Demonstration

Same procedure as last year?

  • 30.01.2016, 15:03

Der letzte Freitag im Jänner in Wien wurde wie jedes Jahr ein politisches Schaulaufen. Beschützt von 2800 Polizist*innen, Wasserwerfer und Hubschrauber prostete sich die Rechte in der Hofburg zu, während an die 8000 Demonstrierende unter großer medialer Beobachtung um die Sperrzone marschierten. Die Stimmung im Vorfeld war ruhiger als sonst. Das lag unter anderem an einem weniger aktivem Blockadekonzept und weniger durch die Polizei aufgeheizte Stimmung. In Zeiten von Obergrenzen erregt die reine Symbolik hinter dem Akademikerball vielleicht auch einfach weniger. Einzig eine von der Polizei gestaltete Engstelle, um auch wirklich alle Demonstrierenden ins Gesicht filmen zu können, sorgte für Unmut. Sonst gab es 29 Selfiesticks auf Seiten der Polizei, neun Festnahmen und einen obligatorischen, nicht angekündigten Kessel um eine angemeldete Kundgebung in der Herrengasse.

Fotos und Kurztext: Christopher Glanzl
Untertitel: Redaktion.

Kampf um die Straßen Wiens

  • 18.05.2014, 15:32

Am 17.5. fand eine Gegendemonstration linker Gruppierungen zum Identitärenaufmarsch in Wien statt. Es kam zu Repressionen gegenüber der Demonstierenden seitens der Polizei. Christopher Glanzl war für progress online mit Kamera dabei.

Am 17.5. fand eine Gegendemonstration linker Gruppierungen zum Identitärenaufmarsch in Wien statt. Es kam zu Repressionen gegenüber der Demonstierenden seitens der Polizei. Christopher Glanzl war für progress online mit Kamera dabei.

Gestern kam es zu einem Kampf um die Straßen Wiens.

Auf der einen Seite waren dabei antifaschistische Gruppierungen wie die OGR oder SLP.

Um 11:00 Uhr traf man sich am Christian-Broda-Platz, von wo aus die Demonstration zum Kunsthistorischen Museum starten sollte.

Während das schlechte Wetter die Fahnen oben hielt...

...probierte die Samba-Gruppe dasselbe mit der Stimmung.

Die Identitären konnten die Route über die Mariahilfer Straße (Start Westbahnhof) nicht gehen, da diese noch von der Gegendemo belegt war.

Mit Rufen wie „No border, no nation – stop immigration“ oder „Jetzt seid ihr noch tolerant – bald schon fremd im eig'nen Land“ oder einfach nur bellend...

... zogen sie über die Burggasse Richtung Volkstheater, wo die Schlusskundgebung geplant war.

Auch Presse war zahlreich vertreten und prägte das Bild um die ca. 100 Teilnehmer_innen.

Es kam zu Sitzblockaden, die von der Polizei...

... aufgelöst wurden. Es gab dabei unschöne Szenen.

Aber auch intern war der Umgang mittlerweile von Frust und Aggression geprägt.

In Folge eskalierten immer öfter kleine Situation, die solch einen Gewalteinsatz eigentlich nicht erforderlich machen.

Hier wurde die Demo zwar um die Blockade geleitet...

...trotzdem wurde von der Polizei die Straße unverhältnismäßig geräumt.

Auf der Kreuzung beim Museumsquartier/Volkstheater wartete die bislang größte Sitzblockade.

Spätestens jetzt brach das Einsatzkonzept der Polizei zusammen und erhöhter Einsatz von Gewalt sollte das kompensieren.

Pfefferspray wurde freigegeben...

... viele Demonstrant_innen festgenommen...

... und der Spray letztlich auch zahlreich eingesetzt.

Der gesamte Bereich wurde großräumig geräumt und für alle gesperrt. Auch Medienvertreter_innen wurden nicht mehr zur Demo der Identitären durch gelassen.

Die Gegendemonstration sammelte sich wieder...

... während die Lage langsam ruhiger wurde.

Im 8. Bezirk dagegen war die Lage immer noch angespannt, mittlerweile wurde auch die Hundestaffel angefordert.

Die Polizei nahm versprengte Gegendemoteilnehmer_innen fest, ...

...war dabei aggressiv und sperrte die Josefstädter Straße ohne ersichtlichen Grund für längere Zeit.

„Keep your coins – I want change!“

  • 05.05.2014, 13:17

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dieter Diskovic und Manu Banu waren für progress online bei der Ersten-Mai-Demonstration in Athen und haben einige Impressionen und Stimmungsbilder mitgebracht. Sie zeigen die griechische Hauptstadt zwischen Frustration und Aufbruchsstimmung.

Dass der 1. Mai in Athen einen höheren Stellenwert als in Österreich hat, merkt man bereits Tage zuvor an den unzähligen Plakaten, die an den Wänden der Stadt zur Demonstration aufrufen. Die Vielfalt der Gruppierungen ist bemerkenswert: es gibt Veranstaltungen von kommunistischen und trotzkistischen Gruppen, linken Gewerkschaften, Anarchist_innen und Anarchosyndikalist_innen, Autonomen und Antiautoritären.

Die meisten Gruppierungen ziehen von verschiedenen Treffpunkten los, schließen sich aber später zu einem großen Demonstrationszug zusammen. Für einen Tag sind die zahlreichen Meinungsverschiedenheiten vergessen. Nur die PAME, die Gewerkschaft der gestrengen Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), zieht eine eigene Route vor. Die KKE gilt als die letzte stalinistische Partei Europas, das offenere Linksbündnis SYRIZA hat ihr an Wähler_innenstimmen und gesellschaftlicher Relevanz jedoch längst den Rang abgelaufen.

Ein Plakat der PAME. Foto: Dieter Diskovic

Treffpunkt Polytechnikum. Foto: Dieter Diskovic

Schal gegen Tränengas?

