Beziehung

Pornos sind niemals Missbrauch

  • 15.05.2014, 10:10

 

Feministische Pornos sind ein Versuch den Porno neu zu definieren. Dabei sollen Frauen ihre sexuellen Einschränkungen ablegen und zu neuen Lustufern aufbrechen. Und am besten die Männer noch mit ins Boot nehmen.

Von der Feuchte des letzten Ficks Zwei formlose Körper winden sich, nähern sich einander an. Sie treffen sich, immer wieder, drücken sich aneinander. Zwei Mal zwei längliche Auswölbungen. Küsse. Zwei hautfarbene Stoffhüllen, Silhouetten menschlicher Körper, die sich aneinander reiben. Ein Arm streichelt den anderen, der unter der Berührung erschaudert. Mit der zunehmenden Heftigkeit ihrer Bewegungen finden sich immer mehr markante Auswölbungen, die ihren glatten Hüllen mehr Form geben. Die Berührungen, die zwischen den beiden stattfinden, sind zutiefst menschlich, doch erst dunkle Stellen im Stoff verraten zwei Menschen unter den Anzügen. Es sind die Stellen, die nass werden mit Speichel, Sperma, Schweiß und Scheidenflüssigkeit. Nach und nach werden mit einer Schere immer mehr Teile des Polyesteranzugs herausgeschnitten und die Haut der DarstellerInnen wird sichtbar.

Skin ist der erste Teil einer Sammlung von insgesamt zwölf erotischen Kurzfilmen, die den Titel Dirty Diaries trägt. Es ist eine DVD voll mit feministischem Porno. Die per Handykamera aufgenommenen Kurzfilme zeigen wie vielfältig Porno ist, dessen Fokus nicht auf der männlichen, sondern auf der weiblichen Sexualität liegt. Die von Mia Engberg produzierte Sammlung Dirty Diaries widerspiegelt sexuelle Ausdrucksweisen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Neben Skin wird ein Sexdate mit einem Mann über die Website Bodycontact ausgemacht; ein illustrierter, masturbierender Mann wird als Dildo verwendet bis er tot ist; eine verhaftete Frau wird von einer Polizistin in BDSM Sex verwickelt; und eine Frau vor Fahrgästen in einer Pariser Ubahnstation gefilzt .

Ausgehend von dem Film Come Together, in dem sich Mia Engberg und andere mit Handykameras beim Masturbieren und anschließendem Orgasmus selbst filmten, wurde die Idee zum Projekt Dirty Diaries geboren. Als Reaktion auf sexistische Kritiken von Männern, die die in Come Together vorkommenden DarstellerInnen als zu hässlich schimpften, wurde ein Manifest formuliert, das den Kurzfilmen in Dirty Diaries zu Grunde liegt. Es ist eine Kritik an gängigen Schönheitsidealen, dem Patriarchat und dem Kapitalismus, der einen selbstbestimmten Umgang mit der weiblichen Sexualität und Lust, auch im Porno, im Wege steht.

 

 

Wissen ist sexy Dass sich am Porno nicht nur Konservative stoßen, zeigt die rege PorNObewegung unter FeministInnen, die besonders in den 70ern diskutiert wurde. Eines der bedeutendsten Gesichter war damals die Pornodarstellerin Linda Lovelace aus dem Porno Deep Throat, einer der ersten Mainstreampornofilme, der in den USA in den Kinos gezeigt wurde. Linda Lovelace, deren bürgerlicher Name Linda Boreman war, klagte nach der Veröffentlichung des Films, mit besonderer Unterstützung der Feminstin Gloria Steinem, die Umstände an, unter denen sie den Film gedreht hatte. Sie sprach von mehrfachen Misshandlungen und minimaler Bezahlung, die angesichts dessen, dass der Film geschätzte 600 Millionen US-Dollar einspielte, unangemessen war.

Für viele FeministInnen wurden die Ausbeutung und sexuelle Gewalt im Porno als Auswirkungen des Patriarchats, zu etwas das es zu bekämpfen und zu verbieten galt. Dass Porno aber per se nicht sexistisch und böse sein muss, ist für die 29-jährige unabhängige Pornoproduzentin Åslög Enochsson Ausgangspunkt ihrer sexpositiven Arbeit. Für sie steht fest, dass man als junges Mädchen mit der eigenen Sexualität und Lustbefriedigung konfrontiert ist. Sie selbst fand zum Porno, als sie anfing mit ihrem Körper zu experimentieren. Ihren ersten Orgasmus hatte sie nicht mit ihrem Freund, sondern nach einem Mainstreamfernsehporno. “Es war sehr lehrreich und die Wahrheit ist, dass unsere Körper auf sexuelle Stimulation reagieren, auch wenn die Bilder und Körper nicht nach unserem Geschmack sind. Sex riecht wie Sex, so oder so.” Niemand ist also gefeit vor Sex. Umso wichtiger wird die Etablierung einer fundierten Wissensbasis über Sexualtität, der eigene Körper und der Umgang mit dem Körper anderer kann nicht unter den Tisch gekehrt werden. Die Sexaktivistin Laura Méritt sieht darin eine wichtige Funktion des reflektierten, feministischen Pornos: “Pornografie, also die Darstellung von Sexualität, ist Teil einer Kultur, die gesellschaftliche Verhältnisse widerspiegelt. Sexualität ist lernbar und wenn wir eine erotische Kultur etablieren und selbstbestimmte Sexualität fördern wollen, ist sexpostitiver Porno eine Möglichkeit. Das Private ist politisch und Wissen macht sexy.” Laura Méritt will sexpositives Angebot betonen und versucht in ihren sexualpolitischen Aktivitäten, Konditionierungen aufzulösen, die Frauen und Männer in ihrer Sexualität beschränken. Sie ist eine Stimme von vielen, die in der Zensur von erotischem Filmmaterial eine einseitige Ausrichtung der Frauenbewegung fürchtet. Denn auch in Deutschland verbreitete sich unter einer Fraktion von Feminst_innen, unter anderem auch durch die von Alice Schwarzer geführte PorNO Kampagne, die Forderung nach einem generellen Verbot von Porno.

Auch Dirty Dairies sorgte für einige Kontroversen. Vor und nach der Veröffentlichung von Dirty Diaries entzündete sich heftige Kritik an dem Umstand, dass die feministische Pornosammlung finanziell hauptsächlich über das Schwedische Filminstitut und damit staatlich gefördert wurde. Die Leiterin des Instituts Cissi Elwin Frenkel verteidigte die Förderung in einem Brief an die Schwedische Kulturministerin Lena Adelsohn Liljeroth damit, dass Dirty Diaries eine neue Herangehensweise weibliche Sexualität darzustellen aufzeigt.

Dauerständer und Wunscherfüllerin Enochsson wollte ebenfalls in Schweden als unabhängige Pornoproduzentin Fuß fassen, doch sie wurde enttäuscht. “Vier Jahre habe ich versucht in Schweden eine Produktion zum Laufen zu bringen, aber es war fast unmöglich.” Um ihrer Arbeit nachgehen zu können, zog sie nach Berlin und fand dort eine rege Aufnahme ihre Projekte. Seitdem hat sie in eineinhalb Jahren mehr Workshops, Filmdrehs, Vorträge und Ausstellungen gemacht als ihr ganzes Leben lang in Schweden. Enochsson will mit ihren Filmen den Porno für die Frauen erobern. Es ist ein Versuch die weibliche Sexualität, die auf “beschämende Weise falsch interpretiert” und “unzureichend dargestellt” wird, in den Mittelpunkt zu rücken. Mit ihrer Arbeit will sie dazu aufrufen, mehr Selbstbewusstsein gegenüber der eigenen sexuellen Erfahrung zu finden. “Ich möchte, dass mehr Frauen, vor allem heterosexuelle Frauen über ihre Feuchte vom letzten Fick prahlen, als darüber wie glücklich sie ihre männlichen Partner gemacht haben.”

Auch Méritt ist überzeugt, dass im Mainstreamporno Frauen zu passiven Wunscherfüllerinnen und Männer zu “unsensiblen, irrealen Dauerständern” reduziert werden, indem eine feste Struktur der Standard-Sexpraktik, also Fellatio, die Penetration mit dem Penis in alle Öffnungen der Frau, der Höhepunkt und die Ejakulation des Mannes als Abschluss,abgearbeitet werden. “Das lässt wenig Raum für einen positiven Umgang mit dem eigenen und anderen Körper.”

