Buchrezension

The cake is a lie

  • 30.09.2016, 16:30
Wachsende Zensur, Ausheblung von Menschenrechten - Die Staaten der Welt werden repressiver und begründen diese Maßnahmen mit der wachsenden Gefahr durch Terroranschläge. Irgendwann gibt es keine Unschuldsvermutung mehr. Zeit zu handeln und in der Zeit zurückzureisen!

Wachsende Zensur, Ausheblung von Menschenrechten - Die Staaten der Welt werden repressiver und begründen diese Maßnahmen mit der wachsenden Gefahr durch Terroranschläge. Irgendwann gibt es keine Unschuldsvermutung mehr. Zeit zu handeln und in der Zeit zurückzureisen!

Der Hacker Ho Zhing entwickelte ein Programm, das es erlaubt, mittels Internet durch die Zeit zu reisen. Einzige Voraussetzung dafür ist, dass das Internet zu der Zeit, in die gereist werden soll, bereits existiert haben muss. Denn: Das Internet vergisst nie, und durch eine physische Verbindung zwischen Mensch und Internet, wie es sie vor allem in den nächsten Jahrzehnten geben wird, kann der menschliche Körper Zeitsprünge auslösen.

So handelt „No Borders“ von verschiedenen Grenzen, die nicht mehr vorhanden sind oder sein werden: Die Möglichkeiten der totalen Überwachung der Bevölkerung durch Staaten, ebenso wie die unmittelbare Möglichkeit durch die Zeit zu reisen. Es kreuzen sich die Wege der Bloggerin Kat, dem Hacker Ho Zhing und der Geheimdienstmitarbeiterin Jill Edwards, die ursprünglich in unterschiedlichen Zeit-Strängen leben.

Namensgebend für das Buch ist die Organisation „No Borders“, welche sich gegen Zensur und staatliche Überwachung einsetzt. Und auch wenn beim Lesen stets der Demo-Sprech-Gesang „No Border, No Nation, Stop Deportation!“ im Kopf halt, ist die Öffnung von staatlichen Grenzen trotz der gedanklichen Nähe kein Haupt-Thema im Buch. Stattdessen stehen Zeitreise und Vorgehen gegen Internetzensur und Überwachung im Vordergrund. Im Bezug darauf findet das Buch leicht zugängliche Antworten für diejenigen, die auf staatliche Überwachungs-Maßnahmen stets mit „Ich habe ja nichts zu verbergen“ antworten.

Etwas eindimensional ist leider, dass China als Projektionsfläche für den Überwachungsstaat und die NSA als der überwachende Geheimdienst schlechthin herhalten müssen. Auch die Hetero-Sex-Szenen sind eher überflüssigen, wohingegen die Anspielungen auf Computerspiele, Filme und Serien, die in jedem zweiten Bild zu finden sind, sehr viel Spaß bereiten.

Mit Bonus-Inhalten im Internet lässt „No Borders“ die Leser*innen weitere Informationen entdecken. Zusätzliche Entwürfe und Skizzen, sowie Hintergründe zum Autoren und der Zeichnerin des Buches geben Einblicke in den Entstehungsprozess und die Arbeit hinter dem kurzweiligen Buch (TeMels Arbeitszeit pro gezeichneter Seite beträgt beispielsweise 15-25 Stunden). Auch lassen sich hier Hintergrundinformationen über die Charaktere und weiteres Material zu den im Buch angesprochenen Themen finden. An die Bonus-Inhalte gelangen die Leser*innen mittels Passwörtern, die sich im Buch verbergen.

Am Ende der Geschichte wird aus diesen spielerischen und unterhaltsamen Aspekten Ernst, denn es bleibt die Frage im Raum: Was kannst DU tun, um staatlicher Überwachung, Zensur und Repression Einhalt zu gebieten, ehe es zu spät ist?

Clara van Dyke ist eigentlich kein Fan von Zeitreise-Episoden, jedoch leidenschaftliche Serien-schauerin und so hofft sie auf viel Gesellschafts-Kritik, aber wenig Zeitreise-Folgen in der neuen „Star Trek“-Serie, welche Anfang 2017 erscheinen wird.

Befähigung zur Gesellschaftskritik als Präventionsarbeit

  • 13.08.2016, 20:01
Der zweite Rechtsextremismus-Band der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) widmet sich der Prävention und der politischen Bildung.