Wir verzichten auf die Veranstaltung der PAME und treffen uns um 11 Uhr mit unseren griechischen Freundinnen Maria und Christina vor dem Polytechnikum. Man gibt uns erste Tipps für den Notfall: „Wenn die Polizei angreift, immer den Rucksack vorne tragen – so können sie euch schwerer festhalten. Habt ihr einen Schal gegen das Tränengas dabei?“. Nach einer Stunde setzt sich der Zug mit mehreren tausend Teilnehmer_innen und unzähligen Transparenten, Fahnen und Plakaten in Bewegung. Vor uns skandiert eine trotzkistische Gruppe lauthals ein Ende der Arbeiter_innenausbeutung, während neben uns eine Migrant_innenorganisation ihre Rechte einfordert.

Eine Gruppe türkischer Kommunisten mit beeindruckenden Schnurrbärten und noch beeindruckenderem Stimmvolumen verlangt den Sturz von „Nazi Erdoğan“, während man von hinten anarchistische Parolen gegen Staat und Kapitalismus hört. So vielfältig wie die Slogans, sind die Teilnehmer_innen selbst:  von Kindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen sowie unzählige Nationalitäten vertreten. Die Stimmung scheint bestens zu sein, doch Christina hat ein ungutes Gefühl: „Ich war schon auf vielen Demonstrationen und es ist immer irgendetwas passiert.“ Bis jetzt läuft jedoch alles friedlich ab, die Polizei hält sich im Hintergrund. Nur in den Seitengassen kann man sie in einiger Entfernung in voller Kampfmontur sehen.

Foto: Dieter Diskovic

Migrant_innenorganisationen fordern ihre Rechte ein. Foto: Dieter Diskovic

Von Kleinkindern bis zu Pensionist_innen sind alle Altersgruppen vertreten. Foto: Dieter Diskovic.

Der große Schock vor vier Jahren

Wir ziehen an einem ausgebrannten Gebäude vorbei. Früher war darin die Marfin-Bank untergebracht, bis sie 2010 bei einer Großdemonstration gegen den IWF in Brand gesteckt wurde. Da ein Generalstreik angesetzt war, hatte niemand damit gerechnet, dass sich darin Menschen aufhalten würden. Als drei Angestellte der Bank in den Flammen umkamen, stand die Protestbewegung lange unter Schock. Christina hat danach Demonstrationen gemieden, auch diesmal nimmt sie eher uns zuliebe teil.

Foto: Dieter Diskovic

„Entlassene zurück an die Arbeitsplatze - Streichung der Schulden – Arbeiter_innenkontrolle! Regierung, EU-Memoranden und Neonazis rauswerfen!“ Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Hier brannte am 5. Mai 2010 die Marfin-Bank aus. Foto: Dieter Diskovic

Gasmasken und Adolf Merkel

Die diesjährige Demonstration hat jedoch beinahe Volksfestcharakter. Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Die Menge zieht lautstark zum Syntagma-Platz, wo die mit Schildern und Gasmasken ausgerüstete Polizei das Parlament und Luxushotels abriegelt. Da niemand an einer Eskalation interessiert zu sein scheint, schützen die Masken die Polizist_innen nur gegen den Rauch des Straßengrills. Auf dem Gehsteig steht ein älterer Mann und präsentiert zwei Bilder. In der linken Hand hält er eine Fotomontage, auf dem der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble in Naziuniform zu sehen ist. Auf dem zweiten Bild ist der Demonstrant selbst zu sehen – ein Bild von Angela Merkel mit Hitlerbärtchen in den Händen.

„Heute ist es so ruhig, weil die Regierung die Demonstrationsgesetze verschärft hat. Wenn es Ausschreitungen gibt, kann man dich ins Gefängnis stecken, auch wenn du persönlich gar nichts gemacht hast“, erklärt uns Christina. Nur ein sehr junger „Koukouloforos“ (ein „Vermummter“, wie Politik und Medien die Anarchist_innen abschätzig nennen) lässt seine überschüssige Energie an einem Plakat der kommunistischen Gewerkschaft aus. Nach etwa zwei Stunden ist die Demonstration zu Ende, die Menge zerstreut sich. Viele gehen nach Exarchia, einem anarchistisch geprägten Viertel, und lassen den Tag bei Kaffee, Bier oder Raki ausklingen.

Foto: Dieter Diskovic

Am Straßenrand werden Wasserflaschen und Sesamringe verkauft. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

"Ich will Veränderung und kein Asthma!"

Es gibt eine Menge Gründe, um in Griechenland auf die Straße zu gehen. Nachdem Griechenland der Troika, einem Kontrollgremium mit Vertreter_innen der EU-Kommission, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischen Zentralbank, unterstellt wurde, ist es de facto kein souveräner Staat mehr. Allen Protesten zum Trotz wurde eine brutale Austeritätspolitik durchgesetzt. Die Wirtschaft befindet sich in einer Abwärtsspirale, die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 60 Prozent, während gleichzeitig der ohnehin schwache Sozialstaat kahlgeschlagen wurde. Mittlerweile fühlen sich manche Demonstrant_innen erschöpft und desillusioniert: „Früher waren wir auf fast jeder Demonstration. Wir sind Kilometer um Kilometer marschiert und am Ende haben wir immer eine Ladung Tränengas ins Gesicht bekommen. Politisch verändert hat sich nichts. Irgendwann beginnst du, den Sinn der Sache zu bezweifeln. Ich will Veränderung und kein Asthma!“

Das griechische Parlament. Foto: Dieter Diskovic

Foto: Dieter Diskovic

Kaum jemand glaubt daran, die Situation durch Demonstrationen alleine grundlegend verändern zu können. Gleichzeitig sind immer weniger Griech_innen dazu bereit, die triste Wirtschaftslage als unabwendbares Schicksal hinzunehmen. Da man das Vertrauen in den Staat und in die Politik schon lange verloren hat, versuchen viele, ihre Zukunft in die eigenen Hände zu nehmen. Dabei ist man für neue Wege jenseits des etablierten Wirtschaftssystems offen und organisiert sich immer öfter in einer der zahlreichen solidarischen Initiativen, die in den letzten Jahren entstanden sind. In Zeitbanken, Tauschbörsen, Alternativwährungen oder  Lebensmittelkooperativen finden viele Griech_innen neben rein materieller Hilfe ein längst verloren geglaubtes Solidaritätsgefühl. Oder wie es an einer Wand in Exarchia plakatiert war: „Keep your coins – I want change!“

Ein Plakat in Exarchia. Foto: Dieter Diskovic

 

Dieter Diskovic und Manu Banu studieren Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien und engagieren sich bei der Screaming Birds Aktionsgruppe. In den nächsten Wochen werden sie noch ausführlich über die Situation in Griechenland und die solidarischen Initiativen der Griech_innen berichten.

