Barrierefreiheit

Die kommenden Herausforderungen der ÖH

  • 12.05.2017, 22:26
Alle zwei Jahre wählen Österreichs Studierende ihre Vertretung, seit 2015 wird auch die Bundesvertretung wieder direkt gewählt. Welche Probleme und Herausforderungen werden sich der künftigen ÖH-Spitze stellen und wie wollen die Fraktionen damit umgehen?

Alle zwei Jahre wählen Österreichs Studierende ihre Vertretung, seit 2015 wird auch die Bundesvertretung wieder direkt gewählt. Welche Probleme und Herausforderungen werden sich der künftigen ÖH-Spitze stellen und wie wollen die Fraktionen damit umgehen?

In den letzten Jahren haben sich große Demonstrationen oder Aktionen zum Thema österreichische Bildungspolitik rar gemacht. Das heißt aber leider nicht, dass sich die Situation an den Hochschulen entspannt hätte – es haben nur alle gelernt, damit zu leben. Maßnahmen wie die Studieneingangs- und Orientierungsphase (StEOP), gegen deren Einführung 2009 noch heftig protestiert wurde, sind heute für Studienanfänger_innen Normalität geworden, die nicht unbedingt hinterfragt wird.

STUDIENPLATZFINANZIERUNG. Mit der sogenannten „Studienplatzfi nanzierung“ will die Regierung die Unis fi nanziell entlasten. Seit das Regierungsprogramm eine Überarbeitung erfahren hat, ist fi x, dass berechnet werden soll, wie viel ein Studienplatz kostet. Danach soll dann auch entschieden werden, nach welchem Schlüssel die Unis Geld für eben jene Studienplätze bekommen sollen. Vermutlich werden dabei genau so viele „Studienplätze“ herauskommen, wie Budget da ist. Sprich: Flächendeckende Zugangsbeschränkungen und die Reduktion von Studierendenzahlen sollen die Unis „entlasten“. Da die Details noch nicht ausgehandelt sind, hat die zukünftige Bundesvertretungsspitze einige Einfl ussmöglichkeiten. Ob die ÖH allerdings viel verhandeln können wird, ist fraglich. Die meisten Fraktionen lehnen flächendeckende Zugangsbeschränkungen ab. Sowohl Grüne und Alternative Studierende (GRAS), der Verband sozialistischer Student_innen Österreichs (VSStÖ), die Fachschaftslisten (FLÖ) und die beiden kommunistischen Listen KSV-KJÖ und KSV-LiLi fordern stattdessen einen off enen Hochschulzugang, der staatlich fi nanziert werden soll. Die AktionsGemeinschaft (AG) begrüßte die „kapazitätsorientierte Studienplatzfi nanzierung“, lehnt Studiengebühren jedoch ab – Zugangsbeschränkungen nennt die AG „Zugangsmanagement“ und fordert „faire und transparente Aufnahmetests“. Die Jungen Liberalen Studierenden (JUNOS) hingegen sind begeistert von den Ideen des sozialdemokratischen Kanzlers: „Christian Kern setzt mit der Studienplatzfi nanzierung erste richtige Schritte in Richtung fairer Zugangsbeschränkungen.“ Die Fraktion fordert „nachgelagerte Studiengebühren“ in der Höhe von bis zu 500 Euro im Semester, die nach dem Studium bezahlt werden sollen. Der RFS will ausländischen Studierenden nur dann einen Studienplatz gönnen, wenn sie in ihrem Herkunftsland ebenfalls einen vorweisen können, was für Drittstaatenangehörige allerdings bereits Realität ist.

UNIS UND ANDERE HOCHSCHULEN. Seit der letzten Wahl 2015 sind alle Studierenden von Universitäten, Privatunis, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen Mitglieder der ÖH. Rechtlich gesehen sind sie aber nicht gleichgestellt, da sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen je nach Hochschultyp stark unterscheiden. Während die Regierung keine Pläne hat, einen einheitlichen Hochschulraum zu schaff en, sehen die Listen, die sich zur ÖH-Wahl stellen, das anders. Die GRAS schreibt zum Beispiel: „Das Problem liegt vor allem in den rechtlichen Grundlagen: Welche Rechte Student_innen haben, ob und wenn ja wo sie diese einfordern können, hängt maßgeblich vom Hochschulsektor ab. Bei einem einheitlichen Hochschulraum wären auch Wechsel zwischen den Sektoren wesentlich einfacher und unbürokratischer möglich“, und fasst damit die Meinung fast aller Fraktionen zusammen. Der KSV-KJÖ stellt die Privatuniversitäten jedoch in Frage, „denn von kritischer Lehre und Bildung kann dort nicht die Rede sein“. Der KSV-LiLi will sie nicht weiterhin öff entlich bezuschussen lassen. Die FLÖ betont, „Österreich braucht keinen einheitlichen Hochschulraum, aber ein klares bundesweites Studienrecht für alle Studierenden“. Auch die AG begrüßt den Status quo: „Eine Trennung ist durchaus sinnvoll, da so eine Vielfalt von ‚Systemen‘ erhalten bleibt und man für sich selbst entscheiden kann, welches für einen selbst das beste ist.“

