Buchrezension

Alternativen für Deutschland und Österreich

  • 21.06.2017, 17:58
Ein neuer Sammelband von Stephan Grigat untersucht AfD und FPÖ auf Rechtspopulismus, völkischen Nationalismus, Geschlechterbilder und Antisemitismus.

Ein neuer Sammelband von Stephan Grigat untersucht AfD und FPÖ auf Rechtspopulismus, völkischen Nationalismus, Geschlechterbilder und Antisemitismus.

Blau und erfolgreich sind beide. Doch auch inhaltlich nähern sich die Alternative für Deutschland (AfD) und die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) einander an, wie der Sammelband konstatiert, ohne die Unterschiede in Geschichte und Gegenwart der beiden Parteien und das „Potenzial für zukünftige Konflikte“ zu vernachlässigen. Die FPÖ könnte sich heute, wie Gerhard Scheit schreibt, auch „‚Alternative für Österreich‘“ nennen, weil sie den Deutschnationalismus der ehemaligen „PLO von Österreich“ (Jörg Haider) weitgehend aufgegeben hat. Wie die AfD zieht sie sich unter dem Primat der Innenpolitik immer mehr auf „die Frage der Souveränität des eigenen Landes“ zurück. Im rassistischen „Kampf gegen die Islamisierung Ottakrings“, und eben nicht gegen Islamisierung per se, betreiben deshalb die „lautstark als ‚Kritiker‘ des Islam Auftretenden dessen Verharmlosung am entschiedensten“. Derweil die Linke auf antiisraelischem Kurs bleibt, können sie innenpolitisch Erfolge einfahren, indem sie „Israelsolidarität simulieren“.

Ein weiterer Fokus des Buches ist Geschlecht: Während Juliane Lang zur „Familien- und Geschlechterpolitik der AfD“ leider kaum über den Befund hinauskommt, dass die sich „immer weiter in Richtung völkischer Entwürfe“ entwickelt, arbeitet Karin Stögner die Korrespondenz des mutterschaftsbetonten „Differenzfeminismus nationalistisch-völkischer Prägung“ der FPÖ mit dem Ethnopluralismus heraus und erhellt, wie die „Welterklärung“ Antisemitismus sich vertretungsweise auch in Nationalismus, Sexismus oder Homophobie äußert. Bei aller „Transformation des Antisemitismus“, die Heribert Schiedel analysiert, heißt das aber nicht, dass „das Feindbild ‚Jude‘ durch das Feindbild ‚Moslem‘ ersetzt“ worden wäre. Deshalb sind im Buch mehrfach gut begründete Absagen an den Kampfbegriff „Islamophobie“ zu finden.

Insgesamt löst der Band, mit wenigen Schwachstellen, vor allem politisch ein, was der Herausgeber verspricht: neue Impulse in einer dringend notwendigen Diskussion.

Stephan Grigat (Hg.): AfD & FPÖ. Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder.
Nomos 2017, 205 Seiten, 28,80 Euro.

Nikolai Schreiter studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Loyal bis zum Verrat

  • 21.06.2017, 17:50
Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen wird der Kriminalpsychologe Thomas Müller von den VertreterInnen einer unbekannten Institution an einen geheimen Ort gebeten, denn es geht um Brisantes.

Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen wird der Kriminalpsychologe Thomas Müller von den VertreterInnen einer unbekannten Institution an einen geheimen Ort gebeten, denn es geht um Brisantes. Der langjährige Mitarbeiter Ello Dox hat zahlreiche interne Daten der Organisation gesammelt und droht nun damit, diese zu veröffentlichen. Eine Katastrophe, die Informationen dürfen unter keinen Umständen an die Öffentlichkeit geraten. Thomas Müllers Aufgabe ist es nun, diese Interna durch geschicktes Verhandeln zurückzugewinnen, von deren Inhalt er selbst nichts weiß, außer, dass sie in mehreren Staaten einen riesigen Skandal bewirken würden.

Ein kräftezehrendes psychologisches Tauziehen beginnt. Dox ist Müller immer bereits einen Schritt voraus und verlangt ein Treffen in Genf, wo er zigarettenrauchend und nervös seine Erpressung inszeniert: die Zurückhaltung der Daten gegen die Rehabilitation einiger zu Unrecht diskreditierter MitarbeiterInnen.