Lieder für den bosnischen Frühling

  • 11.02.2014, 15:59

Vollkommen unerwartet sind Anfang Februar massive soziale Proteste in Bosnien-Herzegowina ausgebrochen. Vor der bosnisch-herzegowinischen Botschaft in Wien gab es mit einer „öffentlichen Probe“ des Chors HOR 29 NOVEMBAR eine erste Solidaritätskundgebung für den „bosnischen Frühling“. Manu Banu und Dieter Diskovic waren vor Ort und haben Ljubomir Bratić, Chormitglied, Philosoph und Publizist, zur Lage befragt.

Vollkommen unerwartet sind Anfang Februar massive soziale Proteste in Bosnien-Herzegowina ausgebrochen. Vor der bosnisch-herzegowinischen Botschaft in Wien gab es mit einer „öffentlichen Probe“ des Chors HOR 29 NOVEMBAR eine erste Solidaritätskundgebung für den „bosnischen Frühling“. Manu Banu und Dieter Diskovic waren vor Ort und haben Ljubomir Bratić, Chormitglied, Philosoph und Publizist, zur Lage befragt.

Sonntag, 9. Februar, Wien: Vor der Botschaft von Bosnien und Herzegowina im 12. Bezirk stehen etwa fünfzehn Personen aller Altersgruppen und schmettern lautstark Widerstandslieder. Das Repertoire reicht vom jugoslawischen Partisan_innenlied „Po šumama i gorama“ bis zu Ton Steine Scherbens „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. In den Händen halten sie ein Transparent mit der Parole „We All Are Bosnian Workers“. Was hat es mit diesem Chor auf sich, was ist der Grund für diese „öffentliche Probe“?

Chor? Kollektiv? Politisches Projekt?

HOR 29 NOVEMBAR wurde am 29. November 2009 gegründet. Genau vierzig Jahre davor entstand in Wien der erste, längst nicht mehr aktive Gastarbeiter_innenverein Mladni Radnik („Junge Arbeiter“). Bratić: „Wir haben uns damals gedacht, man sollte auch einmal an solche verborgenen, versteckten geschichtlichen Ereignisse der Gastarbeit erinnern“. Anfangs als einmaliges Kunstprojekt geplant, hat der Chor mittlerweile an die siebzig Auftritte – vom Ost Klub bis zu den Wiener Festwochen – absolviert. Man definiert sich als selbstorganisiertes, offenes Kollektiv: „Jeder, der singen will, kann mitsingen. Wir haben kein Aufnahmeverfahren. Wir glauben auch, dass jeder singen kann. Das hat damit zu tun, dass wir uns nicht nur als Chor verstehen, sondern als politisch-künstlerisches Projekt. Die egalitäre Komponente ist dabei sehr wichtig“.

Von den sozialen Unruhen in Bosnien erfuhr der Chor über das Internet: „Wir haben es zuerst gar nicht geglaubt, dass so etwas überhaupt möglich ist, dass es entlang der sozialen Fragen zu Unruhen kommt. Das Nationale, Ethnische stand zwanzig Jahre lang im Vordergrund – und plötzlich kommt es zu sozialen Unruhen! In Tuzla gehen die Arbeiter auf die Straßen und bauen Barrikaden. Und es passiert plötzlich nicht nur in Tuzla, sondern in ganz Bosnien! Das ist für uns, die auf der Seite der Arbeitenden stehen, natürlich sehr interessant.“

Jeder, der singen will, kann bei HOR 29 NOVEMBAR mitsingen. Foto: Dieter Diskovic

Bosnischer Frühling oder ein kurzer Wutausbruch?

Seit Tagen finden in Bosnien und Herzegowina Proteste gegen Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und die derzeitige Politik statt. Ausgangspunkt der landesweiten Proteste war die einst wichtige Industriestadt Tuzla, wo Arbeiter und Arbeiterinnen am Mittwoch gegen die Schließung von vier privatisierten Staatsunternehmen auf die Straße gingen. Anstatt in die Unternehmen zu investieren, wurde ihr Vermögen verkauft und Konkurs angemeldet. Von den Schließungen sind 10.000 Menschen betroffen. Im Zuge der Proteste wurde das Gebäude der Kantonregierung trotz Polizeisperre gestürmt. Bereits am selben Tag kam es zu Protesten in Sarajevo, es folgten Zenica, Mostar, Bihać und anderen Städte.

„Bewerft die Polizisten nicht mit Steinen, da sie sonst Gewalt anwenden werden. Aber sollten sie mit Schlagstöcken auf euch losgehen, dann zeigt Widerstand, werft, zielt, zündet und schmeißt Autos um“, rief einer der Organisatoren der Proteste in Tuzla in sein Megafon. Und tatsächlich kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, die Gummigeschosse und Tränengas gegen die Protestierenden richtete. Es gab auf beiden Seiten Verletzte und es kam zu zahlreichen Festnahmen. In Sarajevo sollen in der Nacht von Freitag auf Sonntag Polizisten in Zivil Menschen verprügelt haben. In Zenica landeten Autos von Lokalpolitikern in einem Kanal. In mehreren Städten brannten Gebäude der Kantonalregierungen, Autos von Beamt_innen, in Mostar auch Parteizentralen und in Sarajevo das bosnische Staatspräsidium.

