Dokumentarfilm

„Fuck White Tears“

  • 13.05.2017, 13:48
Ein Film, der eigentlich nicht existieren kann. Interview mit der Filmemacherin Annelie Boros.

„Ich denke, du solltest diese Frage dir selbst stellen. Ich kann sie nicht für dich beantworten.“ Kopfschütteln. Kurze Pause. „Aber ich bin mir sicher, dass ich nicht fähig wäre in deine Welt zu kommen, um einen Film über dein Leben zu machen.“ Die südafrikanische Dozentin, Aktivistin und Filmemacherin Zethu Matebeni beantwortet die Frage der deutschen, weißen Filmemacherin Annelie Boros sehr ehrlich: Was die Dozentin denn davon halte, dass sie als Weiße einen Film über die Studierendenproteste in Südafrika macht? Die Antwort Matebenis ist nur ein Beispiel der Kritik, mit der die junge Filmemacherin in Südafrika konfrontiert war. Boros wurde gezwungen, sich mit ihrem „white privilege“ auseinanderzusetzen und gleichzeitig Protagonistin ihres eigenen Films zu werden. Auf dem diesjährigen Ethnocineca-Filmfestival erhielt sie dafür den „Ethnocineca Students Shorts Award“. progress sprach mit ihr über ihre Erfahrungen.

Du bist nach Südafrika gefahren, um einen Film über die dortigen Studierendenproteste zu machen. Von mehreren deiner Protagonist*innen kommt die Kritik, dass diese „Art von Geschichten nicht von weißen Menschen erzählt werden sollten“. Wieso wolltest du gerade diese Geschichte erzählen?
Ich studiere in München Dokumentarfilm, Regie und Fernsehjournalismus. Den Film machte ich im Rahmen eines Seminars. Die Universität wählt jedes Mal ein Land aus. In diesem Fall Südafrika. Als ich angefangen habe zu recherchieren, bin ich auf die Studierendenproteste gestoßen, auf eine junge Generation Südafrikas, die Anfang der 1990er geboren wurde, also nach der Freilassung Nelson Mandelas und seiner Ernennung zum Präsidenten. Diese Generation wird auch „Born Frees“ genannt. Es ist eine Generation, die angeblich frei ist und die gleichen Rechte wie Weiße haben sollte. Das Problem ist allerdings, dass sie diese Freiheit nicht wirklich erfahren. Viele sind täglich mit Gewalt konfrontiert, wohnen mit ihrer Familie auf engstem Raum, merken wie Weiße bei der Job- und Wohnungssuche bevorzugt werden. Sie sind tagtäglich mit Rassismus konfrontiert. Wenn man angeblich frei ist, das aber nicht so erlebt, ist es klar, dass die Frustration steigt. Schließlich hat man nur dieses eine Leben, diese eine Jugend, um Bildung zu erlangen, um zur Schule, zur Uni zu gehen.

[[{"fid":"2463","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Wie kam es dann zu diesen Protesten und wie entwickelten sie sich weiter?
Die Studierendenproteste gehen schon länger, aber es gab mehrere Kampagnen, die sich parallel entwickelten. In meinem Film behandle ich den Beginn der Kampagne #RhodesMustFall. Rhodes war ein großer Kolonialherr, dessen Statuen noch in ganz Südafrika stehen. Das ist so, als ob man in Deutschland die Hitler-Statuen nicht abgerissen hätte. Darüber wurde noch nicht genug geredet, die Verarbeitungsprozesse in der Gesellschaft sind noch nicht vorangeschritten. Daher ging es los mit #RhodesMustFall, das entwickelte sich zu #ZumaMustFall und dann eben #FeesMustFall. Die Proteste stellten sich gegen die Regierung, gegen den Präsidenten und gegen Studiengebühren, um Gleichheit durch freie Bildung zu ermöglichen.

Weißt du, wie die Situation heute ausschaut?
Die Proteste gibt es nach wie vor. Das Problem ist in keinster Weise gelöst. Aber mein persönlicher Eindruck ist, dass deutlich mehr über die bestehenden Probleme gesprochen wird. Gleichzeitig geht es jedoch oft um die Frage, wie weit man für die Aufmerksamkeit eines Protestes gehen darf. Es wird viel über Gewalt gesprochen, die von den Demonstrierenden ausgeht und da bleiben die Inhalte manchmal auf der Strecke.

Letztendlich stehen nicht die Studierendenprostete im Fokus deines Films, sondern wie die Menschen dir begegnen. Wann hast du für dich entschieden, dass du nicht die Studierendenproteste, sondern dich in das Zentrum des Films stellst?
Das war tatsächlich die erste Demonstration. Wir sind in Südafrika angekommen und es gab eine große Demonstration anlässlich der „State of the Nation Adress“ – also der großen Ansprache des Präsidenten zur Lage der Nation. Zu diesem Anlass gibt es jährlich große Demonstrationen. Es ist fast schon eine Tradition, dass die Gegner des Präsidenten auf die Straße gehen. Dort haben wir nach Studierenden gesucht, die auch demonstrierten. Als wir die Studierenden fanden, wurden wir angegriffen dafür, dass wir als Weiße mit der Kamera auf sie zeigen und sie – nach Wortlaut eines Protagonisten – zu Tiere degradieren, auf sie runterschauen, nur um eine gute Geschichte zu bekommen. Das war die erste Konfrontation. Ich nahm das sehr ernst und mir war sofort klar, dass ich keinen Film mehr über die Studierendenproteste dort machen kann, wenn ich von den Studierenden gesagt bekomme, dass das unmöglich ist, was ich hier mache. Danach gab es eine kleine Krise bei mir. Ich bin zum Entschluss gekommen, das Konzept zu ändern: Nicht mehr die Studierenden stehen im Fokus, sondern meine Erfahrung und damit auch ich als Protagonistin.

[[{"fid":"2464","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Aber du sagst selber „Fuck White Tears ist ein Film über einen Film, den ich nicht machen kann, weil ich weiß bin“, trotzdem gibt es ihn.
Für mich ist es immer noch ein großes Paradox, dass es den Film gibt, weil es genau so ist, wie du sagst: Es ist ein Film, den ich nicht machen kann und trotzdem existiert er. Auch im Schnittraum war es für mich noch wochenlang eine große Schwierigkeit, dass ich Leute am Bildschirm sehe, die mir sagen, dass ich den Film nicht machen darf. Natürlich war das schwierig und natürlich habe ich darunter gelitten. Aber ich bin ganz froh darüber, da durchgegangen zu sein. Mir haben auch Freunde erzählt, dass sie sich die ganze Nacht gestritten haben, nachdem sie den Film sahen. Das ist meine Legitimation: Ich hoffe, dass die Diskussionen und die Erkenntnisse, die die Zuschauer in Europa, aber auch die weißen Zuschauer in Südafrika haben, es wert sind, diesen Film gemacht zu haben.

Eine Kritik im Film an dich als europäische, weiße Filmemacherin war auch, dass du nach Südafrika kommst, dir die Geschichte holst und dann nicht mehr zurückkommst. Lief der Film auch in Südafrika? Hast du ihn auch deinen Protagonist*innen gezeigt? Wie war die Reaktion?
Für mich ist das Zurückkommen, wie es die Protagonisten genannt haben, kein persönliches Zurückkommen. Ich glaube, dass es mehr um die Frage geht, was ich danach für sie mache. Am Ende des Films kommt die Aussage, dass ich mit meiner Botschaft zu anderen Weißen gehen, ihnen erzählen soll, was ich gelernt habe – in der Hoffnung, dass auch sie etwas lernen. Trotzdem versuche ich, den Film in Südafrika zu zeigen. Zethu Matebeni hat ihn zweimal in ihrer Klasse gezeigt. Wahrscheinlich hat sie ihn danach auseinandergenommen, aber es wird auch irgendetwas drinnen sein, von dem die Menschen etwas mitnehmen können.

Du sagst, dass du froh über die Erfahrung bist. Hat „Fuck White Tears“ auch deine Arbeit, deinen Zugang zum Filmemachen verändert?
Auf jeden Fall. Ich habe das Gefühl, ganz viel mitgenommen zu haben, auch für aktuelle Projekte. Gerade arbeite ich mit einer Freundin, die unter Depressionen leidet, an einem Film zu eben diesem Thema: Depressionen. Durch „Fuck White Tears“ habe ich gelernt, dass ich nicht einfach einen Film über jemanden machen kann, sondern es viel wichtiger ist, einen Film mit jemanden zu machen. Ich wusste das zwar in der Theorie, aber konnte es nicht umsetzen. Beim Film über Depressionen stelle ich mir die gleiche Frage: Darf ich als „Gesunde“ einen Film über „Kranke“ machen und wenn ja, wie?

Der Film „Fuck White Tears“ ist online auf dem Vimeo Channel des Seminars Close Up der HFF München und auf dem Dok.network Afrika YouTube Channel verfügbar.

 

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.


 

Muslime als die neuen Juden

  • 11.05.2017, 09:00
Diesen März wurde der Dokumentarfilm Islamophobie österreichischer Prägung, der bereits im vergangenen Jahr Premiere feierte, im Wiener UCI-Kino gezeigt.

