wir sie auch in Richtung Gesellschaft lenken, so könnten sie zu einer Politisierung und Stärkung eines gesellschaftlichen Bewusstseins führen. Denn warum diese Politisierung bis heute nicht eintritt, bleibt eine wichtige Frage, die wir uns unbedingt  stellen sollten.

Hinter geschlossenen Türen

  • 16.02.2013, 10:24

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Nie entspricht Familie ihrem idealisierten Bild. Gewalt in der Familie ist ein unterschätztes gesellschaftliches Problem, darunter leiden vor allem Frauen. Lisa Zeller hat nachgefragt, warum das so ist und was sich ändern muss.

Ein Mann, eine Frau und zwei oder drei Kinder halten sich an den Händen und springen draußen durchs Grüne. Die Sonne strahlt. Sie strahlen. Das ist das Bild, das man nach einer kurzen Internet-Recherche zu Familie erhält. Dass es bei vielen Familien hinter geschlossenen Türen anders aussieht, macht zum Beispiel die Gewaltprävalenzstudie „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld“ von 2011 deutlich. Die Familie wird dort als jener soziale Nahraum genannt, in dem am häufigsten körperliche Übergriffe erlebt wurden. Von insgesamt 2.334 Personen im Alter zwischen sechzehn und sechzig Jahren gaben etwa drei Viertel an, als Kind mehr als einmal mit körperlicher Gewalt durch Familienmitglieder konfrontiert gewesen zu sein – Gewaltformen wie psychische und ökonomische Gewalt noch nicht mit einberechnet.

Gewalt in der Familie kann von allen Familienmitgliedern ausgehen. Jedoch belegen Studien, dass Frauen in Familie oder Partnerschaft am häufigsten von ihr betroffen sind. Jede fünfte Frau in Österreich ist mindestens einmal in ihrem Leben von Gewalt  in einer Beziehung betroffen. Fünfzig bis siebzig Prozent der Kinder misshandelter Frauen werden ebenfalls misshandelt. „Es geht bei Gewalt immer um Machtungleichgewichte. In Familien sind diese sehr deutlich ausgeprägt, weil sie wenig durch öffentliche  Blicke kontrolliert sind“, erklärt Marion Geisler vom Kinder- und Jugendlichenbereich im ersten Wiener Frauenhaus.

Das Gegenmittel. Auch Frauen werden auffallend oft gegenüber Kindern gewalttätig. Misst man körperliche Gewalt, liegt die  Gewalterfahrung durch Mütter noch vor der Gewalterfahrung durch den Vater. „Ein Grund könnten die klassischen  Geschlechterrollen sein, in denen Frauen noch immer die meiste Erziehungs- und Hausarbeit leisten und zusätzlich einer beruflichen Arbeit nachgehen“, sagt Olaf Kapella vom Österreichischen Institut für Familienforschung, der maßgeblich an der eingangs zitierten Gewaltprävalenzstudie beteiligt war. Dies führe zu enormem Stress und einer Situation der Hilflosigkeit, die dann in Gewalt gegen die Kinder münden kann. „Hilflosigkeit und Überforderung sind allgemein wichtige Gründe, wenn es um Gewalt in Familien geht“, fügt Hannelore Pöschl, Diplomsozialarbeiterin und Leiterin des Amts für Jugend und Familie Wien im 13. und 14. Wiener Gemeindebezirk, hinzu. „Besonders von Menschen, die nicht gelernt haben, mit Konfliktsituationen umzugehen, wird die eigene Hand zum Beenden eines Zustands genutzt, den man nicht mehr erträgt.“