Längst sind nicht nur Arbeiter_innen und Arbeitslose auf den Straßen, die scheinbar apathische Bevölkerung Bosnien-Herzegowinas ist erwacht und ethnische Zugehörigkeiten spielen keine Rolle – zumindest noch nicht.

Das System schlägt zurück

„Dass die Armen, die Arbeiter und Arbeiterinnen hier ein gemeinsames Bewusstsein entwickeln, wird mit Sicherheit ganz stark von allen ethnischen Ecken angegriffen werden“, ist sich Bratić sicher. Tatsächlich versuchen Medien und Politik nun, die Proteste zu diskreditieren. So meinten etwa Nermin Nikšić, Ministerpräsident der Föderation, und Bakir Izetbegović, Mitglied des Staatspräsidiums, dass bei Demonstrierenden in Sarajevo Drogen gefunden worden wären. Der Pressesprecher des Innenministeriums (des Kantons Sarajevo) stellte jedoch klar, dass zwar tatsächlich am Freitag drei Drogendealer festgenommen worden wären, diese jedoch nichts mit den Protesten zu tun hätten. Valentin Inzko, österreichischer Diplomat und „Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina“ (oder aber mit den Worten  Bratićs: „Kolonialherr“), drohte gar mit dem Einschreiten von EU-Truppen. Auch von Hooliganismus ist die Rede. Der bosnische Schriftsteller Faruk Šehić sieht in den arroganten Politiker_innen die echten Hooligans – nicht in den jungen Menschen, denen sie die Zukunft geraubt haben. Nicht Hooligans zündeten Gebäude und Autos an, sondern das kollektive Bewusstsein junger Generationen, die ihre aufgestaute Wut auf den Straßen entluden. Laut Šehić war dies die einzige Möglichkeit, um von den echten Hooligans, den Politiker_innen, die schon seit Jahrzehnten Leben zerstören, beachtet zu werden.

Auch Ljubomir Bratić hinterfragt die Definition von Gewalt: „Leider muss es so sein, dass man ein paar Fenster zerschlagen muss, um wahrgenommen zu werden. Aber was ist Gewalt? Die Menschen jahrzehntelang hungern zu lassen und ganze Generationen zu zerstören, ist das keine Gewalt? Gewalt sind ein paar zerschlagene Fenster. Wer definiert das, was Gewalt ist?“

Die Proteste zeigen bereits erste Wirkung: Mittlerweile sind in den Kantonen Tuzla und Zenica-Doboj die Kantonalregierungen zurückgetreten, in Sarajevo und Bihać die Ministerpräsidenten der Kantonalregierungen. Der zurückgetretene Ministerpräsident des Kantons Sarajevo, Suad Zeljković, sieht in den Protesten „Elemente eines Staatsstreichs“, der Innenminister des Kantons, Nermin Pećanac, vermutet bezahlte Gruppen hinter den Protesten.

Dayton - eine komplizierte politische Konstruktion
Das Abkommen von Dayton, das 1995 den dreieinhalbjährigen Krieg in Bosnien und Herzegowina beendete, teilte den Staat in zwei Entitäten auf: die Bosnisch-Kroatische Föderation von Bosnien-Herzegowina und die Republika Srpska, mit jeweils eigener Regierung, eigenem Parlament sowie eigener Exekutive und Legislative (der Distrikt Brčko bildet ein Sonderverwaltungsgebiet). Daneben gibt es auch eine gemeinsame Regierung und ein Parlament für den Gesamtstaat. Das Staatspräsidium setzt sich aus jeweils einem Vertreter der drei konstitutiven Volksgruppen (Bosniak_innen, Kroat_innen und Serb_innen) zusammen, wobei der Vorsitz alle 8 Monate wechselt.

Das Abkommen hat Bosnien-Herzegowina damit nicht nur eine sehr komplizierte, sondern auch sehr teure und dysfunktionale Staatsstruktur auferlegt. Die Wirtschaft des Landes liegt am Boden, die Arbeitslosenrate  beträgt über 40%, ein Fünftel der Bevölkerung lebt in Armut, das Durchschnittseinkommen beträgt 420 Euro. Bratić: „Die Arbeitenden waren die großen Verlierer der Zerschlagung Jugoslawiens. Das Land ist deindustrialisiert, die Menschen leben in Armut, das war früher unvorstellbar. Ich wünsche ihnen, dass aus dieser Revolte eine dauerhafte soziale Kraft von unten entsteht. Das ist die einzige Lösung, die alle diese Ebenen überwinden kann. Aber es muss gelingen, den Angriff der Nationalen, aber auch den Angriff der neokolonialen Kräfte, die ebenfalls am Werk sind, abzuwehren. Die Forderungen der Bewegung sind aber sozial. Das sind keine nationalen oder ethnischen Forderungen. Die Menschen wollen leben - und zwar so gut wie alle anderen.“

HOR 29 NOVEMBAR solidarisiert sich mit den sozialen Kämpfen in Bosnien-Herzegowina. Foto: Dieter Diskovic

Solidarität aus Österreich

Beim Auftritt von HOR 29 NOVEMBAR vor der bosnisch-herzegowinischen Botschaft handelt es sich um eine symbolische Aktion: „Es geht nicht darum, solche Kämpfe hier nach Wien zu tragen, es geht darum, den Menschen dort zu zeigen: Es gibt Menschen außerhalb von Bosnien, außerhalb von Ex-Jugoslawien, die wahrnehmen, was ihr macht, die sich damit solidarisieren und zumindest symbolisch an dem Kampf, der letztendlich auch unser Kampf ist, teilnehmen.“

