Deutschland

25 Jahre „Die Piefke-Saga“

  • 05.12.2015, 12:38

Als das mitunter schlechte Verhältnis der ÖsterreicherInnen zu den Deutschen universitätspolitisch noch bedeutungslos war und sich primär auf Almhütten und Skipisten ausgestaltete, produzierte der ORF das 4-teilige Fernsehspiel Die Piefke-Saga und löste damit einen handfesten Skandal aus.

Als das mitunter schlechte Verhältnis der ÖsterreicherInnen zu den Deutschen universitätspolitisch noch bedeutungslos war und sich primär auf Almhütten und Skipisten ausgestaltete, produzierte der ORF das 4-teilige Fernsehspiel Die Piefke-Saga und löste damit einen handfesten Skandal aus.

Geht es um gesellschaftskritische TV-Formate mit Österreichbezug, wird „Die Piefke-Saga“ häufig genannt. Doch bei näherem Hinsehen stellt sich die Frage, was hier eigentlich kritisiert wird und ob die propagierte Sehnsucht nach Authentizität abseits von Massentourismus und Industrie nicht weit schlimmer als die negativen Auswirkungen der beiden letzteren ist.

Richtet man etwa den Fokus darauf, wie der Nationalsozialismus in „Die Piefke-Saga“ verhandelt wird, kann man sehr unmittelbar bei der deutschen Familie Sattmann fündig werden. Heinrich, der prototypische Nazi preußischen Schlages, geizt nicht mit Geschichten aus der NS-Zeit, wie etwa der, dass PartisanInnen ihm fast den Hals aufgeschnitten hätten, als er einst auf einem Bauernhof einquartiert war. Bis in die Gegenwart der Serie – also in die frühen 1990er Jahre – hat sich Heinrich seine militaristische Identität bewahrt. Er ernennt schon mal Leute zum „Kundschafter“ und ist stolzer Besitzer einer deutschen Schäferhündin, die auf Zuruf des Alten kräftig zubeißen kann.

OFFEN UND VERSCHLEIERT. Doch Heinrich ist eine Karikatur – der offensichtliche Nazi, hinter dem die postnationalsozialistische Gegenwart zum Verschwinden gebracht wird. Im dritten Teil nimmt der alte Bergbauer Andreas eine wichtige Rolle ein. Er wiederum ist der prototypische, ursprüngliche, sich gegen die Moderne stellende Tiroler. Selbst die Renovierung seines Hofes, in dem es weder Duschen noch Toiletten gibt, ist ihm ein Dorn im Auge. Als er aus dem Krankenhaus zur Kantner-Lena – einer Einsiedlerin – flieht, wird seine NS-Vergangenheit ein einziges Mal – und dazu noch reichlich verklausuliert – thematisiert. „In den Krieg is er gangen – freiwillig!“ und hätte deshalb seine Liebschaft damals nicht geheiratet. Es wird sogar spezifiziert, dass es sich um den Zweiten Weltkrieg gehandelt hat – mehr aber auch nicht. Jetzt kommt er zu ihr zum Sterben (er stirbt aber nicht, sondern heiratet sie wenig später und ist in Teil 4 immer noch – mehr oder weniger – am Leben). Im Unterschied zu Heinrich soll das Publikum mit Andreas – dem alten Bergbauern, der vom raffgierigen Bürgermeister als Strohmann für einen Grundstückskauf missbraucht wird – sympathisieren. Darin schwingt jedoch auch Sympathie mit der praktizierten Verdrängung der österreichischen NS-Vergangenheit mit, die im konkreten Fall aus einem vormaligen Täter ein Opfer macht, das sich erst mit Hilfe der Medien erfolgreich gegen die Profitsucht der örtlichen Geld- und Machtelite zur Wehr setzen kann.