Im Laufe des Gespräches während eines Treffen eröffnet sich dem Ich-Erzähler Müller die Lebensgeschichte von Ello Dox. Sein Leben war ganz seinem Unternehmen gewidmet und nach vielen langen Abenden an seinem Bürotisch war er bald einer der Besten seines Faches geworden. Als sich ein persönliches Drama in Dox’ Leben abspielt und seine Vorgesetzten nur mit demütigender Gleichgültigkeit auf eine kleine Bitte reagieren, ändert sich schlagartig alles. Von Rachegedanken angetrieben beschließt er, wieder Gerechtigkeit herzustellen.

Thomas Müller ist auch im echten Leben ein profilierter Kriminalpsychologe. Der geschilderte Fall ist angeblich echt, weshalb die Erklärungen, worum es bei diesem Wirtschaftsdelikt eigentlich geht, dünn bleiben. Stattdessen rücken die Erklärungen in den Vordergrund, was passieren muss, damit sich ein Mensch nicht mehr mit seinem bisherigen Leben identifiziert und welchen zunehmenden Stellenwert menschliche Wertschätzung in unserer heutigen Arbeitswelt einnimmt. Dabei geht es immer auch um Macht, um faire Arbeitsbedingungen und Kommunikation, um die Moral von Gesetzen und darum, wie unser Verhalten nicht zufällig ist.

Thomas Müller: Gierige Bestie. Erfolg – Demütigung – Rache.
Ecowin Verlag: Salzburg 2006. 222 Seiten (laut Verlagsangabe 232), 22 Euro (E-Book: 14,99 Euro).

Eva Wackenreuther studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien und schreibt für den Faktcheckingblog Fakt ist Fakt.

Loose yourself to dance

  • 21.06.2017, 17:46
Der Verein zur Förderung Kritischer Theater-, Film- und Medienwissenschaft (KritTFM) hat ein neues Buch herausgebracht: Dieses Mal, wie der Titel bereits verrät, mit dem Schwerpunkt „Tanz im Film“.

Der Verein zur Förderung Kritischer Theater-, Film- und Medienwissenschaft (KritTFM) hat ein neues Buch herausgebracht: Dieses Mal, wie der Titel bereits verrät, mit dem Schwerpunkt „Tanz im Film“.

In 18 Artikeln und 265 Seiten werden Tanzfilme oder Tanzarten, die im Mainstream gelandet sind, gesellschaftskritisch demaskiert und politisch analysiert. Die Autor_innen versprechen eine Auseinandersetzung mit „Schwierigem und Uneindeutigem“ in Tanzfilmen und legen Zeugnisse ab, wie Tanz nicht nur plumpes und ästhetisierendes Element in der Kinematografie ist, sondern tief mit der Gesellschaft und den politischen Begebenheiten verwoben ist. Euch erwarten vertiefende Texte über Macht- und Gewaltstrukturen, Realitätskritik, Körperlichkeit und Sehnsucht nach dem Utopischen in Tanzfilmen. Von Saturday Night Fever, Footlose zu West-Side-Story und den Step-up-Filmen, weiter zu Flamenco-Sequenzen bis zum indischen Tanzkino und vieles mehr.

Aus irgendeinem Grund habe ich mir beim Lesen des Titels gewünscht, dass es zumindest einen Artikel gibt, der die aktuellen Barbie-Ballett-ichmuss- gleich-kotzen-Filme auseinanderreißt, was leider nicht der Fall war. Kinder-Tanz-Filme, die zu Hauf vorzufinden sind, haben in diesem Buch leider keinen Platz gefunden.

Die Herausgeber_innen erzählen, dass sie in ihre wissenschaftliche Arbeitsweise einen Praxisteil eingebaut haben, was sehr untypisch und interessant ist. Ich hätte das unfassbar gern gesehen und vielleicht sogar mitgemacht.

Sarah Binder, Sarah Kanawin, Simon Sailer, Florian Wagner (Hg.): Tanz im Film. Das Politische in der Bewegung.
Verbrecher Verlag 2017, 265 Seiten, 19,90 Euro.

Carmela Migliozzi studiert Germanistik und Romanistik auf Lehramt an der Universität Wien.