Im Zuge der Gezi Park-Besetzung war es 2013 auch in Wien zu zahlreichen kreativen Protesten von Teilen der türkischen Community gekommen. Hält Ljubomir Bratić eine ähnlich breite Solidaritätsbewegung der ex-jugoslawischen Community in Österreich für möglich? „Ich wünsche mir natürlich, dass es hier zu einer breiten Solidaritätsbewegung kommt, aber ich halte es für schwierig. Die ethnischen Linien in den ex-jugoslawischen Community sind auch in Wien sehr stark und zusätzlich gibt es noch ausgeprägte Klassenlinien. Es ist gibt eine Trennung zwischen den Hacklern und den bürgerlichen Schichten. Ende der 80er, Anfang der 90er hat es einen Bruch gegeben, als die Gastarbeiter-Kultur in die ethnische Schiene umgekippt ist. Momentan ist es das Wunderliche in Bosnien, dass genau dieses Ethnische verdrängt wird.“

 

Ljubomir  Bratić (geb. 1964) lebt in Wien. Er ist Philosoph, Sozialwissenschaftler, Publizist und Aktivist.

Manu Banu (geb. 1979) lebt in Wien und ist Studentin der Kultur- und Sozialanthropologie und ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der NGO EXIT.

Dieter Diskovic (geb. 1979), lebt in Wien. Er ist Student der Kultur- und Sozialanthropologie und als Sozialarbeiter tätig.

Mitternachtseinlage Geschichtsrevisionismus

  • 16.01.2014, 14:49

Am 24. Januar tanzen auf dem „Akademikerball“ wieder Burschenschafter und andere Kameraden in der Wiener Hofburg. Wes Geistes Kind diese Folgeveranstaltung des WKR-Balls ist, zeigt sich in ihrem Verhältnis zum Holocaust,ihren Geschlechterbildern und ihren Personalüberschneidungen mit der FPÖ.

Am 24. Januar tanzen auf dem „Akademikerball“ wieder Burschenschafter und andere Kameraden in der Wiener Hofburg. Wes Geistes Kind diese Folgeveranstaltung des WKR-Balls ist, zeigt sich in ihrem Verhältnis zum Holocaust,ihren Geschlechterbildern  und ihren Personalüberschneidungen mit der FPÖ.

Rechte Burschenschaften und antifaschistische Gruppen haben einen zentralen gemeinsamen Termin: Den Ball der Burschenschaften in der Wiener Hofburg Ende Januar. Jedes Jahr beginnt einige Wochen vorher eine öffentliche Debatte um diesen Ball, der sich von vielen anderen Veranstaltungen der Wiener Ballsaison dadurch unterscheidet, dass er ein Treffen reaktionärer Eliten ist. Mehrere Organisationen veranstalten Gegendemonstrationen, Kundgebungen und Blockaden, allesamt mit dem Ziel, dass der Ball in Zukunft nicht mehr – oder zumindest nicht mehr in der Hofburg – stattfindet.

Bis 2012 organisierte der Wiener Korporationsring (WKR) den Ball, der Name WKR-Ball hat sich bis heute inoffiziell gehalten. Der WKR ist ein Zusammenschluss von meist schlagenden Wiener Studentenverbindungen. Dort wird die Mensur gefochten, ein Kampf zwischen Mitgliedern der Männerbünde mit scharfen Waffen, der zumindest ohne Kopf- und Gesichtsschutz ausgetragen wird. Sie führt oft zu Narben im Gesicht, die im burschenschaftlichen Milieu nicht als gefährliche Verletzungen, sondern als Zeichen von „Ehre“ gelten.

Die Mitgliedsverbindungen des WKR sind selbst im konservativen Milieu der Studentenverbindungen als rechts bis rechtsextrem einzustufen. Die akademische Burschenschaft Olympia beispielsweise hatte 2005 den britischen Holocaustleugner David Irving zu einem Vortrag eingeladen, dieser wurde aber kurz vorher verhaftet. 2003 lud die Olympia am Folgeabend des WKR-Balls zu einem „nationalen Liederabend“ mit dem deutschen Neonazi-Liedermacher Michael Müller, von dem unter anderem eine Coverversion eines Klassikers von Udo Jürgens stammt: „Mit 6 Millionen Juden, da fängt der Spaß erst an. (...) Bei 6 Millionen Juden, ist noch lange nicht Schluss.“

Die FPÖ vermittelt

Nach breiten Protesten hat die Hofburg-Betreibergesellschaft aufgrund der „politischen und medialen Dimension“ des WKR-Balls 2012 angekündigt, ab 2013 nicht mehr als Veranstaltungsraum für den Ball der Korporierten zur Verfügung zu stehen. Seit 2013 mietet die Wiener Landesgruppe der FPÖ für den „Wiener Akademikerball Ballausschuss“ die Hofburg. Der „Wiener Akademikerball“, wie er seitdem heißt, ist die direkte Nachfolgeveranstaltung des WKR-Balls. Organisator Udo Guggenbichler sitzt für die FPÖ im Wiener Gemeinderat und ist Mitglied der schlagenden Burschenschaft Albia, die, wie die Olympia, neben ihrer Mitgliedschaft im WKR auch in der Deutschen Burschenschaft organisiert ist.

