Buchrezension

„Ich bin nicht auf der Reise zu den Wurzeln“

  • 21.01.2015, 15:11

Die israelische Zeichnerin Rutu Modan illustriert in ihrer Graphic Novel „Das Erbe“ Verwicklungen im Bermudadreieck Familie-Geld-Liebe

Die israelische Zeichnerin Rutu Modan illustriert in ihrer Graphic Novel „Das Erbe“ Verwicklungen im Bermudadreieck Familie-Geld-Liebe

Mica Segal, ehemalige Krav-Maga-Trainerin in der israelischen Armee und aktuell Radio-Redakteurin, reist mit ihrer Großmutter Regina nach Warschau, um im Zweiten Weltkrieg verloren gegangen Familienbesitz zu finden. Im Schlepptau: Ein unsympathischer, aufdringlicher und übergriffiger Bekannter der Familie, der die Vorhaben der beiden Frauen immer wieder stört, unterbricht oder unterwandert.

Dies wird ihm zugegebenermaßen durch die Launigkeit und die ständigen Gemütswechsel der Großmutter sehr einfach gemacht: Kaum angekommen, erklärt sie ihre eigene Mission als beendet, lässt ihre Enkelin in der Stadt stehen und gibt vor, sich lieber dem Shopping und Sightseeing widmen zu wollen: Oma als „enfant terrible“.
"Ich bin nicht auf der Reise zu meinen Wurzeln"

Der klare, subtile Stil der Autorin Rutu Modan ermöglicht es der Leserin, den zahlreichen Fäden und Linien zwischen den Themen zu folgen. Familienthriller? Liebesgeschichte? Medienkritik? Holocaustliteratur? All das, nichts davon und gleichzeitig viel mehr. Sie macht auch nicht vor unbequemen Vorurteilen oder Antisemitismen halt. Über die üblichen Identitätsfragen zeigt sich Modan erfrischend erhaben: „Ich bin nicht auf der Reise zu den Wurzeln“, erklärt Mica Segal bestimmt auf die Spöttelei, was eine junge jüdische Frau denn bitte nach Warschau treibe.

Geschichte, gestohlen.  Interessant bei Modans Graphic Novel ist die Entscheidung des deutschen Verlages, sich bei der Übersetzung des Titels für das Wort „Erbe“ zu entscheiden. Im Englischen heißt das Buch „The Property“, was eins auch mit „der Besitz“ oder „das Besitztum“ übersetzen könnte. Dieser Begriff erscheint oft als der bessere Titel, da es sich in der Geschichte nicht ausschließlich um einen klassischen Erbschaftsstreit handelt.

So spielt Modan in ihrem Comic selbstrefenziell mit der Frage, wessen Eigentum eigentlich (Familien-)Geschichten und Biografien sind, indem sie ihre Protagonistin auf einen polnischer Comic-Zeichner treffen lässt, der sich von Micas Familiengeschichte prompt zu einem Kunstwerk inspirieren lässt. „Blutsauger!“, quittiert Mica seinen Diebstahl, jagt den jungen Mann fort, behält und versteckt seine Zeichnungen. „Hau ab, oder ich ruf die Rezeption an. Ich sag’ ihnen, ein junger Antisemit greift mich an.“

Wie und ob eins (insbesondere Holocaust-)Geschichte thematisieren kann, fragt Modan auch in scheinbaren Randnotizen zu Museen, akkuraten architektonischen Nachbauten, Führungen für Schulklassen und historischen Nachstellungen („Reenactments“, wortwörtlich übersetzt sogar „Wiederbetätigungen“). So wird Mica Segal in der Graphic Novel sogar versehentlich von „Nazis“ verschleppt.

Grafiken zum Hören und Fühlen. Erstaunlich sympathisch ist die Darstellung von Gemurmel oder für die Protagonistin Unverständlichem: Modan kritzelt einfach Wellenlinien in die Sprechblasen. Die Bedeutung erschließt sich für die Leserin aus dem Bild, dem Kontext, die genauen Worte sind irrelevant und daher durch Geschmiere gut repräsentiert. So schafft die Autorin mitunter, in der Graphic Novel eine unkonventionelle bildliche Entsprechung von akustischen Phänomenen wie Geflüster zu malen.