Beissreflexkritik

  • 20.06.2017, 22:08
Theoretische Konzepte wie Cultural Appropriation, Critical Whiteness und Klassismus sowie praktische Handlungsstrategien wie Privilegienreflexion, Betroffenheit, Definitionsmacht und Triggerwarnungen haben in den letzten Jahren viel Staub aufgewirbelt

Theoretische Konzepte wie Cultural Appropriation, Critical Whiteness und Klassismus sowie praktische Handlungsstrategien wie Privilegienreflexion, Betroffenheit, Definitionsmacht und Triggerwarnungen haben in den letzten Jahren viel Staub aufgewirbelt und zum Teil einige Kollateralschäden in unterschiedlichen Szenen hinterlassen. Mit dem Beißreflexe-Buch, das angetreten ist, all diese Dinge grundlegend zu kritisieren, dürfte es sich nun ähnlich verhalten. Nur selten schafft es ein Buchprojekt, dessen primäre Zielgruppen queere und linksradikale Szenen sind, binnen drei Monaten zur dritten Auflage. Die Textformen reichen von wissenschaftlich- essayistisch über Interviews bis zum Zweitabdruck journalistischer Artikel, wobei die einzelnen Beiträge qualitativ leider stark auseinanderfallen. So stehen neben gut recherchierten Texten, klugen Gedanken und dringend notwendiger Reflexion nicht selten inhaltliche Leerstellen, fehlende Quellenangaben und Schilderungen zu Vorfällen, die in ihrem Betroffenheitsduktus – den der Band ja eigentlich kritisieren möchte – auch nicht immer ganz glaubwürdig sind. Spätestens wenn in einem kurzen Text Adorno und Hegel inklusive Seitenzahl zitiert werden, eine Butler-Paraphrase, die man gerne noch mal im Original nachlesen würde, jedoch ohne Quellenangabe auskommt, muss man dem Buch gewisse herausgeberische Schwächen attestieren.

Der Umstand, dass die Texte – wie eine der wenigen Autorinnen es formuliert – von „größtenteils Typen, wenngleich größtenteils schwule“ geschrieben wurden, rettet das Projekt zu einem gewissen Grad. Käme die Kritik von heterosexuellen Männern, müsste man viel des Geschriebenen als recht klassische Anti-PC-Paranoia abtun. Die Angst, vom Plenum oder anderen linken Strukturen ausgeschlossen zu werden, käme in diesem Fall der vor mehr Abendfreizeit mit weniger nervigen GenossInnen gleich und wäre als solche nur schwer ernstzunehmen. Für Menschen, die der nach wie vor sehr realen homophoben Gewaltdrohung tagtäglich ausgesetzt sind, ist die Situation aber eine andere. Ausschlüsse aus Szeneräumen und autoritäre Strukturen in ebendiesen können dann tatsächlich ein existenzielles Problem darstellen, weil die Alternativen oftmals rar, die aktivistischen Szenen klein und die Verschränkung von Privatem, Politischem und Beruflichem tendenziell stärker gegeben ist als in anderen linken Kontexten.

Patsy l’Amour laLove (Hg.): Beißreflexe. Kritik an queerem Aktivismus, autoritären Sehnsüchten, Sprechverboten.
Querverlag, 269 Seiten, 16,90 Euro.

Florian Wagner studierte Theater-, Film- und Medienwissenschaft an der Universität Wien.

Comic-Krankenakte

  • 20.06.2017, 21:46
Ein Comic, der aus Österreich stammt, komplett ohne Sprechblasen auskommt und dazu noch in einem Hospiz fernab von muskelbepackten Superheld_innen spielt – es gibt einige Eigenschaften, die The Medical Records of Mr. Zachary Griffith aus der Masse von Comics und Graphic Novels hervorhebt.

Ein Comic, der aus Österreich stammt, komplett ohne Sprechblasen auskommt und dazu noch in einem Hospiz fernab von muskelbepackten Superheld_innen spielt – es gibt einige Eigenschaften, die The Medical Records of Mr. Zachary Griffith aus der Masse von Comics und Graphic Novels hervorhebt.