SOZIALE LAGE. Die letzte Studierenden-Sozialerhebung zeigte: Obwohl 61 Prozent der Studierenden erwerbstätig sind, ist über ein Viertel von starken fi nanziellen Schwierigkeiten betroff en. Von der Familie wird nur ein Drittel fi nanziert – somit bleibt die staatliche Studienbeihilfe die wichtigste Unterstützung für Studierende. Erfolgreich ist sie auch: Die Studienabschlussquote ist bei jenen Studis, die eine Beihilfe beziehen, doppelt so hoch wie bei anderen. Die Beträge sind jedoch niedrig und der Kreis der potentiellen Bezieher_innen ist klein. So wundert es wenig, dass auch hier sämtliche Fraktionen Erhöhungen und Änderungen fordern. Dass die Studienbeihilfe seit 1999 nicht mehr an die Infl ation angepasst wurde, ärgert die wahlwerbenden Gruppen ebenso wie die diversen Altersgrenzen, die spätentschlossenen Studierenden das Leben schwer machen. Wie die Beihilfen künftig aussehen sollen, darüber sind die Fraktionen sich jedoch nicht eins: Während JUNOS mehr „Leistungsstipendien“ fordern, will die GRAS ein „existenzsicherndes Grundstipendium von 844 Euro im Monat für alle Student_innen“, der KSV-KJÖ sieht soziale Absicherung nur im Sozialismus als möglich an, FLÖ und AG wollen zusätzlich eine Aufstockung verschiedener Sachleistungen.

MOBILITÄT. In einem Thema sind sich alle Fraktionen, die in die Bundesvertretung wollen, einig: Sie fordern alle ein österreichweit gültiges günstiges Studiticket. Über diese Forderung – und darüber, dass der öff entliche Verkehr für Studierende in anderen europäischen Ländern gratis ist – haben wir in der letzten progress-Ausgabe ausführlich berichtet („Sparschiene“, S. 8). Eine andere Art der Mobilität ist jene zwischen den Hochschulen, sowohl in Österreich als auch im europäischen Hochschulraum. Mit einem FH-Bachelor einen Uni-Master zu belegen ist in der Praxis oft ein sehr steiniger Weg mit vielen Behördengängen. Sowohl VSStÖ als auch JUNOS schlagen deswegen die Schaff ung einer Informationsquelle vor, in der mögliche Anrechnungen und weiterführende Studien dokumentiert werden, die GRAS will diese Frage europaweit geklärt wissen. Bis auf eine Fraktion sind sich alle einig, dass das Bologna-System nicht durchlässig genug ist. Der KSV-KJÖ möchte das System dagegen abschaff en und zurück zu den Diplomstudien. Der KSV-LiLi möchte die Marktlogik des Bologna-Systems bekämpfen und so für mehr Mobilität sorgen.

BARRIEREN. Für eine ganze Reihe Studierender ist der Studienalltag von Barrieren geprägt. Diese können im Falle körperlicher Beeinträchtigungen ganz einfach baulicher Natur sein, andere Barrieren sind nicht so off ensichtlich. Alle Fraktionen begrüßen einen barrierefreien Ausbau der Infrastruktur, in den Details unterscheiden sich die Zugänge jedoch. Der KSV-LiLi sieht Nachholbedarf bei der Barrierefreiheit: „Während in anderen Ländern versucht wird, allen Menschen das Studieren zu ermöglichen, fangen österreichische Hochschulen gerade mal damit an, Aufzüge oder Rampen zu installieren.“ Die FLÖ hingegen ortet vor allem Mangel bei der Beratung und sieht auch die ÖH im Zugzwang: „Die ÖH kann sich dafür einsetzen, mehr Beratungen anzubieten und Anlaufstellen einzurichten.“ VSStÖ und GRAS erinnern daran, dass auch psychische Krankheiten wie Depressionen berücksichtigt werden müssen und fordern alternative Lern- und Prüfungsmodalitäten wie Online-Vorlesungen. Ebenfalls größtenteils unsichtbare Barrieren stellen sich für LGBTIQ-Studierende, vor allem für Trans- oder Inter-Studierende, deren Geschlecht nicht mit der Geschlechtsangabe in ihrem Pass übereinstimmt. Die Initiative #NaGeH fordert, dass Unis künftig unbürokratisch Vornamen und Geschlechtseintrag von inter*, trans und nichtbinären Menschen ändert. Diese Forderungen werden von den meisten Fraktionen geteilt, einzig die FPÖ-Vorläuferorganisation RFS äußert sich auf ihrer Homepage verächtlich über LGBTIQ-Studierende. Binäre Toiletten – also solche, die nach dem klassischen „Mann/Frau“-Schema aufgeteilt sind, nennt der RFS zwar „Unfug“, scheint sich der Bedeutung dieser Aussage jedoch nicht bewusst zu sein. Die AG hat sich nicht zu den Forderungen von #NaGeH geäußert, sieht die ÖH jedoch als zuständige Organisation, bei der sich Studierende bei Diskriminierungen melden könnten.

BILDUNG. Studierende und Hochschule sind nur der letzte Teil der Pipeline des österreichischen Bildungsystems und viele Probleme entstehen an anderer Stelle. Es ist daher wichtig, dass die ÖH einen genauen Blick auf die Reformen im Bildungsystem wirft – alleine schon deswegen, weil sie ja auch die zukünftigen Lehrer_innen vertritt, die momentan studieren. Zu der Frage, wie das Bildungssystem insgesamt organisiert werden soll, halten sich die Fraktionen eher bedeckt – die GRAS fordert aber z. B. die Einführung der Gesamtschule, der KSV-KJÖ will die Schulen demokratisieren. Schüler_innen sollten, da sind sich die Fraktionen einig, besser auf ein Hochschulstudium vorbereitet werden. Die JUNOS sagen dazu: „Der Wert der Bildung muss früh im Schulsystem vermittelt werden“, GRAS, VSStÖ, FLÖ und AG fordern mehr Informationen – das Referat für Maturant_ innenberatung der Bundesvertretung muss sich um seinen Fortbestand also keine Sorgen machen. GRAS und VSStÖ fordern zusätzlich ein Vorstudium, bei dem Fächer ausgetestet werden können, die AG einen freiwilligen Selbsteinstufungstest.