Diesen März wurde der Dokumentarfilm Islamophobie österreichischer Prägung, der bereits im vergangenen Jahr Premiere feierte, im Wiener UCI-Kino gezeigt. Der Andrang zur dritten Vorstellung war überraschend groß, der Saal an einem Montagabend fast ausverkauft. Der Film von Regisseur Sinan Ertugrul hat den Anspruch, Islamfeindlichkeit in Österreich zu problematisieren. Während auf der einen Seite rassistische Angriffe in den letzten Jahren nachweislich zunehmen, muss sich der Film auf der anderen Seite die Frage gefallen lassen, ob es ihm im Kern um den Schutz von Individuen, oder um den Schutz der Religion geht.

In mehreren ExpertInneninterviews wird betont, dass man Diskriminierung und Angriffe auf Einzelne thematisieren möchte. Verschiedene Beispiele von Diskriminierung werden den Plot hindurch auch immer wieder aufgegriffen. Allerdings präsentiert der Film durchgehend Personen, die dem politischen Islam das Wort reden. Einer der befragten Experten, Universitätsprofessor Rüdiger Lohlker, verkehrt Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Dialektik der Aufklärung und versucht diese als Beweis anzuführen, weshalb die Aufklärung per se schlecht sei. Er übergeht dabei schamlos die Dialektik, die bereits im Titel des Buches betont wird.

Auch einige persönliche Beispiele von Islamophobie, die im Film angerissen werden, nehmen der zu Anfang naiv geäußerten Behauptung, es ginge um den Schutz von Individuen, die Glaubwürdigkeit. Es wird suggeriert, das Eintreten gegen sexuelle Gewalt an Frauen in islamischen Ländern sei „koloniales Denken“. Oder dass es bereits rassistisch sei, wenn die Sportlehrerin muslimische Schülerinnen auch an Ramadan auffordert, genügend Wasser zu trinken. Ein eindringliches Motiv, das zum Ende des Filmes mehrmals Erwähnung findet, ist der Vergleich von MuslimInnen und Juden/Jüdinnen in den 1930er Jahren. Dabei wird „Charlie Hebdo“, die französische Satirezeitschrift, die vor zwei Jahren Ziel eines islamistischen Terroranschlags wurde, indirekt zum neuen „Völkischen Beobachter“ erklärt, der es auf Muslime abgesehen habe. Mehrere der im Film interviewten ExpertInnen bezeichnen Religionskritik als eindeutig rassistisch und damit als illegitim. Das ist schade, denn es bekräftigt zum einen das Bild von Religion als quasi-natürlicher Zugehörigkeit, zum anderen stellt es säkulare und reformerische Kräfte ins Abseits.

Anna Grellmeer studiert im Master Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Generacija ‘68: Die erste große Liebe

  • 10.05.2017, 20:37
„Was mich betrifft, gibt es keinen Grund ‘68 zu feiern. Ich bin nicht beeindruckt von euren Sit-ins in Kantinen, von euren gehaltenen Reden. Und ja, ‘68 war ein wichtiges Jahr, aber nur, weil es euer Jahr war und auch euer Jahr blieb. Sonst blieb nichts davon übrig.“

„Was mich betrifft, gibt es keinen Grund ‘68 zu feiern. Ich bin nicht beeindruckt von euren Sit-ins in Kantinen, von euren gehaltenen Reden. Und ja, ‘68 war ein wichtiges Jahr, aber nur, weil es euer Jahr war und auch euer Jahr blieb. Sonst blieb nichts davon übrig.“ Das sind die Worte von Mac. Mac ist der Schwiegersohn des kroatischen Filmemachers Nenad Puhovski. Die jüngeren Familienmitglieder sticheln den Filmemacher und seinen Glauben an die ‘68er Bewegung immer wieder. Zeit, seine Gefühle für die Bewegung der 1968er, filmisch zu verarbeiten, seine alten Freund*innen, die allesamt zum Kern der linken Studierendenproteste zählten, zu besuchen und sich gemeinsam zu erinnern. Puhovski im Gespräch über große Gefühle, die Rolle Titos in der Bewegung, über die Transformation vom Sozialismus zum Kapitalismus und über das Scheitern heutiger Proteste.



In Ihrem Film „Generacija ‘68“ („Generation ‘68“) sieht man bereits einen Teil der Entstehungsgeschichte des Films. Sie waren selber ein Teil der Studierendenproteste und stoßen heute teilweise auf Unverständnis vonseiten der jungen Generation. Wieso wollten sie ausgerechnet einen Film über diese Generation machen?
Ich vergleiche die Bewegung 1968 gerne mit der ersten große Liebe. Wenn du das erste Mal verliebt bist, glaubst du, dass es ewig so sein wird. 25 Jahre später triffst du diese große Liebe wieder und sie ist verheiratet mit jemanden, den du blöd findest, hat drei Kinder und erkennt dich fast nicht wieder. Du fragst dich, wie du in diese Person verliebt sein konnte. Dieses Gefühl hatte ich damals auch, es war für mich, für unsere Generation, die erste Liebe, die man nicht vergisst. Heute sind die Proteste der 68er, insbesondere im ehemaligen Jugoslawien, fast vergessen. Wenn ich mit meinen Kindern und Enkelkindern rede, wird mir klar, dass sie die Bewegung von damals nicht verstehen. Daher wollte ich meinen Kindern und dieser Generation erzählen, dass es für uns etwas sehr Wichtiges war. Es war eine Art von Erotik in Bezug auf die „Revolution“, in Bezug auf das Ändern der Welt. Denn es war nichts weniger als der Versuch, die Welt zu verändern, auch wenn wir nicht erfolgreich waren.

Sie adressieren die junge Generation direkt und fragen, was heute von 1968 übrig ist. Oft lautet die Antwort „Nichts“. Gleichzeitig vergleichen Sie die damalige Bewegung mit heutigen Protesten wie der „Occupy“-Bewegung. Welche Parallelen können gezogen werden, welche nicht?
Es gibt heute nur wenige Bewegungen, die so global orientiert sind wie die 68er – „Occupy“- ist eine davon. Wir haben daran geglaubt, dass wir nichts auf lokaler Ebene ändern können, wenn wir nicht das System verändern. Die Generation meiner Kinder glaubt an kleine Schritte, an die Veränderung einzelner Ebenen. Natürlich unterstütze ich Demonstrationen für die Rechte Homosexueller, aber ich glaube nicht, dass sich dadurch etwas substantiell ändern kann. Und wenn mich heute die Menschen fragen, was der 68er Bewegung passiert ist, gibt es für mich nur eine Antwort: Kapitalismus. Und diesen Fakt konnten wir nicht ignorieren. Wir konnten nicht sagen, dass gegen den Kapitalismus anzukämpfen ein zu großer Kampf ist. Das System im Großen zu verändern war es, an das wir glaubten. Das war es, was wir machen wollten und das war es, an dem wir scheiterten. Und dennoch, glauben wir immer noch, dass es möglich ist.

[[{"fid":"2434","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Kapitalismus und Sozialismus werden in Ihrem Film auf verschiedene Arten thematisiert: Eine der Protagonist*innen sagt, dass sie solidarisch mit den Revolutionär*innen im Westen ist, aber eine Revolution in einem sozialen Regime keinen Sinn mache. Eine andere Person meinte, dass es eine linke Bewegung braucht, weil der Sozialismus nicht radikal genug war. Können Sie diese Beziehung zwischen der 68er-Bewegung und dem sozialistischen Regime kommentieren?
In unserer Meinung näherte sich der Sozialismus zu sehr an den Kapitalismus an. Unsere Botschaft war, wir wollen keinen Kapitalismus, wie wollen Sozialismus – aber „Sozialismus mit einem menschlichen Gesicht“, wie wir es nannten. Die ersten kapitalistischen Züge sahen wir an unseren Eltern, gegen die wir rebellierten. Unsere Eltern hatten noch all die Narben aus dem zweiten Weltkrieg und sagten sich danach „Fuck it! Wir wollen ein Leben haben, wir wollen ein Haus, ein Auto.“ Und dann kamen wir Kinder und erinnerten sie daran, gegen was sie kämpften und fragten, wieso sie jetzt all diese Konsumgüter haben müssen. Damals verstanden wir nicht, dass es manchmal einfach um das Vergessen ging. Für uns war es ein Zeichen, dass es in Richtung Kapitalismus ging. Es wurde wichtiger, ein Sommerhaus zu besitzen als das Geld umzuverteilen.

Trotz dieser Kritik am damaligen Sozialismus gab es eine Art „Unterstützung“ vonseiten des damaligen jugoslawischen Präsidenten Titos.
Tito war ein großartiger Politiker, weil er ein großartiger Manipulator war. Das einzige Ziel von Politik ist Machterhalt. Darin war er sehr gut und zwar nicht in erster Linie durch Unterdrückung, die es natürlich auch gab. Aber er wusste, wen er unterstützen musste, um im Gegenzug auch Unterstützung zu erhalten. Dazu kam, dass er Charme hatte. War er ein Demokrat? Nein. War er ein Diktator? Jein. Aber trotzdem, die Leute liebten ihn.