Szenen aus der Dokumentation 9 to 5 - Days in Porn des deutschen Regisseurs Jens Hoffmann belegen Méritts Eindruck mit Bildern. Die Dokumentation begleitet über ein Jahr MainstreampornodarstellerInnen aus San Fernando Valley beruflich und privat. Die Stadt San Fernando Valley ist PornomacherInnen bekannt, denn sie ist der Sitz der US amerikanischen Pornoindustrie. Hier werden jährlich mehr als 10.000 Pornofilme produziert. In 9 to 5 – Days in Porn wird gezeigt, wie Sex zur Arbeit werden kann, bei der sich die ProtagonistInnen ebenfalls mit gerechter Bezahlung und gerechten Arbeitsbedingungen, Anerkennung, Ausnutzung, Machtkämpfen, Gesundheitsschutz und Gewalt am Arbeitsplatz auseinandersetzen müssen. Hinter die Kulissen eines Pornos zu blicken, ist eine seltene Möglichkeit. In9 to 5 – Days in Porn sieht man Pornodarsteller hinter der Kamera nackt in einer Reihe stehen und Hand an ihren Penis legen bis er hart und steif ist, um dann ins Set einsteigen zu können. Sobald sie aus einer Szene raus sind, wird wieder der Platz in der Reihe eingenommen, wie Ständermaschinen mit automatisierten Bewegungen. Was zu sehen ist, ist Leistungsdruck pur.  

Für Méritt sind die Umstände des Mainstreampornos Anlass genug die Pornolandschaft wieder mit einer Vielfalt zu bereichern und auf bereits bestehende Pionierinnen, wie Petra Joy, Maria Beatty oder Catherine Breillats zu verweisen. Sie und Corinna Rückart wollten dem frauenfreundlichen Erotikfilm zu mehr Öffentlichkeit verhelfen und die grundsätzliche Frage klären, was eigentlich feministischer Porno sei. Aus diesen Überlegungen heraus, entstand die Idee zu einem europaweiten, feministischen Pornofilmpreis, der 2009 unter dem Namen PorYes Award gegründet wurde. Er soll eine Umdeutung des Mainstreampornos herbeiführen, hin zu einem feministischen Porno, der Frauen vor und hinter der Kamera in den Fokus nimmt. Dass im Sinne der Vielfalt nicht nur heterosexueller Sex zum Tragen kommt, sondern auch queere Formen von Sexualität dargestellt werden, ist erwünscht. „Vielfalt und sexuelles Bewusstsein, sowie sexuelle Kommunikation sind der Schlüssel zur erotischen Kultur oder zur Integration von Sexualität in die gesellschaftliche Kultur.“ Unter diesen Bedingungen wurde auch die Produzentin von Dirty Diaries Mia Engberg ausgezeichnet.

Mehr Sex Eine kritische Frage bleibt, ob der feministische Porno in eine erotische und sexualisierte Form von Kunst übergeht. Auch wenn diese Szene wie eine erotische Performance wirkt, lässt sich darüber streiten, wie viel der Kurzfilm Skin in Dirty Diaries mit Kunst zu tun . Méritt ist der Meinung, dass Porno nicht strikt getrennt werden sollte vom herkömmlichen Spielfilm und spricht sich für mehr Sexszenen in diesem aus. Dem französischen Film La vie d’Adèle – chapitres 1&2 (Blau ist eine warme Farbe) von Abdellatif Kechiche, der auf Grunde der darin vorkommenden Sexszenen zwischen den Protagonistinnen Adéle und Emma kritisiert wurde, steht Méritt eher positiv gegenüber. “In Blau ist eine warme Farbe werden Klischees, auch lesbische Klischees reproduziert, aber immerhin ist lesbischer Sex zu sehen und auf dem Hintergrund der französischen Debatte um Homosexualität ist das ein großer Schritt, daher ja auch die Auszeichnung in Cannes.” Dass sich die Darstellerinnen aber oft zu Szenen gedrängt und sich beim Drehen der Sexszenen unwohl fühlten, darf nicht unerwähnt bleiben. Die Unklarheit der Anforderungen an die Schauspieler_innen macht es schwierig eine Gleichsetzung von Porno und Spielfilm durchzuführen. Enochsson will ihre Pornoproduktion strikt von Kunst getrennt verstanden sehen. Für sie ist das Produzieren von Pornos eine sehr soziale Angelegenheit. Die Vermutung liegt nahe, dass in einer reflektierten und einvernehmlichen feministischen Pornoproduktion die Gefahr des Missbrauchs sinkt. Das, was Enochsson zum Schluss des Gesprächs mit progress online über Porno sagt, zeigt in der Klarheit ihrer Aussage Wirkung: “Porno ist niemals Missbrauch. Wenn es Missbrauch ist, dann ist es nur Missbrauch.” Es ist zugleich eine Kampfansage und ein Weg zu einem neuen Verständnis von Porno.

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien.

 

 

Feministische Pornotips von Åslög Enochsson und Laura Méritt:

Dirty Diaries, Mia Engberg

Heterosexuell: Anna Span

Queer: Courtney Trouble

Punk Rock: Burning Angel

BDSM (Bondage and Discipline, Domination and Submission, Sadism and Masochism): Maria Beatty

Makelovenotporn.tv

Kink.com

 

What is love?

  • 15.04.2014, 09:36

Ein Versuch gegen den normativen Strich zu lieben

Die Liebe ist ein seltsames Spiel beschloss Connie Francis schon 1960. 1993 fragte sich Haddaway What is love? und hatte keine Antwort parat. 2008 kommt Amanda Palmer der Liebe mit den Zeilen I google you whenever I'm alone and feeling blue näher. Die Liebe ist in der Populärkultur ein zentrales Thema. Aber auch in der Wissenschaft bleibt die Liebe schwammig und wird unterschiedlich theoretisiert: Niklas Luhmann verbindet die Liebe mit den romantischen Begriffen des symbolisch generierten Kommunikationsmediums und Eva Illouz braucht über 400 Seiten um sich der Frage Warum [moderne] Liebe weh tut soziologisch zu nähern. Kein Wunder, dass mensch sich bei all diesen  Vorschlägen und Thesen wie Liebe zu sein hat, wie und was sie ist, wie eine Beziehung funktioniert oder funktionieren sollte und welchen Stellenwert Sex, aber auch Freund_innenschaft dabei hat, verwirrt wird. Mir geht es zumindest so. Ich versuche mich trotz der Verwirrung abseits vorgegebener Normen mit den Themen Beziehung, Liebe und Sexualität auseinander zu setzen. Zumindest in meinem Kopf. Denn ja: als Anfängerin im Bereich „alternative Beziehungskonzepte“, wie ich all meine Gedanken zu diesem Thema[1] zusammenfasse, ist und bleibt die Liebe für mich höchst seltsam. Vor diesem Hintergrund kann der vorliegende Text auch als verschriftlichte Manifestation eines großen Fragezeichens betrachtet werden. Dabei halte ich es wie Haddaway und spare die Antworten eher aus.

 

 

Womit also beginnen? Kaum mit einer Definition von der Liebe. Ich glaube da eher an die Liebe, zwar als ein Gefühl, aber auch als ein Konstrukt – wie so vieles kontextabhängig, kulturell und historisch wandelbar oder wie es im Manifest der Anti-Liebe  heißt: „DIE Liebe gibt es nicht. […] In der Geschichte der Menschheit gab es verschiedene Vorstellungen und Konzepte von Liebe, die von einer rein funktionalen Zweckliebe über die platonische Liebe bis zur romantischen Liebe von heute reicht. Dazwischen gab es sicherlich auch viele verschiedene Ideen und Konzepte von Liebe, die völlig abweichend zu den vorherrschenden Vorstellungen waren. Von DER Liebe zu sprechen [...], ist deshalb absurd.“ Und nun? Was hat es mit diesem schönen und viel zu oft auch schmerzhaften Gefühl auf sich? Jenes Gefühl, das uns nächtelang wach hält und Amanda Palmer folgend wohl auch den ein oder anderen geliebten Namen googeln lässt? Ich schlage vor, Liebe einfach als ein vielschichtiges und komplexes Gefühl zu verstehen, das sich unterschiedlich ausdrücken kann, mit Körperlichkeit verbunden sein oder intellektuelle oder emotionale Zuneigungen beinhalten kann; aber auch ein Gefühl, das nicht von der Vereinnahmung einer kapitalistischen Marktlogik sowie von Normalisierungen gefeit ist. Ein Gefühl, welches auch in Machtstrukturen verwoben ist. Wieso wird in den zitierten Liedern, in zahlreichen Serien, im Hollywood-Kino aber auch in der boomenden Ratgeberindustrie von der romantischen Liebe ausgegangen, welche nur innerhalb einer (gesellschaftlich diktierten heteronormativen) Zweierbeziehung gelebt werden kann? Warum braucht es als Basis dafür die sogenannte Treue? Es scheint so, dass Liebe, wie eine Ware, nur in geringen Mengen verfügbar ist, dass sie begrenzt ist und erst durch Exklusivität wertvoll wird. Nur ich, und sonst keine_r darf die Sexualität des_der Partner_in besitzen. Dringt hier nicht der kapitalistische Gedanke des unbedingten Haben-Müssens bis in unsere Gefühlswelt und unsere erotischen Phantasien ein?