Gäste der vergangenen Jahre waren unter anderem Marine Le Pen, Vorsitzende des französischen Front National, Kent Ekeroth von den Schwedendemokraten und Philip Claeys vom belgischen Vlaams Belang sowie Anhänger der NPD. Die internationale Prominenz hielt sich 2013 allerdings zurück, nachdem beispielsweise Le Pen in Frankreich für ihren Besuch öffentlich Kritik einstecken musste. Auch Heinz-Christian Strache, Vorsitzender der FPÖ, war 2013 nicht auf dem Ball, hatte aber im Jahr davor, am 27. Januar 2012, dem internationalen Holocaust-Gedenktag und Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee, gemeinsam mit Guggenbichler die Eröffnungsrede des WKR-Balls gehalten. Auch sagte er dort Standard-Berichten zufolge, die Ballgäste seien „die neuen Juden“ und Attacken auf Burschenschafterbuden seien „wie die Reichskristallnacht gewesen. Diesen Vergleich mit der Reichspogromnacht wollte Strache im Nachhinein nicht als solchen verstanden wissen und wiederholte ihn dennoch im Zeit-im-Bild-Interview. Die Reichspogromnacht markierte im November 1938 den Beginn der systematischen Verfolgung von Juden und Jüdinnen im nationalsozialistischen Deutschland und Österreich. Trotz heftiger Kritik ist Strache weiterhin FPÖ-Vorsitzender und die FPÖ, deren Kanzlerkandidat er war, erreichte bei der vergangenen Nationalratswahl 20,5 Prozent der Stimmen. Nächste Woche, heißt es, wird er den Ball wieder besuchen.

Sexismus verpflichtet zur Verschwiegenheit

„Hast du eine Freundin, die weder schön noch still ist, kurz: bist du auf irgendeine Weise abnormal oder unfröhlich, dann bleib lieber zuhause.“ Dieser Satz aus einem Flugblatt der Olympia verdeutlicht das reaktionäre Frauenbild und die sexistische Vorstellung des Geschlechterverhältnisses der Burschenschaft. „Damen“ können „mitgebracht“ werden, sollen aber bitte dekorativ sein und allerhöchstens zustimmend nicken. Jede Form von Geschlecht und Sexualität jenseits repressiv-traditionalistischer Normen hat bei den strammen Burschenschaftern keinen Platz. Sie selbst hingegen, „natürlich“ ausschließlich Männer, besuchen den Ball sicher nicht zuletzt, um zu den burschenschaftlichen Netzwerken und Seilschaften Zugang zu erlangen, die auch in der österreichischen Politik- und Wirtschaftslandschaft noch immer von Bedeutung sind. Auf dem Ball bündelt sich allerdings lediglich, was neben großdeutscher Agitation immer ein Zweck der Verbindungen war: Karriere schmieden durch Kontakte.

Seit etwa 2008 formiert sich immer breiterer Protest gegen WKR- und Akademikerball. Mit Informationsveranstaltungen, Demonstrationen und Blockaden machen bürgerliche und zivilgesellschaftlich ebenso wie linksradikale Initiativen darauf aufmerksam, wer sich da in den repräsentativsten Räumlichkeiten Österreichs trifft. Seither wird über das Thema öffentlich diskutiert. Anfang Januar haben NS- und Holocaustüberlebende einen offenen Brief an die Hofburg-Betreibergesellschaft, Kanzler und Bundespräsident geschrieben und gefordert, den Ball aus der Hofburg zu verbannen. Bisher reagierten diese nicht darauf. Im Brief erklären sich die Überlebenden „fassungslos, dass die im Eigentum den Republik stehende Hofburg noch immer ihre Tore für Vertreter und Vertreterinnen rechtsextremer Vereine aus Österreich und Europa öffnet“.

Es gibt verschiedene linke Gegenbewegungen zum Akademikerball. progress online stellt diese hier in Kurzinterviews vor:

Partykommunismus am WTF-Ball

Antifaschismus ist notwendig, aber nicht ausreichend - NOWKR

Menschenblockade gegen Burschenschaften - Offensive gegen Rechts

 

Der Autor studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Eine pluralistische Bewegung

  • 07.12.2013, 18:25

Seit Wochen besetzen Studierende das Hauptgebäude der Universität von Sofia. Über die bulgarische Protestbewegung sprach Mona El Khalaf mit einem der BesetzerInnen.

Seit Wochen besetzen Studierende das Hauptgebäude der Universität von Sofia. Über die bulgarische Protestbewegung sprach Mona El Khalaf mit einem der BesetzerInnen.

Bereits seit Anfang Februar 2013 wird in Bulgarien protestiert. Während die Proteste im ärmsten EU-Mitgliedsstaat anlässlich der hohen Strom- und Heizkosten entflammten, wurden mit der Zeit auch Korruption und Vetternwirtschaft sowie Privatisierungen zu Themen der heftigen Anti-Regierungsproteste. Die konservative Regierung warf unter zunehmendem Druck der RegierungsgegnerInnen Ende Februar das Handtuch. Seit den Parlamentswahlen Ende Mai steht der parteilose Finanzexperte Plamen Orescharski an der Regierungsspitze und wird von den SozialistInnen und der türkischen Minderheitenpartei DPS gestützt. Die Proteste halten unvermindert an. Die Kritik gilt weiterhin neoliberalen Reformen und dem radikalen Abbau des Sozialstaates. Die Bevölkerung fordert einen grundlegenden Systemwechsel.

Auch der 27-jährige Bulgare Peter Dobrev sieht das so. Der Geschichtestudent ist seit mehreren Wochen an der Besetzung der Universität Sofia beteiligt.

progress: Peter, wie ist es zur Besetzung des Hauptgebäudes der Universität Sofia gekommen?
Peter Dobrev: Die Anti-Regierungsproteste in Bulgarien begannen schon im Februar, die Uni wurde erst im Oktober besetzt. Etwa 20 Leute haben den größten Hörsaal der Universität in Beschlag genommen. Zwei Tage später war beinahe das gesamte Hauptgebäude besetzt. Von da an waren täglich zwischen 200 und 300 Studierende da.

Wann hast du dich der Protestbewegung angeschlossen?
Ich wurde erstmals mit der Besetzung aktiv, weil mir diese Art des Protestes gefällt. Zuerst dachte ich, dass wieder nur Rücktrittsforderungen an die Regierung und die Verbreitung antikommunistischer Slogans im Vordergrund stehen werden. So war’s nämlich bei den Protesten im Sommer. Aber dann wurde ich durch die Herangehensweise der BesetzerInnen angenehm überrascht.