Diese Art Unterstützung gab es auch nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die damalige Tschechoslowakei. Die linke Bewegung – so auch Sie – befand Sich zu dieser Zeit in der „Sommerschule“ der Philosophie auf der Insel Korčula, die von der marxistischen „Praxis-Gruppe“ veranstaltet wurde. Auch Intellektuelle wie Herbert Marcuse oder Ernst Bloch waren da. Wie haben sie diesen Moment – als sie vom Einmarsch erfuhren – erlebt?
Wir wussten sofort, dass es das Ende war. Wir hatten die damaligen wichtigsten Intellektuellen aus aller Welt hier. Wir verfassten innerhalb einer halben Stunde ein Statement um zu sagen, dass wir dagegen protestieren. Der Einmarsch war nicht nur gegen die Tschechoslowakei gerichtet, sondern eine Nachricht an uns alle. Sie wollten sagen, passt auf, was ihr macht. Und es gab eine Art „Semi-Unterstützung“ von Tito, weil er wusste, dass er unsere Unterstützung im Notfall braucht. Sollte die Rote Armee an die jugoslawische Grenze kommen, braucht er junge Leute, die sofort für Jugoslawien kämpfen würden. Die jugoslawische Armee alleine hätte das nicht geschafft. Ein weiterer Grund, wieso er die Studierendenproteste nicht zerschlug, war meiner Meinung nach, dass wir auch eine Art Erbe darstellten. Vielleicht kann ich nach dieser Aussage nicht wieder zurück nach Kroatien fahren (lacht), aber ich glaube Tito war damals schon bewusst, dass es eine große Wahrscheinlichkeit für den Zerfall Jugoslawiens nach seinem Tod gibt.

[[{"fid":"2435","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Benjamin Storck"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Benjamin Storck","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Stattdessen kam – wie Sie bereits damals geahnt haben – der Kapitalismus.
Ja, und es gibt heute noch viele Menschen, die sagen, dass wir zwar nicht so viel Freiheit im Sozialismus hatten, dafür Sicherheit, bessere Schulen, ein besseres Gesundheitssystem. Was der Preis wofür ist, ist eine andere Diskussion. Aber es stimmt, dass die Industrie der ehemaligen ex-jugoslawischen Staaten zerstört wurde, zu einem großen Teil auch das Bildungssystem, teilweise das Gesundheitssystem. Und es gibt sehr viel Korruption. In den 1990ern gab es in Kroatien ein großes Referendum, in welchem die Menschen gefragt wurden, ob sie ein unabhängiges Kroatien wollen. Die meisten sagten ja. Aber es gab keine zweite Frage. Nämlich die Frage, ob die Menschen Kapitalismus haben wollen. Es gab kein Referendum darüber, ob das sozialistische System geändert werden soll. Viele der Menschen wussten nicht, dass mit dieser Form der Unabhängigkeit auch die Transformation in ein kapitalistisches System einherging. Und ja, es gibt Demokratie, aber heute ist die Vorstellung davon, was Demokratie ist, sehr vereinfacht: Es gibt freie Wahlen und das ist es.

Wie würden Sie dann die Frage, was von den 68ern übrigblieb, selbst beantworten?
Es war ein Traum, den wir lebten. Ein Traum, den wir liebten. Ein Traum, aus dem wir aufwachten. Und wir sind immer noch Traumwandler und werden es bis zu unserem Tod sein. Dessen sind wir uns bewusst. Um zurück zur ersten große Liebe zu kommen: Oft ist es so, dass du dein eigenes Gefühl verliebt zu sein, mehr magst als die Person. Zyniker*innen würden sagen, dass du dein eigenes, dein verliebtes Ich, liebst. Aber das ist ein Teil der Liebe. Diese Liebe, diese Freude war es, die unsere Köpfe bewegte und die ich mit diesem Film weiterreichen will.


Zur Person: Nenad Puhovski studierte Soziologie, Psychologie sowie Filmregie. Als Regisseur arbeitete er an mehr als 250 Theater-, Film- und Fernsehproduktionen. Seine Dokumentarfilme fokussieren meist gesellschaftspolitische Themen. Zudem ist er Gründer sowie Direktor von „ZagrebDox“, dem größten Dokumentar-Filmfestival in der Region und leitet als Professor ein MA-Programm zu Regie und Produktion im Dokumentarfilm-Bereich.


Valentine Auer lebt als freie Journalistin in Wien.

Drugs, Violence and Rock ’n’ Roll

  • 10.05.2017, 19:08
Im Film „Gimme Danger“ ergründet Jim Jarmusch mit Iggy Pop die Geschichte von Pop`s erster Band „The Stooges“. Und kommen zum Schluss: sie waren die Grössten.

August 1970, Goose Lake International Pop Festival: Benebelt von einer Substanz, die er „für Kokain hielt“, räkelt sich Iggy Pop, Frontmann der Rock-Band "The Stooges", auf dem Boden einer Holzbühne, während die restlichen Musiker das Stück „1970“ intonieren. Pop rafft sich auf, gestikuliert wild, tanzt und stolpert schliesslich dem Publikum entgegen. Aufgebracht durch die Bühnenabsenz des Stooges-Bassisten Dave Alexander, der zu betrunken ist, um noch spielen zu können und in diesem Moment das Waterloo seiner Musikerkarriere erlebt, versucht der Sänger das Publikum aufzuwiegeln. Die Performance endet – wie so oft in der Geschichte der Stooges – in Chaos und Tumulten.

Es ist dieser Prototyp der Punkattitüde, dem der Filmemacher Jim Jarmusch zusammen mit dem Stooges-Frontmann in seiner Doku „Gimme Danger“ nachspürt. Iggy Pop erzählt in dem knapp zweistündigen Film über seine Kindheit in den 1950er Jahren, seinen musikalischen Werdegang bis zur Gründung der Stooges 1967, deren Geschichte über drei, für das gesamte Rockgenre wegweisenden Alben, das unrühmliche Ende der Band im Bierflaschenhagel eines wütenden Biker-Gang-Publikums in einer Spelunke Detroits 1974 und letztlich das Comeback 2003.r

Der Film bietet einiges an interessanten Hintergrundinfos und vermag es dabei, die kulturhistorische Verwurzlung des Phänomens Stooges in der 1960er-Jahre Gegenkulturbewegung aufzuzeigen – wenngleich die Band nie etwas mit Flower-Power am Hut hatte (Pop: „Ich habe geholfen, die 60er zu vernichten“). Leider ist die Strukturierung des Films mit schnellen Schnitten etwas chaotisch und so ist es ohne Vorwissen bisweilen schwer zu folgen.

Selbstredend ist der Film auch Werbung in eigener Sache: Es nicht verwunderlich, dass im Verlaufe des Films der viel reklamierte Titel „grösste und wirkungsmächtigste Band aller Zeiten“ beansprucht wird. Gleichsam kommt dank Pops charismatischer Persönlichkeit niemals Langweile auf und speziell für alle Fans des Punk- sowie Garage-Rock Genres ist „Gimme Danger“ absolut zu empfehlen.

Livio Hoch studiert Rechtswissenschaften an der Universität Wien, hat aber fast so viel Interessensgebiete wie das ABGB Paragrafen

 

Zwei mal Jugoslawien

  • 04.04.2017, 20:19
„Beyond Boundaries – Brezmejno“ bewegt sich in einer ovalen Schleife um den slowenischen Sprachraum, während „Unten“ linear zwischen Linz und dem vormals serbischen Teil Kroatiens pendelt.

„Beyond Boundaries – Brezmejno“ bewegt sich in einer ovalen Schleife um den slowenischen Sprachraum, während „Unten“ linear zwischen Linz und dem vormals serbischen Teil Kroatiens pendelt.

Beide Filme verhandeln das politische und individuelle Erbe Jugoslawiens, bedienen sich aber gegensätzlicher dokumentarischer Erzählstrategien. „Beyond Boundaries – Brezmejno“ besucht im Modus der Rundreise jeweils unterschiedliche ProtagonistInnen, die zu Geschichte und gegenwärtigem Leben an unterschiedlichen Orten dies- und jenseits der slowenischen Staatsgrenze Auskunft geben: In Südkärnten wird eine BusfahrerIn porträtiert, die vom Kampf gegen patriarchale Zuschreibungen in ihrem Arbeitsalltag erzählt. Anderswo feiern Tito-Nostaligiker ein Fest in einem mit sozialistischen Devotionalien reich geschmückten Raum. Am Ufer der Mur philosophiert ein Landwirt mit Hochschulstudium über die Bedeutung des Grenzfluss als trennenden und verbindenden Faktor. In der durch die Grenze mit Italien seit Ende des Zweiten Weltkriegs zweigeteilten Stadt Goricia-Nova Goricia wird eine Filmemacherin am Schnitttisch besucht und so auf sehr reflektierte Art fremdes Filmmaterial, klar als solches geframet, in den Film einbezogen.