 

 

Wollen wir Eva Illouz Glauben schenken, müssen wir hier mit einem eindeutigen „Ja“ antworten. Ihr zufolge ist die sexuelle Attraktivität in Bezug auf Beziehungen und Begehren erst durch die Konsumkultur eine der zentralen Ebenen auf der Liebesangelegenheiten ausgetragen werden: „Die Konsumkultur machte das Begehren zum Zentrum der Subjektivität, während sich die Sexualität in eine Art allgemeine Metapher des Begehrens verwandelt.“ Was wäre also, wenn ich mich von der Utopie verabschiede, dass all meine Bedürfnisse von einer Person alleine abgedeckt werden können? Das Schlimmste, – so zumindest in meiner Vorstellung – das passieren könnte, wäre unterschiedlichste Arten intensiver Beziehungen zu gewinnen: Ich könnte mit einer Person einen tiefgehenden intellektuellen Austausch genießen, mit einer  anderen verschiedene sexuelle Phantasien leben, mich wieder anderen emotional hingeben – weil es mit je einem anderen Menschen auf einer anderen Ebene am Besten funktioniert und nur selten mit einer auf allen Ebenen. Also versuche ich mich von der RZB-Doktrin, von dem Gedanken des „Egal wie – Hauptsache ich besitze!“ zu lösen und ignoriere nicht, dass eine RZB vielleicht gar nicht mehr so klappt wie ich es mir einreden will; versuche damit Christiane Nösingers Dystopie zu entgehen, versuche mit meinem Partner oder meiner Partnerin nicht zu Menschen zu werden, „[...] die wie Steine nebeneinandersitzen, die in Pizzerien verzweifelt das Besteck streicheln, um sich nicht anschauen und miteinander sprechen zu müssen.“ Auch das Problem der Eifersucht könnte durch das Verabschieden von RZBs gelöst werden. Sind wir nicht mehr abhängig von den Gefühlen und der Bestätigung einer Person um unser Selbstwertgefühl durch den Blick des Einen oder der Einen zu erhöhen, ist vielleicht auch die Angst vor Veränderungen nicht mehr so groß, können neue soziale Erfahrungen des Gegenübers nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung gesehen werden.

 

 

Gut, wenn nicht so, wie dann? Schon wieder ein ganz großes Fragezeichen. Aber dennoch: Das Auseinandernehmen und Reflektieren von Beziehungsnormen ist ein hilfreicher Schritt für mich. Freund_innenschaften, Affären, Paarbeziehungen im Sinn der RZB, Verwandtschaftsbeziehungen sind normalisiert. Sie werden in einen prädiskursiven Bereich verlagert und scheinen daher von Natur aus klar abgesteckt. Es ist festgelegt, welche Zuneigung, welche Berührung, welche Worte in welchen Beziehungen als angebracht gelten. Mensch denke auch hier an die zahlreichen Ratgeber_innenbücher, die uns die Regeln der verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen näher zu bringen versuchen. Ist es unmöglich sich diesen Regeln, den gesellschaftlichen Liebeskonventionen und -codes zu widersetzen und offen zu lassen, was verschiedenste Begegnungen für mich und mein jeweiliges Gegenüber beinhalten können, aber niemals müssen? Was ist wenn ich jemanden streichle ohne ihn oder sie zu küssen?  Wenn ich mit jemandem einfach nur Händchen halten will ohne dass ich und wir und unser Umfeld uns als Paar begreifen? Wenn ich mit jemandem ficke ohne kuscheln zu wollen? Es gäbe vielleicht keine normalisierte und dadurch auch hierarchisierte Abfolge von Berührungen und Zuneigungen mehr, keine Festlegung wo und vor allem wie wir beginnen müssen jemanden zu lieben und vielleicht könnte es auch nicht mehr wichtig sein, wie viele Menschen welchen Geschlechts wir lieben oder sexuell attraktiv finden.

 

Die Lösung all dieser Gedanken (und somit eine mögliche Antwort) könnte lauten: „Ja, wo ist'n das Problem? Kannste ja eh machen was du willst.“ Und sehen wir mal vom gesellschaftlichen Druck ab, könnte mensch ja tatsächlich einfach tun. Aber hej: nur weil ich versuche RZBs den Rücken zuzukehren, bedeutet dies nicht, dass meine verinnerlichten Vorstellungen von und Erwartungen an Beziehungen sich in Luft auflösen. Die Theorie ist klar und einleuchtend für mich, aber neige ich nicht trotzdem zu dem, was „alle“ haben (wollen)? Auch wenn ich noch so viele Bücher à la „The ethical slut“ lese, macht das zwar Spaß; die tatsächliche Umsetzung ist und bleibt trotzdem schwierig. Habe ich nicht trotzdem Lust, mich mal in die Arme einer anderen Person legen zu können, der ich vollkommen vertraue – egal auf welcher Ebene? In einem offenen Lernprozess, der andauert und meine eigentlich nur sehr gering vorhandene Geduld stark auf die Probe stellt, versuche ich der  Kommunikation einen großen Stellenwert einzuräumen; meine eigenen Bedürfnisse mit Freude, aber auch mit Schrecken zu entdecken, diese auch mitzuteilen; eingefahrene Verhaltensmuster heraus zu filtern und immer wieder neu zu hinterfragen; zu experimentieren; der Versuch für mich zu klären womit ich mich wohl fühle, welche Beziehungen mir auf welcher Ebene guttun, welche Menschen welche Bedürfnisse abdecken können. Erst dann ist es vielleicht möglich, gegen einen (hetero-)normativen Strich zu kuscheln, zu lieben, zu küssen, zu ficken, die Liebe als etwas Seltsames hinzunehmen und die Frage What is love? unbeantwortet zu lassen.

 

 

Valentine Auer studiert Theater-, Film- und Medientheorie und ist
Redakteurin der Zeitschrift Paradigmata.

Carlotta Weimar studiert Internationale Entwicklung und illustriert
nebenbei.

 

Links und Lesetipps:

alek und die katrina von fremdgenese: Die Romantische Zweierbeziehung. Beleuchtung einer trotzigen linken Praxis. http://www.copyriot.com/sinistra/magazine/sin05/rzb.html [20.03.2014]

Arsen 13: Manifest der Anti-Liebe. http://ainfos.de/sectionen/crimethinc/Anti-Liebe.html [24.08.2012]

Illouz, Eva (2012): Warum Liebe weh tut. Eine soziologische Erklärung. Berlin: Suhrkamp Verlag.

Projektwerkstatt Reichskirchen Saasen: Beziehungsweise frei.  http://www.projektwerkstatt.de/gender/texte/a5_beziehung.html [20.03.2014]

Rösinger, Christiane (2012): Liebe wird oft überbewertet. Ein Sachbuch. Frankfurt a. Main: Fischer.

Tost, Gita: Nehmen wir einmal an... Probleme bürgerlicher Zweisamkeit und deren Überwindung. http://www.graswurzel.net/241/liebe.shtml [20.03.2014]

 

Sich zu verlieben, heißt Souveränität einzubüßen

  • 14.04.2014, 10:58

Es ist nicht so einfach, wie manche es gerne hätten. KritikerInnen, Konservative wie FeminstInnen, stießen sich daran und taten es ab - als literarisch zu schlecht, zu pornografisch, zu sexistisch. Das Etikett Mamiporno klebt fest auf den Seiten von Shades of Grey. Die israelische Universitätsprofessorin Eva Illouz hat sich in Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey  dem Phänomen Shades of Grey aus soziologischer Sicht gewidmet und ist dabei auf so einiges Unerwartetes gestoßen. 

