Asylrecht

Löcher im Rechtssystem stopfen

  • 03.08.2016, 21:08
In der juristischen Ausbildung wird die gesellschaftspolitische Dimension von Recht gerne vernachlässigt. Studentische Rechtsberatung nimmt in Anlehnung an die angloamerikanische Tradition der „Law Clinics“ seit kurzem auch in Österreich soziale Verantwortung wahr.

In der juristischen Ausbildung wird die gesellschaftspolitische Dimension von Recht gerne vernachlässigt. Studentische Rechtsberatung nimmt in Anlehnung an die angloamerikanische Tradition der „Law Clinics“ seit kurzem auch in Österreich soziale Verantwortung wahr.

Vor dem Gesetz sind alle gleich. In der Theorie. In der Praxis haben nicht alle die Ressourcen, bestehende rechtliche Möglichkeiten auszuschöpfen. In den USA schließen an Universitäten angebundene studentische Rechtsberatungsstellen, die so genannten „Legal Clinics“, eine wichtige Lücke im Rechtsschutzsystem. Hierzulande haben solche Institutionen keine Tradition. Felix Kernbichler, David Weixlbraun und Stephan Rihs verorteten vor zwei Jahren dennoch einen Bedarf – auch aufseiten der Studierenden. Sie gründeten nach eigenen Erfahrungen mit „Legal Clinics“ in den Staaten kurzerhand die „Vienna Law Clinics“. Der im Frühjahr mit dem sozialen Innovationspreis SozialMarie ausgezeichnete Verein will mit seiner kostenlosen, niedrigschwelligen Rechtsberatung einen gesellschaftlichen Beitrag für benachteiligte Gruppen leisten.

RECHTSHILFE FÜR START-UPS UND ASLYWERBENDE. Österreich hat grundsätzlich ein gutes Verfahrenshilfesystem. „Grundsätzlich“, wie Anna Wegscheider, die wie viele im „Vienna Law Clinics“-Kernteam ihr Studium längst abgeschlossen hat, extra wiederholt. Das Lieblingswort der Jurist_innen zieht bekanntlich immer ein „Aber“ nach sich: „Die Angebote sind da, aber zum einen ist die Kommunikation schlecht und zum anderen gibt es Menschen, die aufgrund ihrer Position in der Gesellschaft keinen Zugang zu Rechtsschutz haben.“

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Derzeit fokussieren die „Vienna Law Clinics“ ihre Arbeit auf die aus akademischen Rahmenbedingungen und persönlichem Interesse gewachsenen Bereiche Start-ups sowie Asyl- und Fremdenrecht. Die Arbeitsweisen der beiden je 15-köpfigen Teams könnten nicht unterschiedlicher sein: Während die Start-up-Gruppe persönliche Beratungen zu eigenen Bürozeiten anbietet und angehenden Jungunternehmer_innen rechtliche Erstauskünfte über Gesellschaftsform, Immaterialgüterrecht und Co. erteilt, macht die Asyl-Gruppe keine individuelle Beratung. Sie unterstützt NGOs wie den Verein Ute Bock bei rechtlichen Fragen und kooperiert mit dem Netzwerk AsylAnwalt.

WIN-WIN-SITUATION. Die Arbeit der „Vienna Law Clinics“ wird von Partner-Kanzleien gegengeprüft – ein wesentlicher Punkt der Qualitätssicherung. „Wir haben uns zur Unterstützung entschlossen, weil wir die Idee der studentischen Rechtsberatung toll finden. Nicht umsonst ist dieses Modell bereits seit langer Zeit an internationalen Eliteuniversitäten etabliert“, erklärt Rechtsanwalt Florian Steinhart von Herbst-Kinsky das Engagement der Kanzlei.