[[{"fid":"2420","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto: Eni Peseckas","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Eni Peseckas"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto: Eni Peseckas","title":"Foto: Eni Peseckas","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

„Unten“ wiederum stellt den Dokumentarfilmer selbst in den Mittelpunkt. Der Film beginnt in einem verwaisten Schulgebäude. Es wäre das von Filmemacher Djordje Čenić gewesen, wären seine Eltern nicht nach Linz gezogen, wo er als GastarbeiterInnenkind – zunächst in sehr ärmlichen Verhältnissen – aufwuchs. Mit den Jahren folgt ein allmählicher, durch harte Arbeit beider Elternteile ermöglichter, sozialer Aufstieg. Schließlich kann die Familie nach mehreren beengten Substandard-Wohnungen, vermittelt durch einen sozialdemokratischen Gemeinderat, eine Gemeindebauwohnung beziehen. In Österreich im sozialistisch-jugoslawischen Kulturverein politisch sozialisiert, bricht sich in den frühen 1990ern beim Regisseur – wie auch bei vielen anderen jungen Männern seiner Generation – eine politische Persönlichkeitsspaltung die Bahn. Oben (=Linz) nach wie vor links, mutiert er unten (=Kroatien) zum serbischen Nationalisten. Mittels biographischer Selbstreflexion zeigt der Film eindrucksvoll, wie schnell aus NachbarInnen, für die Kategorien wie Religion und vermeintliche nationale Zugehörigkeit weitgehend irrelevant waren, FeindInnen werden konnten. Doch der Film zeigt auch – und das ist seine Stärke –, dass alles nicht so kommen hätte müssen.

 

Beyond Boundaries – Brezmenjno, DE/SI/AT 2016.

Unten, AT 2016.

 

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

„Flüchtlinge sind wie wir. Punkt.“

  • 01.06.2016, 23:17
Drei Filmemacher zeigen in „District Zero“ neben der Erinnerung an das schöne Syrien auch die Realität in einem der größten Flüchtlingscamps der Welt.

Drei Filmemacher zeigen in „District Zero“ neben der Erinnerung an das schöne Syrien auch die Realität in einem der größten Flüchtlingscamps der Welt.

Maamun lebt im jordanischen Zaatari Camp. Eines der größten Flüchtlingscamps weltweit. Laut Angaben der UN-Flüchtlingskommission (UNHCR) leben dort derzeit rund 79.000 SyrerInnen. Maamun ist einer jener Personen, die das Glück haben, ein eigenes kleines Geschäft zu besitzen. Er repariert und verkauft Smartphones. Die drei Filmemacher Jorge Fernández Mayoral, Pablo Tosco und Pablo Iraburu waren im März 2015 in Zaatari und haben Maamun begleitet. „District Zero“ gibt einen Einblick in das Zaatari Camp und zeigt dabei, was sich in Smartphones von Menschen auf der Flucht verbergen kann. Valentine Auer sprach für progress mit Jorge Fernández Mayoral über Erinnerungen, Identitäten und (fehlende) Hoffnungen.

progress: Wie seid ihr auf die Idee gekommen einen Film über eines der größten Flüchtlingscamps weltweit zu machen?
Jorge Fernández Mayoral
: Es hat so begonnen, dass die Hilfsorganisation Oxfam Geld von der Europäischen Kommission erhalten hat, um Flüchtlinge sichtbarer zu machen. Oxfam schrieb daraufhin einen Film-Wettbewerb aus. Wir haben ihn gewonnen. Unsere Idee war, uns auf das Smartphone zu konzentrieren. Wenn dein Haus zerbombt wird, wenn du deine Heimat verlassen musst, ist das Smartphone neben einer Decke eines der wenigen Sachen, die Menschen auf der Flucht mitnehmen. Daher wollten wir eine Geschichte über Identität durch das Smartphone erzählen. Wir wussten, dass es in Zaatari viele Geschäfte gibt. Auch Geschäfte, die Smartphones verkaufen und reparieren. Das war unser Ausgangspunkt für den Film. Einer der drei Regisseure, Pablo Tosco, war als Erster in Zaatari und lernte dort Maamun kennen, unseren Hauptprotagonisten.

[[{"fid":"2266","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Alexander Gotter"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Alexander Gotter","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Der Dokumentarfilm zeigt einen Blick in das Flüchtlingscamp Zaatari. Wir sehen im Film auch eine Schule und medizinische Institutionen. Wie wird die Infrastruktur im Flüchtlingscamp organisiert, welche Rolle spielen hier jordanische Behörden?
Wenn ein Flüchtlingscamp errichtet wird, willst du dass es nicht sichtbar ist. Denn ein Flüchtlingscamp zu brauchen, bedeutet, dass es ein Problem gibt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Die jordanischen Behörden bezeichnen Zaatari daher nicht als Stadt, auch weil eine Stadt mit Stabilität einhergehen sollte. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Flüchtlingscamps erschaffen werden, um zu sterben. Aber eigentlich ist es nichts anderes als eine Stadt: Es gibt einen Bürgermeister, es gibt Bezirke – daher auch der Name „District Zero“. Gemanagt wird das Camp jedoch von UNHCR gemeinsam mit lokalen Behörden.

Am Ende des Films erscheint der Satz „der Großteil der Flüchtlinge hat nicht die Möglichkeiten wie Maamun, der jeden Tag sein Geschäft öffnen kann“. Wieso habt ihr euch trotzdem für Maamun als Hauptcharakter entschieden?
Dieser Satz ist für uns ein sehr wichtiger im Film. Maamun hat mehr Möglichkeiten, da er Geld aus Syrien mit ins Camp bringen konnte. Mit diesem Geld hat er einen kleinen Container und seine ersten Smartphones gekauft. Der Großteil der Menschen, die in dieses Flüchtlingscamp kommen, haben aber nichts. Auf den ersten Blick ist es für alle Flüchtlinge das gleiche Problem, auf der Flucht zu sein. Aber hast du ein bisschen mehr Möglichkeiten, dann kannst du leichter damit umgehen.

[[{"fid":"2267","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Alexander Gotter"},"type":"media","attributes":{"title":"Foto: Alexander Gotter","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

In Österreich – aber auch in anderen Ländern – kommt immer wieder die Kritik auf, dass Flüchtlinge gar nicht so arm sein können, sie besitzen ja ein Smartphone …
Diese Aussage ärgert mich sehr. Wie kann man so was sagen? Mittlerweile gibt es nur noch wenige Menschen, die kein Smartphone haben. Und Syrien war vor dem Krieg kein armes Land, wieso sollen die Leute dort kein Smartphone besitzen? Wenn du flüchtest, kannst du sonst nichts mitnehmen. Du musst es ja tragen, du musst viel gehen. Sollen die Menschen ihre Sofas mitnehmen? Natürlich nehmen sie die Smartphones mit. Leute glauben, wenn du ein Flüchtling bist, darfst du gar nichts besitzen. Was soll das? Das ist furchtbar. Man sollte nicht vergessen, dass Flüchtlinge nicht anders sind als andere Menschen. Ja, es gibt MuslimInnen, es gibt ChristInnen. Es gibt diese und jene Traditionen. Aber auch innerhalb Österreichs gibt es unterschiedliche Traditionen, je nach Region. Im Endeffekt sind Flüchtlinge wie wir. Punkt.

Geht es aber um ein Smartphone, habe ich das Gefühl, dass es für Menschen, die sich auf der Flucht befinden, doch wertvoller ist als für mich, die ich in Sicherheit leben kann.
Ja. Ein Smartphone beinhaltet unsere Identität. Das sehen mittlerweile viele Leute so. In diesem Smartphone sind Fotos, Erinnerungen, Kontaktinformationen. Gerade für Flüchtlinge, die einen Teil ihrer Familie oder FreundInnen zurücklassen mussten, ist das Smartphone die einzige Möglichkeit, in Kontakt zu bleiben. Aber es ist noch mehr. Wir haben versucht mit dem Smartphone, mit den Erinnerungen und den Identitäten, die in diesem Smartphone sind, Fragen zu stellen: Wer bin ich? Wo will ich hin im Leben? Wo werde ich mein Leben verbringen? Für Flüchtlinge sind Antworten auf diese Fragen dramatisch: Ich bin kein Syrer, ich bin kein Jordanier. Ich bin ein Flüchtling. Das ist die neue Identität. Aber was heißt es, ein Flüchtling zu sein, kein zu Hause zu haben? Das ist ein weiterer Teil unseres Dokumentarfilms: Wir wollen über die unvorstellbare Normalität, ein Flüchtling zu sein, sprechen.

Maamun wird für einige in Zaatari lebende Menschen wichtig. Er repariert und verkauft Smartphones. Nach einiger Zeit besorgt er sich einen Photo-Drucker. Wie haben die Menschen in Zaatari auf seine Neuanschaffung reagiert?
In unserem Dokumentarfilm wollten wir Hoffnung zeigen. Aber es gab und gibt nicht wirklich Hoffnung in Zaatari. Ich sprach mit Maamun und fragte ihn, was er sich für die Zukunft seines Geschäftes wünscht. Er meinte, dass er mit einem Drucker vielleicht ein gutes Geschäft machen könne. Diesen Drucker haben wir verwendet, um die Hoffnung zu zeigen. Er ist ein Symbol für Hoffnung. Der Drucker zeigt eine Transformation – vom Digitalen zum Realen. Wenn Menschen hoffnungslos sind, ist ein Photo einer geliebten Person ein Stück weit Realität. Mittlerweile wird Maamuns Drucker zu einem großen Teil für ID-Karten verwendet. Aber zu Beginn haben die Menschen Erinnerungsfoto von der Familie, den Freunden gedruckt. Kurz: Von Erinnerungen, die ein schönes Syrien zeigen. Niemand wollte den Krieg drucken, obwohl die Smartphones der Geflüchteten voll mit Kriegsphotos sind. Aber das ist ja nicht überraschend, natürlich willst du dich an das Gute erinnern.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Eine Stimme für „White Trash“

  • 01.06.2016, 17:37
Die Sozialanthropologin Jessica Bollag gibt in „I'm not leaving Eldon“ Rednecks eine Stimme. Wir haben mit ihr gesprochen.