Wunscherfüller - Bestseller

Illouz Thesen bauen auf der Voraussetzung auf, dass Bestseller soziales Unbewusstes verschlüsselt sichtbar machen und in dem Sinn Zeitmarken gesellschaftlicher Begehren sind. Ein Verkaufsprinzip, das lukrativ ist. In diesem Sinn scheint die Kommerzialisierung des Buches, als literarische Erfüllung kollektiver Wünsche, ganz im Zeichen des Kapitalismus zu stehen. Eine kalkulierte Verkaufsmasche nach der bekannten Formel: Sex sells, nur eben diesmal ein bisschen härter nach der Kunst des BDSM (Bondage and Discipline, Domination and Submission, Sadism and Masochism).

Illouz entgegeht in dem schmalen Band diesem ersten, vereinfachten Blick. Dass Shades of Grey bei weitem den gängigen erotischen Groschenroman übertrifft, zeigen seine Verkaufszahlen. Weltweit wurde die Trilogie Shades of Grey 70 Millionen Mal gekauft und das vor allem von Frauen. Im Vergleich dazu: der Roman Der kleine Prinz  von Antoine Saint-Exupéry wurde 80 Millionen Mal verkauft.

Ausgehend von der Skurrilität der Auflagezahlen und dem besonderen Interesse der Frauen an den Romanen, bietet Illouz eine differenziertere und überzeugendere These als das „Mamiporno“-Vorurteil an. Sie nimmt die Ansprüche der Leserinnen ernst und untermauert ihre These zum Erfolg von Shades of Grey unter anderem mit Fakten zu dessen Entstehungsgeschichte.

Gefesselte Autonomie

Der erste Band Fifty Shades of Grey wurde auf einer Fanpage zu Stephanie Meyers Twilight Saga von den Fans abgetestet und mitgeneriert. E. L. James, die Autorin von Shades of Grey, veröffentlichte dort unter einem Pseudonym erstmalig ihren Roman als Fanfiction und integrierte UserInnenvorschläge mit in die Geschichte ein. Shades of Grey ist ein UserInnen-generierter Content,  sozusagen ein kollektiver AmateurInnenroman. Illouz sieht darin eine unkonventionelle Form mit dem konventionellen Inhalt einer Liebesgeschichte zu einem Werk verdichtet.

Ausgehend davon ist Illouz überzeugt, dass eben nicht das Erotische/Pornographische ausschlaggebend für die breite Resonanz der Frauen ist, vielmehr schwingt in der sadomasochistischen Beziehung zwischen den Hauptcharakteren Christian Grey und Anastasia Steele mit, wie es um unsere heterosexuellen Beziehungen in der Spätmoderne steht.

Shades of Grey als verschlüsselter Ratgeber und Selbsthilferoman vermittelt den LeserInnen ein Gefühl von Lösungen. Die Triologie gibt scheinbar Antworten auf die Frage, wie heterosexuelle Paare in einer Zeit in der der Feminismus noch in der Entwicklung ist in ihren Beziehungen zu Sicherheit gelangen. Illouz klagt hier den Feminismus nicht moralisch an, sie zeigt vielmehr auf, dass das Aufbrechen von traditionellen Geschlechterrollen mit einer Unsicherheit einhergeht, auch in der Sexualität der Frauen. Wie ist es um die Frauen in der Spätmoderne bestellt? Illouz Antwort lautet: Ja, sie sind autonomer, aber paradoxerweise bleibt laut Illouz der Wunsch nach sexueller Befreiung in der Unterwerfung. Einen wesentlichen Beitrag dazu leistet der Feminismus nach Illouz Auffassung, der nichts weniger versucht als „die Natur ihres [der Frau, Anm. d. Red.] Begehrens (und des Begehrens der Männer) zu verändern.“ Die Frauen stecken in einem Dilemma der Emanzipation, die Befreiung die listig nach den Fesseln fleht. Die Sextoy-Industrie gibt Shades of Grey Recht. Nach der Veröffentlichung explodierten der Vertrieb von Sexspielzeugen wie Vaginalkugeln oder Handschellen, später von eigenen Shades of Grey Sextoy-Packages. Die Praktiken des BDSM sehen vor, dass die Rollen des/der Dominaten und des/der Unterwürfigen strikt verteilt und eingehalten werden, damit sich ein Ort der fixen Autonomie einstellt.

 

 

Ausserhalb der Kammer der Qualen

Die Sphäre des Sex findet dadurch die begehrenswerte Enge der Definition die sich aber außerhalb der „Kammer der Qualen“ mit dem Abklingen des Rausches verflüchtigt. Was bleibt ist ein Abschätzen von Absichten. Serieller Sex oder monogame Liebesbeziehung?

Ab da wird es erst richtig knifflig. „Sich zu verlieben, heißt Souveränität einzubüßen“, schreibt Illouz in der Mitte des Buches und stellt uns spätestens ab hier vor eine harte Entscheidung. Liebe und Leidenschaft oder Souveränität? Begehren oder Autonomie? Dass es aber praktisch kein Entweder-Oder ist bezeugt, dass monogame Beziehungen noch immer eher die Regel als die Ausnahme sind. Für Illouz bewegen sich Beziehungen in ihren Kämpfen und Verhandlungen zwischen Souveränität und Leidenschaft.

Im Gegensatz zur Romantik, in der das Subjekt in der Unterordnung in eine Beziehungseinheit bis zur Selbstauflösung verstummt, steht in der Spätmoderne das Subjekt, das sich in einer ständigen Selbstprüfung zu sich selbst verhält, im Mittelpunkt. Wie viel Macht bin ich bereit aufzugeben? In einem Interview mit PROGRESS zu ihrem Buch Warum Liebe wehtut, antwortete Illouz auf die Frage, ob Leidenschaft in der Lage ist herrschaftliche Beziehungen zu unterwandern: „Es [die Bereitschaft zur Leidenschaft, Anm. d. Red.] ist eine Form der Emotionalität, die weniger reflexiv und weniger beschäftigt mit dem eigenen Wohlergehen ist.” Ihrer Meinung nach “sollten wir wieder Spaß an Leidenschaft haben und weniger ängstlich dabei sein.” Kurz: Die Ängste abstreifen und leidenschaftlich loslegen. In einer Gesellschaft, die von einer Therapiekultur überschwemmt wird und ein Gefühl von Bestätigung durch andere ständig einfordert, zu widerstehen.

Eva Illouz
Die neue Liebesordnung. Frauen, Männer und Shades of Grey.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
Taschenbuch, 88 Seiten, 8,30 EUR

 

Marlene Brüggemann studiert Philosophie an der Uni Wien.

siehe auch dazu: Aufhören, uns die Schuld zu geben - ein Interview mit Eva Illouz

 

Einmal Flirten zum Mitnehmen

  • 04.04.2014, 09:46

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Wie und warum die neuen Dating-Apps funktionieren und was das über unsere Gesellschaft und die Zukunft des Flirtens aussagt.

Facebook stirbt. Das kann man heute mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit behaupten. Ob das nun in drei oder zehn Jahren der Fall sein wird, spielt keine Rolle. Fakt ist, dass der jüngste Rettungsversuch des Social Networks die Übernahme von WhatsApp ist. Der Deal droht nun aus Datenschutzgründen zu platzen. Die 19 Milliarden, die Zuckerberg für Whatsapp hinzulegen bereit ist, bestätigen aber: Mobil ist sexy. Das zeigt auch ein Blick auf die Hypes um diverse andere Smartphone-Applikationen wie Instagram, Snapchat, Telegram und Tinder. Besonders letzteres erfreut sich erstklassiger Mundpropaganda. Die Dating-App hat im vergangenen Jahr von L.A. aus einen Siegeszug über den gesamten Globus hingelegt und dabei auch Österreich nicht ausgelassen. Neben ähnlichen Angeboten wie Lovoo, Badoo oder Grindr (die Mutter der Dating-Apps aus der Schwulenszene), ist Tinder der absolute Kassenschlager - würde es was kosten. Ende Jänner war die App laut AppAnnie Ranking auf Platz 1 der meistgeladenen Lifestyle Apps und auf Platz 10 aller geladenen Apps in Österreich. „It’s like real life, but better“, so der Slogan der App, bei dem potenzielle „Matches“ in deiner räumlichen Nähe gesucht werden. Gewünschtes Geschlecht, Alter und maximale Entfernung zum „Match“ werden voreingestellt und schon scannt der Dating-Radar die Umgebung. Da das Ganze mit dem Facebook-Account verbunden ist, sieht man bei der Auslese, die Tinder für einen trifft, Profilfotos, gemeinsame Facebook-Freunde und ein paar Interessensangaben. Ein Wisch nach links bedeutet „Nicht interessiert“, ein Wisch nach rechts „Interessiert“. Erst wenn beide Nutzer sich zufällig gegenseitig „geliked“ haben, werden sie informiert und der Chat freigeschaltet.