MAHLZEIT. Während in vielen Ländern das Essen in der Mensa zum Studierendenalltag gehört, ist das Angebot in Österreich dürftig und dazu noch recht teuer. Die AG nähert sich hier grünen Positionen an und fordert regionale Speisen. Vegetarische Optionen sind GRAS und KSV-KJÖ wichtig, die JUNOS wollen, dass das Mensapickerl auch bei privaten Gaststätten als Vergünstigung gilt, während der KSV-LiLi ein Problem mit Mensen als Privatunternehmen hat. FLÖ und VSStÖ fordern zusätzlich offene Küchen, in denen Studierende selbstständig kochen können.

ZUSAMMENGEFASST: Die Antworten auf die zukünftigen Fragen der ÖH unterscheiden sich nicht so sehr, wie man es zunächst vielleicht annehmen würde, gerade beim off enen Hochschulzugang jedoch gewaltig. Die Fraktionen haben nicht nur unterschiedliche Zugänge zu Themen, sondern auch zu der Art und Weise, wie sie als ÖH arbeiten wollen. Für Wähler_innen, die bisher wenig Kontakt mit der ÖH hatten, ist dies jedoch schwierig herauszuschälen. Es empfiehlt sich daher, sich umfassend zu informieren, bevor eins zwischen dem 16. und 18. Mai seine Stimme verteilt.

Redaktioneller Hinweis: Die Positionen der Fraktionen wurden mit einem Fragebogen und den jeweiligen Webseiten erarbeitet.

Joël Adami studiert Umwelt- und Bioressourcenmanagement an der Universität für Bodenkultur Wien.

Klag die Uni!

  • 08.03.2016, 13:47
Überall Barrieren! Warum die Universität eine einzige Barriere ist und was das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes daran ändern kann.

Überall Barrieren! Warum die Universität eine einzige Barriere ist und was das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz daran ändern kann.

„Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz“ ist ein langes Wort. Das BGStG soll die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen regeln. Schon seit 2006 schreibt das BGStG vor, dass alle öffentlichen Gebäude, Verkehrsmittel und Geschäftslokale barrierefrei zu erreichen sein müssen. Für die Implementierung dieses Gesetzes hatte man in Österreich zehn Jahre lang Zeit. Seit 1. Jänner 2016 ist diese Frist verstrichen. Barrierefreiheit heißt im Sinne des Gesetzes nicht nur Rampen und Aufzüge zu errichten, sondern sämtliche Hürden abzuschaffen und zum Beispiel Homepages von öffentlichen Institutionen barrierefrei bedienbar zu machen oder auch Filme mit Untertiteln zu gewährleisten. „Ziel dieses Bundesgesetzes ist es, die Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen zu beseitigen oder zu verhindern und damit die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in der Gesellschaft zu gewährleisten und ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen,“ so der Gesetzestext. Auch die Hochschulen in Österreich haben sich an dieses Gesetz zu halten.

Barriere Hochschule. Wenn in Österreich eine Frist verstreicht und die Ziele noch nicht erreicht sind, dann könnte sich der Gesetzgeber Mühe geben, die Frist einzuhalten, oder die Frist einfach verlängern. Letzteres hat der Bund im Falle der öffentlichen Gebäude, zu denen die meisten Hochschulen zählen, gemacht.

Zwölf Prozent gaben bei der letzten Studierendensozialerhebung an, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu haben, die sich auf das Studium auswirkt. Rund ein Prozent aller Studierenden gaben an, eine Behinderung zu haben (das sind über 3.700 Personen) und fünf Prozent eine chronische Krankheit (das sind über 18.500). Für diese Gruppe ist der Unialltag um einiges hürdenreicher. Es ist nervig für Studierende in den Hörsaal im dritten Stock zu kommen, doch für Studierende mit Rollstuhl ist es oft schlicht unmöglich. Während in den repräsentativen Hauptgebäuden oft nachträglich Lifte und Rampen eingebaut wurden, werden die Nebengebäude meist mehr schlecht als recht nachgerüstet. Aber auch die Hochschulen haben sich an das BGStG zu halten und müssten seit 1. Jänner überall barrierefrei zugänglich sein. Barrierefrei sind laut BGStG „bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind“. Wie sieht es nun damit aus?

Klagerecht. Österreich ist ein Land der Sonderregelungen. Gefühlt gibt es für jede Regelung sechs Ausnahmen. Auch beim BGStG sieht es nicht besser aus. Generell gilt die Verhältnismäßigkeit oder wie es im § 6 des Gesetzes heißt eine Ausnahme bei „unverhältnismäßigen Belastungen“. Bei „unverhältnismäßigen Belastungen“ liegt keine Diskriminierung von Menschen mit Behinderung vor, wenn „die Beseitigung von Bedingungen, die eine Benachteiligung begründen, insbesondere von Barrieren, rechtswidrig oder wegen unverhältnismäßiger Belastungen unzumutbar wäre“. Unverhältnismäßigkeit kann zum Beispiel durch einen zu großen (finanziellen) Aufwand oder Denkmalschutz gegeben sein. Dies trifft vor allem bei alten Unigebäuden zu und darauf ruht man sich oft aus. Das BGStG bringt nun aber eine wesentliche Änderung, welche die Hochschulen ins Schwitzen bringen könnte, und zwar das Klagerecht.