Was war neu an der Besetzung?
Die Besetzung und das Zusammenleben in der Uni haben uns stimuliert. Es hat sich ein wirklich intensives intellektuelles Leben entwickelt. Wir haben Arbeitsgruppen gegründet und uns mit Themen wie Armut, dem Gesundheitssystem, Immigration und Bildung auseinandergesetzt. Unsere Parteien reden über solche Themen nicht.

Welche Resultate haben die Arbeitsgruppen erzielt?
In der mittlerweile veröffentlichten Bildungserklärung geht es darum, dass wir eine Bildung wollen, die intellektuell unabhängige und kritische Personen hervorbringt. Die Geistes- und Sozialwissenschaften sollten wieder eine größere Rolle spielen und von staatlicher Seite mehr gefördert werden. Derzeit fließen die Gelder vor allem in Fächer in Zusammenhang mit Wirtschaft, die sich mit den neoliberalen Vorstellungen unserer Parteien decken. Unsere Bildung sollte aber auch unsere Zivilgesellschaft stärken. Zur Veröffentlichung der Erklärung zum Thema Gesundheit ist es leider nicht gekommen, obwohl sie schon sehr ausgereift war. Da haben MedizinstudentInnen und ProfessorInnen mitgearbeitet, also jene Leute, die die wirklichen Probleme in diesem Bereich kennen. Im Mittelpunkt stand die Forderung, dass Gesundheitsversorgung ein Recht und kein Privileg sein soll.

Die Soziologin Mariya Ivancheva beschrieb die BesetzerInnen als antikommunistisch, neoliberal, an sozialen Themen uninteressiert. Wie würdet ihr euch beschreiben?
Unter uns BesetzerInnen gab es eine große Vielfalt an Meinungen und Zielen. Einige waren neoliberal, andere antikommunistisch und andere wiederum links eingestellt. Ich würde insgesamt von einer sehr pluralistischen Bewegung sprechen. Zudem würde ich sagen, dass wir uns sehr viel mit sozialen Themen auseinandergesetzt haben. Wie sieht es derzeit mit der Uni-Besetzung aus? Nur noch ein einziger Hörsaal ist besetzt, die Besetzung naht ihrem Ende. Außerdem hat die Bewegung viel von ihrer intellektuellen Dynamik verloren. Die Luft ist draußen. Es geht jetzt vor allem um Aktionen beim Parlament.

Wodurch erklärst du dir diesen „Verlust der Intellektualität“?
Vielleicht waren zu viele heterogene Kräfte am Prozess beteiligt. Die eine Gruppe setzte auf intellektuelle Debatten. Die andere Gruppe hat sich auf den Rücktritt der Regierung und öffentliche Protestaktionen konzentriert – darunter auch die InitiatorInnen der Uni-Besetzung. Du kannst den Rücktritt aber nicht durch die Proteste auf der Straße erzwingen. Und selbst wenn die Regierung zurücktritt, würde das nichts ändern. Aus meiner Sicht liegt der Schlüssel zur Veränderung darin, dass die neuen Denkanstöße der Besetzungsbewegung mit der Regierung verhandelt werden – aber auch das wird wohl so bald nicht passieren.

Bei den Protestaktionen vor dem Parlament kam es mitunter zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Demonstrierende wurden verhaftet und RegierungsgegnerInnen sollen von den Sicherheitsbehörden überwacht werden.
Das ist alles sehr problematisch. Vor allem das Überwachungsthema wird zurzeit viel diskutiert. Viele Studierende haben Angst überwacht zu werden. Die Regierung versucht mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben.

Wie geht es in den nächsten Wochen weiter?
Fest steht, dass die Zahl der Protestierenden auf der Straße von Tag zu Tag abnimmt. Ich kann mir aber vorstellen, dass die Proteste im Jänner oder Februar wieder aufflammen – dann werden die alljährlichen Heiz- und Stromrechnungen fällig und die Leute spüren den Druck der Krise wieder.

Was nimmst du an Positivem aus den Protesten mit?
Wir haben eine neue Sprache entwickelt – fernab vom vorherrschenden Mainstream und dem neoliberalen Paradigma unserer politischen Parteien. Das war nicht nur sehr bereichernd, sondern tatsächlich etwas Neues.

Mona El Khalaf hat Internationale Entwicklung und Arabistik an der Universität Wien studiert und ist freie Journalistin.

Ausgebremste Beschleunigungsreform

  • 11.04.2014, 19:32

Das Beispiel Dänemark zeigt, dass eine linke Minderheitsregierung, Studienplatzfinanzierung und Zugangsbeschränkungen nicht gegen Einsparungen bei Universitäten und Stipendien schützen. Der Widerstand einer aktiven Studierendenbewegung aber möglicherweise schon.

Das Beispiel Dänemark zeigt, dass eine linke Minderheitsregierung, Studienplatzfinanzierung und Zugangsbeschränkungen nicht gegen Einsparungen bei Universitäten und Stipendien schützen. Der Widerstand einer aktiven Studierendenbewegung aber möglicherweise schon.

Als im November vergangen Jahres circa 8.000 Studierende in der Kopenhagener Innenstadt demonstrierten, drehte sich alles ums Thema Geschwindigkeit. Parolen wie „Schneller raus – Nein danke“, „Beeil dich langsam“ und „Freiheit zur Vertiefung“ waren zu lesen und zu hören. Die meisten Fakultäten und Institute der Universität Kopenhagen waren blockiert und auch an den Unis in Roskilde, Odense und Århus fanden Protestaktionen statt.

Vollzeitstudium als Pflicht. Die Slogans richteten sich gegen die im April 2013 vom Parlament fast einstimmig beschlossene „Beschleunigungsreform“, mit der die durchschnittliche Studienzeit der dänischen Studierenden verringert werden soll. Vorgesehen sind Verschärfungen im dänischen Stipendiensystem, neue Regeln für die Prüfungs- und Studienadministration und Änderungen bei der Finanzierung der Universitäten.