Der Titel verrät es schon: Die Geschichte entfaltet sich in der Krankenakte von Zachary Griffith, dessen Leidensweg durch das St. Matthews Nursing Home uns in umgekehrt chronologischer Reihenfolge präsentiert wird. Und so lesen wir uns durch die Notizen seiner Pfleger_innen, die anfangs das Bild eines schwerkranken, dementen Mannes ergeben. Je weiter wir vorblättern und je näher wir seiner Aufnahme im Hospiz kommen, desto schwammiger wird dieses Bild. Was hat es mit dem mysteriösen Stein auf sich, den Griffith bei seinem Tod in der Hand hielt? Warum findet sich in seinem Zimmer ein Urlaubsbild seiner Pfleger_innen? Warum hat er seinen Spinat nicht aufgegessen, obwohl er das Blattgemüse so mochte? Die drei Pfleger_innen, die sich hauptsächlich um den Protagonisten kümmern, widersprechen sich nicht nur ständig, sondern schwärzen sich auch gegenseitig bei der Leitung des Heimes an.

Die Dreiecksbeziehung zwischen ihnen macht die Sache nicht unkomplizierter. Was schlussendlich die Todesursache war, wird nicht explizit geklärt – in dieser Hinsicht funktioniert der Comic wie eine Detektivgeschichte, die zum Mitraten einlädt. Die englischen Texte von David „LuvDav“ Hofer-Zeni wirken stellenweise fast zu poetisch für die Krankenakte, treiben die Geschichte aber dennoch gut voran. Die Zeichnungen von Verena „Nudlmonster“ Loisel, hauptsächlich in Pastelltönen gehalten, sind wunderschön und voller süßer Details, die es zu entdecken gilt. Überhaupt sind es die Kleinigkeiten, die dieses Projekt so reizvoll machen: Von der liebevoll gestalteten Krankenakte über die Nebenfiguren, die das St. Matthews Nursing Home zum Leben erwecken, bis hin zum Bonus-Content am Ende des Bandes wirkt hier alles stimmig und gut durchdacht. Das offene Ende könnte auf manche Leser_innen allerdings frustrierend wirken.
 

David Hofer-Zeni und Verena Loisl
The Medical Records of Mr. Zachary Griffith
Selbstverlag, 18 Euro
Erhältlich z. B. bei Bunbury’s Comics

Joël Adami liest neben dem Studium manchmal gerne Comics.

Bekenntnisse gegen den jüdischen Staat

  • 12.05.2017, 21:58
Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd

Ziva ist seit Jahrzehnten in linken Gruppen engagiert. Doch ihre politische Heimat wird ihr zunehmend fremd: „I hear so much hatred of Israel, so much hatred of Jews, and I feel like leaving the country. In a way I feel like I can’t be here.“ Ziva ist eine von 30 linken AktivistInnen, die Sina Arnold für ihr Buch über Antisemitismus in der USamerikanischen Linken interviewte. Zivas Position ist außergewöhnlich: Typisch für die Linke in den USA, so Arnold, sei vielmehr eine „Gleichgültigkeit und Empathielosigkeit gegenüber Antisemitismus“. Es gibt kein Problem mit Antisemitismus, lautet der linke Tenor – Antisemitismusvorwürfe seien bloß Versuche, Israelkritik zu diff amieren. Antizionismus, das wird aus Arnolds Studie deutlich, ist für viele amerikanische Linke zum politischen Bekenntnis geworden. Wer dazugehören will, muss sich gegen den jüdischen Staat stellen.

Arnold leitet ihre empirische Forschung mit einem ausführlichen Überblick zur Geschichte des Antisemitismus in den USA, insbesondere in der Linken ein. Ein entscheidender Wandel hat in den 1960ern stattgefunden: Mit dem Aufkommen der New Left, die den traditionellen Marxismus der Old Left gegen Identitäts- und Diskurspolitik eintauschte, wurde Israel als Hassobjekt fi xiert. Die Etablierung des Antizionismus als „ehrbarer Antisemitismus“, die Jean Améry in den 1960ern in der deutschen Linken beobachtete, hat sich in dieser Zeit auch jenseits des Atlantiks vollzogen.