Das BGStG sieht ein Klagerecht vor, wenn Einzelpersonen oder Gruppen (Verbandsklage) durch Hürden daran gehindert werden, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Erst kommt es jedoch zu einem Schlichtungsverfahren bei den Landesstellen des Bundessozialamts, das auf eine außergerichtliche Einigung abzielt. Oft wird über die Höhe der Entschädigung verhandelt. Erst wenn keine Einigung erzielt wird, kommt es zu einem Gerichtsverfahren.

Kein Umbau. Das größte Defizit des Gesetzes bleibt jedoch auch nach der Fristverstreichung erhalten. So kritisiert Martin Ladstätter, Gründungsmitglied des BIZEPS-Behindertenberatungszentrums, dass „mit einer Klage Barrierefreiheit nicht erreichbar ist, weil das Gesetz nur Schadenersatz zuerkennt. Konkret bedeutet dies, dass ein Gericht zwar eine gewisse Summe an Schadenersatz festlegen, nicht aber einen Umbau anordnen kann.“ Die Barriere bleibt also bestehen. Meist ist es nämlich billiger zu zahlen als umzubauen. Dabei ist mit barrierefreien Gebäuden allen geholfen. Aufzüge sind nicht nur für Menschen mit Rollstühlen von Vorteil, keiner geht gerne mehrere Stockwerke die Treppen hoch. Eine bessere und einfache Ausschilderung hilft nicht nur Menschen mit Sehschwierigkeiten, sondern allen bei der Orientierung in großen und unübersichtlichen Universitätsgebäuden.

Viele Studierende mit Behinderungen wissen nicht, dass die Universität Barrierefreiheit gewährleisten muss und sie ein einklagbares Recht darauf haben. Viele wissen auch nicht, dass jede Hochschule ab einer gewissen Größe eine*n Behindertenbeauftragte*n haben muss, der sich mit Themen der Barrierefreiheit auseinandersetzt und Studierende mit Behinderungen berät. Diese Behindertenbeauftragten werden von den Rektoraten aber angehalten, die Studierenden nicht über ihr Klagerecht zu informieren. Dabei würde sich auf den Hochschulen wohl schnell etwas verändern, wenn die Schadenersatzkosten höher wären als die Kosten für Umbauten.


Anne Marie Faisst studiert Internationale Entwicklung an der Universität Wien.


Links:
Referat für Barrierefreiheit ÖH-Bundesvertretung
Referat für Barrierefreiheit ÖH Uni Wien
BIZEPS

Veranstaltungshinweis:
Am 16.3. findet eine Podiumsdiskussion zum Thema: HÜRDENLOS STUDIEREN?! "Wie barrierefrei sind Österreichs Hochschulen?" an der Universität für Bodenkultur Wien (2. Stock, Sektor D in der „alten WU“, Augasse 2-6, 1090 Wien) statt. Weitere Informationen beim Facebook-Event hier.

Eine Reise auf acht Rädern

  • 02.08.2014, 09:24

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Ein Jahr lang waren Victoria und Reinfried mit Auto und Rollstuhl in Mexiko und Mittelamerika unterwegs. So wie jede Reise entwickelte auch diese ihre eigenen Geschichten und Herausforderungen.

Im Spätsommer 2010 haben sich die beiden aufgemacht. Eigentlich sollte es eine sechsmonatige Auszeit vom österreichischen Winter werden. Es wurde schließlich eine zwölf Monate lange Reise durch Mexiko und Mittelamerika. Dabei bestaunten Victoria Reitter und Reinfried Blaha nicht nur die schönsten Strände, durchtauchten malerische Buchten und machten unzählige Bekanntschaften. Sie hatten auch mit Krankheiten zu tun, machten es sich auf verlassenen Terrassen gemütlich und entwickelten eine besondere Taktik im Umgang mit lästigen Polizeikontrollen. Bis nach einem Jahr sowohl ihr Auto, mit dem sie rund 20.000 Kilometer zurückgelegt hatten, als auch Reinfrieds Rollstuhl eine Generalsanierung nötig hatten.

Victoria pausierte für die Dauer des Trips ihr Studium der Kultur- und Sozialanthropologie in Wien, der studierte Architekt Reinfried ließ sich von seiner Arbeit in Graz karenzieren. Startpunkt der Reise war Los Angeles, wo sich die beiden einen alten Volvo, Baujahr 1984, zulegten. Denn eine Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln wäre nur unter schweren Anstrengungen möglich gewesen. Seit einem Ski-Unfall im Jahr 2006 ist Reinfried von der Brust abwärts gelähmt und nur mit einem Rollstuhl mobil. Aufgrund seiner Querschnittslähmung ist er auch auf Einwegkatheter angewiesen, um seine Blase entleeren zu können, je nach Wassermenge benötigt er dafür sechs bis neun Stück am Tag. Für eine halbjährige Reise hatten die beiden also eine Unmenge an Kathetern im Gepäck; der zusätzliche Stauraum des Autos erwies sich deshalb als erhebliche Erleichterung. Kalifornien empfanden beide, auch im Vergleich zu Österreich, als relativ barrierefrei. Das änderte sich aber spätestens an der Grenze zu Mexiko: „Wir sind dann zu einem Team geworden, das voneinander abhängig war. Ich war angewiesen auf Vicki, sie aber auch auf mich. Ohne sie hätte ich quasi an einer Straßenecke sitzenbleiben müssen“, erklärt Reinfried.