Der zweite Rechtsextremismus-Band der Forschungsgruppe „Ideologien und Politiken der Ungleichheit“ (FIPU) widmet sich der Prävention und der politischen Bildung. In der Schule, in der außerschulischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen und in der Sozialen Arbeit stellt sich die Frage nach sinnvoller Prävention, aber auch nach einem adäquaten Umgang mit rechtsextremen Einstellungsmustern. Die Stärke des Bandes liegt in der Vielfalt der Zugänge zum Thema, da viele der Autor_innen sowohl in der Rechtsextremismusforschung verankert sind, als auch über Praxiswissen aus dem Schulalltag und der Sozialarbeit verfügen.

Die Bedeutung der Erziehung zur Mündigkeit – oder anders ausgedrückt: der Befähigung zur Ideologiekritik – zieht sich als roter Faden durch den Sammelband. So argumentieren etwa Stefanie Mayer und Bernhard Weidinger, dass autoritäre Denkweisen und die Vorstellung einer hierarchischen Gesellschaftsordnung durch eine Gesellschaft begünstigt werden, in der alles einem kapitalistischen Konkurrenzprinzip unterworfen ist. An diese Denklogiken könnten rechtsextreme Ideologien leicht anknüpfen. Mayer und Weidinger plädieren dafür, die Projektionsmechanismen des Rechtsextremismus zum Thema zu machen und die Reflexion der eigenen Abwertung anderer in den Mittelpunkt zu stellen. Ziel davon sei es, „äußere Zumutungen und innere Konflikte in einer Weise zu bearbeiten, die ohne Projektion auf andere und Verfolgen des Projizierten an diesen auskommt.“ Einem ähnlichen Ansatz folgen Elke Rajal und Heribert Schiedel, die der Frage nachgehen, was diese Überlegungen für die rassismus- und antisemitismuskritische Bildungsarbeit in der Schule bedeuten. Eine Schwierigkeit der Selbstreflexion sehen sie darin, dass rechtsextreme Vorstellungen nicht einfach aufgelöst werden können, weil sie oft von grundlegender Bedeutung für das Selbstbild sind und als Problemlösungsstrategien in den Lebenswelten vieler Jugendlicher verankert sind. Die kritische Analysefähigkeit von Kindern und Jugendlichen müsse nach Rajal und Schiedel ebenso gestärkt werden wie ihre Handlungskompetenz. Dadurch werden Ohnmachtsgefühle, die den Rechtsextremismus begünstigen, gemindert.

Neben Selbstermächtigung und Ideologiekritik ist ein zentraler Begriff des Bandes jener der Anerkennung. Da gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oft auf einem Anerkennungsdefizit fuße, sei es wichtig den Jugendlichen mit Respekt und Anerkennung zu begegnen und sich verstehend auf sie einzulassen. Erst wenn ein Vertrauen hergestellt sei, könne sinnvoll an problematischen Einstellungen gearbeitet werden. Politische Sozialisation erfolge, so Fabian Reicher in seinem Beitrag, durch das Erlernen anhand von dem, was vorgelebt wird. Werden Jugendliche als Problemfälle identifiziert und behandelt, wird ihnen undemokratisches Verhalten vorgelebt. Insofern ist das Buch auch sehr bereichernd für alle, die sinnvolle Reflexionsanregungen für die eigene Arbeit mit Kindern und Jugendlichen suchen.

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft in Wien studiert und ist in der politischen Bildungsarbeit und im Journalismus tätig.

Link zur Buchbeschreibung beim Verlag.

Fußnoten zum Wahn

  • 22.06.2016, 12:02
Nach dem Ablauf des Urheberrechts für Mein Kampf bemühen sich die Herausgeber der kritischen Edition darum, die Ausstrahlung des Originaltexts auf 2.000 Seiten zu zerstören

Nach dem Ablauf des Urheberrechts für Mein Kampf bemühen sich die Herausgeber der kritischen Edition darum, die Ausstrahlung des Originaltexts auf 2.000 Seiten zu zerstören. Das gelingt in der typographischen Gestaltung durchaus: Hitlers Erzählung wird vom wissenschaftlichen Apparat richtiggehend umklammert. Erfolgreich ist ebenso das Unternehmen, Hitlers fantastische Schilderung seines Lebens gegen den tatsächlichen biographischen Hintergrund zu kontrastieren.