Auch kleinere Ungereimtheiten, was die Ausstattung der Serie betrifft, sind aufschlussreich. So hängt im Büro des Bürgermeisters im ersten Teil kein Portrait Kurt Waldheims, sondern eines Rudolf Kirchschlägers. Das obwohl „Die Piefke-Saga“ 1990 gedreht wurde, als schon lange nicht mehr Kirchschläger, sondern bereits seit mehreren Jahren Waldheim Bundespräsident war. Vielleicht hat man im Rathaus von Mayrhofen (der nächste Regiefehler im Bild: Die Fahne Mayrhofens ist deutlich zu erkennen, obwohl „Die Piefke-Saga“ doch eigentlich im fiktiven Lahnenberg spielt) einfach aus politischer Sympathie den Austrofaschisten Kirchschläger hängen lassen und dieser „Ausstattungsfehler“ wurde vom Fernsehspiel aus der herrschenden Realpolitik übernommen. Dafür spricht, dass in den späteren Teilen schließlich doch ein Portrait Waldheims im Hintergrund zu sehen ist.

KEINE WASCHMASCHINE. Schon im ersten Teil sticht die Figur des heimat- und naturverbundenen Dorflehrers Hans Wechselberger ins Auge. Er tritt in den ersten drei Teilen als Antagonist seines Bruders, dem von Kurt Weinzierl gespielten Bürgermeister und Hotelier Franz Wechselberger, in Erscheinung und dürfte eine Art Identifikationsfigur für Drehbuchautor Felix Mitterer sein. Hans wird als heldenhafter, wenn auch punktuell skurriler Widerstandskämpfer gegen den deutschen Massentourismus und seine Tiroler ProfiteurInnen dargestellt. Die Heimat würden sie verraten, so der ständig mitschwingende Vorwurf an den Bürgermeister und seine HandlangerInnen.

Die primäre Funktion der von Veronika Faber gespielten Frau des Bürgermeisters ist es, dem TV-Publikum zu zeigen, was die Tourismusindustrie aus den Menschen macht, die in ihr arbeiten. Sie ist eine gebrochene Frau und um das zu illustrieren, wird nicht nur ihr Alkoholismus inflationär in Szene gesetzt, sondern auch das Thema Abtreibung als zusätzlich dramatisierendes Element verwendet. Selbst die sexuelle Reproduktion ist den Zyklen des Massentourismus unterworfen und hat die Hotelbesitzerin nachhaltig beschädigt. Die Schwangerschaft der BergbäuerInnentochter Anna, die im Hotel in viel niedrigerer Position arbeitet und von Gunnar Sattmann ungewollt schwanger wurde, wird hingegen zum Ausgangspunkt für ihre Befreiung aus der Tourismusindustrie. Sie treibt nicht ab, sondern kündigt ihren Job. Freilich nicht als autonomes Subjekt, sondern wiederum mit männlicher Unterstützung und gegen den Widerstand der – abermals stark alkoholisierten – Hotelbesitzerin.

Im dritten Teil gewinnen die TirolerInnen auf so gut wie allen Ebenen die Oberhand. Zunächst sieht es noch gut aus für die deutsche Familie Sattmann: Sie eröffnet ihre Schneekanonenfabrik und baut ein Haus. Dann aber schlägt die Stunde der rechtlichen Option: Die Sattmanns verlieren das Sorgerecht für das Kind des ältesten Sohnes an Anna und den vormaligen Dorflehrer Hans. Letzterer setzt der Familie nunmehr als Umweltbeamter des Landes Tirol zu. Aufgrund seiner Interventionen dürfen die Sattmanns ihr in einer Lawinenzone erbautes Haus monatelang nicht bewohnen. Hans versucht zudem seinem Bruder das Bürgermeisteramt mit einer „grünen Liste“ streitig zu machen, zitiert Pier Paolo Pasolini und setzt auf SubsistenzbäuerInnentum. Letzteres nicht gerade zur Freude von Anna, die statt einem abgelegenen Hof ohne Warmwasser lieber eine Waschmaschine hätte, damit aber wenig Gehör findet.