Durch die Wüste. Für die erste, rund 1.600 Kilometer lange Etappe, die sie durch die dünnbesiedelte, wüstenartige Gegend von Baja California mit ihren einzigartigen Stränden führte, ließen sich die beiden gut fünf Wochen Zeit. Mit wenig Budget ausgestattet, schlugen sie dort ihr Lager auf, wo es ihnen gerade am besten gefiel. Wild zu campieren, hatte in dieser Gegend allerdings einen erheblichen Nachteil: Der Boden ist dort so sandig, dass Reinfried mit dem Rollstuhl schnell steckenblieb. Vicki musste sich um Zelt und Lagerfeuer also immer alleine kümmern. Auf der Suche nach Alternativen mieteten sie sich schließlich auf den Terrassen von verlassenen Ferienhäusern ein. Für Reinfried bedeutete das, seine Mobilität zurückzugewinnen. Überrascht von den vergleichsweise niedrigen Temperaturen in der Nacht, mussten sie zum Schlafen manchmal nahezu alles anziehen, was sie dabei hatten. Das Auto wurde bald zu einem zweiten Zuhause. Täglich mit neuen Herausforderungen konfrontiert, entwickelten beide im Zuge der Reise für so manches Problem kreative Lösungen. Da Reinfried auf Sitztoiletten angewiesen ist, solche in der Gegend aber dünn gesät waren, wurde kurzerhand ein Camping-Stuhl zu einer mobilen Toilette umfunktioniert. „Ich konnte mir jetzt die schönsten Toilettenplätze der Welt aussuchen“, erzählt er lachend. Zwei gestohlene Schlafsäcke, eine gebrochene Zeltstange und zwei löchrige Matten kostete die erste Etappe ihrer Reise, dafür hatten die beiden ihr Spanisch zu diesem Zeitpunkt bereits um gefühlte fünf Prozent verbessert.

In San José del Cabo, an der Südspitze Baja Californias angekommen, begann Reinfried in einem Architekturbüro zu arbeiten; Victoria fand Arbeit bei einer NGO, die Menschen im Slum-Gürtel rund um die Stadt unterstützt. Die Wohnungssuche gestaltete sich schwieriger, da es in San José del Cabo praktisch keine barrierefreien Gebäude gab. Konfrontiert mit der Aussicht, ihren Aufenthalt in Zelt und Auto verbringen zu müssen, tat sich aber plötzlich doch noch ein geeignetes Domizil auf: direkt am Meer, sogar mit einer Rampe bis zum Strand – ideal für einen Strandbesuch mit dem Rollstuhl.

Weihnachten am Strand. Statt mit einer importierten Tanne aus Kanada wurde Weihnachten mit Corona und Tequilla gefeiert. Zu diesem Zeitpunkt beschlossen Reinfried und Victoria auch, ihre Reise um drei weitere Monate zu verlängern. Damit standen sie aber auch vor einem Problem: Die Katheter würden früher oder später zur Neige gehen. Es musste Nachschub her. Ein Paket aus Österreich wurde allerdings vom mexikanischen Zoll festgehalten. Um die Katheder dort abzuholen, hieß es also wieder ab auf die Straße Richtung Mexiko-City.

Am Weg in die Millionen-Metropole verbrachten Victoria und Reinfried die Nächte immer öfter in Herbergen. Geeignete Unterkünfte zu finden, die ohne Treppen, ohne zu steile Rampen und durch ausreichend breite Türen zugänglich waren, stellte sich aber auf der gesamten Reise als äußerst schwierig heraus. Während Reinfried im Auto wartete, sah sich Victoria die Herbergen an. Dabei entwickelte sie ein besonderes Auge für Maße: „Ich konnte auf den Millimeter genau erkennen, ob Reini mit dem Rolli durch eine Tür passen wird oder nicht.“ Dass sie aufgrund mangelnder Barrierefreiheit viele Unterkünfte ausschließen mussten, sollte sich aber als Bereicherung erweisen: „Auf diese Weise haben wir viele Plätze gesehen, die in keinem Reiseführer verzeichnet sind und haben eine Art Negativabdruck des Reiseführers gemacht“, erzählt Victoria. Oft wurden von GastgeberInnen auch provisorische Rampen angelegt oder anderweitig geholfen. In der Hauptstadt Mexikos angekommen, war es zwar nicht möglich, die Katheter tatsächlich aus den Fängen des mexikanischen Zolls zu befreien, mit Hilfe von Victorias Bruder und der österreichischen Botschaft erhielten sie aber trotzdem Nachschub.

Gleichberechtigt unter Wasser. Der weiteren Erkundung Mexikos stand somit nichts mehr im Weg. Besonders fasziniert waren Reinfried und Victoria vielerorts von der Unterwasserwelt. Sie gingen nicht nur oft schnorcheln, sondern lernten auch Tauchen – eine Sportart, die sie beide gleichberechtigt ausüben konnten. „Es hat zwar ein wenig gedauert bis ich die Stabilität unter Wasser gefunden habe. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es eigentlich allen Tauchanfängern dabei gleich geht“, erzählt Reinfried. Nach 180 Tagen stand schließlich die Ausreise aus Mexiko bevor. Das Ziel war Kolumbien.

Ihre Reise führte zunächst über Belize nach Guatemala, ein Land mit einem indigenen Bevölkerungsanteil von rund 60 Prozent, in dem circa 50 verschiedene Sprachen gesprochen werden. Die Osterzeit verbrachten sie in der Stadt Antigua und erlebten dort die tagelangen Osterprozessionen. „Die ganze Stadt spielt eine Woche lang verrückt. In stundenlanger Arbeit werden bunte Teppiche aus Holzspänen auf die Straßen gelegt, dann kommt die Prozession, danach werden neue Teppiche gelegt“, erzählt Victoria. In El-Salvador fing Victoria an, Vulkane zu besteigen. Für Reinfried hieß das zwar, dass er den ganzen Tag im Zimmer bleiben musste, das war aber nach den vielfältigen Eindrücken der bisherigen Reise eine entspannende Abwechslung für ihn.