Doch der Wahn, den Hitler in „Mein Kampf“ ausbuchstabiert, lässt sich nicht durch penible Faktenrecherche widerlegen. Allzu oft schrecken die Herausgeber davor zurück, die ideologischen Abgründe und nicht bloß die historische Landschaft auszuleuchten. Auf Hitlers Litanei, dass die „jüdische Bastardierung“ die deutschen Städte dorthin bringe, „wo Süditalien heute bereits ist“, reagieren sie etwa mit dem Hinweis, dass Hitler hier falsch liege, da im Süden Italiens seit Jahrhunderten nur eine winzige jüdische Gemeinde existierte. An solchen Stellen wird der Kommentar zu Besserwisserei. Wer Hitlers Wahn konsequent wie eine Ansammlung von Irrtümern behandelt, vermittelt den Eindruck, statt „Mein Kampf“ zu kommentieren, den Führer belehren zu wollen.

Am tiefsten schürft der Kommentar dort, wo er am nächsten an der textlichen Oberfläche bleibt. Über die Armut, die er in Wien erlebt hat, schreibt Hitler etwa: „Wer nicht selber in den Klammern dieser würgenden Natter sich befindet, lernt ihre Giftzähne niemals kennen.“ Das Bild ist als Ganzes verunglückt, wird in der Fußnote bemerkt: Nattern würgen nicht, und wen sie dennoch würgen, der kann ihre Giftzähne nicht sehen. Stürzt die Metapher ins Leere, befindet sich häufig auch der Gedanke im freien Fall.

In tausenden anderen Fußnoten und Einleitungen erfährt man mehr oder häufig auch weniger Bedeutendes. Sei es über Hitlers Diät in der Festungshaft in Landsberg („Eier, Butter, Zitronen“), sei es über das Lieblingshobby von Hitlers Vater („Bienenzucht“). Wer so etwas wissen will, verwechselt das Interesse an der Person Hitler mit der Begeisterung für des Führers Privatleben. Es steht zu befürchten, dass der riesige Zuspruch für das Buch – mehr als 60.000 verkaufte Exemplare – nicht zuletzt auf diesem Missverständnis beruht. Den Herausgebern ist der Erfolg nicht vorzuwerfen: Ihre Edition ermöglicht das Studium des Textes, verhindert aber seine ungestörte Lektüre.

Christian Hartmann, Othmar Plöckinger, Roman Töppel, Thomas Vordermayer (Hg.):
Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition.
Institut für Zeitgeschichte München- Berlin 2016. 1.966 Seiten, 59 Euro.

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

Konstruierte Natur

  • 22.06.2016, 11:32
Die Stadt wird gerne als Gegensatz zur Natur gesehen. Dabei existieren innerhalb von Städten verschiedene Formen von Natur, die ebenso unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden.

Die Stadt wird gerne als Gegensatz zur Natur gesehen. Dabei existieren innerhalb von Städten verschiedene Formen von Natur, die ebenso unterschiedlich wahrgenommen und bewertet werden. In ihrem Band „Ansichtssache Stadtnatur“ untersucht die Berliner Stadt- und Kulturgeografin Katharina Winter, welchen Einfluss verschiedene Ansichten, was Stadtnatur ist oder sein kann, auf den Umgang mit sogenannten Zwischennutzungen haben. Im Grunde gilt schon die natürliche Sukzession – also das ungehinderte Wachstum von Pflanzen, deren Zusammensetzung sich mit der Zeit von reinen Gräsern zu Sträuchern und schließlich zu Bäumen verändert – als Zwischennutzung. Viel spannender sind jedoch die menschlichen Zwischennutzungen wie Guerilla Gardening oder improvisierte Spielplätze.

Drei Fallstudien über solche Zwischennutzungen hat Winter durchgeführt. Zuerst stellt sie den „Garten der Posie“, einen interkulturellen Gemeinschaftsgarten im dicht besiedelten Neukölln-Rixdorf, vor und geht dabei besonders auf die Spannungen zwischen sogenannter „bedürftiger“ und „nützlicher“ Natur ein, die in jedem Garten entstehen und in einem Gemeinschaftsgarten besonders präsent sind. Die zweite Fallstudie behandelt die „Tentstation“, einen innerstädtischen Zeltplatz auf dem Gelände eines ehemaligen Freibades in Moabit. Hier untersucht Winter besonders die Fragen, was für ein Naturverständnis auf einem Zeltplatz vorherrscht und ob Nachhaltigkeit automatisch Schönheit bedeutet. Sie spricht dabei der Ästhetik der „gebrauchten Natur eines gebrauchten Ortes“ eine besondere Rolle zu. Drittes und letztes Fallbeispiel ist die Wagenburg „Lohmühle“, die auf einem ehemaligen Mauerstreifen entstand. Hier untersucht Winter besonders den Naturschutzgedanken der Bewohner_innen.