Dies ist nicht die einzige Wechselwirkung zwischen Film und Bild bzw. Comic: Mit dem Arrangement der Panels und Bilder schafft Modan Erstaunliches. Der Lärm und die Unruhe der Schulklasse im Flugzeug in einer der Anfangsszenen sind beim Lesen beispielsweise regelrecht zu hören und zu spüren. Eine sinnreiche Graphic Novel – in jeder Hinsicht.

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

Rutu Modan, Das Erbe. Carlsen Verlag, 240 Seiten, 14,90 Euro.

Lesestoff für den Sommer

  • 02.08.2014, 09:01

Für faule Nachmittage am See, lange Zugfahrten oder als Abwechslung zum faden Ferienjob. progress empfiehlt vier Neuerscheinungen für die heiße Jahreszeit.

Für faule Nachmittage am See, lange Zugfahrten oder als Abwechslung zum faden Ferienjob. progress empfiehlt vier Neuerscheinungen für die heiße Jahreszeit.

Wie sollten wir sein?

„Wir leben in einer Zeit ziemlich großartiger Blowjob-Künstlerinnen. Jede Ära hat ihre Kunstform. Das 19. Jahrhundert, das weiß ich, war super für den Roman.“ Ein bisschen ist Sheila Hetis Roman wie die HBO-Serie „Girls“. Er handelt von schlechtem, ungeschöntem Sex und von Kunst, vor allem aber geht es um die Freundschaft zwischen zwei Frauen. Als „Wie sollten wir sein?“ 2012 in den USA erschien, wurde es zum großen Erfolg. Zu Recht. Der Kanadierin Sheila Heti ist ein Künstlerroman gelungen, der ganz ohne Form auskommt und die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Literarischem auflöst. Eine junge Frau namens Sheila soll seit Jahren ein feministisches Theaterstück fertigschreiben, lässt sich von ihrem Mann scheiden und führt mit ihrer besten Freundin, der Malerin Margaux, zahllose Gespräche darüber, was der Mensch, das Ich, die Kunst sein sollte. „Margaux ergänzt mich auf eine Weise, die spannend ist. Sie malt mich, und ich nehme auf Band auf, was sie sagt. Wir tun beide, was wir können, damit die andere sich berühmt fühlt.“ Die transkribierten Gespräche sind dann auch ein großer Bestandteil von Hetis Roman, der in seiner Stillosigkeit alles sein kann: geschwätzig, banal, klug, berührend und komisch. Antworten gibt er im Übrigen keine. (Sara Schausberger)

Sheila Heti: „Wie sollten wir sein? Ein Roman aus dem Leben“, aus dem Amerikanischen von Thomas Überhoff, Rowohlt Verlag, 2014, 336 S., gebunden 19,95 Euro, als e-book 16,99 Euro.

 

Mit Kindersicherung der Apokalypse entgegen

Jess ist 15, und allein schon die Nennung dieses Alters reicht ja, die Dämonen der späten Kindheit, die erwachenden Begehrlichkeiten des ungeschlachten Körpers, die ganze geballte Unzufriedenheit und fahrige Euphorie zu beschwören. Der Fall von Jess ist aber noch ein bisschen härter; sie ist die Tochter fundamentalistischer Christen, die glauben, dass die Endzeit unmittelbar bevorsteht, weshalb sie mit Jess und ihrer 17-jährigen Schwester Elise einen Roadtrip von Alabama nach Kalifornien unternehmen – mit aktivierter Kindersicherung der Apokalypse entgegen. Elise ist Vegetarierin, unglaublich hübsch und heimlich schwanger, während Jess, die pummelige Ich-Erzählerin, mit ihren Eltern von Fiesta Omelette zu Hamburger, von Schoko-Milchshake zu Bean Burrito zieht. Geschlafen wird in billigen Motels oder im Days Inn, die Familie ist sparsam, obwohl sie das Geld im Jenseits ja nicht mehr braucht. Das Bemerkenswerte an diesem Buch ist, dass das Szenario nie zum Ausnahmezustand gerät; die Figuren sind alle so himmelschreiend normal und plausibel – die schwitzige Autonähe, die schlecht verheimlichte Arbeitslosigkeit des Vaters. Dieses Buch ist eine großartige Mischung aus klassischem Road Trip, Coming of Age und liebevoll angeekelter Phänomenologie der amerikanischen Gegenwart. (Hannah Lühmann)

Mary Miller, „Süßer König Jesus“, aus dem Amerikanischen von Alissa Walser, Metrolit Verlag, 2. Auflage Berlin 2013, 288 S., gebunden 19,99 Euro, als e-book 14,99 Euro.