Je länger Victoria und Reinfried unterwegs waren, desto mehr Schwierigkeiten begegneten ihnen. Auch das geliebte Auto zeigte zunehmend Verfallserscheinungen: Mal war es eine kaputte Benzinpumpe, ein anderes Mal gaben ausgerechnet zur Regenzeit die Scheibenwischer auf. Wie immer wussten sich Victoria und Reinfried aber zu helfen und erdachten eine Konstruktion mit Schnüren, mittels derer sie die Scheibenwischer aus dem Auto heraus manuell bedienen konnten. Reinfried zog sich gegen Ende der Reise eine Fersenverbrennung zu, die sich nur deshalb nicht erheblich entzündete, weil er aufgrund seiner immer wiederkehrenden Harnwegsinfekte regelmäßig Antibiotika einnehmen musste. Victoria wiederum erkrankte an Denguefieber, eine Krankheit, die mitunter tödlich verlaufen kann.

Boot statt Auto. Immer wieder waren die beiden auf ihrer Reise auch mit schlecht bezahlten PolizistInnen konfrontiert, die sich über Geld unter der Hand freuten. Für diese Situationen entwickelten sie eine spezielle Taktik: den Rollstuhlbonus. „Sobald uns die Polizei aufgehalten hat, ist Vicki ausgestiegen, zum Kofferraum gegangen und hat mühsam den Rolli ausgepackt“, erklärt Reinfried: „Meistens hat sich die Sache damit auch schon erledigt“. Sie entschieden sich schließlich, ihre Reise nochmals um weitere drei Monate zu verlängern; Victorias Bruder hat sie dafür noch einmal persönlich mit einer Katheterlieferung aus Österreich versorgt. Über Honduras ging es schließlich weiter nach Nicaragua. An der Grenze zu Costa Rica wurde schließlich der Plan, über Panama bis nach Kolumbien zu reisen, durchkreuzt: Die Grenzbehörden wollten die beiden mit ihrem alten Volvo nicht einreisen lassen. So entschlossen sie sich, die touristisch kaum erschlossene Ost-Küste Nicaraguas zu bereisen – eine Gegend, in der es kaum Straßen gibt. Die meisten Strecken legten sie dort, wie die Einheimischen, im Boot zurück.

Am gefühlten Ende der Welt sollte dann schließlich das Schlimmste passieren, was sie sich vorstellen konnten: Die Kugellager des Rollstuhls gaben nach und nach den Geist auf. Für Reinfried bedeutete dies den Verlust seiner Mobilität, ein Tiefschlag für beide. Nach einiger Suche konnten sie aber den 80-jährigen Schweißer Mr. Silvio ausfindig machen, der das Nötigste reparieren konnte. Reinfried war zwar nicht mehr so mobil wie zuvor, für die Rückreise nach Mexiko-City reichte es aber. Dort überließen sie ihren lieb gewonnenen Volvo einem Künstler – im Tausch gegen zwei Gemälde. Zurück in Österreich war es für Victoria und Reinfried nicht einfach, in den Alltag zurückzufinden. Die Reise wird ihnen unvergesslich bleiben. Rückblickend meint Reinfried: „Wir haben bei dieser Reise viel gelernt, sie hat unseren Horizont erweitert. Sie hat unsere Intuition geschult und wir haben gelernt, Perspektiven
zu wechseln. Trotz manchmal unüberwindbaren Barrieren haben wir erkannt, dass die meisten Barrieren in unseren Köpfen verankert sind.“

Georg Sattelberger studiert Internationale Entwicklung in Wien.

Reisevorträge von Victoria und Reinfried gibt es zu folgenden Terminen:
30. 9. Wien Energie (www.allesleinwand.at)
8. 10. Hartberg (Stmk.)
15. 10. Seestadt Aspern (Wien)
23. 10. VBH Schloss Retzhof, Wagna (Stmk.)
29. 10. Leoben (Stmk.)

Für mehr Informationen:
https://www.facebook.com/mebeguelhonicopa

Blinde Flecken

  • 12.03.2014, 12:54

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Behinderung ist heute kein vorrangig medizinisches oder technisches Problem mehr, sondern vor allem ein soziales. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung schweigen noch immer viele Studierende über ihre Beeinträchtigung.

Als vor zwei Jahren die Campuserweiterung Science Park an der Johannes-Kepler-Universität Linz (JKU) eröffnete, fielen die ersten Hürden für Studierende mit Beeinträchtigung schnell auf. Nicht-genormte Stiegen und Glastüren ohne Kennzeichnung erschwerten sehbehinderten Menschen das Fortkommen. Der Haupteingang führte über Treppen und noch heute muss Silke Haider mit ihrem Rollstuhl den LieferantInneneingang benutzen, um ins Gebäude zu gelangen. Damals engagierte sie sich in der Österreichischen HochschülerInnenschaft auf der JKU für Barrierefreiheit. Sie erinnert sich gut: „Eine Vorab-Begehung wurde vom Institut Integriert Studieren eingefordert, aber immer wieder abgelehnt. Erst als auch die ÖH nicht locker ließ, kam es zu einer Besichtigung.“ Der Bau war jedoch bereits abgeschlossen und die Barrieren in Beton gegossen. Zur gleichen Zeit feierte Integriert Studieren sein 20-jähriges Bestehen an der Universität, Festschriften wurden verfasst und der Stellenwert des Instituts seitens der JKU immer wieder betont.