Sowohl die theoretischen Kapitel zur Konstruktion des Naturbegriffes als auch die Fallstudien sind für Interessierte eine Bereicherung. Lobenswert ist auch, wie kritisch der Nachhaltigkeitsbegriff in diesem Band betrachtet wird. Winter benutzt im Text zufällig die weibliche oder männliche Form, was zwar interessant ist, durch einen Gendergap oder -sternchen jedoch einfacher gelöst hätte werden können.

Katharina Winter: „Ansichtssache Stadtnatur. Zwischennutzungen und Naturverständnisse.“
transcript, 262 Seiten, 29,99 Euro, eBook 26,99 Euro.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Dünne Dialoge

  • 18.06.2016, 13:54
OMG, eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition!

OMG eine Graphic Novel aus dem deutschsprachigen Raum zu Transition! Die deutsche Illustratorin Sarah Barczyk erhielt 2014 das Egmont-Comic-Stipendium und zeichnete die Geschichte von Kai, der trans ist. Ganz ohne Probleme kommt die Geschichte aber nicht aus: Kais Eltern sind vorerst uneinsichtig und dann verliert er auch noch eine Freundin. Trotz Kais Unbeirrtheit, sind es die Momente des Zweifels, die den Charakter erst persönlich machen: der ersten Besuch beim Therapeuten („Aber was, wenn er sagt, ich sei psychisch krank“), der eigenen dicken Körper („Warum sind die ganzen Transmänner immer sportlich oder schlank?“), die Wahl der passenden Umkleide („Mh. Umkleide…Oje, da hab ich noch gar nicht dran gedacht.“).

Leider ist das aber schon alles, was den_die Leser_in am Charakter fesselt. Die abgehackten Dialoge wirken eher wie schlechte Übersetzungen, denn wie authentische Gespräche. Auch inhaltlich stellt sich bald heraus, dass ein kritischer Ansatz mit Geschlecht umzugehen keine Rolle in „Nenn mich Kai“ spielt. Was für Kai zählt, ist so gut wie möglich als „echter“ Kerl durchzugehen. Da gehört auch das richtige Bro-Verhalten in Männergruppen und Mackertum (gegenüber Frauen_) dazu. Und wer weiß besser wie das funktioniert als Kais Freund, der Cis-Mann Marko. Er zeigt Kai wie Mann-Sein geht: „Du gehst viel zu feminin. So geht das! Schön O-Beine machen und locker schwingen!“ Ähm, ok?

Im Vordergrund der Graphic Novel steht das Bedürfnis einen programmatisch-geraden Weg darzustellen dessen Anfang in Barczyks Zeichnungen symbolisch platt im Flowerfresh-Deo-noch-sanfter liegt und mit einem 48-Men-Power-Deo endet. So klar wie die Geschlechterrollen in „Nenn mich Kai“ verteilt sind, so geradlinig ist auch Barczyks Zeichenstil in Schwarz-Weiß: Für Schattierungen, Grautöne und das Dunkel der Tiefen bleibt wenig bis kein Platz. Im Missy Magazin-Interview erklärt Barczyk ihre Zielgruppe seien eher unwissende Cis-Personen, wie sie bis vor Kurzem selbst eine war. Was als eine noble Idee daherkommt, ist in der Ausführung leider nur ein oberflächlicher Cis-Blick auf Transition und Geschlechterstereotypen geworden. Das Stipendium zu dem Thema wäre bei einer Trans-Person wohl besser aufgehoben gewesen.

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

 

Sarah Barczyk: Nenn mich Kai
Egmont Graphic Novel
80 Seiten
15,50 Euro

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Universität Wien.

Zwei antidemokratische Ideologien

  • 10.03.2016, 15:18
Antisemitismus und Sexismus tragen dazu bei, dass die Welt so schlecht bleibt wie sie ist. Und das nicht nur für Frauen, Jüdinnen und Juden.

Antisemitismus und Sexismus tragen dazu bei, dass die Welt so schlecht bleibt wie sie ist. Und das nicht nur für Frauen, Jüdinnen und Juden. In ihrem Buch „Antisemitismus und Sexismus“ analysiert Karin Stögner die „vielschichtigen vermittelten Konstellationen“ der beiden Ideologien und geht ihren gesellschaftlichen Grundlagen und Funktionen nach.