Aus 30 Interviews mit Mitgliedern von 16 politischen Gruppen lässt sich kaum eine lückenlose Analyse der amerikanischen Linken erstellen. In Verbindung mit der historischen Darstellung gibt Arnolds Studie jedoch einen guten und plausiblen Eindruck, wie es die US-Linke mit dem Antisemitismus hält. Befremdlich ist lediglich Arnolds Schluss: Linke Positionen seien bloß „Ermöglichungsbedingungen“ für antisemitische Diskurse. Wer sich antirassistisch und antiimperialistisch betätigt, dem könne schon einmal ein antisemitisches Versehen passieren. Dass es sich vielleicht umgekehrt verhält, dass sich also das Engagement gegen Israel aus dem Antisemitismus ergibt, bestreitet Arnold – obwohl ihr Material diese Vermutung durchaus nahelegt.

Simon Gansinger studiert Philosophie an der Universität Wien.

„Homosexualität“ und „Die Anderen“

  • 23.02.2017, 19:56
Mit „Schwule Sichtbarkeit – Schwule Identität“ haben Zülfukar Çetin und Heinz- Jürgen Voß ein Buch vorgelegt, das sich mit den Möglichkeiten und Formen schwuler Politik auseinandersetzt.

Mit „Schwule Sichtbarkeit – Schwule Identität“ haben Zülfukar Çetin und Heinz- Jürgen Voß ein Buch vorgelegt, das sich mit den Möglichkeiten und Formen schwuler Politik auseinandersetzt. Sie zeichnen ein Bild, in der diese auf ambivalente Weise eingebunden ist in westliche Herrschaftsverhältnisse, und versuchen, darüber hinaus zu weisen. Auffallend durchzogen von einer Dringlichkeit, emanzipatorische Politik kritisch im Lichte des aktuellen reaktionären Aufwinds zu reflektieren, ist das Buch zweigeteilt. Im von Voß verfassten ersten Teil wird die Geschichte des „Schwulen“ nachgezeichnet. Als Diskursfigur, als Identität – im Gegensatz zur bloßen sexuellen Praxis – entsteht der „Schwule“ in den 1860er Jahren in einer Gemengelage von europäischem Kolonialismus und der Entwicklung naturwissenschaftlich- staatlicher Klassifikation von Menschen. Homosexualität wird darin auch von grundsätzlich progressiven Wissenschaftlern wie Magnus Hirschfeld von vornherein gegen einen „Orient“ konstruiert – mit „echter Homosexualität“ auf der einen und „unechter“ auf der anderen Seite. Im zweiten Teil zeigt Çetin auf, wie diese konstruierte Dichotomie in aktueller Politik in Berlin fortläuft. Wenn etwa ein Kiss-In weißer Schwuler in einem migrantisch geprägten Stadtteil die dort existierenden queeren Strukturen ignoriert, zeigt sich, wie hinter der Identität des „Schwulen“ andere Weisen zu leben – z.B. Muslim zu sein und gleichgeschlechtlichen Sex zu haben – politisch verdrängt und unsichtbar gemacht werden. Eingerahmt sind die zwei Teile von Reflektionen zu klaren Identitäten, Funktion von Sichtbarkeit als politischer Kategorie, und der räumlichzeitlichen Verortung politischer Praxis, die versuchen, die entwickelten kritischen Perspektiven politisch nutzbar zu machen. In einer Zeit, in der in Deutschland ein Autonomes Schwulenreferat die AfD zu einer Podiumsdiskussion einzuladen gewillt ist und die Teilnahme antidemokratischer Kräfte – erschienen in Begleitung von gut 20 Neonazis – als für eine „umfassende Meinungsbildung unumgänglich“ verteidigt, in einer Zeit in der zugleich die Rückholbarkeit des Erstrittenen in der Homophobie derselben Partei deutlich wird, sei die Lektüre dieses Buchs dringend empfohlen.

Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß: Schwule Sichtbarkeit – Schwule Identität, Psychosozial-Verlag 2016, 146 Seiten, 19,90 €

Fallstudien zur Qualitätsfrage

  • 23.02.2017, 19:50
Ein Gespenst namens „Quality TV“ geht um in Fernsehwissenschaft und Feuilleton.