Geniale Fingerübung

In der deutschen Feuilletonlandschaft taucht in jüngster Zeit immer dann das Wort „Institutsprosa“ auf, wenn der Rezensent oder die Rezensentin darauf hinaus möchte, dass ein Werk, vorzugsweise ein Debüt, irgendwie „blutleer“ und „erfahrungsarm“ sei und man ihm anmerke, dass der Autoroder die Autorin einem bildungsbürgerlichen Elternhaus entstammt, welches ihm oder ihr das Studium an einem der großen Literaturinstitute ermöglicht habe. Fabian Hischmann, der sowohl am Hildesheimer als auch am Leipziger Literaturinstitut studiert hat, hatte es nach Erscheinen seines Debüts nicht leicht, weil sich die RezensentInnen förmlich auf ihn stürzten und in seinem Roman eine „Fingerübung“ oder gar „infantile Hilfsverb-Prosa“ sahen. Neben diesen rezensorischen Gleichgültigkeits- bis Wutbekundungen steht die Nominierung für den Leipziger Buchpreis. Was ist los mit diesem Buch? Es ist ein solider, am Anfang wirklich und am Ende nur noch sanft verstörender, nun ja, Debütroman. Er erzählt die Geschichte des werdenden Lehrers und Hobbytierfilmers Max Flieger, der während eines Griechenlandurlaubs der Eltern in sein westdeutsches Herkunftsdorf zurückkehrt. Aus einem beunruhigenden Geflecht latent psychotischen Naturerlebens erhebt sich die reale Katastrophe, die den Ich-Erzähler nach Kreta und schließlich nach New York führt. Ziemlich großes Kino eigentlich. (Hannah Lühmann)

Fabian Hischmann, „Am Ende schmeißen wir mit Gold“, Berlin Verlag, 2. Auflage Berlin 2014, 256 S., gebunden 19,60 Euro, als e-book 14,99 Euro.

Der Nazienkel

Es ist die Geschichte von Martin, der jeden Abend das gleiche Ritual vollzieht, den exakt vermessenen Aufstrich in kleinen Portionen auf verschiedene Stellen des Tellers verteilt, der seine Zigarre mit der Laubsäge portioniert, „weil Tabak Laub ist“. Martin ist Anthroposoph, „Kulturmensch“, körperlich behindert, die Nazis wollen ihn sterilisieren lassen. Es ist aber auch die Geschichte von Martins Bruder Friedrich. Friedrich wird Abteilungsleiter im Rasse- und Siedlungshauptamt der SS. Er glaubt, dass körperliche Eigenschaften natürlicher Ausdruck von „Rasse" und Charakter seien; seine Aufgabe ist es, die Bevölkerung in den Grenzgebieten zu selektieren, zu entscheiden, wer „eingedeutscht“ werden soll und wer nicht. Und es ist die Geschichte von Friedrichs Enkel Per, einem deutschen Historiker, der zu Beginn der Handlung einen etwas plakativen Nazi-Enkel- Trauma-Zusammenbruch erleidet und dann beginnt, in einem Akt biographischer Selbstermächtigung der verästelten Geschichte seiner uralten protestantischen Bildungsbürgerfamilie nachzuspüren. Leos autobiographisches Buch ist besonders, weil es, wenn es das Genre „Aufarbeitungsliteratur von Nazienkeln“ gibt, dieses völlig neu verhandelt. Es ist gleichzeitig Bildungsroman von fast Thomas Mann’schem Geist, historische Forschungsarbeit und existenzielle Grundsatzreflexion. Nicht immer leicht zu lesen, aber unbedingt lesenswert. (Hannah Lühmann)

Per Leo, „Flut und Boden“, Klett-Cotta, zweite Auflage Stuttgart 2014, 350 S., gebunden 21,95 Euro, als e-book 17,99
Euro.