Das Narrativ des dritten Teils lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Das deutsche Großkapital kommt, reißt sich in Verbindung mit den korrupten Tiroler Machteliten die Natur (in Form der Jagdpacht) unter den Nagel, macht sich selbige mittels Schneekanonen zur Untertanin und vergiftet das Trinkwasser. Am Ende rettet der Bürgermeister seinen Posten, indem er Karl Friedrich Sattmann für all das verantwortlich macht, wofür eigentlich er die politische Verantwortung trägt. Nachdem er die Bühne verlässt, um wiederum Karl Friedrich, ergo dem deutschen Großkapital, untertänigst nachzulaufen, ergreift Bürgermeisterkandidat Hans Wechselberger erneut das Wort und zitiert Andreas Hofer: „Mander, s’ isch Zeit!“ Und abermals wird die Tiroler Gegenaufklärung in Form des grünen Neobauern ohne Waschmaschine zur Identifikationsfläche für das vermeintlich kritische Publikum.

KÜNSTLICHE TIROLERINNEN UND ECHTE TIROLER. Angesichts dieser Konfliktlage tut der Bürgermeister – der selbst gewiss kein Anhänger der Aufklärung ist, zumindest aber einer des technischen Fortschritts – das einzig Richtige: Er beginnt mit Hilfe japanischer WissenschaftlerInnen die TirolerInnen in Tourismusklischee- Cyborgs umzubauen. Das passiert allerdings Off-Screen und erschließt sich dem Publikum erst im Verlauf des letzten Teils, der 1993 produziert wurde, den Titel „Die Erfüllung“ trägt und in einer dystopischen Zukunft angesiedelt ist.

Die Handlung des vierten Teils wurde von den verantwortlichen ProgrammplanerInnen als so kontrovers empfunden, dass über fast ein Jahrzehnt hinweg immer nur die ersten drei Teile im Fernsehen wiederholt wurden. Der letzte Teil, der einiges in ein anderes Licht rückt, musste derweil im Zensurarchiv des ORF vor sich hin darben.

Schon zu Beginn des vierten Teils ist bezeichnend, wie sich Felix Mitterer in den 1990ern die dystopische Zukunft Deutschlands ausmalte: Ein Punk und ein muskulöser schwarzer Mann mit Kettensäge überfallen die seit Tagen im Stau stehende Familie Sattmann, die sich erstmals seit den Ereignissen im dritten Teil wieder auf den Weg nach Tirol macht.

Die Rolle des vormaligen Lehrers und geschassten Umweltamt-Mitarbeiters Hans verändert sich im letzten Teil sehr deutlich und es ließe sich argumentieren, diese Veränderung sei in der Lage, auch den Hans der Teile 1 bis 3 neu – nämlich weitaus kritischer – zu beurteilen. Das in den ersten Teilen als ökologisch verschleierte antiaufklärerisch-reaktionäre Ressentiment tritt im letzten Teil zur Kenntlichkeit entstellt ans Licht. Hans schimpft auf „Asylanten“ und „das ganze Gesindel“, welches in Deutschland Krawalle mache. Allerdings wurde auch Hans operativ verändert, was Raum für weniger wohlwollende Deutungsmöglichkeiten in Bezug auf das Gesamtnarrativ lässt. Hinter dem von ihm und den anderen Cyborgs wie ein Mantra wiederholtem „total bio“-Slogan verbirgt sich eine gigantische Müllhalde. Die saftigen Tiroler Wiesen und Wälder sind aus Plastik, Menschen und Tiere den Ansprüchen der Tourismusindustrie untergeordnete Cyborgs. Der Tourismus hat Mensch und Umwelt kaputt gemacht, die Sattmanns kommen nach und nach dahinter und werden zu Opfern der Vertuschungsmaschinerie.

Doch auch der letzte Teil hat seine Widerständler und man muss sie nicht gendern, da es sich um einen reinen Männerbund handelt. Es ist eine mehr als bezeichnende postnazistische Allianzenbildung, die hier unkritisch über die Bühne geht. Der Pfarrer, der (doch nicht tote) Nazi-Opa Heinrich, der von Tobias Moretti gespielte Joe und sein von Gregor Bloéb gespielter Bruder Stefan bilden eine Art Partisaneneinheit. Propagandistisch wie militärisch kämpfen sie gegen die robotisierten TirolerInnen. Der Widerstandskampf des authentisch-katholischen Tirolers scheint von dem des Nazi-Preußen nicht zu trennen zu sein – was allerdings weder ausgesprochen noch in irgendeiner Form problematisiert wird. Gemeinsame Ressentimentlagen verbinden nicht nur den kämpfenden Männerbund, sondern auch Drehbuchautor Felix Mitterer mit jenem Teil des österreichischen wie deutschen Publikums, das mit dieser kämpfenden Einheit sympathisiert.