Speziell das Asyl- und Fremdenrecht ist besonders komplex, wird in der Ausbildung allerdings vernachlässigt. Auch deswegen findet Rechtsanwältin Julia Ecker, eine weitere professionelle Unterstützerin, das Konzept der Law Clinics „genial“. „Das hätte ich selbst als Studentin gerne gehabt“, so die Fremdenrechtsexpertin. Besonders in der Kooperation mit dem Netzwerk AsylAnwalt sieht sie einen Mehrwert für ihren Arbeitsbereich. So haben die Studierenden zuletzt eine umfassende Recherche für eine Verwaltungsgerichtshof-Judikatur zum Asylrecht erledigt. Ecker: „Das ist toll, denn ein einzelner Anwalt kann nicht hunderte Entscheidungen neben der laufenden Arbeit screenen.“

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Über mangelnde ehrenamtliche Bereitschaft von Studierenden können sich die „Vienna Law Clinics“ nicht beschweren. Im Gegenteil: Aufgrund des Erfolges überlegt man die Erweiterung um eine Konsument_innenschutz-Gruppe. Das Wechselspiel aus Gemeinwohl und studentischem Nutzen ist das, was die Philosophie von Law Clinics ausmacht. Deshalb laufen derzeit auch Gespräche mit dem Dekanat der Rechtswissenschaftlichen Fakultät über Möglichkeiten, die Arbeit der angehenden Jurist_innen formell im Studium anzuerkennen.

UNTERSCHIEDE. Gelänge die Etablierung dieses Konzepts, wären die „Vienna Law Clinics“ Pioniere in Österreich. Weitere Ansätze gibt es an der Karl-Franzens-Universität in Graz, wo Law Clinics in Form von praxisbezogenen Lehrveranstaltungen, ohne eigentliche Rechtsberatung, umgesetzt werden: Die Grazer „Refugee Law Clinic“ zum Beispiel bietet mehrere Lehrveranstaltungen zum Thema Flüchtlings- und Asylrecht in Zusammenarbeit mit Praktiker_innen sowie Basisinformationen als Flüchtlingsrechts-Kurzguide an. Für die von Eva Schulev-Steindl gemeinsam mit Miriam Karl geleitete „Environmental Law Clinic“ wiederum bearbeiten Studierende in Zusammenarbeit mit NGOs wie dem Umweltdachverband aktuelle Umweltrechtsfälle. „Dies bietet den Studierenden die einzigartige Chance, schon während ihres Jus-Studiums reale Lebenssachverhalte zu behandeln“, so die Professorin. „Dafür müssen sie sich aber auch durch wahre ‚Aktenberge’ wühlen – das Material umfasst teilweise mehrere Gigabyte.“ Und auch eine Legal Clinic für öffentliches Recht und Umweltrecht gibt es in Graz. Sie wird in Kooperation mit der Volksanwaltschaft von Georg Eisenberger geführt: „Mein persönliches Ziel ist es, möglichst vielen Studierenden zu zeigen, wie spannend und fordernd Öffentliches Recht in der Praxis sein kann.“

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MIT RECHT SOZIALEN WANDEL BEWIRKEN. Die stärkere Institutionalisierung der „Vienna Law Clinics“ brächte für Gründungsmitglied Weixlbraun auch einen gesellschaftlichen Mehrwert: „Durch die Anbindung an die Universität wäre eine akademische Reflexion möglich.“ Wiederkehrende Fragestellungen könnten Rechtsschutzprobleme sichtbar machen und Basis für politische Arbeit sein. Denn die Möglichkeit von strategischer Prozessführung – also über einen starken Einzelfall hinaus, soziale, politische oder rechtliche Veränderungen in Gang zu setzen – funktioniert in Österreich immer wieder gut. Das hat zuletzt das als verfassungswidrig gekippte Adoptionsverbot für homosexuelle Paare gezeigt. Solche Fälle würden beweisen, dass man mit dem Recht als Machtinstrument auch gesellschaftliche Veränderungen bewirken kann, streicht „Vienna Law Clinics“-Juristin Wegscheider heraus. Ihre Kollegin Teresa Exenberger bringt es auf den Punkt: „Hier sehen wir eine wichtige Schnittstelle für Law Clinics: Wir können Ressourcen anbieten, die Kanzleien nicht haben.“

Cornelia Grobner ist freie Journalistin und Doktoratsstudentin im Fachbereich Kommunikationswissenschaft an der Universität Salzburg.