Zungenkrebs reimt sich auf Lungenkrebs

  • 07.12.2013, 21:17

Die Dauerkunststudentin und Bloggerin Stefanie Sargnagel jobbt seit Jahren im Callcenter und kotzt sich darüber hochpoetisch auf Facebook aus.

Die Dauerkunststudentin und Bloggerin Stefanie Sargnagel jobbt seit Jahren im Callcenter und kotzt sich darüber hochpoetisch auf Facebook aus.

Wenn eine noch ziemlich junge und schon ziemlich bekannte Bloggerin ein Buch veröffentlicht, das eine Aneinanderreihung von Facebook- und Tagebucheinträgen ist, und es in diesem Buch noch dazu in erster Linie um Alkoholexzesse, Körperausscheidungen, Sex und das Subproletariat geht, um eine junge, angeblich weitestgehend erfolglose Version des Autorinnenichs, die im Gemeindebau lebt, sich selten die Beine rasiert und am Arbeitsplatz regelmäßig und manchmal laut furzt, dann will man das Buch ja am liebsten erst einmal gar nicht aufschlagen, weil man befürchtet, das könnte so eine weitere kokette Selbstinszenierung sein, in der jemand versucht, sein behauptetes Scheitern zu Minuten-Poesie zu verwursten. An Lieblings-Drogi Mifti von Helene Hegemann kommt ja eh niemand ran, und von Charlotte Roche hatte man schon vor dem ersten geschriebenen Satz genug. (Dass diese beiden grundverschiedenen Autorinnen hier nur aus sexistischer Bequemlichkeit in einem Satz erwähnt werden, weil sie irgendwie jung, irgendwie abgefuckt und weiblich sind, muss hier natürlich auch erwähnt werden.)

Herrlich hirnrissig. Aber zum Glück legt man „Binge Living“, so der Titel des Debüts der dauerprekären Wiener Sauf-Bohémienne Stefanie Sargnagel, die bei Daniel Richter Malerei studiert, dann doch nicht zur Seite. Im Dezember 2008 geht es los, da schaut sich Sargnagel Kindheitsvideos an, isst dazu Fischstäbchen und weint in ihren Gute-Laune-Tee. Es wird schlimmer. „Ist das noch Kater oder schon Entzug?“, fragt Sargnagel die Netzgemeinschaft irgendwann im Sommer und raucht regelmäßig Tschick „bis ihr die Lungen bluten“. Außerdem fängt sie an, in einem Callcenter zu arbeiten, wo sie die „Weihnachtsfloskeln“ der AnruferInnen „auf schmerzhafte Weise“ daran erinnern, „ein Mensch zu sein und kein Roboter“. Daher auch der Untertitel „Callcenter-Monologe“, denn ein erheblicher Teil des Buches besteht aus Dialogen, die so herrlich hirnrissig sind, dass man sich nicht sicher ist, ob Sargnagel sie erdichtet hat oder ob es solche AnruferInnen tatsächlich gibt. Der eine bestellt schmatzend einen Schweinsbraten, die andere will „die Nummer von der Waschmaschine“ wissen und der nächste gleich seine eigene Verhaftung wegen Belästigung erwirken.

„Binge Living“, das kommt natürlich von „Binge Drinking“ und meint das Gesamtlebensäquivalent zum exzessiven, unlustvollen Jugendtrinken, das nicht originär auf das Koma hinarbeitet, dieses aber willig in Kauf nimmt, das jeglicher Ästhetik entbehrt und hauptsächlich von sozial benachteiligten Jugendlichen in Großbritannien betrieben wird, mehr und mehr aber auch von JungakademikerInnen, die sich mit Mitte 20 fragen, ob die 30 Zigaretten und mindestens fünf Bier drei- bis viermal die Woche eigentlich noch in irgendeiner Weise normal sind. Stefanie Sargnagel sagt das an einer Stelle in Bezug auf ihre unaufgeräumte Wohnung so: „Ich glaube, ich habe die Schwelle ‚sympathisches Studentenchaos’ nun überschritten und bin bei ‚ernstzunehmende pathologische Verwahrlosung’ angelangt.“ Es sind solche Sätze und die Bereicherung durch hochrelevante Miniaturwahrheiten wie die Begriffsschöpfung „sexually transmitted depressions“ sowie bemerkenswerte und unbedingt erhellende Erkenntnisse wie die, dass sich Zungenkrebs auf Lungenkrebs reimt, für die man sich beim Lesen in die pöbelnde Saufnudel verliebt, die lieber zur Biker-Party will statt zur Vernissage.