 

Florian Wagner studiert Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

G7 - Robocops statt Rehe

  • 10.06.2015, 09:50

Der alljährliche G7-Gipfel fand dieses Jahr in Deutschland statt. Nachdem beim letzten Mal Heiligendamm im flachen Norden Ort des Treffens war, war es diesmal Elmau im alpinen Garmisch-Partenkirchen, das dieses Spektakel beherbergte und sich dafür in ein potemkin'sches Areal verwandelte

Der alljährliche G7-Gipfel fand dieses Jahr in Deutschland statt. Nachdem beim letzten Mal Heiligendamm im flachen Norden Ort des Treffens war, war es diesmal Elmau im alpinen Garmisch-Partenkirchen, das dieses Spektakel beherbergte und sich dafür in ein potemkin'sches Areal verwandelte. Statt weite Wiesen mussten die Gegendemonstrant_innen Höhenmeter überqueren, um die geplanten Blockadeaktionen durchzuführen. Russland war aufgrund der Ukraine-Krise nicht dabei um inmitten eines weiträumigen Sperrgebiets über Klimaschutz, Meeresschutz oder den Umgang mit Ebola zu diskutieren. Eine Großdemonstration in München und ein Alternativgipfel waren der Auftakt für die Aktionen von StopG7.

Bewegte Zugehörigkeiten

  • 07.03.2014, 12:21

Warum sie Goethe die Worte im Mund umdreht und neue Perspektiven auf Migration sowohl in Europa als auch in den USA dringend nötig sind, erklärt die Dokumentarfilmerin und Gründerin von „with wings and roots“, Christina Antonakos-Wallace, im Interview.

Zwei Kurzfilme wurden im Rahmen des kollaborativen Multimediaprojekts „with wings and roots“ bereits veröffentlicht, noch heuer folgen eine abendfüllende Doku und eine interaktive Website. Dabei entsteht eine umfassende transnationale Sammlung von Geschichten, die sichtbar macht, wie die sogenannte „zweite Generation von Migrant_innen“ in Berlin und New York auf vielfältige Weise Zugehörigkeit neu denkt und lebt – allen Herausforderungen zum Trotz.

progress: Goethe schrieb: Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.“ Du hast für den Titel eures Projekts „with wings and roots“ die Reihenfolge der Wurzeln und der Flügel geändert. Warum?

Christina Antonakos-Wallace: Für mich war es wichtig, die Visionen und die Kreativität, die viele Kinder von Migrant_innen aus ihren multiplen Lebenswelten schöpfen, in den Vordergrund zu stellen. Aus meiner Sicht werden diese nämlich kaum thematisiert, wenn über Migration gesprochen und geschrieben wird. Deshalb stehen die Flügel für mich an erster Stelle. Ich sehe auch die Gefahr, dass der Begriff „Wurzeln“ leicht in Zusammenhang mit fixen Ideen von Kultur und Identitäten instrumentalisiert werden kann. Angesichts des Drucks sich zu assimilieren, müssen viele Menschen in der Diaspora zugleich aber auch hart dafür kämpfen, mit ihrem kulturellen Erbe verbunden zu bleiben. Auch die Verbindung der Menschen zu ihren Communities und Familien, oder was auch immer den Menschen Kraft und ein gewisses Fundament gibt, soll deshalb honoriert werden.

Einer der Kurzfilme, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, trägt den Titel „Where are you FROM from?“ Was steckt hinter diesem Titel?