Links:
Vienna Law Clinics
Refugee Law Clinic
Environmental Law Clinic
Legal Clinic für öffentliches Recht und Umweltrecht

Der notstandslegitimierte Notstand

  • 21.06.2016, 21:53
Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Am 27. April 2016 beschloss der österreichische Nationalrat erneut eine Verschärfung des Asylrechts, wie das auch schon in den letzten Jahren in regelmäßigen Abständen passiert ist. Die aktuelle Novelle bedeutet eine De-facto-Abschaffung des allgemeinen Rechts auf Asyl. So wird es für viele verunmöglicht, ihre Familie nach Österreich nachzuholen, wodurch noch mehr Flüchtende auf gefährliche Migrationsrouten gedrängt werden. Nicht minder problematisch ist die Regelung zu „Asyl auf Zeit“, die den Asylstatus auf drei Jahre beschränkt und danach eine neuerliche Prüfung sämtlicher Asylgründe vorsieht: Dies hebelt aktiv die Teilhabe von Geflüchteten an der Gesellschaft aus und erschwert zahlreichen Menschen eine langfristige Lebensplanung, etwa beim Versuch, eine Wohnung oder einen Job zu bekommen.

AKTUELLE DISKURSE. Diese Verschärfungen wirken sich auf unterschiedliche Aspekte des Lebens Geflüchteter und von Migrant*innen aus, dennoch zielen sie alle auf eines ab: Abschottung. Diese Abschottung aber geschieht – wie jeder andere soziale Prozess – nicht in einem „luftleeren“ Raum, sondern bildet vielmehr konkrete gesellschaftliche Machtverhältnisse ab. Sieht man den Staat als Verdichtung eines materiellen Kräfteverhältnisses, eröffnet das den Blick darauf, dass Gesetze nicht von der vermeintlich privaten Ebene des sozialen Lebens zu trennen sind und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eben dieses Lebens strukturiert und reproduziert.

Hier setzen aktuelle Diskurse über den Notstand an. Dieser sei, so heißt es, unumgänglich: Österreich sehe sich mit einer unbewältigbaren Menge an Geflüchteten konfrontiert. Refugees werden nicht mehr als individuelle Menschen mit eigenen Schicksalen wahrgenommen, sondern als entmenschlichte Masse – was sich auch auf der sprachlichen Ebene manifestiert, etwa durch die Verwendung einer Rhetorik, die ansonsten der Beschreibung von Naturkatastrophen dient.

TRAISKIRCHEN: DIE ÜBERFORDERUNG. Dass diese Bilder der Überforderung relativ wenig mit der Realität zu tun haben, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Traiskirchen. Wenn wir uns an den letzten Sommer erinnern, beherrschten vor allem die katastrophalen Zustände im Erstaufnahmezentrum die mediale Berichterstattung. Politik und Verwaltung schienen nicht in der Lage zu sein, auch nur ein Mindestmaß an Versorgung sicherzustellen. Die Grundversorgung, was Essen oder Hygiene betraf, war mangelhaft, Geflüchtete mussten sich zeitweise stundenlang anstellen, um Essen oder Kleidung zu bekommen. Wurden diese Probleme angesprochen, wurde auf ihre Unlösbarkeit verwiesen: Es wären schlichtweg zu viele Menschen in Traiskirchen, hieß es vonseiten des Innenministeriums. Dass es kein Problem wäre, in einem der reichsten Länder der Welt 4000 Menschen adäquat zu versorgen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist, erklärt sich eigentlich von selbst. Wenig später – als vermehrt Menschen in Österreich ankamen und in den Folgemonaten blieben – gab es plötzlich Unterkünfte.