Ihr ist dabei zweierlei selbstverständlich: Erstens ist nicht ein „Wesen“ von Frauen oder Juden und Jüdinnen, sondern die Welt der SexistInnen und AntisemitInnen Gegenstand des Buches. Zweitens geht es nicht darum, die Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung von Frauen gegen die von Juden und Jüdinnen aufzuwiegen oder gar in Konkurrenz zu setzen. Solch ein Vergleich wäre nicht nur falsch, sondern würde, zumal nach der Shoah, den Vernichtungswillen im Antisemitismus relativieren.

Karin Stögner hingegen analysiert kenntnis- und quellenreich das Verhältnis beider Ideologien zur Gesellschaft und zueinander. Sie stützt sich auf die ältere Kritische Theorie und die Psychoanalyse, verengt die Zusammenhänge dabei aber in keine Richtung und bezieht Historisches und seine Wandlungen ebenso wie Fragen der Repräsentation ein. „Wo Natur bloß zur bearbeiteten Materie herabgedrückt wird, bedeutet mit ihr identifiziert zu werden ein Verdikt.“ Das ist es, was Juden und Jüdinnen sowie Frauen in einer Gesellschaft, die krampfhaft auf Naturbeherrschung aufbaut, auf unterschiedliche und widersprüchliche Weise widerfährt. Sie waren und sind die Projektionsflächen, die das abbekommen, was das Individuum, um Subjekt zu sein, verdrängen muss, um dem „identischen und zweckgerichteten männlichen Selbst zu entsprechen.“

Bemerkenswert ist an Stögners Buch, wie vielschichtig sie die Ideologien seziert und wie diese Kritik Hand in Hand geht mit der Analyse von Interviews mit jüdischen Frauen in Österreich im letzten Kapitel. So taugt das Buch nicht nur zur Erhellung von Antisemitismus und Sexismus, sondern auch zur Einführung in die gelungene materialistische Gesellschaftskritik. Die Lektüre dieses umfangreichen wissenschaftlichen Werks ist außerdem sprachlich eine Freude.

Nikolai Schreiter studiert Politikwissenschaft in Wien und Jerusalem.

Leben in den unendlichen Weiten

  • 10.03.2016, 14:46
Sind wir alleine im Universum? Ein neues Buch versucht, diese und andere astrophysikalische Fragen für Laien zu erklären. Wir haben es gelesen.

Die Astrophysikerin Lisa Kaltenegger liefert Erklärungen der physikalischen Grundlagen für die Möglichkeit von Leben auf anderen Planeten und zeichnet den Stand der Forschung dazu nach. Die theoretischen Basics sind durch Comics illustriert. Alles was für das bessere welträumliche Verständnis notwendig ist, wird hier anschaulich erklärt: Was ein Lichtjahr ist, wie die Dichte eines weit entfernten Planeten berechnet wird, warum Dopplereffekt und Relativitätstheorie für die Erforschung des Weltalls so wichtig sind, welche unterschiedlichen Formen von Planeten es gibt, welche Technologien gerade in Entwicklung sind und was man damit herausfinden kann. Neue Teleskope kommen da genauso vor wie die Erklärung, was Exoplaneten sind und warum auf manchen davon nach Leben gesucht werden kann.

Ein weiterer spannender Teil behandelt die Frage, wie andere Lebensformen aufgebaut sein müssten, um auf anderen Planeten zu überleben. Es wird erzählt, welche Rolle die Erforschung der Entstehung des Lebens auf der Erde und seiner widerstandsfähigsten Lebewesen, der Tardigradas, für erste Vermutungen über extraterrestrische Lebewesen spielt. Die Cornell-Professorin Lisa Kaltenegger war am Aufspüren der ersten beiden Planeten beteiligt, die in der habitablen Zone ihres Sonnensystems liegen. Sie erfüllen also viele Voraussetzungen für Leben. Doch wohin würde sich eine Mission von der Erde aus lohnen? Da in anderen Sonnensystemen als unserem nach Leben gesucht wird, sollte bei den Milliarden Möglichkeiten vorher ein rigoroses Auswahlverfahren stattfinden. Dabei interessieren die Wissenschaftlerin, nach der ein Asteroid benannt wurde, nicht nur jüngere und gleich alte Planeten wie die Erde, sondern vor allem auch solche, die älter sind und an denen wir beobachten könnten, was in Zukunft mit unserem Planeten geschehen könnte.