Diese Frage, woher man „wirklich“ kommt, ist so gängig, so alltäglich und spiegelt dabei besonders, wie eng Zugehörigkeit in unserer Gesellschaft noch immer definiert wird. Daran, dass viele Kinder von Migrant_innen diese Frage täglich mehrmals beantworten müssen, kristallisiert sich ihr Dilemma, wenn es um das Gefühl geht, willkommen zu sein. Ich kann aus meiner eigenen Erfahrung und jener vieler Freund_innen sagen, dass diese Frage gnadenlos ist, auch wenn sie an der Oberfläche so einfach erscheint und sehr ehrlich gemeint sein kann. Aber wenn diese Frage, woher du „wirklich“ kommst, die erste ist und du sie immer und immer wieder beantworten musst, in deiner eigenen Stadt, wenn im Grunde der einzige Ort, den du nennen kannst, „hier“ ist, und dann fragen die Leute ein zweites und ein dritte Mal nach, dann ist das eine sehr problematische Frage. Es ist dann keine Wahl mehr, dich mit deiner Identität auseinander zu setzen, wenn dir konstant auf subtile Art und Weise gesagt wird, dass du nicht dazugehörst. Außerdem mag ich die Ironie, die gewissermaßen in der Frage steckt, weil „Where are you from from“ im Grunde ja ein grammatikalisch inkorrekter Satz ist.

Davon, dass diese Frage ständig widerkehrt, erzählen sowohl ProtagonistInnen in Berlin als auch in New York. Gleichzeitig werden im Rahmen des Projekts auch Unterschiede zwischen der Situation in den beiden Ländern greifbar.

Alleine dass in Deutschland über alle Generationen von Migrant_innen nach wie vor als Migrant_innen gesprochen wird, ist ein großer Unterschied. In den USA beobachtet man meist innerhalb von einer Generation den Übergang von der Bezeichnung als Migrant_in zur Bezeichnung als Amerikaner_in, wenn auch in Zusammenhang mit einer rassifizierten Kategorisierung, zum Beispiel als „Asian-American“. Das ist auch keine großartige Situation, weil du zwar Amerikaner_in wirst, in vielen Fällen aber eine spezielle, nämlich diskriminierte Art von Amerikaner_in. Trotzdem ist der Unterschied von Bedeutung. Es wird in Deutschland auch oft auf sehr generalisierende Weise über Migrant_innen gesprochen, als würden sie alle die gleichen Erfahrungen machen und mit den gleichen Problemen kämpfen. Das ist irreführend: Während manche Migrant_innen sehr gebildet und wohlhabend sind, gehören andere zur Arbeiter_innenklasse, sie decken das gesamte soziale Spektrum ab.

In Deutschland gibt es auch diesen starken Fokus auf Integration. Dazu denke ich mir: Diese jungen Leute sind hier aufgewachsen. Was heißt, sie sind nicht integriert? Diese Leute sind Teil der Gesellschaft, sie sind diese Gesellschaft! Und wenn Integration mit wirtschaftlichen oder bildungsbezogenen Errungenschaften gleichgesetzt wird, müssen wir fragen, welche strukturellen Barrieren es hier gibt. Viele Menschen, die seit Langem hier leben, werden systematisch ausgeschlossen – vor allem durch ein Schulsystem, das Machtverhältnisse stark reproduziert. Darüber wird aber kaum gesprochen. Und schließlich wird auch darüber, dass sich Deutschland selbst in einem Wandlungsprozess befindet, so wie sich alle Länder ständig verändern, nicht nachgedacht. Stattdessen hält man an einer essenzialisierenden Version der Geschichte fest und denkt, dass Deutschland vor 200 Jahren tatsächlich „deutsch“ war.

Welche Rolle spielt das Bild von den USA als Nation der MigrantInnen in diesem Zusammenhang?

Natürlich macht es einen Unterschied, dass diese Auseinandersetzungen in den USA schon deutlich länger im Gange sind und aus meiner Sicht haben sich Migrant_innen dort über die Generationen mehr institutionelle Macht angeeignet. Dennoch halte ich das Bild von den USA als Nation der Migrant_innen für irreführend. Es blendet eine gewaltsame Geschichte aus, in der immer umstritten war, wer hier leben und bleiben darf und wer nicht, wer Zugang zur Staatsbürgerschaft hat und wer nicht. Wir wollen auch keinesfalls die USA als Modell oder Vorbild präsentieren. Heute leben in den USA mindestens 11 Millionen undokumentierte Migrant_innen, viele von ihnen seit Jahrzehnten. Im Fall von Tania, die in unserem Film vorkommt, seit 26 Jahren. Erst heuer hat sie erstmals eine temporäre Arbeitserlaubnis bekommen.