Es ist ja so eine komische Frauenliteraturkritikerinnenfloskel, zu sagen, dass man sich eine Autorin nach der Lektüre ihres Buches als beste Freundin wünscht, aber nach etwa der Hälfte von „Binge Living“ verspürt man das dringende Bedürfnis, Stefanie Sargnagel zu googeln. Hat man es dann getan und sich davon überzeugt, dass man das Mädchen mit der roten Kappe, die Sargnagel auf allen digitalen Kanälen geschickt als Wiedererkennungsmerkmal einsetzt, immer noch nicht doof findet, obwohl man das eigentlich gerne würde, weil sie viel zu gut schreiben kann, hat man doch zumindest Lust, sehr bald sehr viel mit ihr zu trinken. Oder sie könnte einem einmal pro Woche per E-Mail einen Witz zuschicken oder eine ihrer lakonischen, kunstvoll einfachen MS-Paint-Kraxelzeichnungen, die im Buch den existenziell vor sich hingammelnden KünstlerInnenalltag illustrieren. Dann ginge es einem sicher langfristig besser. Und wenn das nicht geht, würde man gerne aus Rache anfangen, die meist nur wenige Zeilen langen Statusmeldungen zu klauen und sie einfach auf Facebook als die eigenen auszugeben.

Angekotzte Dauerironie. Das würde aber wohl leider nicht funktionieren, weil Sargnagels Sprache von ziemlich unverwechselbarer Eigenheit ist. Ihr Stil erzeugt den Sound verstörter Dauerbelustigung, als würde ein zugedröhntes, sprachgewaltiges Kind durch eine Horrorfilmkulisse laufen. Manche der Einträge sind länger, es sind Miniaturreportagen auf 30 Zeilen. Sargnagel in Russland, Sargnagel in Albanien und Marokko: „Den Bettlern geben wir nichts, wir wollen sie nicht verziehen.“ Das sagt alles. Sargnagel schreibt regelmäßig für das notorische VICE-Magazin, aber sie ist eine der wenigen AutorInnen, welche die von VICE habitualisierte angekotzte Dauerironie auf so fein dosierte Weise beherrschen, dass sie zur sprachlichen Grundhaltung wird. Dadurch sind ihre teils absurd überspitzten und extrem spielerischen Beiträge nie peinlich privat. So authentisch das alles sein mag, beim Lesen jedenfalls wird die Callcenter-Jobberin zur sympathischen Kunstfigur.

Auch wenn „Binge Living“ eine Sammlung von Facebook-Einträgen ist, muss man diese in dem Moment, in dem sie in einem Buch versammelt sind, als den Versuch erzählender Literatur betrachten – als überaus gelungenen Versuch, dem man gerne das etwas bescheuerte Prädikat „Entwicklungsroman mit rhythmischer, fast lyrischer Komposition“ verleihen würde. Ob im Moment jedes einzelnen Postings intendiert oder nicht – Sargnagel erzählt eine wohlkomponierte Geschichte mit dramatischen Wendungen und Höhepunkten. Am Ende geht sie sogar einmal joggen. Natürlich ist „Binge Living“ irgendwie auch ein Generationenbuch und die schlunzige, teilsoziophobe Protagonistin in ihrer Callcenter- Prekarität irgendwie politisch – vor allem aber geht es um einen in Humor gewendeten Gesamtekel, der ziemlich allgemeingültig ist.

 

Hannah Lühmann hat in Berlin Kulturjournalismus studiert und schreibt als freie Journalistin für die FAZ, ZEIT online und die Berliner Zeitung.

Sich zu verlieben, heißt Souveränität einzubüßen

  • 14.04.2014, 10:58

Es ist nicht so einfach, wie manche es gerne hätten. KritikerInnen, Konservative wie FeminstInnen, stießen sich daran und taten es ab - als literarisch zu schlecht, zu pornografisch, zu sexistisch. Das Etikett Mamiporno klebt fest auf den Seiten von Shades of Grey. Die israelische Universitätsprofessorin Eva Illouz hat sich in Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey  dem Phänomen Shades of Grey aus soziologischer Sicht gewidmet und ist dabei auf so einiges Unerwartetes gestoßen. 