Diese Geschichte ist symptomatisch für die Situation von gesundheitlich beeinträchtigten Studierenden an Österreichs Universitäten. Gerne werden Institute und Projekte gegründet, die ihrerseits gute Arbeit leisten, jedoch ein enklavisches Dasein hüten und nur gelegentlich öffentlich in Szene gesetzt werden. Dabei ist das Linzer Institut sehr umtriebig und die Situation für Studierende mit Beeinträchtigungen an der JKU durchaus zufriedenstellend. Integriert Studieren ist Anlaufstelle für derzeit knapp 80 Studierende, die wegen ihrer funktionalen Einschränkung Unterstützung suchen. Außerdem wird dort zu integrativen Möglichkeiten neuer Technologien und des Internets im Bereich der Barrierefreiheit geforscht. Im Gespräch mit Andrea Petz, Mitarbeiterin am Institut, wird schnell klar, wo die Probleme im Umgang mit Barrierefreiheit an den Unis beginnen: „Eine Braillezeile ist in erster Linie ein technisches Hilfsmittel und bedeutet nicht gleich gelungene Integration“, so die Soziologin. Behinderung ist noch immer nicht im universitären Alltag angekommen, ihr Auftreten eine Irritation. Sie wird gesellschaftlich kaum thematisiert und ihre Bedeutung ist daher oft von der individuellen Interpretation abhängig.

Reden ist Silber, Verschweigen ist Gold. In einer vom Wissenschaftsministerium bundesweit durchgeführten Studie gab 2006 gut ein Fünftel aller Inskribierten an, eine gesundheitliche Beeinträchtigung zu haben. Bei der Hälfte der Betroffenen wirkt sich diese negativ auf ihr Studium aus. Eine Zahl, die weit über den Schätzungen der Unis liegt. Aber nur wenige Betroffene greifen auf die Angebote der universitären Servicestellen zurück. „Das Verhalten ist diesbezüglich sehr unterschiedlich“, erklärt Andrea Petz. „Manche kommen vom ersten Tag ihres Studiums an regelmäßig. Andere erscheinen erst, wenn der Schuh schon unerträglich drückt.“ Eindrücke, die sich in der Sozialerhebung widerspiegeln: Die Offenlegung der eigenen Behinderung scheint eine Frage des Müssens und nicht des Wollens zu sein.

Silke Haider hatte diesbezüglich keine Wahl. Ein Rollstuhl lässt sich nicht verstecken. Es sind vor allem Sehbehinderte, Lernschwache oder chronisch Kranke, deren Einschränkungen nicht sofort sichtbar sind, die sich die Frage stellen, wie sie nach Außen mit ihrer Beeinträchtigung umgehen. Viele entscheiden sich für das Verschweigen, rücken nur im Anlassfall damit heraus und tragen somit oft ganz ungewollt zur Tabuisierung ihrer Situation bei. Mit technischer oder finanzieller Unterstützung ist zwar vielen geholfen, an ihrem sozialen Status ändert dies jedoch nur wenig. Zwar kann man – so ein Fazit des Spezial- Eurobarometers 2008 – den ÖsterreicherInnen keine behindertenfeindliche Einstellung nachsagen, aber: Nur weil kaum jemand mehr Probleme mit behinderten Menschen zu haben scheint, heißt das noch lange nicht, dass für diese keine mehr existieren.

Wie finden sehbehinderte Studierende ihren Hörsaal? Illustration: Simon Goritschnig

So stellt sich nicht nur die Frage, ob man akzeptiert wird, sondern auch wie. Erst vor kurzem machte die ORF-Journalistin Rosa Lyon diese Ambivalenz sichtbar. Sie vertrat bei einem Ö1-Gespräch den Standpunkt, dass Menschen mit Beeinträchtigung nur am geschützten Arbeitsmarkt eine Chance hätten, da sie nicht gewinnbringend angestellt werden könnten. Wer solche Aussagen hört, überlegt zweimal ob es wirklich notwendig ist, die eigenen Bedürfnisse zu thematisieren. Rücksicht wird allzu oft mit Schutzbedürftigkeit verwechselt und trägt zu einer Situation bei, in der man sich als BehinderteR erstmal von der restlichen Gesellschaft abgrenzen muss, um danach wieder integriert werden zu können. Es ist nicht die Rolle des selbstbestimmten Menschen, sondern jene des angewiesenen und hilfsbedürftigen Behinderten, die einem/einer angeboten wird. Ein Bild, das niemand gerne von sich hat. Doch die Hemmschwelle für eine Offenlegung von Beeinträchtigungen zu senken, liegt selbst für aktive Servicestellen außerhalb ihrer Möglichkeiten. Außerdem werden schon kleinen Schritten in Richtung Alltäglichkeit Steine in den Weg gelegt. Seit Langem setzt sich das Institut an der JKU Linz etwa dafür ein, dass ein Info-Beilage über ihr Angebot zusammen mit anderen Informationsmaterialien bei der Inskription verteilt wird, bis heute jedoch ohne Erfolg.