 

 

Der Sachbearbeiter. Michael braucht im Schnitt drei Sekunden, um sich zu entscheiden in welche Richtung er ein Foto wischt. Michael ist 35 und gehört damit zu den älteren Usern. Eine amerikanische Studie vom Mai 2013 besagt nämlich, dass mobile Dating-Apps vor allem bei 25- bis 35-Jährigen einschlagen. Michael ist seit einem Jahr auf Tinder. Das Aussortieren der virtuellen Vorschläge ist „wie ein Stapel Akten, den ich wie ein Sachbearbeiter abarbeite“, sagt er. Romantisch klingt das nicht, aber zumindest ehrlich. Michael chattet mit zwei bis drei Frauen pro Woche. Mit 20 Prozent trifft er sich dann auch, vorzugsweise am Wochenende mit Option auf eh schon wissen. Denn einer Beziehung ist er zwar nicht abgeneigt, aber „Luftschlösser bauen sollte man auch nicht.“ Einer der größten Vorteile zum ‚realen Flirten’ - da sind sich Michael und die Tinder-Gründer einig - ist das gegenseitige Liken bevor es überhaupt zur Kommunikation kommt. Dieser Trick eliminiert das Risiko einer Abfuhr. „Die Angst vor Zurückweisung ist eine der größten Ängste der Menschen und eng verknüpft mit der Verlust- und Trennungsangst, die existenzielle Implikationen hat. Eine App, die diese Ängste kontrollieren kann, ist natürlich sehr attraktiv“, sagt Psychologe Dr. Anton Laireiter von der Uni Salzburg. In Michaels Worten: „So abgebrüht kannst’ gar nicht sein, dass dir ein Korb nichts ausmacht.“ Der andere Vorteil, mit dem Tinder sich rühmt, ist die Verknüpfung mit dem Facebook-Account: User könnten sich nicht beliebig als Calvin Klein-Models ausgeben, da sie die Fotos ihres Facebook-Profils verwenden müssen. Doch wer sagt eigentlich, dass auf Facebook nicht geschummelt wird? Auch hierzu hat Michael einschlägige Erfahrungen bei einem Date gemacht: dank Photoshop hatte das Profilbild der Dame nur wenig mit ihrem wirklichen Aussehen zu tun.

Lass dich anschauen. Aber ist es wirklich nur das Äußere, das zählt? Apps wie Tinder, bei denen die kurze Durchsicht einer Handvoll Fotos als Entscheidungsbasis genügt und die virtuelle Kontaktaufnahme bestimmt, suggerieren das. Diese Oberflächlichkeit ist aber nicht (allein) als Auswuchs unserer modernen Selfie-Gesellschaft zu verstehen. Laut Psychologe Dr. Laireiter ist sie ein natürliches Auswahlkriterium des Homo Sapiens: „Die Entscheidung ‚like’ vs. ‚not like’ liegt beim Menschen im Millisekundenbereich – egal ob ein Auto, eine Handtasche oder ein anderer Mensch betrachtet wird. Die ‚rationale Entscheidung’ ist bei uns immer noch deutlich unterentwickelt. Erst im Laufe des Kennenlernprozesses werden die sogenannten inneren Werte und Lebensauffassungen wichtiger.“ Gesichter spielen dabei laut Laireiter eine hohe, aber oft täuschende Rolle: „Das Problem bei Gesichtern ist, dass sie für Präferenzentscheidungen sehr wichtig sind, aber notwendige Informationen wie Habitus, Stimme, Sprache oder Ausdruck noch vorenthalten.“ Ob nun virtuell oder real, die äußere Erscheinung ist nicht nur wichtig für die Partnersuche, sondern auch Objekt eines ständigen Vergleichs (Stichwort: Hot or not). Patricia Groiss, Saferinternet.at-Trainerin für Jugendliche, beobachtet, dass in diesem Zusammenhang unser Selbstbewusstsein nach außen gestiegen und nach innen gesunken ist: „Bisher standen wir immer nur im Vergleich mit Menschen, die wir treffen, durch das Internet vergleichen wir uns mit der ganzen Welt und für viele drängt sich die Frage auf: Warum sollte mich jemand nehmen, wenn’s die anderen auch alle gibt?“ Weil das Tinder-Prinzip also einerseits natürlich und ehrlich, aber andererseits doch etwas einseitig ist, gibt es einige Versuche anderer App-Hersteller, die Tinder-Kritiker_innen einzufangen: Sie nutzen zwar auch die Ortungsfunktion, ‚matchen’ aber aufgrund gemeinsamer Interessen und Lebenseinstellungen. Eine der skurrileren Apps ist Snoopet, bei dem Hundebesitzer verbandelt werden sollen. „Travelling the globe for prince charming“ verspricht wiederum der Radar von Twine Canvas, einer auf Interessen bezogenen, aber noch sehr ausbaufähigen App, bei der die Fotos erst angezeigt werden, wenn beide Seiten einverstanden sind. Schräges Extra: Im Chatfenster werden passend zu den Interessen des virtuellen Gegenübers Eisbrecher-Sätze wie „Do your friends like Quentin Tarantino as well?“ vorgeschlagen.

Darf ich bitten? Zurück zu Tinder: Alex hat die App „nur so zur Gaudi“ heruntergeladen. Ernst genommen habe sie das Ganze nicht, betont die 23-Jährige. Aber egal ob am Handybildschirm oder in der Bar, sie selbst würde nie den ersten Schritt machen: „Frauen erwarten, dass der Mann zuerst schreibt. Das ist beim Fortgehen ja auch so.“ Auch Michael bestätigt das alte Rollenbild: „Von den Frauen kommt nie was. Es bin immer ich der, der ‚Hallo, wie geht’s?’ schreibt.“ Neue Dating-Technologie bedeutet also nicht auch Fortschritt in Sachen Geschlechterklischees. Psychologe Laireiter kann da nur zustimmen: „Auch wenn wir in einer sexuell und gendermäßig liberalen Gesellschaft leben, sind die Geschlechtsrollen beim Dating noch relativ konservativ. Die Frau selektiert, der Mann muss anfangen.“ Was außerdem auffällt, ist die Hemmschwelle, vor allem bei Frauen, zuzugeben auf einer Dating-Plattform zu sein. Aktiv auf der Suche (vor allem nach Sex) zu sein, ist für Männer anscheinend immer noch akzeptabler und natürlicher. Wohl gerade deshalb versucht sich Tinder öffentlich nicht als Dating-Plattform, sondern als soziales Netzwerk darzustellen. Für Alex etwa war die blitzschnelle, simple Installation von Tinder ein Schritt, den sie als genügend unverfänglich empfunden hat – anders als eine Anmeldung bei einer klassischen Partnerbörse.