Wunscherfüller - Bestseller

Illouz Thesen bauen auf der Voraussetzung auf, dass Bestseller soziales Unbewusstes verschlüsselt sichtbar machen und in dem Sinn Zeitmarken gesellschaftlicher Begehren sind. Ein Verkaufsprinzip, das lukrativ ist. In diesem Sinn scheint die Kommerzialisierung des Buches, als literarische Erfüllung kollektiver Wünsche, ganz im Zeichen des Kapitalismus zu stehen. Eine kalkulierte Verkaufsmasche nach der bekannten Formel: Sex sells, nur eben diesmal ein bisschen härter nach der Kunst des BDSM (Bondage and Discipline, Domination and Submission, Sadism and Masochism).

Illouz entgegeht in dem schmalen Band diesem ersten, vereinfachten Blick. Dass Shades of Grey bei weitem den gängigen erotischen Groschenroman übertrifft, zeigen seine Verkaufszahlen. Weltweit wurde die Trilogie Shades of Grey 70 Millionen Mal gekauft und das vor allem von Frauen. Im Vergleich dazu: der Roman Der kleine Prinz  von Antoine Saint-Exupéry wurde 80 Millionen Mal verkauft.

Ausgehend von der Skurrilität der Auflagezahlen und dem besonderen Interesse der Frauen an den Romanen, bietet Illouz eine differenziertere und überzeugendere These als das „Mamiporno“-Vorurteil an. Sie nimmt die Ansprüche der Leserinnen ernst und untermauert ihre These zum Erfolg von Shades of Grey unter anderem mit Fakten zu dessen Entstehungsgeschichte.

Gefesselte Autonomie

Der erste Band Fifty Shades of Grey wurde auf einer Fanpage zu Stephanie Meyers Twilight Saga von den Fans abgetestet und mitgeneriert. E. L. James, die Autorin von Shades of Grey, veröffentlichte dort unter einem Pseudonym erstmalig ihren Roman als Fanfiction und integrierte UserInnenvorschläge mit in die Geschichte ein. Shades of Grey ist ein UserInnen-generierter Content,  sozusagen ein kollektiver AmateurInnenroman. Illouz sieht darin eine unkonventionelle Form mit dem konventionellen Inhalt einer Liebesgeschichte zu einem Werk verdichtet.

Ausgehend davon ist Illouz überzeugt, dass eben nicht das Erotische/Pornographische ausschlaggebend für die breite Resonanz der Frauen ist, vielmehr schwingt in der sadomasochistischen Beziehung zwischen den Hauptcharakteren Christian Grey und Anastasia Steele mit, wie es um unsere heterosexuellen Beziehungen in der Spätmoderne steht.

Shades of Grey als verschlüsselter Ratgeber und Selbsthilferoman vermittelt den LeserInnen ein Gefühl von Lösungen. Die Triologie gibt scheinbar Antworten auf die Frage, wie heterosexuelle Paare in einer Zeit in der der Feminismus noch in der Entwicklung ist in ihren Beziehungen zu Sicherheit gelangen. Illouz klagt hier den Feminismus nicht moralisch an, sie zeigt vielmehr auf, dass das Aufbrechen von traditionellen Geschlechterrollen mit einer Unsicherheit einhergeht, auch in der Sexualität der Frauen. Wie ist es um die Frauen in der Spätmoderne bestellt? Illouz Antwort lautet: Ja, sie sind autonomer, aber paradoxerweise bleibt laut Illouz der Wunsch nach sexueller Befreiung in der Unterwerfung. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet der Feminismus nach Illouz Auffassung, der nichts weniger versucht als „die Natur ihres [der Frau, Anm. d. Red.] Begehrens (und des Begehrens der Männer) zu verändern.“ Die Frauen stecken in einem Dilemma der Emanzipation, die Befreiung die listig nach den Fesseln fleht. Die Sextoy-Industrie gibt Shades of Grey Recht. Nach der Veröffentlichung explodierten der Vertrieb von Sexspielzeugen wie Vaginalkugeln oder Handschellen, später von eigenen Shades of Grey Sextoy-Packages. Die Praktiken des BDSM sehen vor, dass die Rollen des/der Dominaten und des/der Unterwürfigen strikt verteilt und eingehalten werden, damit sich ein Ort der fixen Autonomie einstellt.