In Deutschland und Österreich ist der Diskurs über Migration stark problemzentriert. Gerade die zweite Generation wird häufig mit Begriffen wie Bildungsdefizit und Identitätskrise assoziiert. Inwiefern geht „with wings and roots“ einen anderen Weg?

Ich starte von einem völlig anderen Punkt, wenn ich den Menschen Fragen stelle, weil sie Einsichten und Wissen haben, und nicht, weil ich denke, dass sie ein Problem haben. Es wird dann möglich über ihre Erfahrungen als gesellschaftliche Problematiken statt als persönliche Probleme zu sprechen. Als ich angefangen habe, an diesem Projekt zu arbeiten, habe ich W.E.B. Du Bois „The Soul of Black Folk“ gelesen. Anfang des 20. Jahrhunderts schrieb er darüber, dass das „negro problem“ in den USA in aller Munde war. Und mir ist klar geworden, dass ich heute genau die gleiche Sprache höre, wenn es um das „Integrationsproblem“ und das „Migrationsproblem“ geht – als wären sich alle einig, dass wir es mit einem Problem zu tun haben. Das Problem scheinen dann nicht Diskriminierung oder die Ungleichheit von Bildungschancen zu sein, Migration an sich wird zum Problem erklärt.

Ich denke, es ist knifflig, was wir mit diesem Projekt versuchen, weil wir versuchen über die Stärke und das Wissen von jungen Menschen mit Migrationsgeschichte zu sprechen.  Zugleich wollen wir auch die Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind, thematisieren. Wie kann man denn auch über ihre Stärke sprechen, ohne ihre Kämpfe zu thematisieren? Wir haben aber auch das Feedback bekommen, dass der Kurzfilm „Where are you FROM from“ zu negativ sei. Das gibt mir zu denken, weil es unser Ziel ist, nicht nur über die Tragödien und die Kämpfe zu sprechen, sondern auch die Handlungsmacht der Leute zu zeigen, wie sie Lösungen finden, neue Begriffe eines Zuhause und der Zugehörigkeit schaffen. Der abendfüllende Film, den wir gerade fertigstellen, wird auch die Kreativität der ProtagonistInnen stärker hervorstreichen, weil er mehr von ihrem Alltagsleben zeigt und nicht nur aus Interviews besteht. Dennoch, einen Mittelweg zwischen einem kritischen und einem optimistischen Blick zu finden, ist eine der größten Herausforderungen dieses Projekts.

Inwiefern ist „with wings and roots“ auch eine Sammlung von Familiengeschichten? Wenn es um Zugehörigkeit geht, können schließlich auch Familien- oder Generationenkonflikte eine wichtige Rolle spielen.

Manche Leute teilen mehr von ihrer Familiengeschichte, andere weniger – zum Beispiel, weil ihre Familie keinen legalen Aufenthaltsstatus hat. Auch Traumata können eine Rolle spielen. Mir ist es wichtig, die ProtagonistInnen selbst bestimmen zu lassen, wo sie eine Grenze ziehen. Außerdem denke ich, dass Generationskonflikte in Zusammenhang mit Migration sehr oft im Mainstream-Kino behandelt und teils auch missbraucht werden. Ich wollte etwas Neues machen, weshalb mich die Beziehung der jungen Menschen zur Gesellschaft mehr interessiert hat. Aber Familien können durchaus eine große Rolle spielen und es geht mir nicht darum, das zu ignorieren oder zu verschweigen – auch nicht, dass es Konflikte gibt. Manche erzählen sehr offen davon. Ich möchte auch keinesfalls Communities glorifizieren, weil es durchaus auch oft interne Konflikte rund um bestimmte Traditionen gibt, die eine gewaltsame und bedrückende Dynamik haben können. Jede Kultur hat solche Traditionen.