Nach der Lektüre dieses Buches kann man jedenfalls die Entdeckungen erdähnlicher Planeten der letzten Jahre besser verstehen und einordnen. Dass sich die Autorin oft wiederholt und viele Erklärungsmodelle verwendet, die schon Kinder verstehen würden, ist für physikalische Laien kein Nachteil. Es ist jedenfalls ein super Buch für HobbyastronomInnen und Science-Fiction-Fans, die nach qualifizierten Argumenten für das nächste Streitgespräch suchen.

Sarah Binder studierte Konzeptkunst an der Akademie der Bildenden Künste Wien.

Wollen schon – Ein Kollektivroman

  • 02.03.2016, 18:56

„wollen schon“ ist kein Roman im klassischen Sinne. Denn geschrieben wurden die kurzweiligen 268 Seiten im Kollektiv. Elf Autor_innen, von Natalie Deewan bis Kurto Wendt, arbeiteten zusammen über drei Jahre an der Geschichte.

„wollen schon“ ist kein Roman im klassischen Sinne. Denn geschrieben wurden die kurzweiligen 268 Seiten im Kollektiv. Elf Autor_innen, von Natalie Deewan bis Kurto Wendt, arbeiteten zusammen über drei Jahre an der Geschichte.

Der Alt-68er und Universitätsprofessor Manfred Mewald hinterlässt ein beträchtliches Erbe. Doch zur Überraschung seiner Nachkommen vermacht er ein Großteil seines Vermögens der jungen Wissenschaftlerin Hannah Wolmut. Darunter ein Seminarschlösschen im noblen Wiener Cottageviertel und gut zwei Millionen Euro für die Gründung eines „Freien Instituts“. Mit so einer Zuwendung hat Hannah nicht gerechnet. Denn ihre letzte und einzige Begegnung mit Mewald endete mit einem Glas Rotwein im Gesicht des Professors. „Wisst ihr, was euer Problem ist?“, fragte Mewald Hannah, stellvertretend für eine ganze Generation prekarisierter Wissensarbeiter_innen, die von Publikation zu Publikation und von Konferenz zu Konferenz hetzen: „Freiheit ist für euch doch nur ein Propaganda-Begriff. Eine leere Hülse! Ihr wollt in Wirklichkeit gar nicht frei sein, keiner von euch!“

Mit seinem Testament wollte Mewald auch über seinen Tod hinaus recht behalten. Durch sein Erbe soll Hannah eingestehen müssen, dass ihre Generation unfähig ist, abseits vom allgegenwärtigen Verwertungszwang zu forschen und zu leben. Doch für Hannah ist die Wette mit einem Toten trotz vieler Zweifel eine unglaubliche Chance. 20 Leute darf sie auf das Seminarschlösschen einladen. Jeder von ihnen würde über drei Jahre hinweg 3.000 Euro im Monat bekommen. Eine Art bedingungsloses Grundeinkommen. Forschen und Leben in Kollektiv des Freien Instituts. Doch was bedeutet das eigentlich? Wenn du dich nicht länger verkaufen musst und deine Zeit wirklich dir gehört, was machst du dann?

Genau diese Frage wirft „wollen schon“ auf. Anhand neun verschiedener Charaktere, die mit und ohne Begleitung aus allen möglichen Teilen der Welt Hannahs Einladung nach Wien folgen, spinnt der Roman ein heiteres literarisches Kaleidoskop mit viel Raum für Phantasien und Selbstzweifel. Innere Monologe wechseln sich ab mit auktorialen Erzählformen; manche Handlungsstränge treffen sich, andere stehen für sich alleine. Und dann ist da noch die „kleine Figur“: ein nicht fassbarer, übermenschlicher Charakter, der einzelne Versatzstücke der Protagonist_innen in sich vereint oder sich in dadaistischer Manier dem Verständnis des Lesers_der Leserin gänzlich zu entziehen versucht.

Wer mit der teilweise extravaganten Erzählform, deren Verwirrungspotential sich irgendwo zwischen „Pulp Fiction“ und „Memento“ ansiedelt, zurechtkommt, den erwartet ein Leseerlebnis mit viel Liebe zum Detail. Etwa Miša, die es fertig macht, wenn die Person ihr gegenüber genüsslich eine Semmel mit Ei-Aufstrich verspeist und sie dabei zusehen muss „wie diese stinkende, gelbe Masse auf allen Seiten gleichzeitig aus der Semmel herausquillt“. Oder das Stoffeichhörnchen namens Niemand, das mit seinen Klettverschlusshänden Dinge und Körperteile umarmen kann.