 

 

Ausserhalb der Kammer der Qualen

Die Sphäre des Sex findet dadurch die begehrenswerte Enge der Definition die sich aber außerhalb der „Kammer der Qualen“ mit dem Abklingen des Rausches verflüchtigt. Was bleibt ist ein Abschätzen von Absichten. Serieller Sex oder monogame Liebesbeziehung?

Ab da wird es erst richtig knifflig. „Sich zu verlieben, heißt Souveränität einzubüßen“, schreibt Illouz in der Mitte des Buches und stellt uns spätestens ab hier vor eine harte Entscheidung. Liebe und Leidenschaft oder Souveränität? Begehren oder Autonomie? Dass es aber praktisch kein Entweder-Oder ist bezeugt, dass monogame Beziehungen noch immer eher die Regel als die Ausnahme sind. Für Illouz bewegen sich Beziehungen in ihren Kämpfen und Verhandlungen zwischen Souveränität und Leidenschaft.

Im Gegensatz zur Romantik, in der das Subjekt in der Unterordnung in eine Beziehungseinheit bis zur Selbstauflösung verstummt, steht in der Spätmoderne das Subjekt, das sich in einer ständigen Selbstprüfung zu sich selbst verhält, im Mittelpunkt. Wie viel Macht bin ich bereit aufzugeben? In einem Interview mit PROGRESS zu ihrem Buch Warum Liebe wehtut, antwortete Illouz auf die Frage, ob Leidenschaft in der Lage ist herrschaftliche Beziehungen zu unterwandern: „Es [die Bereitschaft zur Leidenschaft, Anm. d. Red.] ist eine Form der Emotionalität, die weniger reflexiv und weniger beschäftigt mit dem eigenen Wohlergehen ist.” Ihrer Meinung nach “sollten wir wieder Spaß an Leidenschaft haben und weniger ängstlich dabei sein.” Kurz: Die Ängste abstreifen und leidenschaftlich loslegen. In einer Gesellschaft, die von einer Therapiekultur überschwemmt wird und ein Gefühl von Bestätigung durch andere ständig einfordert, zu widerstehen.

Eva Illouz
Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
Taschenbuch, 88 Seiten, 8,30 EUR

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien.

siehe auch dazu: Aufhören, uns die Schuld zu geben - ein Interview mit Eva Illouz

 

Erschreckend und bizarr

  • 04.05.2013, 20:00

Man möchte es so schnell wie möglich weglegen. Der Bann, in den einen Kubans investigative Journale über die deutschsprachige Rechts-Rock-Szene ziehen, entspricht einer dualen Faszination.

Rezension.

Man möchte es so schnell wie möglich weglegen. Der Bann, in den einen Kubans investigative Journale über die deutschsprachige Rechts-Rock-Szene ziehen, entspricht einer dualen Faszination: Einerseits ist da die morbide Schaulust angesichts einer Gesellschaft, die so fremd und zugleich nah erscheint, und andererseits ist da das Erschrecken über die politische und soziale Vernachlässigung des – ohne Zweifel abscheulichen – Themas. Beides zwingt einen zum Weiterlesen. Ähnliche Diskrepanz muss Thomas Kuban gefühlt haben, als er Jahre seines Privatlebens geopfert und seine finanzielle Existenzgrundlage aufs Spiel gesetzt hat, um die musikalisch motivierte Neonazi-Szene zu unterwandern. Das Bild, das sich dem wagemutigen Journalisten dabei bot, war erschreckend und oft bizarr. Die Organisatoren der Nazi-Konzerte bewegen sich jenseits unserer scheinbar sicheren gesellschaftlichen Normen. Sie wirken über „politisch nicht motivierte“ Veranstaltungen der NDP bis in die Wohnzimmer konservativer Weltanschauungen hinein, stets mit dem Ziel, ihre menschenverachtenden Ideologien gängig zu machen. Die Vorgehensweise ist dabei oft konspirativ: Flugzettel als Wegweiser, Autobahnraststätten als Treffpunkte, geheime Telefonnummern etc. Der Weg des Reporters zu den Hasskonzerten hat dabei den Touch einer Schnitzeljagd, die bis hin zu Organisationen wie der NSU führt. Blut muss fließen, ist nicht zuletzt aufgrund der erschreckenden Szenarien während der Konzerte, sondern auch wegen des allgemeinen öffentlichen und medialen Desinteresses, auf das Kuban während seiner Recherchen stieß, überaus beklemmend.