Ich schau nur Ein weiteres Charakteristikum der App lässt sich also feststellen: Tinder fühlt sich nicht wie eine Dating App an. Und vielleicht ist das ihr großes Erfolgsgeheimnis. 96% der User sollen vor Tinder noch nie eine andere Dating App genutzt haben. Es trauen sich also auch die, die sich normalerweise nicht trauen. „Meet new friends, chat, socialize“ (Badoo), „Tinder is how people meet“, „Express yourself and meet interesting people“ (Twine Canvas) sind Slogans, die jeder beliebigen sozialen Plattform zugeordnet werden könnten. Flirten darf sich also nicht wie Flirten und Dating nicht wie Dating anfühlen. Unverbindlich, praktisch und amüsant soll die Suche, die nicht wie eine Suche wirken soll, sein. Da ist eine Online-Anmeldung bei einer Partnerbörse inklusive psychologischem Text schon viel expliziter. Caroline Erb, Psychologin bei Parship, sieht die Apps daher nicht als Konkurrenz zu klassischen Partnerbörsen. Abgesehen davon, dass die Altersgruppe bei Parship & Co höher ist und die meisten dieser Websites kostenpflichtig sind, haben deren Kunden laut Erb eine andere Herangehensweise: „Bei Parship geht es um langfristige Beziehungen. Die Apps sprechen eher Leute an, die flirten, Leute kennen lernen und vielleicht Affären beginnen wollen.“ Klar kann Mann oder Frau auch über eine App den Menschen fürs Leben kennenlernen. Fakt ist aber laut dem Psychologen Anton Laireiter, dass es in Europa einen deutlichen Trend hin zu mehr unverbindlichen, kürzeren Beziehungen gibt: „Internationale Studien haben herausgefunden, dass vor allem in West- und Zentraleuropa unsichere Bindungsstile in dieser Altergruppe (Anm. bis 35) zunehmen.“

Dating 3.0 Laut der Mobile-Dating Marktstudie 2013 wurden bis zum Januar 2013 in Österreich 972.000 Dating-Apps heruntergeladen. Und das war noch vor Tinders Sprung über den großen Teich. Die Nachfrage ist da, und es ist nur eine Frage der Zeit bis sich andere Technologien zum noch vereinfachteren, noch unkomplizierteren Kennenlernen etablieren und das Handy-Flirten überholen. Die To Go-Mentalität wird wohl bleiben, sei es mit oder ohne Smartphone. Saferinternet.at-Trainerin Patricia Groiss sieht allgemein eine Entwicklung in Richtung Technologie am Körper, sei es Kommunikation von Uhr zu Uhr mithilfe von Smart Watches oder automatisierte Gesichtserkennung. Tinder & Co sind erst der Anfang einer beschleunigten, zweckdienlichen und zwanglosen Tendenz, wenn es um menschliche Begegnungen geht. Ob das hot or not ist, liegt bei jedem/r Einzelnen.

 

Elisabeth Schepe

 

Online-Dating ist eine Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform

  • 14.02.2014, 23:08

Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

P { margin-bottom: 0.21cm; }

Der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger beschäftigt sich nicht nur viel mit Sexualität, er geht auch sehr offen und kritisch mit dem Thema um. Das progress hat mit dem 28 jährigen unter anderem über seine Erfahrungen mit Online-Dating, gesellschaftliche Beziehungsideale und sein kommendes Filmprojekt gesprochen.

progress: Du hast zu Beginn dieses Jahres einen Selbstversuch gestartet, bei dem du, unter anderem, auf den Konsum von Pornographie oder Online-Datingplattformen verzichtest. Du dokumentierst deine Erfahrungen seither auch auf einem Blog. Wie ist es dazu gekommen?

Gregor Schmidinger: Ich habe gemerkt, dass Pornographie Auswirkungen auf mein Sexualleben gehabt hat. Zuerst war mir gar nicht klar, dass Pornographie daran Mitschuld war. Pornos sind im Internet ja quasi unbegrenzt verfügbar. Als ich in die Pubertät gekommen bin, wurde das Internet gerade zum Massenmedium. Dadurch habe ich relativ schnell die Pornographie entdeckt. Vor allem wenn man schwul ist und in einem 1.800 Seelendorf lebt, ist das die einzige Möglichkeit die eigene Sexualität zu erforschen. Irgendwann wird es dann aber zur Gewohnheit und dadurch wird natürlich die eigene Wahrnehmung verändert. Und so ist dann das Projekt entstanden. Ich hab mich auch gleich dazu entschieden, dass über einen Blog öffentlich zu machen. Seither bekomme ich relativ viele Rückmeldungen. Das ist auch ein sehr breites Phänomen, über dass sich wenige reden trauen, weil es etwas sehr intimes und mit Scham behaftet ist.

progress: Wie ist es dir seither mit deinem Selbstversuch gegangen?

Schmidinger: Zu Beginn war ich super motiviert. Die ersten paar Tage sind recht gut gegangen, dann hatte ich einmal einen Durchhänger. Nach zwei bis drei Wochen ist es dann aber relativ einfach gegangen. Mir ist es auch zwei dreimal passiert, dass ich wieder abgerutscht bin, da muss man sich dann halt wieder herausholen. Das Bedürfnis des täglichen Pornoschauens ist aber mittlerweile komplett weg. Das Projekt wird auch sicher länger als ein Jahr dauern. Schön langsam komme ich in einen emotionalen Bereich hinein, den ich sehr spannend finde. Gerade beschäftige ich mich mit den Funktionen von sexuellen Phantasien. Pornographie ist am Ende ja nichts anderes, als eine visualisierte Version einer sexuellen Phantasie.

progress: Hast du eine konkrete Vorstellung davon, wohin das Projekt gehen soll?

Schmidinger: Es ist eine Reise, ein Prozess, ein entdecken was passieren wird. Aber eigentlich geht es mir um eine selbstbestimmte und selbstbewusste Sexualität. Weg vom Fremdbestimmten, also Bilder die einem über die Medien, Filmen und so weiter sagen, wie etwas zu sein hat. Je mehr ich mich damit beschäftige und darüber lese, desto mehr merke ich erst wie schambehaftet Sexualität in unserer Gesellschaft eigentlich wirklich ist. Dabei stelle ich mir die Frage ob das wirklich so sein muss und was anders wäre wenn es nicht so wäre

progress: Welche Erfahrungen hast du mit Dating-Plattformen im Internet gemacht?

Schmidinger: Angefangen habe ich damit als ich ungefähr 16 war. Ich glaube braveboy.de (die es heute nicht mehr gibt, Anmk.) war das erste, was ich ausprobiert habe. Ich hatte immer wieder Phasen in denen ich gar nicht auf diesen Plattformen unterwegs war, ansonsten war ich aber eigentlich relativ regelmäßig auf Seiten wie Gayromeo oder zum Schluss auch Grindr – das sind auch die klassischen Plattformen, für schwule Männer zumindest. Mittlerweile habe ich damit aber komplett aufgehört. Auf Online-Dating, in dem Sinne wie es gemeint war, habe ich mich aber nie wirklich eingelassen. Sehr selten habe ich mich mit Leuten getroffen. Die Treffen waren meistens enttäuschend. Man hat ein gewisses Bild und einen Beschreibungstext von der Person im Kopf. Und alle wissen, dass sie die besseren Bilder nehmen und die interessanteren Sachen schreiben sollten. Das führt zu vielen blinden Flecken in Bezug auf die andere Person, die man dann mit seinen eigenen Wünschen ausfüllt - dessen ist man sich vielleicht nicht automatisch bewusst. So entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen darüber, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, entsteht ein Spalt zwischen der eignen Erwartung und der Realität. Das Gegenüber hat dann kaum eine Chance diese Erwartungen zu erfüllen. Das war bei mir bei fast allen Treffen der Fall. Zwei oder drei positive Erfahrungen habe ich aber schon auch gemacht.

progress: Dating-Plattformen werden ja ganz unterschiedlich genutzt, von der Beziehungssuche, Zeitvertreib oder Chatten bis hin zur Suche nach Sexdates. Wie hast du die Plattformen verwendet?

Schmidinger: Eine Beziehung habe ich aber nie wirklich gesucht, gehofft vielleicht. Für mich das online-daten mit unter auch etwas von einem interaktiven Porno. Wenn man etwa entsprechend Bilder austauscht oder in eine gewisse Richtung schreibt. Meinen Freund habe ich zwar ursprünglich auf Grindr zum ersten Mal gesehen, ich muss aber gestehen, dass sich das Interesse damals nicht über die Oberflächlichkeit hinaus entwickelt und schnell verlaufen hat. Zufällig haben wir uns dann einmal persönlich getroffen und dann war mein Interesse plötzlich voll da. Das ist ein gutes Beispiel, wäre es nur über Grindr gegangen, wäre aus uns wahrscheinlich nie etwas geworden. Es fehlen auf diesen Plattformen auch einfach viele wichtige Informationen, das haptische, die Gestik, wie jemand spricht, der Tonfall.

progress: Kritisiert wird an den Dating-Plattformen ja mitunter auch, dass ein starker Ranking- und Effizienzgedanke der damit einhergeht. Wie siehst du das?