Service oder Survey? Auch die Wissenschaft hat sich der sozio-kulturellen Dimension der Integration lange verschlossen. Erst in den letzten Jahren erfreuen sich die Disability Studies wachsender Aufmerksamkeit. Die aufkommende Disziplin vernetzt sich dabei stark mit Forschenden anderer Disziplinen, die ebenso an einem kritischen Verständnis von Identität und Normativität ansetzen. Laut den Soziologen Robert Gugutzer und Werner Schneider entsteht Behinderung nicht durch den Körper, sondern in seinem sozialen Kontext. Die Frage, ab wann körperliche Variation als Behinderung gilt, ist daher eine kulturelle. Die Forschungsarbeit auf diesem Gebiet ist deshalb von hoher Relevanz, weil die wenigsten Menschen auf persönliche Erfahrungen im Umgang mit Behinderung bauen können. Kulturell erlernte Handlungsroutinen, die ansonsten für einen reibungslosen Ablauf des Alltags sorgen, werden im Kontakt mit Behinderten oft zur Quelle des Unbehagens. Wie erklärt man etwa einem sehbehinderten Kommilitonen den Weg zum gesuchten Hörsaal? Der blinde Wissenschafter Siegfried Saerberg machte das Experiment und fragte PassantInnen nach dem Weg. Erklärungen wie „geradeaus“ oder „dort vorne“ sorgten in der Regel für die ersten Irritationen und so manche Erläuterung endete im Versuch, mit wilden Gesten die Auskunft zu verdeutlichen. Saerberg wollte mit seiner Studie vor allem eines aufzeigen: Solange Behinderung nicht im Alltag angekommen ist, fehlen uns schlichtweg die Konzepte, um ihr adäquat zu begegnen. Ihm den Weg so zu weisen, dass er es als sehbehindeter Mensch hätte verstehen können, das hat kaum jemand ad hoc geschafft. Entsprechende Routinen in der Gesellschaft zu verankern, ist ein Kraftakt, auf einfache Lösungen darf man dabei nicht hoffen.

Was bleibt, ist ein schwieriges Thema, das viele Problemfelder öffnet und kaum Lorbeeren abwirft. In Anbetracht der schon bestehenden Unterstützung stößt der Einwand, dass bloße technische oder finanzielle Hilfe nicht genug ist, und Integration mehr heißt, schnell auf Unverständnis. Im Zweifelsfall hilft eine Sozialberatung den Betroffenen oft mehr als eine Forschungsarbeit zur kulturellen Verortung von Behinderung in Auftrag zu geben. Aktivitäten im Zusammenhang mit Behinderung beschränken sich daher in der Regel auf sozial- und studienrechtliche Auskünfte und die barrierefreie Zugänglichkeit der Unis. Die Notwendigkeit dieser Angebote stellt niemand in Frage, nur verliert die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung daneben an Substanz. Sie bekämpfen die Symptome, lassen aber das Grundproblem unberührt. Dabei war das nicht immer so: Vor ein paar Jahren noch gab es in Österreich eine interuniversitäre Forschungs- und Projektplattform. Beteiligt waren neben der JKU auch die TU Wien, sowie die KFU Graz und die Universität Klagenfurt. Im Zuge der Universitätsreform 2002 wurden die Mittel für diese Initiativen von den nunmehr finanziell autonomen Universitäten jedoch gekürzt. Von den vierzehn Stellen am Linzer Institut Integriert Studieren sind heute gerade einmal drei Posten sicher finanziert. Der Rest läuft über Drittmittel. Von Seiten der Universität wird dabei stolz auf die Eigenständigkeit des Instituts verwiesen, der Umstand, dass es durch die prekäre Situation zu keinen österreichweiten Kooperationen mehr kommt, wird verschwiegen.

Ein alltägtlicher Kampf. Studierende mit einer Beeinträchtigung dürfen wohl kaum auf eine spontane Verbesserung hoffen. Ihren sozialen Status werden sie sich auch in Zukunft hart erkämpfen müssen. Im Alltag heißt dies: Man ist anders und dann doch wieder nicht. Alle Studierenden haben Ärger mit Prüfungen und doch brauchen jene mit Beeinträchtigung manchmal andere Bedingungen, um gleiche Chancen zu haben. Verheimlicht man die Behinderung, vergibt man die Möglichkeit, dem eigenen Potential gerecht zu werden. Macht man keinen Hehl daraus, muss man zuerst einmal gegen gesellschaftliche Klischees ankämpfen. Diese Ambivalenz prägt das Leben von behinderten Studierenden. Für eine bewusste Entscheidung zur eigenen Behinderung zu stehen, braucht es viel Selbstvertrauen, meint Silke Haider. In ihrer Schulzeit war sie immer die Andere, erst im Studium hatte sie genug davon. Ihre Arbeit in der Studierendenvertretung gab damals den Impuls zur Veränderung: Plötzlich stand nicht mehr der Rollstuhl im Fokus, sondern ihr politisches Engagement. Sich dafür zu entscheiden, nicht wieder in diese eine Ecke gedrängt zu werden, erfordert viel Ausdauer. Man stößt jeden Tag auf neue Barrieren. Viele davon können jedoch nicht am Gebäudeplan geortet und mit einer Rampe abgeschafft werden. Was bleibt sind die immateriellen Hürden. Sie wirken oft unbewusst und sind daher meist schwer zu benennen. Ihnen etwas entgegen zu setzen heißt Tag für Tag Vorurteile zu bekämpfen. Die Einsicht, dass es gemeinsam immer einfacher geht, würde auch die Arbeit von Andrea Petz erheblich erleichtern. Sie hofft auf den Tag, an dem das Entgegenkommen selbstverständlich und die Auskunft über rechtliche Bestimmungen im Telefonat obsolet wird. Die Integration von beeinträchtigten Studierenden kann nur dann ihrem Anspruch gerecht werden, wenn sie gesellschaftlich von einer Frage des Müssens zu einer Frage des Wollens avanciert.

Lukas Kaindlstorfer studiert Soziologie an der Uni Wien.

Die Broschüre „Barrierefrei Studieren” mit Informationen zum Studienrecht (besondere Prüfungsmodalitäten, Erlass der Studiengebühren), Beihilfen, Anlaufstellen, u.v.m. zum Download unter oeh.ac.at/Downloads & Bestellen

Beratungsangebot und Vernetzungsmöglichkeit an der ÖH: Referat für Menschenrechte und Gesellschaft (mere@oeh.ac.at