Die Sozialanthropologin Jessica Bollag gibt in „I'm not leaving Eldon“ Rednecks eine Stimme.

„White Trash“, Hillbilly und Rednecks – Begriffe, die in den USA mit der unteren sozialen Schicht verknüpft werden: keine Bildung, kein Einkommen, dafür viel Alkohol und viel zu teure Statussymbole, die sich die Leute gar nicht leisten können. So das Stereotyp. Bewohner*innen des kleines Dorfes Eldon sind sich bewusst, dass ihnen das Image des „White Trash“ anhaftet. Gleichzeitig ist Eldon die größte Mais- und Sojaproduzentin der USA. Doch die unabhängigen Bauernhöfe werden immer stärker von multinationalen Konzernen verdrängt – wichtigste und schlechte Arbeitgeber, Retter und Teufel zugleich. Die Sozialanthropologin Jessica Bollag verlieh den Bewohner*innen Eldons eine Stimme in ihrem Dokumentarfilm „I'm not leaving Eldon“. progress sprach mit der Filmemacherin über Narrenfreiheit, über Stellen- und Autonomieverluste, über den steigenden Meth-Konsum im kleinen Eldon und wie all das zusammenhängt.

progress: Eldon ist ein kleines Dorf in Iowa und daher nicht gerade ein Ort, den man einfach so kennt. Wieso bist du ausgerechnet dort gelandet?
Jessica Bollag: Ich habe Ellen, eine der Protagonist*innen bei einem Auslandsaufenthalt in Costa Rica kennen gelernt. Wir haben uns sofort gut verstanden. Ein Jahr später hat sie mich zu Ihrer Hochzeit in Eldon eingeladen. Zuerst dachte ich: „Das wird total langweilig werden!“ Es gibt in Eldon ja nichts außer Maisfelder. Aber es hat sich als sehr actionreich erwiesen. Bei diesem Aufenthalt erzählten mir die Leute über das Stereotyp des „White Trash“. Gleichzeitig erfuhr ich von den sozialen Problemen, dass es immer weniger Stellen gibt und immer mehr Auswanderung. Vier Jahre später musste ich meine Magisterarbeit machen und da war das Thema sehr schnell klar: Ich wollte zeigen, wie die Agrarindustrie sich verändert hat - von den einzelnen unabhängigen Bauernhöfen zu den Riesenkonzernen.

[[{"fid":"2262","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Filmemacherin Jessica Bollag in Wien.","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Niko Havranek"},"type":"media","attributes":{"alt":"Filmemacherin Jessica Bollag in Wien.","title":"Foto: Niko Havranek","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Diese wirtschaftliche Veränderung ist auch ein zentraler Teil deines Films. Wie hat sich das auf die Bevölkerung ausgewirkt?
Es ist ein riesiger Autonomieverlust. Die Elterngeneration hatte noch Bauernhöfe und somit auch Land, das dazu gehörte. Das wurde nach und nach an große Konzerne verkauft. Dazu kommt, dass sich die Maschinen mittlerweile autonom steuern lassen und es weniger Arbeitskräfte braucht. Der Mais wird trotzdem weiter verarbeitet, allerdings in dieser Riesenfabrik, die etwa 1 ½ Stunden Autofahrt von Eldon entfernt ist und wie eine Stadt wirkt. Dort müssen die Leute jetzt arbeiten. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, wie zum Beispiel Cole, einer der Hauptprotagonisten, der diese Probleme sieht. Andere habendie Hoffnung verloren. Oder sie reden sich ein, dass die Konzerne notwendig sind. Sie identifizieren sich so sehr mit dieser riesigen Maisproduktion und glauben daher, es gäbe keine andere Möglichkeit. Das wird ihnen auch von den großen Konzernen so eingeredet.

Ich habe den Film gemeinsam mit Freund*innen gesehen und es kam die Kritik auf, dass der Film Klischees und Stereotype reproduziert. Siehst du den Umgang mit den Klischees problematisch?
Ich wollte mit den Klischees spielen, wie die Leute in Eldon es auch tun. Es sollte also um die Produktion und Reproduktion der Klischees gehen. Zu Beginn des Films ist es auf jeden Fall sehr klischeehaft, wie einer der Bewohner beispielsweise auf dem Rasenmäher daher kommt. Aber mit dem Protagonisten Cole sollten diese Stereotype reflektiert werden.

[[{"fid":"2264","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Plakate des Filmfestivals an einer Wand und im Spiegel.","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Niko Havranek"},"type":"media","attributes":{"alt":"Plakate des Filmfestivals an einer Wand und im Spiegel.","title":"Foto: Niko Havranek","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Genau, auch die Menschen selbst bezeichnen sich als „White Trash“, als Hillbillies. Inwiefern geht es bei der Bezeichnung mit diesen negativ konnotierten Begriffen auch um eine Art Abgrenzung von dem, was außerhalb Eldons liegt?
Ich finde, es geht mehr um eine selbstironische Bezeichnung. Die Leute eignen sich diese Begriffe selbstironisch an. Hier vermischen sich Scham und Stolz extrem. Gleichzeitig geht das mit einer Narrenfreiheit einher: Wenn ich mich so bezeichne, gibt mir das eine Freiheit. Ich bin sowieso „White Trash“, da kann ich nichts falsch machen.

Gibt es auch Leute, die diese Stereotype, aber auch den sozialen Abstieg, den Eldon erfährt auf irgendeine Art und Weise versuchen aufzubrechen oder entgegen zu steuern?
Das ist eine gute Frage. Ich denke aber, das das sehr schwierig ist. Natürlich gibt es einige, die aufsteigen wollen. Das funktioniert aber eher, wenn man noch irgendwie eine Möglichkeit sieht, dass man aus diesen Abstieg rauskommt. Dann versucht man sich auch eher von diesen Stereotypen abzugrenzen. Aber die Leute sind in einer verzweifelten und schwierigen Situation. Sollen sie ihren einzigen Arbeitgeber bekämpfen? Sie sind abhängig. Die Konzerne und Fabriken sind Retter und Teufel zugleich. Wenn man froh sein kann, überhaupt in der Fabrik zu arbeiten, ist diese selbstironische Verwendung der Stereotype auch ein möglicher Umgang mit den eigenen Problemen.

Auf der einen Seite sprechen die Menschen davon, dass man die Türen in Eldon nicht zusperren muss, auf der anderen Seite spielen Waffen eine große Rolle. Wie erklärst du dir diese Ambivalenz?
Ein großes Problem, das ich im Film nicht zeigen konnte ist, dass es in Eldon keine Polizei gibt. Polizei gibt es erst in der nächsten Stadt und meiner Meinung nach interessiert sich die auch nicht wirklich für Eldon. Aber die Leute werden immer ärmer, während der Meth-Konsum steigt. Es gab auch einen Mord in Eldon, bei dem es um Drogen ging. Da fährt die Polizei hin, sperrt ein wenig die Gegend ab und das war es.

[[{"fid":"2263","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Filmemacherin Jessica Bollag in einer Interviewsituation.","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Niko Havranek"},"type":"media","attributes":{"alt":"Filmemacherin Jessica Bollag in einer Interviewsituation.","title":"Foto: Niko Havranek","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Haben die Leute, die du interviewt hast, den Film schon gesehen?
Ja. Mir war es aus ethischen Gründen sehr wichtig, dass sie den Film absegnen. Deswegen bin ich auch nochmal nach Eldon, bevor ich ihn veröffentlicht habe. Dann haben wir improvisiert. In einer Garage, auf Campingstühlen sitzend, daneben Kühlboxen mit Bier – so haben wir den Film angesehen.

Und wie waren die Reaktionen?
Es war speziell für die Leute, dass sie eine Stimme bekommen haben. Das sind sie nicht gewohnt. Gleichzeitig finden sie es gut, dass ich kein romantisches Bild gezeichnet habe. Ich hatte ein wenig Angst, weil natürlich kritisiere ich sie manchmal indirekt. Aber es ist ein Bild, welches nicht verschönert. Aber genau das hat ihnen gefallen, dass man kein kitschiges Bild von den armen Proleten auf dem Land, sondern auch genug Ecken und Kanten sieht. Damit konnten sie sich identifizieren.

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Auf in das Alter der Pflichten

  • 24.05.2016, 12:55
Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

Bereits zum zehnten Mal jährt sich das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca. Der diesjährige Eröffnungsfilm „Fest of Duty“ füllte das Wiener Votiv Kino und gab progress die Möglichkeit mit der Filmemacherin Firouzeh Khosrovani über aktuelle, vergangene und künftige Projekte zu sprechen. Verbindendes Element ihres filmischen Schaffens ist die Auseinandersetzung mit der iranischen Gesellschaft.