Schmidinger: Ja, man geht ja auch sehr systematisch vor. Zuerst schreibt man einmal alle Leute an und dann sortiert man nach und nach aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Alles andere würde wahrscheinlich auch zu viel Zeit in Anspruch nehmen. Ich kenne jemanden der, wenn er von jemanden angeschrieben wird, der kleiner ist als 180 cm ist, schreibt er nicht zurück. Es funktioniert halt sehr Schemenhaft, es ist ein bisschen so wie einen Katalog durchblättern. Das fühlt sich sehr kapitalistisch an, weil es so Maßgeschneidert ist und alles andere, das was es eigentlich ausmacht, die feineren Informationen, die fehlen halt komplett.

progress: Glaubst du hat Online-Dating generell einen Einfluss darauf wie wir nach Beziehungen suchen und sie leben?

Schmidinger: Also wenn, dann glaube ich, dass es nur zu einer Extremisierung führt. Ich glaube, dass Online-Dating nur die Konsequenz aus unserer Wirtschaftsform aber auch aus unserem kulturellen Verständnis von Beziehungen ist. Beziehungen sind in unserer Gesellschaft austauschbar. Das wird ja auch serielle Monogamie genannt – wir sind zwar monogam aber immer nur hintereinander. Problematischer finde ich noch, dass wir einen suchen der uns alles geben kann und zwar für Immer. Diese Perversion des eigentlich ursprünglichen romantischen Gedankens: wir idealisieren nicht mehr den Alltag und einen, Gott sei Dank, nicht perfekten Menschen, sondern suchen stattdessen das Ideale in einer nicht perfekten Welt. Das führt natürlich unweigerlich zu konstanter Enttäuschung. Online-Dating bietet sicher viele Möglichkeiten. Es kann einen aber auch lähmen, weil es immer jemanden gibt, dessen Profiltext noch ausgeprägter ist oder der ein noch hübscheres Profilbild hat.

progress: Anderseits, und das hast du ja bereits angeschnitten, kann es doch auch eine gute Möglichkeit für etwa LGBTQ-Jugendliche bieten.

Schmidinger: Sicher auf alle Fälle. Ich finde auch nicht, dass Online-Dating per-se schlecht ist, es ist halt ein Werkzeug, und es kommt stark darauf an wie man es nützt. Trotzdem glaube ich, dass Online-Dating dazu führt dass man überhöhte Erwartungen und falsche Vorstellungen bekommt. Wenn man es richtig nutzt, hat es sicher auch positive Seiten, gerade wenn man aus einem kleinen Ort kommt und niemanden kennt. Aber es gibt halt auch diese anderen Aspekte daran.

progress: Deine bisherigen Kurzfilm-Projekte haben sich unter anderem mit Themen rund um Sexualität und Beziehung beschäftigt. Du arbeitest gerade an deinem nächsten Filmprojekt. Worum wird es gehen?

Schmidinger: Das Thema ist Illusion, Phantasie, Gegenrealität. Es geht eigentlich ein bisschen um Desillusionierung und die dadurch entstehende Reifung. Im Grunde ist es ein bisschen so eine “coming of age“-Geschichte. Die Handlung dreht sich um die erste Liebe, um zwei Charaktere: der eine hat eine eher verzehrte Wahrnehmung auf Sexualität, sehr stark geprägt durch Pornographie, der andere hat eine stark verzehrte Wahrnehmung von Liebe, geprägt romantische Komödien und Lieder und so weiter. Beide treffen aufeinander und erleben eine Desillusionierung durch ihre Beziehung. Da kommt dann die Watschn der Realität, was oft natürlich nicht angenehm ist. Ich versuche ein wenig zurück zu dem ursprünglichen Gedanken der Romantik zu kommen. Monogamie probiert etwas zu konservieren, was nicht konservierbar ist.

progress: Ist Sexualität für dich eines der Kernthemen, wenn es um dein Filmschaffen geht?

Schmidinger: Eigentlich nicht aber es sind die Themen die mich zurzeit beschäftigen. Die Themen für meine Filme sind die Themen, die mich in meiner derzeitigen Lebensphase beschäftigen. Diese werden sich auch über die Jahre mit mir verändern.

progress: Wann wird der Film zu sehen sein?

Schmidinger: Ich bin gerade am Schreiben, die Produktion wird frühestens nächsten Sommer beginnen. Wenn alles gut geht ist 2015 realistisch.

 

Zur Person: Der 28 Jährige Gregor Schmidinger konnte bisher unter anderem mit den Kurzfilmprojekten „The Boy Next Door“, „Der Grenzgänger“ und Homophobia auf sich aufmerksam machen. Derzeit studiert er Drehbuch an der University of California Los Angeles (UCLA).

 

Das Interview führete Georg Sattelberger. Er Studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.

Hier gehts zum Artikel: Romantik zwischen Suchfiltern

Romantik zwischen Suchfiltern

  • 14.02.2014, 19:34

Immer mehr Menschen suchen die Liebe im Internet. Der Alltag auf diesen Plattformen bewegt sich zwischen Rationalität und ersehnter Intimität.

Immer mehr Menschen suchen die Liebe im Internet. Der Alltag auf diesen Plattformen bewegt sich zwischen Rationalität und ersehnter Intimität.

Die Verheißung einer Industrie:„Ist das wofür wir leben, das Größte wovon wir träumen, wirklich so schwer zu finden? Jetzt den passenden Partner finden!“ Mit diesem Spruch wirbt eines der größten und zugleich ältesten Online-Dating-Services im deutschsprachigen Raum: Parship. Ein Slogan und zugleich Sinnbild für eine ganze Branche, die Singles helfen will den „idealen Match“ zu finden. Portale wie Elitepartner, Friends-Scout24 oder OkCupid machen ihren KundInnen Hoffnung auf baldige Zweisamkeit
– und zwar effizient, mit möglichst wenig Aufwand und das bequem von zu Hause oder unterwegs. Können sie diese Versprechen einlösen? Und verändert der Online-Datingmarkt die Art und Weise, wie wir Beziehungen denken, fühlen und leben?

Basierend auf vorgeblich wissenschaftlichen Tests sollen die PartnerInnenvermittlungen im Internet den „perfekten Match“ ermöglichen. Wer sich auf Parship anmeldet, füllt zuerst circa 30 Minuten lang einen Fragebogen über Beziehungsvorstellungen, Selbsteinschätzung und Lebensplanung aus. Ist das eigene Profil dann angelegt, werden einem/r sogleich jene UserInnen gemeldet, deren Antworten den eigenen am nächsten kommen. Ohne einen Mitgliedsbeitrag bezahlt zu haben, der sich bei den größten Anbietern auf stattliche 30- 60 Euro pro Monat beläuft, sind die potentiellen Traumfrauen und -männer aber nur auf verpixelten Bildern zu sehen. Ob kostenpflichtig oder nicht, die meisten Plattformen bieten ihren NutzerInnen Suchfilter an, mittels derer sie die Profile der anderen Online-DaterInnen sortieren können, ganz nach den eigenen Bedürfnissen: nach Alter, sexueller Orientierung, Hobbies oder Monatseinkommen. Damit soll die Suche nach potentiellen PartnerInnen effizienter und einfacher werden.

Oberflächliche Kriterien Erste Erfahrungen mit der gezielten PartnerInnensuche im Netz hat der Kurzfilmregisseur Gregor Schmidinger in seiner Jugend gemacht. Der heute 28-Jährige ist in einer kleinen Gemeinde in Oberösterreich aufgewachsen und hat mit 16 sein erstes Profil auf braveboy.de angelegt. Bis Anfang 2013 war er regelmäßig auf Dating- Seiten unterwegs, zuletzt vor allem auf Gayromeo und der Dating-App Grindr. Schmidinger kennt sich also aus mit der Alltagskultur auf diesen Seiten. „Es funktioniert sehr schemenhaft, man geht sehr systematisch vor und sortiert nach oberflächlichen Kriterien aus. Dabei lässt man sich natürlich nie wirklich auf jemanden ein“, sagt er. Getroffen hat sich Gregor Schmidinger nur selten mit Personen, die er aus dem Netz kannte. Wenn doch, dann war das für ihn meist eine Enttäuschung. „Man hat ein gewisses Bild im Kopf. Es entstehen schnell Vorstellungen und Hoffnungen, wie jemand sein wird. Wenn man die Person dann trifft, unterscheiden sich oft die eigenen Erwartungen von der Realität. Es fehlen im Netz einfach bestimmte Informationen, wie etwa das Haptische, die Gestik, wie jemand spricht.“

Wie NutzerInnen mit dem Versprechen der Dating-Plattformen umgehen, hat der Sozial- und Kulturwissenschafter Kai Dröge von der Universität Frankfurt in den Blick genommen. Allgemein liegt für Dröge der Grund dafür, dass die romantische Liebe zum dominanten Beziehungsideal geworden ist, in der zunehmenden Rationalisierung und Individualisierung. „Natürlich wird die Liebe dadurch mit extrem hohen Erwartungen aufgeladen: Sie soll kompensieren, woran wir in der mo- dernen Gesellschaft leiden“, erklärt er. Zwar sei auch unsere Beziehungswelt abseits des Internets von ökonomischer Rationalität durchzogen, Online-Dating verstärke diese Tendenz aber noch, „indem es eine Art Online-Shopping-Plattform entwirft, wo Personen anhand standardisierter Merkmale vergleichbar gemacht werden und sich somit gewissermaßen Marktpreise bilden lassen“.