Ein Gespenst namens „Quality TV“ geht um in Fernsehwissenschaft und Feuilleton. Freudig aufgegriffen wurde dieser Begriff einst von TV-MarketingstrategInnen, um ihre seriellen Waren einem bildungsbürgerlichen Publikum schmackhaft zu machen. Der Plan ging auf und so stehen in den Bücherschränken der herrschenden Klasse neben repräsentativen Werken der Literatur nun immer öfter auch DVD-Boxen, die sämtliche Folgen von „The Wire“, „Mad Men“ oder „The Sopranos“ umfassen. Nach Theater und Kino, die beide lange Zeit als Medien des Pöbels galten, wurde nun auch das Fernsehen in den bürgerlichen Kulturkanon aufgenommen. Das gelang durch die formale Abgrenzung vom Trash- TV: Längere Erzählbögen, komplexere Handlung und ungewöhnliche Formen der Narration lassen unlogische Abläufe und reaktionäre Inhalte weniger schnell ins Auge springen.

Die Herausgeber von „Das andere Fernsehen?!“ lehnen den Begriff „Quality TV“ nicht ab, sondern stellen einmal mehr die Frage, was darunter zu fassen sei. Betrachtet man das Register behandelter Serien, finden sich neben den üblichen Verdächtigen wie „Six Feet Under“, „Breaking Bad“ und „Orange Is the New Black“ auch durchaus Überraschungen: Insbesondere britische Serien wie „Sherlock“ oder „Parade's End“ werden ausführlich behandelt. Nicht zuletzt der britischen Sitcom können einige AutorInnen viel abgewinnen. Aber eben primär den formal avancierten wie „The Office“, „The Thick of It“ oder „Extras“. Zwar scheint – gerade in der Auseinandersetzung mit Sitcoms – immer wieder durch, dass der Qualitätsbegriff eigentlich vollkommen unbrauchbar für einen Auseinandersetzung mit Fernsehen ist. Aber die Konsequenz daraus wird nicht gezogen, nämlich den Begriff „Quality TV“ als Affirmation jenes Sektors der Kulturindustrie, der bei Oberschichtsangehörigen gut ankommt, zu benennen und diesen als Analysekriterium für Fernsehen endlich zu verwerfen.

Dennoch bietet der Sammelband eine durchaus gelungene Darstellung dessen, was ist. Ideologiekritische Perspektiven und eine gesellschaftstheoretisch fundierte Analyse von Formsprachen kommen allerdings – wie so oft in der medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung – zu kurz. Für die LeserInnen sind zumindest ein paar Serienempfehlungen dabei und für die AutorInnen beginnt mit einer überteuerten Publikation in einem renommierten Verlag vielleicht eine wissenschaftliche Karriere.

Text: @fernseherkaputt
fernseherkaputt.blogspot.com

Jonas Nesselhauf/Markus Schleich [Hg.]: Das andere Fernsehen?! Eine Bestandsaufnahme des „Quality Television“, Bielefeld: transcript 2016, 298 Seiten, 39,99 Euro

Möglichkeiten antinationaler Kritik

  • 23.02.2017, 19:42
Thorsten Mense hat in seinem kürzlich in der Theorie.org-Reihe erschienenen Einführungswerk „Kritik des Nationalismus“ ein innerhalb der Linken durchwegs kontroversiell diskutiertes Thema einer fundierten Analyse unterzogen.

Thorsten Mense hat in seinem kürzlich in der Theorie.org-Reihe erschienenen Einführungswerk „Kritik des Nationalismus“ ein innerhalb der Linken durchwegs kontroversiell diskutiertes Thema einer fundierten Analyse unterzogen. Er beleuchtet die Entstehungsgeschichte, Transformationen und den facettenreichen konstruierten Charakter der Idee der Nation sowie kritische Nationalismustheorien. Eingangs wird festgestellt, dass von Marx und Engels über die Kritische Theorie bis hin zum Dekonstruktivismus einer Theorie des Nationalismus nur wenig Bedeutung zugemessen wurde. Bei Nationalismus handelt es sich nicht nur um ein ideologisches Konstrukt, sondern um ein durchwegs wirkungsmächtiges Phänomen, das gleichermaßen als Welterklärung und Sinnstiftung funktioniert und vor allem über die Ethnisierung des Sozialen und Politischen hergestellt wird. Gerade aktuelle Berufungen auf ein vermeintlich nationales Interesse fungieren, so der Autor, als wirkmächtige neue Herrschaftslegitimation, die zur Inklusion bestimmter Menschen nach den Kriterien „Abstammung“ und „Herkunft“, bei gleichzeitiger Exklusion anderer, führt. Im Zentrum von Menses Analyse steht auch die vor allem in linken Kreisen verbreitete Unterscheidung zwischen Befreiungs- und Unterdrückungsnationalismen. Obgleich Mense sich für Differenzierungen, beispielsweise Befreiung von kolonialer Herrschaft betreffend, stark macht, zeigt er mit aller Deutlichkeit, dass die Argumente vermeintlich linker Anhänger_ innen des Befreiungsnationalismus sich kaum von jenen der extremen Rechten unterscheiden. Die Bedeutung und Neuheit von Menses Ausführungen liegt vor allem in seiner ideologiekritischen Perspektive, mit der er Nationalismus in den Kontext einer Kritik an Staat und bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaft stellt und damit Grundsteine einer wirksamen Nationskritik legt. Schwachstellen ergeben sich lediglich dadurch, dass die Funktionsweisen von Sexismus und Antisemitismus zwar in kurzen Abschnitten, nicht jedoch als Querschnittsthemen abgehandelt werden.