„Willkommen, meine kleinen Engel. Von nun an müsst ihr den Hijab tragen und euch gut benehmen.“ Eine Reihe aufgeregter, neunjähriger Mädchen wird mit diesen Worten auf ihrem „Fest of Duty“ begrüßt. Nach Vorstellung der Islamischen Republik Iran befinden sich die Mädchen nun im „Alter der Pflicht“. Das „Fest of Duty“ ist ein rituelles Fest, welches die Neunjährigen über ihre Pflichten als erwachsene muslimische Frauen aufklärt. Eins, das erst nach der Islamischen Revolution erschaffen wurde und so die Aufmerksamkeit der iranischen Filmemacherin Firouzeh Khosrovani, weckte:

Es war 2005. Ich lebte und studierte zu dieser Zeit in Italien. Eines Tages sah ich im Staatsfernsehen diese Zeremonie, die an einer iranischen Volksschule durchgeführt wurde. Als ich neun war, gab es das „Fest of Duty“ noch nicht. Das heißt es wurde nicht direkt nach der Islamischen Revolution, sondern erst einige Jahre später erfunden. Ich fand es sehr spannend, wie den kleinen Mädchen gelehrt wird, dass sie von nun an den Hijab tragen müssen. Das ist sehr früh: Mit neun gibt es ja noch nichts zu verdecken.

Gleichzeitig ist es ein sehr schlaues Ritual: Mit Hilfe von Spielen, mit Vorführungen, mit sehr viel Details wird den Mädchen auf attraktive Weise gelehrt, was es heißt eine muslimische Frau zu sein. Es gibt keinen Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenleben. Die Mädchen können in diesem Alter noch gar nicht verstehen, dass mit diesem Ritual versucht wird, ihnen ein sehr rigoroses Wertesystem beizubringen. Das hat mich alles sehr interessiert. Daher filmte ich einer diese Zeremonien und sprach mit den Kindern. Acht Jahre später kam ich zurück und sah mir das Ergebnis dieser Art des Lehrens an. Ich wollte herauszufinden wie die Mädchen nun im Teenager-Alter über Religion und ihre weiblichen Pflichten dachten.

Das Ergebnis zeigt Khosrovani am Beispiel zweier Mädchen: Auf der einen Seite, Maryam. Mit Überzeugung trägt sie den Hijab. Sie spricht viel mit Gott – vor allem wenn sie Probleme hat, die sie mit niemand anderen teilen will. Wieso sie den Tschador tragen soll, erschließt sich ihr jedoch nicht. Er ist unpraktisch, es ist zu heiß darunter: „Wer sagt, dass Gott von uns verlangt unter den härtesten Bedingungen zu leben?“ Und doch, in der Öffentlichkeit trägt Maryam wie die anderen Frauen in ihrer Familie auch, den Tschador – eine Art Umhang, der vor der Revolution verboten war.

[[{"fid":"2256","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Auf der anderen Seite, Melika: Zu Hause trägt sie bewusst keine Kopfbedeckung. Nur hin und wieder ein Baseballcappy, beim Tanzen zu Black Eyed Peas zum Beispiel. Ihre alleinerziehende Mutter wirkt wie eine gute Freundin. Melika träumt davon Schauspielerin zu werden, im Westen, denn dort gäbe es mehr Freiheiten. Gleichzeitig hadert sie mit der Frage, welche Rollen sie spielen könnte und welche nicht. Schließlich will sie, dass ihre Filme auch im Iran gesehen werden.

16-Jährige Teenager also, die egal ob mit oder ohne Hijab am Kopf, ihre eigenen Meinungen entwickeln, inklusive aller Probleme die damit einhergehen. Die beiden waren vor dem „Fest of Duty“ beste Freundinnen. Die Entscheidung einen Hijab zu tragen oder nicht war mit ein Grund, dass ihre Freundschaft auseinanderdriftete. Ob die Religion öfters zwischen Beziehungen kommt?

Früher, zu Beginn der Islamischen Revolution, war das auf jeden Fall ein größeres Thema. Heute wird es immer weniger, da die Menschen trotz unterschiedlichem Zugang zur Religion stärker im Dialog stehen. Es gab aber eine Zeit, in der die zwei Pole komplett getrennt waren.
Mir war es sehr wichtig, dass ich ein ausgewogenes Bild der beiden Familien zeige. Beim Schneiden des Films war es eine große Herausforderungen, beiden Mädchen gleich viel Raum zu geben, fair zu sein und keine der beiden unterschiedlichen Lebensweisen zu beurteilen. Mir war es auch wichtig, dass aus dem Film nicht ersichtlich wird, ob ich als Filmemacherin religiös bin oder nicht, ob ich einen Hijab trage oder nicht.

„Rough Cut“: Ein weiterer Film von Firouzeh Khosrovani. Er wurde bereits 2007 veröffentlicht. Die Kurzdoku beurteilt im Gegensatz zu „Fest of Duty“ sehr bewusst. Am Beispiel eines nach der Islamischen Revolution eingeführten Gesetzes zeigt Khosrovani, wie weibliche Körper von moralischen Institutionen kontrolliert werden: Im Namen des Anstands werden die Brüste weiblicher Schaufensterpuppen abgeschnitten, jedes Zeichen von Weiblichkeit eliminiert. „Fest of Duty“ hingegen zeigt zwei jugendliche Mädchen, die sich – zumindest zu Hause – selbst entscheiden, wie sie mit ihrem Körper umgehen. Hat sich etwas in den vergangenen Jahren geändert?

Man muss zwischen der Gesellschaft und dem Staat unterscheiden. Wenn es um den Staat geht, hat sich nichts verändert. Den Hijab im öffentlichen Raum zu tragen, ist verpflichtend. Das heißt, hier geht es nicht darum, wie man entscheidet. Es wird vom Staat diktiert. Im privaten Bereich ist es sehr wohl eine Frage der eigenen Entscheidung und hier ist eine Änderung bemerkbar. Du kannst dich dafür entscheiden, einen Hijab zu tragen, aber du kannst auch dagegen rebellieren und ihn nicht tragen. Es passiert immer öfters, dass die neue Generation mit den Traditionen ihrer Familie bricht.

[[{"fid":"2257","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer."},"type":"media","attributes":{"alt":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer","title":"Filmemacherin Firouzeh Khosrovani. Foto: Valentine Auer.","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Dementsprechend ist es nach wie vor nicht einfach, kritische Filme über die iranische Gesellschaft zu machen, wie sieben weibliche Filmemacherinnen aus dem Iran im Rahmen des kollektiven Filmprojekts „Profession: Documentarist“ erzählen. Eine der Filmemacherinnen ist Firouzeh Khosrovani. Gab es mit „Fest of Duty“ noch keine Probleme, haben sich bei „Rough Cut“ die Behörden bei der Filmemacherin gemeldet:

Ich habe ‚Fest of Duty‘ noch nicht im Iran gezeigt. Sollten die Behörden trotzdem auf den Film aufmerksam werden und mir Probleme machen, habe ich keine Angst. Ich kann den Film legitimieren, da ich eben nicht bewertet habe. Ich zeige kein negatives Bild des Islams. Im Gegenteil, man sieht eine offene religiöse Familie.

Bei ‚Rough Cut‘ hingegen wurde ich beschuldigt, ein negatives Bild des Irans im Ausland zu transportieren. Es war aber kein negatives Bild, sondern die Realität. Die Behörden wollten nicht, dass ich Filme über die iranische Gesellschaft mache und mich dabei auf absurde Gesetze fokussiere ­ wie im Fall der verstümmelten Schaufensterpuppen. Sie hatten Angst, dass das von den Medien außerhalb des Irans als Zensur interpretiert werden könnte. Ich antwortete ihnen: Wenn ihr so beunruhigt über absurde Gesetze seid, wieso gibt es diese Gesetze dann?

Dass „Fest of Duty“ als Film konzipiert wurde, der nur schwer von offizieller Seite kritisiert werden kann, liegt nicht daran, dass sich Khosrovani nach den Problemen rund um „Rough Cut“ entmutigen ließ. Das lässt zumindest das neue Projekt, an dem die Filmemacherin arbeitet, vermuten:

Mein neues Projekt ist weniger dokumentarisch. Ich will die Geschichte der Islamischen Revolution, aber auch der derzeitigen iranischen Gesellschaft durch meine Familie, durch die Bilder, durch eine intime Geschichte erzählen.

Ein Trailer des neuen Projektes zeigt zerrissene Familienfotos. Zerrissen wurden sie von der Mutter der Filmemacherin. Nach der Islamischen Revolution zerstörte sie alle Fotos, auf denen Frauen ohne Hijab zu sehen waren, da der Revolutionsführer Ayatollah Khomeini es verbot, Bilder zu betrachten, die Frauen ohne Hijab zeigen. Die Fotos könnten Männer erregen.

„So wurde ein Teil meiner Familiengeschichte zerrissen und ausrangiert“, erklärt Khosrovanis Stimme im Trailer „Radiograph of a Family“ und bettet abschließend die individuelle Geschichte in den Kontext der iranischen Gesellschaft ein: „Diese Geschichte ist nicht nur meine Geschichte. Es ist die Geschichte vieler iranischen Familien, deren Leben zweigeteilt wurde: vor und nach der Revolution.“

Valentine Auer arbeitet als freie Journalistin in Wien.