„wollen schon“ prangert nicht nur den Wissenschafts- und Universitätsbetrieb an, der sich zunehmend entlang Kriterien kapitalistischer Verwertbarkeit ausrichtet. Die Geschichte wirft auch die Frage auf, ob und wie wir uns eine Welt außerhalb dieser gesellschaftlichen Verhältnisse überhaupt noch vorstellen können. Die Autor_innen regen zum Nachdenken an: Was würde ich machen, wenn ich auf das Freie Institut eingeladen werde? Sie schaffen es damit, die Ambivalenz vor Augen zu führen, welche sich zwischen der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung und der Angst vor der Lücke im Lebenslauf verbirgt.

Veranstaltungshinweis:
Releaseparty mit Lesung und musikalischer Unterhalung: Samstag, 05.03, 19:00 Mo.ë Vienna, Thelemanngasse 4, 1170 Wien
Link zum FB-Event
Link zum Buch beim Verlag

Achtung, Gewinnspiel!
Wir verlosen ein Exemplar von „wollen schon“ unter allen, die uns bis 9. März 2016 eine E-Mail mit dem Betreff "Gewinnspiel wollen schon" an progress@oeh.ac.at schicken!

Zwei mal „Wo kommen Kinder her?“, ohne heteronormative Kackscheiße

  • 29.01.2016, 17:52

Zwei Bücher, zwei Kinder, zwei unterschiedliche Familien, zwei Geschichten darüber, wie Eltern zu Kindern kommen. Zwei Mal kinderfreundliche Erklärungen, die darauf verzichten, die Mär von Zweigeschlechtlichkeit und Vater-Mutter-Kind-Familien zu zementieren.

Zwei Bücher, zwei Kinder, zwei unterschiedliche Familien, zwei Geschichten darüber, wie Eltern zu Kindern kommen. Zwei Mal kinderfreundliche Erklärungen, die darauf verzichten, die Mär von Zweigeschlechtlichkeit und Vater-Mutter-Kind-Familien zu zementieren.

Wie Single-Vater Tobias mit Lotta schwanger wurde, erfährst du in „Wie Lotta geboren wurde“.

Die Geschichte fängt bereits vor seiner Schwangerschaft an, erzählt von Tobias Hobbys und seinen Freund_innen. Ein Freund schenkte ihm die Samen, die er benötigte, um Lotta zu bekommen. Dass Tobias vermutlich ein trans* oder inter* Mann ist und weshalb er eine Gebärmutter hat, wird nicht unnötig thematisiert. Stattdessen betont das Büchlein Tobias' Vorfreude – und wie er zusammen mit Freund_innen und Verwandten jubelte, als Lotta endlich auf der Welt war.

„Maxime will ein Geschwister“! Oder gleich mehrere. Dabei ist für ihn das Geschlecht des potentiellen Geschwisterchens gänzlich irrelevant und wird nicht mal angesprochen. Macht einfach mal, Mamis! Die beiden Mütter sind einverstanden, greifen zur anonymen Samenspende und neun Monate später kann Maxime sein Geschwister Nikola im Arm halten.

Test

Beide Bücher behandeln eine ähnliche Thematik und eignen sich beide dafür, Kindern zu erklären, wie sie auf die Welt kamen, ohne ihnen dabei gleich cissexistische Unwahrheiten à la „alle Frauen können schwanger werden, alle Männer können das nicht“ aufzutischen. Auch die Mär von der Familie, die unbedingt genau einen Vater und genau eine Mutter bräuchte, bleibt den Kindern so erspart. Ein klares Plus für alle Kids: Sowohl für die, deren Familie nie in Kinderbüchern vorkommt, als auch für alle anderen, die so ein bisschen über den Tellerrand raus schauen können, von Kindern bis Erzieher_innen. Je nach Alter der Kinder können sie auch als Anstoß dienen, über Geschlecht zu sprechen: z.B. warum wir bei jedem Menschen unbedingt das Geschlecht wissen wollen. Oder warum die meistern Eltern auf „Bruder oder Schwester“ beharren, statt einfach wie in Maximes Geschichte „Geschwister“ zu benutzen.

Die Erklärungen zum Ablauf einer Schwangerschaft sind liebevoll und kleinkindgerecht. Körperteile sind weniger wichtig als das Wesentliche: Die Freude, die mit den Kindern und dem Kinderbekommen verbunden ist. So dass jedes Kind weiß: Die Hauptsache ist, dass meine Eltern sich bewusst für mich entschieden haben und sich darüber freuen, dass es mich gibt!