Prosumer der Liebe. Daran verdienen die Dating-Plattformen nicht schlecht. 2011 hat die Dating-Industrie im EU-Raum einen Umsatz von 811 Millionen Euro erwirtschaftet. Die BritInnen haben dabei mit 211 Millionen Euro am meisten ausgegeben, dicht gefolgt von den Deutschen mit 203 Millionen. Dabei sind es die NutzerInnen selbst, die das eigentliche Business der Plattformen betreiben. Wer sich auf einer Dating-Plattform registriert, tut dies „in der Erwartung auf emotionale Erlebnisse und Beziehungen“, erklärt Dröge. „Die Nutzerinnen und Nutzer selbst produzieren diesen Wert: durch eine attraktive Selbstdarstellung oder durch die Qualität und Quantität ihrer emotionalen Interaktionen.“ Diese Vermischung von ProduzentInnen- und KonsumentInnenrolle wird in der Internetforschung als „Prosumtion“ bezeichnet. Auch die Anzahl der NutzerInnen ist in den vergangenen Jahren rasant gestiegen. Allein im deutschsprachigen Raum hat sich die Zahl der aktiven NutzerInnen zwischen 2003 und 2012 versiebenfacht. Rund um das eigentliche Geschäftsmodell der Dating-Plattformen haben sich außerdem weitere Geschäftszweige entwickelt: Mittlerweile gibt es ein umfassendes Angebot an Ratgeberliteratur darüber, was es braucht, um online den perfekten Match zu finden. Auch zahlreiche Blogs und Videos erklären, wie das eigene Profil optimiert werden kann und worauf es bei der Selbstdarstellung in Bild und Text ankommt.

Kai Dröge hat sich auch mit den Auswirkungen der Anonymität auf Dating- Plattformen beschäftigt. Zwar sind auf manchen Portalen ausdrücklich Klarnamen erwünscht, teils werden diese sogar verlangt, die Regel sind sie allerdings noch nicht. „Wir sehen in unserer Forschung immer wieder, dass die Anonymität häufig zu Unverbindlichkeit führt“, erklärt Dröge, wie sich ein vermeintlicher Vorzug von Online-Dating letztlich negativ auf das Bindungsverhalten der NutzerInnen auswirken kann. Darüber hinaus ist Dröge auch auf weitere Nebeneffekte der angeblichen Vorteile von Dating- Plattformen gestoßen: Der perfekte Match führe etwa „eher zu Langeweile als zu emotionaler Erregung“.

Spiel mit Identitäten. An einem perfekten Match war die erfahrene Online-Daterin Anne Kran* aber ohnehin nie interessiert. Sie hat sich ihr erstes Profil vor rund zehn Jahren zugelegt und seither einige Plattfor- men ausprobiert. Zunächst hat sie sich zum Zeitvertreib registriert, dann aber schnell gemerkt, dass sie am Spiel mit Identitäten Spaß findet. Mittels verschiedener Benutzerinnennamen hat sie jeweils unterschiedliche Aspekte ihrer Person hervorgehoben, dabei aber nie Falschangaben gemacht. Ab und an hat sie sich auch mit Leuten offline getroffen, woraus sich manchmal auch längere Freundschaften entwickelt haben. Beziehungen hat sie über Dating-Seiten aber nie gefunden. Zwei ihrer PartnerInnenschaften haben sich zwar tatsächlich über Kontakte in Online-Musikforen entwickelt, allerdings war sie dort zunächst nur aufgrund ihrer Leidenschaft für Musik aktiv. Unterschiede zwischen Online- und Offline-Dating sieht sie nicht. „Es gibt doch auch Lokale, die richtige Fleischmärkte sind. Genügend Events sind darauf ausgelegt, dass du jemanden mit nach Hause nimmst.“ Mittlerweile ist Kran kaum noch auf Dating- Seiten unterwegs, waren es früher noch ein paar Stunden pro Tag, so sind es heute nur mehr ein paar Minuten.

Gregor Schmidinger hat sich vom Online-Dating sogar ganz verabschiedet. Vor gut einem Jahr hat er einen Selbstversuch gestartet, bei dem er unter anderem auf den Konsum von Pornographie und den Besuch von Dating-Seiten verzichtet – seine Erfahrungen damit veröffentlicht er auf einem eigens dafür geschaffenen Blog. „Irgendwann habe ich gemerkt, dass das auch so ein komisches Spiel ist: Du schaust, ob du ihn haben kannst und wenn du ihn hast, dann ist er eigentlich gar nicht mehr interessant.“ Das Profil seines nunmehrigen Freundes hat er zuerst auf Grindr gesehen, sein Interesse habe sich aber damals nicht über das Oberflächliche hinausentwickelt und schnell verlaufen. Erst als sich die beiden offline begegnet sind, hat es gefunkt. Seinen Selbstversuch sieht er bisher als Erfolg: Er habe kein Interesse, wieder ein Dating-Profil anzulegen. Dennoch fügt er hinzu, dass Dating-Plattfor- men etwa für LGBTQI-Jugendliche, besonders im ländlichen Raum, eine gute Möglichkeit seien, Kontakte mit Gleichgesinnten zu knüpfen.

Geisterdate oder echte Intimität? Damit den Dating- Services nicht allzu viele NutzerInnen dauerhaft abhanden kommen, erweitern diese stetig ihr Angebot. In den vergangen Jahren boomen unter anderem Dating-Apps. Mitunter wählt der Dating-Markt aber auch fraglichere Strategien, um NutzerInnen bei Laune zu halten. Sogenannte Internet- Kontaktmarkt-SchreiberInnen werden gezielt dazu eingesetzt, NutzerInnen mit Hilfe gefälschter Profile auf Seiten mit Mitgliedsbeiträgen zu locken oder dort zu halten.

Einfallsreich ist aber auch so mancheR Online-DaterIn. Aus Unzufriedenheit mit den Matching-Algorithmen der Dating-Seiten hat die amerikanische Unternehmerin und Autorin Amy Webb die Vorgangsweise anderer NutzerInnen penibel beobachtet. Schließlich entwickelte sie ihr eigenes Punktesystem, mit dessen Hilfe sie online ihren jetzigen Ehemann gefunden hat. Ihre Ergebnisse hat sie in dem Buch „Data, A Love Story“ veröffentlicht. Wer besonders geschäftig oder faul und zudem zahlungskräftig ist, kann die Suche nach dem perfekten Match aber auch ganz outsourcen und auf Ghost-Dating zurückgreifen. Dabei zahlen NutzerInnen andere dafür, das Alltagsgeschäft auf den Plattformen für sie zu erledigen, also potentielle Dates zu suchen, Nachrichten zu schreiben und gegebenenfalls eine Verabredung zu arrangieren. Nur das tatsächliche Date jenseits des Internets wird schließlich persönlich bestritten.

Trotz aller Bedenken und Absurditäten, die Online-Dating mit sich bringt, glaubt aber auch Kai Dröge nicht, dass wir in absehbarer Zeit die komplett durchrationalisierte Liebe aus dem Netz erleben werden: „Von der Liebe aus dem Katalog sind wir noch weit entfernt. Außerdem kann das Netz durchaus auch ganz andere Erfahrungen bieten: eine tiefe Emotionalität, wechselseitige Selbstoffenbarung und Intimität, die stark romantische Züge tragen können.“

*Angaben zur Person wurden von der Redaktion geändert.

 

Georg Sattelberger studiert Internati- onale Entwicklung an der Universität Wien.

Hier gehts zum Interview mit Kai Dröge