Warum hast du dich entschieden, einen Film über junge Menschen zu machen?

Das hat viel mit meiner eigenen Geschichte und meinen eigenen Erfahrungen zu tun. Ich wollte einen Film über meine AltersgenossInnen machen, über die Themen, die ich als Fragen meiner Generation sehe. Ich erzähle zwar nicht meine eigene Geschichte, aber ich werfe einen Blick auf Erfahrungen, mit denen ich mich persönlich verbunden fühle. Und natürlich betrifft einen die Frage nach einem neuen und kreativen Verständnis von Zugehörigkeit auf andere Weise, wenn man jung ist, als wenn man 50 ist.

 

Das Interview führte Anna Ellmer.

Zu ihrem Artikel über "with wings and roots": http://www.progress-online.at/artikel/%E2%80%9Ewarum-reden-sie-%C3%BCber...

 

Für weitere Informationen über „with wings and roots“:

http://withwingsandrootsfilm.com/

Der Kurzfilm „Where are you From from?“ / „Wo kommst du ‚wirklich’ her?“ wird vom FWU – Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht vertrieben: http://www.fwu-shop.de/politische-bildung/wo-kommst-du-wirklich-her-wher...

Der Kurzfilm „Article of Faith“ – ein Portrait des in Brooklyn lebenden Aktivisten Sonny Singh – ist hier verfügbar: http://www.youtube.com/watch?v=BWic5hPZfS4

„With wings and roots“ ist ein offenes und stets wachsendes, kollaboratives Projekt. Wer selbst daran mitarbeiten möchte, seine eigene Geschichte erzählen möchte, ein Film-Screening oder eine Workshop organisieren oder sich auf andere Art beteiligen möchte, ist herzlich dazu eingeladen über Facebook und oder die Website mit dem Team in Kontakt treten.

 

 

 

Sodom und Andorra

  • 04.10.2012, 23:44

Was in Schulen gelesen wird und wo dabei das Problem liegt. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Was in Schulen gelesen wird und wo dabei das Problem liegt. Ein Kommentar von Simon Sailer.

Seit 1989 gibt es im österreichischen Lehrplan für den Deutschunterricht keine Leselisten mehr. Allerdings sieht er weiterhin vor, für die verschiedenen Epochen der Literaturgeschichte repräsentative Werke zu behandeln. Gerade, wenn es um Antisemitismus und Nationalsozialismus geht, wird jedoch auch ohne Liste immer wieder zu den gleichen Werken gegriffen. Und so arbeitet sich jede  Klasse aufs Neue durch das Tagebuch der Anne Frank, Andorra und Auszüge aus der Blechtrommel. Hin und wieder werden vielleicht auch Thomas Bernhards Heldenplatz oder Passagen aus Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit berücksichtigt. Dabei werden diese Werke – das kann aus eigener Erfahrung und den Berichten anderer mit einiger Gewissheit gesagt werden – meist nicht problematisiert, sondern als die Wahrheit über die Zeit, den Antisemitismus und die Menschen im Allgemeinen präsentiert.

Probleme. Zu problematisieren gäbe es an manchen der genannten Schriften aber durchaus einiges. Max Frischs Andorra wurde etwa von dem Kabarettisten Georg Kreisler als „schwach auf der Brust und latent antisemitisch“ angesehen. Ein Urteil, das Kreisler nicht nur so nebenher gegen einen von ihm Ungeliebten losließ. Zusammen mit KünstlerInnen wie Topsy Küppers und Kurt Sowinetz vertonte er sogar eine Parodie, die den plakativen Titel Sodom und Andorra trägt. Frisch versucht in seinem Stück die Funktionsweise von Antisemitismus aufzuzeigen. Die recht durchsichtige These lautet, dass es das antisemitische Vorurteil sei, welches die Juden zu Juden mache. In dem Stück gilt der junge Andri in seinem Dorf im erfundenen Land Andorra als Jude und nimmt aufgrund der Behandlung durch die Bevölkerung schließlich jene Eigenschaften an, die nach Frisch das antisemitische Stereotyp charakterisieren. Der Tischler will die Meisterschaft seiner Arbeit nicht anerkennen und zwingt ihn in den Verkauf, der Pfarrer dagegen will eine besondere Gabe bemerkt haben und empfiehlt ihm, in die Wissenschaft zu gehen. Der derart gegängelte Andri wird schließlich nervös, unruhig, wittert überall Antisemitismus und zieht sich schließlich auf die Position zurück, sich nur  noch um Geld kümmern zu wollen.