Derzeit haben dänische und gleichgestellte ausländische Studierenden, für die Mindeststudienzeit samt einer Reserve von zwölf Monaten Anspruch auf die mit circa 710 Euro bemessene Studienbeihilfe. Die Reform sieht jedoch vor dieses Recht strikt an den Studienerfolg zu koppeln: Wer mehr als 30 ECTS in Verzug gerät, verliert den Anspruch, bis die Verzögerung wieder eingeholt ist. Des Weiteren soll eine verpflichtende Anmeldung zu Kursen und Prüfungen im Umfang von 60 ECTS pro Jahr eingeführt werden. Wer ein Fach nicht besteht, muss dieses im darauffolgenden Semester zusätzlich wiederholen. Diese Maßnahmen werden von vielen Studierenden als Gängelung empfunden.

Auch die Universitäten werden durch die Reform in die Pflicht genommen, ihre Studierenden zu schnelleren Abschlüssen anzutreiben. Laut Angaben der Unis wurden die Mittel der Studienplatzfinanzierung im Laufe der letzten 20 Jahre um insgesamt 20 Prozent gekürzt. Dies hat sie zunehmend von anderen öffentlichen Mitteln abhängig gemacht, deren Vergabe jetzt an die Senkung der Durchschnittsstudienzeit gekoppelt wird. Für die Universität Kopenhagen beispielsweise stehen circa 46,2 Millionen Euro auf dem Spiel.

Die Universitätsleitung plante daher ein Verbot von Studienunterbrechungen und eine Verpflichtung, Lehrveranstaltungen im Ausmaß von mindestens 45 ECTS pro Jahr abzuschließen. Auch deshalb blockierten die Kopenhagener Studierenden ihre Universität und gingen zahlreich auf die Straße.

Neue Protestformen. Die Protestaktionen der Studierenden im November zeigten vorläufig Wirkung. Noch am selben Tag nahm das Rektorat der Universität Kopenhagen Abstand von den ursprünglichen Plänen und lud die Studierenden ein, gemeinsam an der Umsetzung der politischen Anforderungen zu arbeiten. Protestaktionen und Blockaden anlässlich öffentlicher Auftritte des Unterrichtsministers Morten Østergaard fanden aber weiterhin statt. Auch Universitätsleitungen äußerten sich vermehrt kritisch gegenüber der Reform, die sie als Bürokratisierung erleben. Als Reaktion wurde die Reform nun vorerst um ein Jahr verschoben.

Regierung und Studierende interpretieren diese Entscheidung jedoch unterschiedlich: Østergaard konstatierte trotzig, dass die „Demonstrationen an sich nichts bewegt haben“. Die Studierenden hingegen verbuchen die Verzögerung als Erfolg. Auch Magnus Pedersen, ehemaliger Vorsitzender der landesweiten Studierendenorganisation DSF, sieht den Aufschub als Reaktion auf die Proteste: „Das war ein wichtiger symbolischer Sieg. Es ist mit einer Ausnahme das erste Mal, dass die derzeitige Regierung eine politische Maßnahme nach öffentlichem Druck wieder zurückzieht.“

Magnus führt diesen Erfolg auf eine Änderung der Strategie der Studierendenbewegung zurück: „Bis 2003 waren außerparlamentarische Protestformen bei vielen Studierendenorganisationen statutenmäßig ausgeschlossen.“ Dies änderte sich nachdem die damalige konservative Regierung eine Entdemokratisierung der Universitäten beschloss: „Die Teilnahme in Gremien war bedeutungslos geworden. Plötzlich brauchte man neue Waffen.“ Auf Universitäts- und Institutsebene konnten mit Blockaden und Demonstrationen schnell Erfolge erzielt werden und es gelang mehrmals Stipendienkürzungen abzuwehren. Folgen waren eine gesteigerte Akzeptanz der neuen Protestformen und die Politisierung vieler Studierender. „Diese Entwicklung führte zu der kräftigen Beteiligung Ende des Jahres. Die Studierenden ernten jetzt die Früchte jahrelanger Mobilisierungsarbeit“, erklärt Magnus.

Weitere Reformen. Im Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzung rund um die Beschleunigungsmaßnahmen stehen tiefergehende Veränderungen des dänischen Universitätssystems und des Arbeitsmarkts. 2012 gaben 80 Prozent der dänischen Studierenden an, neben ihren Studien zu arbeiten, und zwar durchschnittlich über 12 Stunden pro Woche. Lange Studienzeiten scheinen auch eine Konsequenz davon zu sein. Für viele Studierende ist die Berufstätigkeit aber notwendig – um ihren Unterhalt bestreiten zu können und um die eigenen Chancen am angespannten Arbeitsmarkt zu erhöhen. 27,9 Prozent der dänischen Uni-AbsolventInnen, deren Abschluss weniger als ein Jahr zurückliegt, sind derzeit arbeitslos. Diese Trends werden durch die Reform noch verstärkt, und damit der Druck auf die Studierenden erhöht.

Seit dem Aufschub der Reform bewegt sich die öffentliche Debatte nun in andere, nicht weniger umstrittene Richtungen. Ende Dezember vermeldete Østergaard, dass die Anzahl an Studienrichtungen reduziert werden müsse, um es ArbeitgeberInnen leichter zu machen AbsolventInnen anzustellen. Im Januar regte eine im Vorjahr eingesetzte Produktivitätskommission im Einklang mit mehreren Uni-RektorInnen an, die Vergabe von Studienplätzen direkt an den Bedarf am Arbeitsmarkt zu koppeln. Die im Februar neu bestellte Unterrichtsministerin, Sofie Carsten Nielsen, deutete bei ihrer Angelobung an, den Reformkurs ihres Vorgängers fortsetzen zu wollen. Dänische Studierende werden also wohl auch in Zukunft einige Gründe haben, auf die Straße zu gehen und auf die Reformbremse zu steigen.

Robin Tschötschel studiert Global Studies an der Universität Roskilde und lebt in Kopenhagen.