Thorsten Mense (2016): Kritik des Nationalismus. Stuttgart: Schmetterling Verlag 214 Seiten, 10 Euro.

Judith Goetz ist Mitglied der Forschungsgruppe Ideologien und Politiken der Ungleichheit (www.fipu.at).

Pandazeit

  • 13.12.2016, 19:12

Der Panda sitzt als Chiffre des Glücks im Zentrum des bislang längsten Romans von Clemens Berger, Sinnbild einer neuen besseren Welt.

Dabei bürdet Berger dem in Schönbrunn geborenen Pandababy einiges auf. Es muss nicht nur die Besucherinnen entzücken, sondern seiner Pflegerin Rita eine Stimme verleihen und dabei noch die beiden großen Erzählstränge zusammenhalten, die sich in „Im Jahr des Panda“ abwechseln. Einer erzählt vom Leben des schwer reichen Künstlers Kasimir Ab, von dessen Krisen, Exzessen und Erlebnissen. Der andere von Pia und ihrem Freund Julian, die als BankomatbefüllerInnen in die Lage kommen, sich mit einer halben Million Euro abzusetzen. Als geübter Erzähler versteht Berger, Situationen, Orte und Charaktere farbenreich in einer klaren, wortreichen Prosa unterhaltsam zu beschreiben. Auch wenn man ihm das ein oder andere Klischee nachsehen muss, kommt Langeweile nur in den Passagen auf, in denen der zuweilen allzu redselige Panda uns mit seinem Alltag quält.

Clemens Berger der Spieler Schon der Roman „Das Streichelinstitut“, der Berger zurecht breitere Aufmerksamkeit verschaffte, spielte mit dem Verhältnis der Erzählhandlung zur Wirklichkeit des Autors. Im Streichelinstitut entscheidet ein junger Mann, der wie Berger selbst Philosophie studiert hat, sich unternehmerisch als Streichler zu versuchen. In „Im Jahr des Panda“ erhält er als „Streichelmonster“, das sich inzwischen als Schriftsteller versucht, mehrere Gastauftritte. Wie der Streichler versucht Berger mit seinen Büchern marktgemäß zu bleiben, reflektiert aber die Folgen, die diese Anpassung bei ihm auslöst, in seinen Romanen.

Nicht zufällig verwandeln sich alle seine Figuren zu Künstlerinnen, wenn sie es nicht, wie Kasimir, ohnehin schon sind. Ein Maler, dessen Spezialität es ist, Hände zu malen. Rita, die Pandapflegerin beginnt, mit Pandas Stimme ein Tagebuch zu verfassen und mutiert zur Schriftstellerin. Pia beschreibt auf der Flucht die Welt mit Kalendersprüchen benjaminisch aus der Perspektive ihrer Erlösung.