Der wohl gut gemeinte Versuch, die Wirkmächtigkeit von Vorurteilen zu demonstrieren, endet, genauer betrachtet, in einer Affirmation der antisemitischen Karikatur, die Andri schließlich darstellt. Fast als wäre Frisch der Ansicht, die Juden – bei ihm ist der archetypische Jude schließlich ein Mann – sind schon so, nur liege dies nicht in ihrem Wesen, sondern die antisemitische Gesellschaft habe sie selbst hervorgebracht. Da wundert es dann wenig, dass in seinem Stück keine Jüdinnen oder Juden in positiven Rollen vorkommen. Andri stellt sich schließlich als Andorraner heraus, positive jüdische Figuren würden das Bild des Juden als manifestierte Projektion nur stören.

Würden solche Probleme im Unterricht behandelt werden, wäre an der Lektüre nichts auszusetzen. Aber in der Praxis werden diese Werke als Lehrstücke behandelt, fast als aus der Wirklichkeit genommene Beispiele. Was will uns der Autor sagen? Was lernen wir daraus?

Textwahl. Darüber hinaus ist bemerkenswert, welche Schriften nie oder nur sehr selten im Unterricht behandelt werden: so beispielsweise Bertolt Brechts Furcht und Elend des Dritten Reichs, ein Stück, das der Autor im Exil in den 1930er-Jahren verfasste. Oder Edgar Hilsenraths Der Nazi und der Friseur, das zunächst nur in der englischen Übersetzung erscheinen konnte, weil im  Deutschland der 1960er niemand bereit war, diesen Roman zu veröffentlichen, der als Anti-Blechtrommel bezeichnet werden könnte. Hilsenrath schildert den Nationalsozialismus aus der ungeschönten Sicht eines Täters in seiner Kontinuität bis in die Gegenwart. Anders als bei den nivellierenden Formulierungen Grass’ handelt es sich um eine wirkliche Groteske: eine, die real bleibt.

Hilsenraths Darstellung spitzt die Brutalität aufs Äußerste zu und steigert sie ins Unmögliche, ohne dabei den Charakter der Realität einzubüßen. In Deutschland konnte dieses Buch erst Ende der 1970er-Jahre erscheinen, obwohl es zuvor bereits in den USA große Erfolge erzielt hatte. Es ist kein Zufall, dass Die Blechtrommel als das Buch der Deutschen bezeichnet werden kann, während sich  ein Autor wie Edgar Hilsenrath erst allmählich etablieren konnte. In Schulen wird er wohl niemals vergleichbar oft gelesen werden wie Grass.

Kritik. Natürlich kann die Konsequenz daraus nicht darin bestehen, die Lektüre dieses oder jenes Werkes anzuempfehlen. Es ist durchaus eine Errungenschaft, dass Lehrern und Lehrerinnen große Freiheit in der Auswahl der behandelten Texte zugestanden und dadurch eine Vielfalt der behandelten Werke begünstigt wird. Das Problem liegt allerdings in der unkritischen Behandlung der schließlich ausgewählten Texte. Literatur, die sich kritisch mit Nationalsozialismus und Antisemitismus befasst, müsste daraufhin untersucht werden, ob sie ihrem Anspruch gerecht wird, welche Vorstellungen von Antisemitismus, von Geschichte und Gesellschaft ihr zugrunde liegen und ob sie womöglich selbst antisemitische Topoi enthält oder Entlastungsangebote macht. Auch diese Aufgabe obliegt schließlich den Lehrenden. Ihre Erfüllung könnte aber von einem gesellschaftlichen Klima gestützt werden, in dem nicht alles, was kritisch daherkommt, zum nicht zu hinterfragenden Nonplusultra erklärt wird – je plakativer desto besser.