Körbe im Kopf

  • 29.04.2016, 17:36
Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

Beim diesjährigen „Crossing Europe“-Filmfestival in Linz fand der Dokumentarfilm „Europe, She Loves“ reges Interesse. Im Juni kommt er in die österreichischen Kinos. Marlene Brüggemann hat für progress mit dem Regisseur Jan Gassmann über Paarbeziehungen im EU-Parlament, Routinesex und nationale Nussschalen gesprochen.

progress: Du bist aus der Schweiz. Warum interessierst du dich für Europa?
Jan Gassmann:
Genau aus dem Grund. In erster Linie sind wir Schweizer, dann mal Weltbürger und irgendwann vielleicht noch Europäer. Dadurch, dass die EU in einer Schieflage ist, ist die Schweiz in der angenehmen Position, sich raushalten zu können. Trotzdem sollte es eine Mitverantwortung der Schweiz geben. 1992 stimmten die Schweizer knapp gegen eine EU-Mitgliedschaft, seitdem ist dies ein Tabuthema. Die Schweizer gehören aber zum Kern Europas und ich persönlich sehe mich auch als Europäer. Ich las viel über die Krise in der EU, war aber selber nicht davon betroffen. Eine Zeit lang gab es überall Beiträge über die Jugend in der EU, dann plötzlich war das Thema uninteressant und die Artikel blieben aus. Dabei war die Krise, dort wo wir als Filmteam waren, für die Jugend total aktuell. Das war auch die Motivation, „Europe, She Loves“ zu machen.

Im Film gibt es eine starke Diskrepanz zwischen den Nachrichten, die im Radio oder Fernseher liefen und den Reaktionen der vier Paare, die du darstellst. Habt ihr beim Drehen die Nachrichten absichtlich laufen lassen?
Oft hat sich das zufällig ergeben, dass eine Nachrichtensendung lief. Es gibt diese ewige Berieselung und du nimmst die Nachrichten auch wahr, aber du kannst sie nicht richtig verarbeiten. Das was von den Medien kommt, hat einen starken Stellenwert. Gleichzeitig hat man einen kleinen Papierkorb im Kopf, wo alle diese Informationen hineingehen. Denn es sind keine Gesichter mehr dahinter, sondern nur Zahlen. Ich konnte filmen, worüber die Medien berichten. Die Gesichter hinter den Nachrichten zeigen – das war mein Thema.

[[{"fid":"2249","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Regisseur Jan Gassmann","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Regisseur Jan Gassmann. Foto: Marlene Brüggemann"},"type":"media","attributes":{"alt":"Regisseur Jan Gassmann","title":"Regisseur Jan Gassmann. Foto: Marlene Brüggemann","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Eine Meldung ist die Ermordung des antifaschistischen Rappers Pavlos Fyssos durch einen Neonazi der „Goldenen Morgenröte“-in Athen. Woraufhin Penny und Nicolas auf eine Solidaritätsdemo für Fyssos gehen. Wie ist die politische Stimmung in den anderen Ländern, die im Film vorkommen?
In Tallinn gibt es die Spannung zwischen der russischen und der estnischen Community. Die haben sehr wenig miteinander zu tun. Die russische Minderheit will sich wieder Russland annähern, während die Esten einen Zaun an der Grenze zu Russland gebaut haben. In Dublin war vielmehr das Thema präsent, dass die alten Parteien überholt waren und es nur noch Protestparteien gab. Nach dem „Celtic Tiger“ war die Arbeiterpartei total am Boden, die Konservativen beschädigt. Dort waren einfach alle total genervt von Politik. In Sevilla waren die Bürgerbewegungen interessant. Als wir dort waren, war die Frage wichtig, ob die Bürgerbewegungen es ins Parlament schaffen würden. Es gab aber auch andere Themen. Der Bildungsminister José Ignacio Wert hatte alle Erasmus-Zuschüsse gekürzt; auch für die Studierenden, die bereits im Ausland waren. Sie mussten deswegen nach Spanien zurückkehren. Dagegen gab es auch eine Demonstration.

Abschottung ist also ein länderübergreifendes Thema?
Wir sind die erste Generation, die keine Limitierungen hatte. Die Vermischung und dass die Leute sich frei bewegen können, tut uns doch gut. Dass man jetzt wieder zurück muss in seine nationale kleine Nussschale und sich absperrt, das finde ich schrecklich.

Bietet ein Studium den jungen Menschen eine Zukunftsperspektive?
Es ist die Frage, was du daraus machst. Die Unterschiede zeigen sich an Karo und Juan aus Sevilla. Karo hat nach dem Film doch noch einen Masterplatz in Barcelona bekommen. Sie weiß, dass sie das Studium zu Ende bringen muss. Da tut sich ein Zwiespalt auf, weil die Jungen wissen, dass sie einen Abschluss brauchen, um im Ausland einen Job finden zu können. Sie sind aber auch mit ihren Städten und ihrem Land verbunden. Diese EMigration, weil es nicht anders geht, die funktioniert für die meisten innerlich dann doch nicht wirklich. Ich würde dennoch allen empfehlen zu versuchen etwas zu studieren. Andererseits, ist da Juan, der nie studiert hat. Er machte eine Graphikerausbildung, war Gabelstaplerfahrer, Rettungsschwimmer und ist jetzt Security. Seine Eltern sind ebenfalls Securities. Juan ist talentiert, kommt aber aus einer Klasse, bei der es gar nicht zur Diskussion stand, dass er ein Studium beginnen könnte. Seine Position ist noch viel unklarer als die von Karo, weil er überall einsetzbar ist, aber keine Chance hat, sich beruflich zu definieren.

[[{"fid":"2248","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"crossing europe Wand","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Marlene Brüggemann"},"type":"media","attributes":{"alt":"crossing europe Wand","title":"Foto: Marlene Brüggemann","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Die Protagonist_innen arbeiten alle in prekären Jobs als Kellnerin, Tänzerin, Security oder Pizzalieferant. Siobhan und Terry aus Dublin sind arbeitslos. War Arbeit ein Thema?
Am Anfang ging ich thematisch an den Film heran. Ich dachte, die Arbeitssituation ist eigentlich das Wichtigste. Erst während dem Dreh und als ich die Paare besser kannte, habe ich gemerkt, dass die Arbeit zwar ein Teil des Films sein wird, aber ich werde nicht zehn Mal zeigen, wie jemand Pizza ausliefert.

Die Repetition, die auch harte Arbeit charakterisiert, kommt dafür in Bezug auf Sex vor.

Ist es natürlich auch. (Lacht) Normalerweise ist im Spielfilm der Sex immer ein Klimax oder der Anfang von etwas Neuem. Ich versuchte Sex in meinem Film zu demystifizieren und in einen Alltag einzuflechten. Sex als etwas, was man macht, weil er nichts kostet und man halt zusammen ist.

In „Europe, She Loves“ kommen nur heterosexuelle Paare vor. Wie hast du sie ausgewählt?
Wir casteten fast hundert Paare. Dass es die vier wurden, die im Film porträtiert sind, war eine Bauchentscheidung. Wichtig war mir auch die Kombination aus verschiedenen Paaren, deswegen wollte ich auch die estnische Familie mit Veronika und Harri. Die Idee war, die Veränderungen, die man zwischen 20 und 30 durchmacht, darzustellen. In einer Paarbeziehung sucht man gemeinsam einen Kompromiss, eine Zukunft oder eine Entscheidung. Darin spiegelt sich gut, was auch im EU-Parlament in Brüssel passiert. Die kleinen Dinge, die zu einem Zusammenleben beitragen, zeigen sich schön in der Paarbeziehung. Dass es nur heterosexuelle Paare waren, hat sich so ergeben. Außerdem hätte ich es schade gefunden, wenn man im Nachhinein immer die drei Hetero-Paare mit dem homosexuellen verglichen hätte. Da hätte ich dann gern ein schwules oder lesbisches Pärchen gewollt, das nicht noch zusätzlich ein Klischee erfüllt.

[[{"fid":"2251","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"","field_file_image_title_text[und][0][value]":""},"type":"media","attributes":{"height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Im Abspann spielt das Lied „Europe Is Lost“ von Kate Tempest. Ist Europa verloren?
Für mich ist der Song und das, was er sagt, im Kern sehr positiv. Alles aus dem Film ist darin kondensiert. „Europe Is Lost“ fragt auch danach, wann wir wir endlich wieder aufwachen werden. Ich glaube an Europa- Es ist schade, dass man dem Experiment EU nicht wirklich eine längere Zeit zugesteht, fünfzehn Jahre EU sind nicht lange. Ich bin aber auch nicht super Pro-EU. Es ist eine komplexe Materie, aber man muss dem Konzept eine Chance geben, dass es sich erarbeiten und sich daraus etwas ergeben kann.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Endlich sprechen Gaybies

  • 16.03.2016, 21:49
„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet.

„Gayby Baby“ ist ein Dokumentarfilm, der vier Kinder auf sehr intime, aber unaufgeregte Art in ihrem Alltag begleitet. Gus, Ebony, Graham und Matt haben zwei Dinge gemein: Sie sind zwischen zehn und zwölf Jahre alt und sie leben in einer Regenbogen-Familie. Sie sind „Gaybies“. Inmitten politischer Debatten über Ehe- und Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare, kommen in „Gayby Baby“ die Kinder selber zu Wort. progress sprach mit der Produzentin Charlotte Mars.