Männer wiederum, die dominante Rollenbilder verkörpern, neigen zur Abwertung von Weiblichkeit und werden so gegenüber Partnerinnen häufiger gewalttätig. Grund dafür können die patriarchale Prägung einer Gesellschaft sowie die damit verbundene geschlechterspezifische Sozialisation sein. „Gleichstellung und Gewalt bedingen sich gegenseitig: Das Gegenmittel gegen Gewalt ist Gleichstellung von Frauen“, sagt Rosa Logar von der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie. „Je traditioneller eine Familie  aufgebaut ist, desto höher ist die Gefahr, dass Gewalt vom Vater oder vom Partner ausgeht“, bestätigt Geisler. Außerdem kann das traditionelle Familienideal dazu beitragen, dass Frauen beim gewalttätigen Partner bleiben. Mütter in solchen Frauenrollen fühlen sich oft verantwortlich für eine „heile“ Familie und differenzieren nach dem Muster, „er“ sei zwar ein gewalttätiger Ehemann, aber ein liebevoller Vater. „Doch das funktioniert nicht. Beobachtete Gewalt hat die gleichen Folgen wie selbst erlebte Gewalt. Das weiß man auch von der Folter, aber genau dieser Mechanismus wird bei Kindern bagatellisiert.“ Das Ende der Beziehung wird zudem oft nicht als Ausweg gesehen, weil eine Trennung das Gewaltrisiko steigert.

Die Erfahrung im Frauenhaus zeigt auch, dass sich Kinder stark nach dem klassischen Familienmodell sehnen. Manchmal erwähnen sie seltene Momente mit dem Vater, zum Beispiel am Spielplatz, als Wunsch, es möge doch in Zukunft immer so sein. „Die Kinder wünschen sich einen liebevollen Vater, der sich um sie kümmert, so wie sie es in der Werbung oder in Filmen sehen können.“ Gewaltvolle Kindheiten sind auch für die eigene Familiengründung prägend. Bei Mädchen und Buben aus Gewaltbeziehungen steigt  im Erwachsenenalter die Wahrscheinlichkeit, wieder als Opfer oder TäterIn eine Gewaltbeziehung einzugehen. Etwa 30 Prozent fallen in diese sogenannte Gewaltspirale. 

„Ursachen für Gewalt gibt es allerdings viele. Meine Erfahrung zeigt, dass Eltern grundsätzlich das Beste für ihr Kind wollen. Ich  kenne ganz wenige, denen es wirklich egal ist oder die sadistisch veranlagt sind“, so Pöschl. Oft hätten sie durch die eigene Erziehung selbst kein gutes Beispiel bekommen und ihnen gingen die Ideen aus. Fest steht allerdings, dass Gewalt in der Familie  keiner sozialen Schicht zugeschrieben werden kann – mit Gewalterfahrungen wird lediglich anders umgegangen. So ist das Schamgefühl in höheren sozialen Schichten größer, und weniger Gewalttaten werden angezeigt.

Angebote gegen Gewalt in der Familie sind in Österreich vielfältig: Von Präventionsarbeit in Form von Workshops von Vereinen wie Poika, White Ribbon und den Frauenhäusern über Hilfeleistungen vom Jugendamt und Helplines als Beratungsstelle, sowie durch die Krisenarbeit der Frauenhäuser und der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie gibt es in Österreich ein sehr breites Angebot. Insgesamt wurden im Jahr 2008 in den Interventionsstellen gegen familiäre Gewalt 14.016 Opfer betreut. Nahezu alle Opferschutzeinrichtungen sind jedoch unterfinanziert.

Stark eingeschränkt wird die Arbeit auch von der Väterrechtsbewegung. Besonders Frauenhäuser bekommen die damit  einhergehende Stress- und Angstsituation der Mütter durch lange Prüfungen der Obsorge zu spüren. „Häufig wird bei den  Untersuchungen die Gewalt ausgeklammert“, berichtet Geisler. „Wenn immer auf dieses Vaterrecht beharrt wird, frag ich mich, wo ist das Kindeswohl?“ Häufig laste auch enormer Druck auf SozialarbeiterInnen, BeraterInnen und MitarbeiterInnen bei Gericht und beim Jugendamt, die von Väterrechtlern immer wieder geklagt werden.