„Die Ampel war auf rot“ Spielerisch geht Berger auch mit der Theorie um, die sich meistens in dezenten Anspielungen versteckt, auf Walter Benjamin, auf Sigmund Freud, auf Theodor W. Adorno und Karl Marx. Manchmal verweist er so fein, dass man nicht sicher ist, ob man sich den Bezug nur einbildet. Etwa wenn er Pia denken lässt: „Natürlich, Liebe. Was sonst?“ und für Georg Kreisler geschädigte die Melodie von „Wenn nicht Liebe, was sonst“ anklingt. Direkte Zitate gibt es nie, einmal erinnert sich Kasimir nicht an Walter Benjamin, der in der Einbahnstraße das Werk als Totenmaske der Konzeption beschreibt.

Diese Anspielungen freuen natürlich jene, die sie entdecken. Der Autor zwinkert der Leserin zu und sie versteht. Das erzeugt ein Gefühl der Vertrautheit. Man ist sich ähnlich. Vielleicht besser als jene, an denen diese Spielereien unbemerkt vorbeigehen oder nur den vagen Eindruck von Hintergründigkeit spürbar machen. Jedenfalls ist man mit ihm verbündet, denn Berger ist schließlich ein Linker.

Trojanischer Panda. Zu seinem Glück, lässt er das nicht immer heraushängen. Zuweilen ist „Im Jahr des Panda“ ein trojanisches Pferd. Der Roman kommt leicht und niedlich daher. Es geht schließlich um Pandas, wer liebt sie nicht? Aber es ist kein Roman über Pandas, sondern über den Kapitalismus und über das Geld. Nicht die flüchtigen Berührungspunkte zwischen den Künstlerproblemen Kasimir Abs und Pias und Julians Raub verbinden die beiden Geschichten, sondern sie beziehen sich indirekt aufeinander. Kasimir kauft sein eigenes Bild um dreihunderttausend Euro zurück, um es für sechshundert an einen zu verkaufen, der es wirklich mag. Sein Verhalten rückt den Raub einer schlappen halbe Mille in Proportion. „Kleine Fische“ sind Pia und Julian, das geht ihnen schließlich auf. So wie ihnen an manchen Stellen fast die Trostlosigkeit ihres neuen von Arbeit unbeschwerten Lebens dämmert. Es gibt keine Freiheit, ohne der Freiheit aller.

Zahme Verbrecher. Leider sind diese Realisationen selten und es überwiegt ein grundloser Optimismus für den der geschwätzige Panda wirklich ein geeignetes Sinnbild gibt. Überhaupt hält sich Berger in seinem neuen Buch an das adornosche Motto, das er dem Streichelinstitut vorangestellt hat, die Menschen seien immer noch besser als ihre Kultur. Diese Menschenfreundlichkeit ist ihm kaum vorzuwerfen, aber nach ein paar hundert Seiten Nerven diese VerbrecherInnen, die nichts Falsches tun. Pia und Julian rauben eine Bank aus, sie nehmen nur das tote Geld, das in den Bankomaten liegt und die Bank sei ohnedies versichert. Kasimir Ab bringt es zu einer Entführung, aber er entführt nur sich selbst, was ihn dennoch so erschreckt, das er über Nacht ergraut. Und immer wieder brabbelt der Panda.

Dann, dann, dann. Gegen versöhnliche Enden ist einiges zu sagen, aber in diesem Falle muss eines her. Denn man muss Clemens Berger lesen. Wenn nicht den Panda-Roman, dann „Die Wettesser“ oder „Das Streichelinstitut“. Es gibt keinen, der Linke beschreiben kann wie er. Mit entlarvender Genauigkeit, mit Humor und ohne einer Figur unrecht zu tun, denn er liebt sie alle. „Im Jahr des Panda“ ist ein Roman über die Möglichkeit eines besseren Lebens, eine Fantasie einer besseren Welt. Er ist sicher auch der Versuch, mit Farbe einen Abdruck an der Höhlenwand zu hinterlassen, die eigene Hand fragend in die Zukunft zu strecken. Er stellt Fragen nach dem Sinn von Kunst und Literatur. In einer Szene kommt Kasimir Ab ob seines immensen Erfolgs zu dem Schluss, es habe immer noch ein Wenn gegeben. „All diese Wenns hatten immer ein Dann versprochen: Dann wäre er ruhig, dann wäre er glücklich, dann könnte er durchatmen, dann wäre er der, der er immer hatte sein wollen, dann wäre alles gut.
Dann, dann, dann.“

 

Clemens Berger, Im Jahr des Panda. Luchterhand, 2016.

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