Gemeinsam mit Maya Newell hast du die Dokumentarreihe „Growing up Gayby“ realisiert. Jetzt habt ihr zusammen den Film „Gayby Baby“ gemacht, wo ihr Kinder begleitet, die mit gleichgeschlechtlichen Eltern aufwachsen. Wie seid ihr zu diesem Thema gekommen?
Vor fünf Jahren wurde die Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe sehr laut und dabei ging es immer mehr um die Frage von Familie und um diese rechts-konservative Sorge, dass homosexuelle Paare, die heiraten, auch Kinder wollen. Dass das ein Problem sein könnte. Dass diese Kinder anders sein könnten. Maya und ich kennen uns schon sehr lange und fanden die Debatte extrem beleidigend. Maya hat selber zwei Mütter. Es war nicht nur ein Angriff, weil die ganze Diskussion so tat, als ob Kinder aus gleichgeschlechtlichen Partnerschaften noch gar nicht existieren, sondern auch, weil sich niemand die Zeit genommen hat mit den Familien, mit den Kindern zu reden. Alle haben über die Kinder, aber niemand mit ihnen gesprochen. Und da es immer lauter und richtig hässlich wurde, wollten wir dem etwas entgegnen, indem wir den Kindern zuhören.

Ja, das Thema selber ist sehr politisch. Der Film ist aber überraschend unpolitisch. War es eine bewusste Entscheidung den Film zu entpolitisieren?
Ja, absolut! Es gab so viel Hass in der Diskussion und wir wollten nicht eine weitere aufgebrachte Stimme sein. Eine Kraft des Kinos sind die Geschichten, die du erzählen kannst. Damit wollten wir uns einbringen. Viele haben sich mit Regenbogen-Familien noch gar nicht auseinandergesetzt. Und in einer Welt voller heteronormativer Bilder, ist es erfrischend, etwas anderes zeigen zu können und zu sagen, dass es diese Familien gibt und zwar schon lange. Die Geschichten im Film sind zwar nicht politisch erzählt, aber der Kontext des Films ist politisch, Maya und ich sind politisch.
Auch der Kontext eurer Screenings ist sehr politisch: Der Film wurde an Schulen in Australien verboten. Wie kam es dazu?
Der Film kam in Australien bereits 2015 in die Kinos, eine Woche vor dem jährlich stattfindenden „Wear It Purple Day“ im August. Das ist ein Tag, an dem sich junge LGBTIQ-Menschen selbst feiern. Statt einem normalen Preview wollten wir den Schulen die Möglichkeit geben, den Film an diesem Tag zu zeigen. Rund dreißig oder vierzig Schulen haben zugesagt. Einen Tag vor den Screenings landeten wir auf dem Cover einer der größten Zeitungen mit der Schlagzeile „Gay class uproar“. Am Beispiel einer Schule ging es in dem Artikel darum, dass alle Eltern aufgebracht seien, weil ihre Kinder dazu gezwungen werden, ein – wie die Zeitung es formulierte – Video über homosexuelle Erziehung, zu sehen. Das war schrecklich! Wir haben vier Jahre an diesem Film gearbeitet, vier Jahre in der LGBTIQ-Community verbracht und dann kommt diese Schlagzeile. Wir waren eine Woche lang durchgehend in der Berichterstattung. Der Premierminister von New South Wales entschied, dass der Film an Schulen in diesem Bundesstaat nicht gezeigt werden darf. Das war auch furchtbar für die Community, da die Botschaft vermittelt wurde, dass diese Familien in den Schulen nicht willkommen sind.

Wie geht es euch und auch den Familien und Kindern aus dem Film jetzt – nach dem ersten Schock?
Das ist fünf Monate her und obwohl ich persönlich und sehr viele andere durch die Reaktion verletzt wurden, ist uns mittlerweile klar, dass eine Konversation, die lange nicht geführt wurde, plötzlich geführt wurde. Es war notwendig. Auch die Familien und Kinder waren sehr großartig. Uns ging es in erster Linie darum zu schauen, wie es den Kindern aus dem Film geht, weil sie diejenigen waren, die am nächsten Tag in die Schule mussten. Aber die Kinder haben als erste gemeint, wir sollen uns keine Sorgen machen, denn es sei das Beste, was passieren konnte.

Die Kinder im Film sind alle zwischen zehn und zwölf Jahre alt. Habt ihr euch bewusst für dieses Alter entschieden?
Nein, zumindest anfangs nicht. Wir haben für den Film Menschen sehr verschiedenen Alters interviewt. Aber als sich die Geschichten, die wir im Film erzählen wollten, herauskristallisierten, wurde uns bewusst, dass das Alter zwischen zehn und zwölf sehr spannend ist. Es ist eine Art „magisches Alter“. Du hast einen Fuß in der Kindheit und den anderen im Erwachsenensein. Deine eigenen Ideen beginnen sich in dem Alter zu formen. Du fängst an, deine Eltern als Personen und nicht nur als deine Eltern wahrzunehmen – was in unserem Kontext sehr spannend ist, da auch immer klarer wurde, dass nicht die ganze Welt denkt, dass meine Familie unbedingt normal ist.

[[{"fid":"2242","view_mode":"colorbox","fields":{"format":"colorbox","field_file_image_alt_text[und][0][value]":"Foto von Diagonale-Plakaten","field_file_image_title_text[und][0][value]":"Foto: Stephanie Gmeiner"},"type":"media","attributes":{"alt":"Foto von Diagonale-Plakaten","title":"Foto: Stephanie Gmeiner","height":"253","width":"380","class":"media-element file-colorbox"}}]]

Meiner Meinung nach kamen die Kinder im Film sehr reif und erwachsen rüber. Kann das mit den täglichen Kämpfen zu tun haben, die man als Gayby in einer heteronormativen Gesellschaft, auszutragen hat?
Ich würde nicht sagen, dass die Kids andauernd am Kämpfen sind. Das sehe ich gar nicht so. Ich glaube aber, dass viele Gaybies sehr gut kommunizieren können, weil sie seit sie sprechen können, andauernd ihre Familie erklären müssen. Daher lernten viele über Familie, aber auch über queere Politiken, zu sprechen. Gleichzeitig sind die Kinder unglaublich belastbar, was eigentlich keine Eigenschaft von Kindern sein sollte. Aber sie treten jeden Tag vor die Haustüre, wissend, dass es die Möglichkeit gibt mit Homophobie konfrontiert zu werden. Auch wenn es gar nicht so sein muss. Aber allein dieses Bewusstsein schafft eine Art Belastbarkeit, ein Bereit-Sein.

Gemeinsam mit Gaybies wart ihr im australischen Bundestag. Dort hatten die Politiker*innen die Möglichkeit Fragen zu stellen. Welche Fragen sind gekommen?
Wir sind nicht mit den Kindern aus dem Film, sondern mit Erwachsenen hin. Ich kann mich nicht mehr an alle Fragen erinnern, aber wir wollten das Panel so strukturieren, dass wir langsam alle Fragen, die immer wieder kommen, durchgegangen sind. Es gibt einige wenige Fragen, die wiederholen sich: Zum Beispiel, wenn du zwei Mütter hast, kommt die Frage, ob du einen Vater vermisst. Die Leute wollen auch wissen, wie du gezeugt wurdest, ob du adoptiert bist – wie all das funktioniert. Viele fragen, ob du auf Grund deiner homosexuellen Eltern schikaniert wurdest oder wirst. Und natürlich kommt immer wieder die Frage, ob Gaybies homosexuell sind. Das klingt eigentlich sehr dumm. Aber es gibt wirklich viele Menschen, die glauben, dass es so ist.

Du hast mit Maya auch eine Firma mit dem Namen „Marla House“ gestartet zur Unterstützung weiblicher Filmemacherinnen. Ist die Branche nach wie vor männlich dominiert?
„Marla House“ haben wir eigentlich für unsere gemeinsamen Kollaborationen gestartet. „Marla“ bedeutet auf einer Aborigines-Sprache „Mädchen“. Das heißt es ist das „Mädchen Haus“, also unser Haus. Aber ja, ich bin absolut der Meinung, dass die Branche männlich dominiert ist. Das zeigen auch die Statistiken. Aber frage mich bitte nicht, wie man das...

… ändern kann?
Genau! Es gibt sehr viele Menschen, die versuchen diese Frage zu beantworten und daher gibt es auch viele verschiedene Zugänge. Meiner Meinung nach sollen wir sie alle probieren. Dabei geht es nicht nur um Frauen und Männer, sondern um LGBTIQ-Personen, aber auch um „People of Colour“. Wenn wir nur Geschichten von von weißen Männern hören und sehen, wenn nur diese kleine Gruppe repräsentiert wird, erhalten wir offensichtlich nicht das ganze Bild von Gesellschaft. Es ist wichtig, all die problematischen Systeme unserer Gesellschaft aus vielen verschiedenen Perspektiven zu zerlegen.

Valentine Auer lebt als freie Journalistin in Wien.

Seiten