Als gesellschaftliches Problem mit rechtlichen Folgen wird familiäre Gewalt erst seit Kurzem angesehen. Das liegt an dem hohen  Stellenwert, den die Familie gesellschaftspolitisch hat: „Die Wertvorstellung, die Familie sei das Heiligtum, ist genau das, was dazu  geführt hat, dass jahrelang gar nicht eingeschritten wurde“, erklärt Assistenzprofessorin Katharina Beclin vom Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien. Logar ergänzt: „Doch die feministische Bewegung in den 60er und 70er Jahren hat das Thema  wieder öffentlich gemacht.“ So wurde 1989 Vergewaltigung in der Ehe strafbar. Das Gewaltschutzgesetz trat 1997 in Kraft. Es ermöglicht der Polizei ein Wegweisungsrecht gegenüber dem Täter und schreibt Maßnahmen zum Gewaltschutz, kostenlose  Beratung und Unterstützung der Opfer durch die genannten Einrichtungen fest. So wird bei Wegweisungen die Interventionsstelle kontaktiert – und falls Kinder involviert sind, auch das Jugendamt.

Ein großes Problem allerdings ist, dass Frauen oft keine Anzeige erstatten. „Viele Frauen wissen nicht, dass es ein strukturelles Problem der Gesellschaft ist“, sagt Beclin. Auch Abhängigkeiten finanzieller Art oder durch Verlust des Aufenthaltsstatus sind häufig Gründe, lieber zu schweigen. „Auf individueller Ebene kann man das leider oft gut nachvollziehen.“ Wird aber doch angezeigt, sind Straftaten über längere Zeit hinweg meist nicht mehr nachweisbar. RichterInnen tun sich oft schwer, den Frauen zu glauben.  „Deswegen ist es ratsam, die Verletzungen nicht nur behandeln, sondern auch fotografisch und schriftlich dokumentieren zu  lassen“, meint Beclin.

Oft kommt es allerdings gar nicht zum Strafverfahren, etwa wenn in der Polizeiakte Aussage gegen Aussage steht. In diesem Fall  wird das Verfahren schon vorher eingestellt – von der Staatsanwaltschaft, die nicht einmal Kontakt mit den ZeugInnen hat. „Das  halte ich für problematisch. Denn dann dauern die Gewaltakte meist Jahre an.“ Auch wenn es unter diesen Umständen zur  Verurteilung kommt, sei die herkömmliche Haftstrafe für das Problem eher kontraproduktiv. Nach Absitzen der Haft können Täter  durch Gewalterfahrungen von Mithäftlingen oder Schwierigkeiten am Arbeitsmarkt frustrierter und abermals gewalttätig werden. „Es  wäre wichtig, dass sie parallel ein Anti-Gewalt-Training machen. Auch eine milde Strafe kann mit dieser Auflage verhängt werden“,  sagt Beclin. So sollte es neben der umfassenden Opferbetreuung auch Täterbetreuung geben. Denn die gesamtgesellschaftlichen Kosten sind enorm: „Krankenstände, Arbeitsunfähigkeiten, Todesfälle, Polizeieinsätze, Gerichtsverfahren, Gefängnisaufenthalte,  psychische Folgen, post-traumatische Belastungsstörungen, die natürlich auch wieder Folgen haben für die Familien“, zählt Geisler  auf. Sie fügt hinzu: „Geld für Prävention statt für Strafen auszugeben, wäre wohl besser, als immer im Nachhinein die Folgen zu bezahlen.“

Entschuldigt wird familiäre Gewalt Pöschl zufolge oft mit der lapidaren Aussage: „Mir hat die Watschen auch nicht geschadet und aus mir ist auch was geworden.“ Doch darauf hat sie eine klare Antwort: „Ja, aber wissen Sie, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie sie nicht bekommen hätten?“