Auch die Vielfalt von möglichen Bezugspersonen und Familienformen wird betont. Nicht nur Maxime und seine Mütter oder deren Verwandten freuen sich über das Baby , sondern auch Mitbewohner_innen und Freund_innen sind gleichberechtigt dabei. Nicht angesprochen, aber gezeigt wird, dass nicht alle in einer Familie die gleiche Hautfarbe haben müssen: Maxime ist ebenso wie eine seiner Mütter Schwarz, Baby Nikola und die andere Mutter weiß.

Der Zeichenstil der Bücher ist liebevoll minimalistisch auf das Wesentliche reduziert. Verbunden mit tuscheähnlicher Zeichnung spricht das stringente Farbkonzepte sehr an: Keine Hintergründe, als Farben nur Schwarz, Gelb und ein Hauch Rot in Lottas Geschichte, Schwarz, Lila und Grautöne in Maximes Büchlein.

Hinter den Mini-Format-Büchern (13,6 x 13,6 cm) steht der neue, reichlich queere Zwei-Personen-Verlag „Atelier 9 ¾“ , der sich auf Comics und Kinderbücher spezialisiert hat.  „Wie Lotta geboren wurde“ gibt es sogar schon auf Schwedisch.

Non Chérie studiert mitunter versehentlich an der Universität Wien, macht meist feministisches Gedöns und queeren Krempel.

Beide Bücher könnt ihr euch auch gleich ausleihen – in der queer_feministischen Bibliothek der ÖH Bundesvertretung. Dort gibt es einen ganzen Schwerpunkt zu nicht-normativen und queerfreundlichen Kinderbüchern für verschiedene Altersstufen und zu diversen Themen. Schaut vorbei.

Haut drauf. Und rein.

  • 11.05.2015, 08:36

Buch-Rezension

Buch-Rezension 

Manche Bücher stürzen sich mit gefletschten Zähnen auf ihre Geschichten. Sie ringen souverän mit ihnen und präsentieren sich schließlich als überlegene Gewinnerin: blutverschmiert, zerzaust, genüsslich eine Siegeszigarre im Mundwinkel rauchend. „Nördlich der Mondberge“ ist so eins. Eine Frau um die 30 wird nach zehn Jahren aus dem Gefängnis entlassen und versucht wieder auf die lädierten Beine zu kommen.

Weil ihr Leben von Chaos, Gewalt und der Egomanie ihrer Mutter bestimmt war, ist das alles nicht so einfach. Darum fährt sie bei der ersten Gelegenheit nach Afrika, dem Sehnsuchtsort ihrer Kindheit, wo sie mit Speer bewaffnet als Kriegerin verkleidet durch die Nachbar_innenschaft rannte und sich selbst rituelle Narben ins Gesicht ritzte. Mit einem Lineal.

Das klingt nach tränendrüsigem Sozialdrama, ist aber keines. Dafür sorgen die zerstückelte Chronologie der Ereignisse, der Humor und die Dynamik der eigenwilligen Sprache. Es spricht eine Protagonistin mit vielen Namen, und je älter sie wird, desto weniger werden die verschluckten Silben und die verdrehte Grammatik. Ein Trick, der eine_n nie die zeitliche Orientierung verlieren lässt. Es zieht eine_n brachial in diese Erzählung und vor allem diese Person hinein, und das, obwohl Louise/Beverly/Dawn et cetera am Ende des Buches jede Menge Blut an den Händen klebt. Dafür ist ihr Blick auf die Menschen manchmal von bezaubernd liebevoller Nüchternheit: „Er lacht. Klingt wie was Schweres, was die Treppe runterfällt.“

Weder Opfer noch Engel noch Superheldin: Hier prügelt sich eine saucoole Frauenfigur durch die Verhältnisse und lässt manchmal geschliffene Weisheiten raus, die den galoppierenden Lesefluss ruckartig zum Halten bringen. „Wenn ich nicht so sprechen würde, wie ich spreche, gäbe es mich gar nicht mehr.“ Egal, ob die Protagonistin einen Betrüger verdrischt (Aua!) oder ein Pferd aus einem Bungalow befreit, I.J. Kay hat Story und Struktur fest im Griff. Ein gesplitterter Roman über eine gesplitterte Person, aber jeder Splitter liegt dort, wo er hingehört.

I.J. Kay: „Nördlich der Mondberge“
Kiepenheuer & Witsch, 464 Seiten
23,70 Euro
erscheint am 11. 5. 2015

 

Dorothea Studthoff studierte Germanistik und Skandinavistik in Freiburg und betreibt das Blog „Hauptsache: fadengeheftet“.

 

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