Thomas Kuban, Blut muss fließen: Undercover unter Nazis, Campus Verlag: 2012, 317 S., EUR 19,99.

Federico Grössing studiert Vergleichende Literaturwissenschaften in Wien.

Link: Das Geschäft mit dem Rechtsrock

Inter-vention

  • 20.11.2012, 12:04

Inter-vention. Eine Buchrezension.

Inter-vention. Eine Buchrezension.

„Medizin orientiert eigentlich darauf, dem Menschen zu nützen, nicht ihm zu schaden“, schreibt Heinz-Jürgen Voß in seinem aktuellen Buch Intersexualität – Intersex. Eine Intervention. Eigentlich sollte dies ein banaler Allgemeinplatz sein. Aber in Bezug auf die Situation von Intersex-Personen kommt die Medizin genau dieser allgemeinen ethischen – und damit gesellschaftlichen – Anforderung nicht nach. Dies ist auch der Ausgangspunkt von Voß' Buch, das wir als eine kritische wissenschaftliche Intervention in die aktuellen Debatten um das Thema Intersex verstehen können.

Neben all den klischeehaften Darstellungen in Mainstream- Medien und verklausulierten wissenschaftlichen Studien, in denen gesellschaftliche Interessen und eigene Vorurteile zumeist verschleiert werden, bietet dieses kleine Büchlein einen kompakten Überblick. Zuerst wird in die Geschichte des Phänomens „Hermaphroditismus“ und „Intersexualität“ sowie der damit verbundenen medizinischen Maßnahmen eingeführt. Die zweite Hälfte befasst sich mit der aktuellen medizinischen Situation und gibt eine Zusammenschau von Studien, die Behandlungsergebnisse und -zufriedenheit von Betroffenen evaluieren. Dadurch entwickelt dieses kompakte Büchlein das Potential zur breit verwendbaren Argumentationsgrundlage für medizinisch- und juristisch-politische Debatten. Jedenfalls wird klar, dass die bestehende Situation den Betroffenen mehr schadet als nützt und somit auch medizinisch-ethisch nicht vertretbar ist.

Ähnlich wie in seiner ausführlicheren und als Grundlage zu empfehlenden Einführung in das Thema Geschlecht. Wider die Natürlichkeit (2011. Schmetterling Verlag) versteht es Voß, wissenschaftliche Sachverhalte auch in historische und aktuelle gesellschaftliche Kontexte einzubinden. Trotz des wissenschaftlichen Charakters ist der Biologe Voß dabei stets darum bemüht, die Sachverhalte in allgemein-verständlicher Weise zu erläutern.

Das Thema Intersexualität wird mittlerweile auch in (versuchsweise sozialkritischen) Krimiserien wie „Tatort“ (Münster im September 2011; Luzern im Mai 2012) aufgegriffen. Und kritische Interventionen – wie sie Voß auch mit diesem Buch liefert – scheinen auf meist oberflächliche Auseinandersetzungen beispielsweise in Fernsehsendungen zu wirken. Dabei wird Raum für feinere Differenzierungen geschaffen und auf die Betroffenen-Perspektive fokussiert. Zudem lehrt diese Intervention auch auf einer Metaebene etwas über die Verquickung von Wissenschaft und Gesellschaft. Es zeigt, wie marginalisierte und nicht-normierte Personen, Themen und Phänomene als (gewaltvolles) Experimentierfeld dienen, um gesellschaftliche Normierungen in anderen Bereichen festzuschreiben – in diesem Fall den Zwang zur Zweigeschlechtlichkeit und, versteckt, zur Heterosexualität.

Heinz-Jürgen Voß (2012): Intersexualität – Intersex. Eine Intervention. Münster: Unrast Verlag. 80 S., 7,80 Euro

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