Wie Traiskirchen in den Jahren zuvor, sind auch diese Unterkünfte in der Regel nicht sonderlich lebenswert, aber: Sie sind vorhanden, obwohl es zuvor jahrelang hieß, es wäre nicht möglich, Plätze bereitzustellen und Traiskirchen zu entlasten. Hier zeigt sich auf der diskursiven Ebene ein kontinuierliches Verschieben dessen, was möglich ist oder nicht, sowie die ständige Anpassung der Auslegung von „Überforderung“: Es ist nicht die angeblich zu hohe Anzahl Geflüchteter, die Österreichs Behörden überlastet, sondern die politische Weigerung, jemals auch nur ein wenig mehr als das Mindestmaß an notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Vor allem im Hinblick auf die unzähligen leerstehenden Wohnungen ist das Argument, es gäbe nicht genug Platz für alle, absurd.

EINE FRAGE DER VERTEILUNG. Hier zeigt sich, wie Diskurse der Überforderung konkrete ökonomische Interessen stützen: Anstatt über eine andere Verteilung von Ressourcen zu sprechen, wird – parallel zu rassistischen Diskursen über „undankbare Fremde“, die sich nicht mit unzumutbaren Massenunterkünften zufriedengeben – stetig ein neues Bild der Überforderung produziert. Dass diese Überlastung allerdings nicht einem tatsächlichen Mangel an Ressourcen, sondern bloß dem Unwillen, diese bereitzustellen beziehungsweise umzuverteilen, geschuldet ist, wird nicht angesprochen. Es gibt also nicht grundsätzlich zu wenig Wohnungen, Kindergartenplätze und Schulen, sondern es sind politische Entscheidungen, wie viele Wohnungen gebaut und wie viele Betreuungsplätze angeboten werden. Im öffentlichen Bewusstsein manifestiert sich nur das Problem, nicht aber seine Ursachen und naheliegende Lösungsansätze.

Durch das Nicht-Bereitstellen von grundlegenden Ressourcen hat sich Österreich selbst einen vermeidlichen Notstand konstruiert, auf den dann mit weiteren repressiven Gesetzgebungen reagiert wurde, wie etwa mit der Verschärfung des Asylrechts. Wenn es in Mainstreammedien heißt, der österreichische Staat und die handelnden Politiker_innen wären letzten Herbst überfordert gewesen, und dies der Grund sei, weshalb die Zivilgesellschaft die Versorgung von Refugees übernehmen musste, ist das eine grobe Verzerrung der Tatsachen. ausgeblendet wird, dass ein als überfordernd dargestellter Sachverhalt das Umsetzen neuer Verschärfungen erleichtert und gleichzeitig die Auslagerung staatlicher Aufgaben auf unbezahlte Helfer_innen vorantreibt. Diese „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben kann auch zu Überforderung der Helfer_innen führen, nicht zuletzt, wenn ihre Bemühungen Hilfe zu leisten, durch staatliche Repression erschwert werden. So schließt sich der Kreis im Überforderungskarussell und der Notstand erscheint zwar nicht als ideale, aber zwangsläufig notwendige Lösung plötzlich akzeptabel.

Gruppe: Freedom not Frontex
Kontakt: freedomnotfrontex.net

„Hier wird die Problematik von Grenzen bewusst“

  • 24.06.2015, 17:51
Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Sanft landet die Propellermaschine der italienischen Post am Flughafen von Lampedusa. 25 Passagiere steigen aus dem Flugzeug aus, drei von ihnen JournalistInnen.  Rund 6.000 Menschen leben auf dem 20 Quadratkilometer großen Felsen im Mittelmeer. Im Sommer, wenn die TouristInnen kommen, sind es um einige Zehntausend mehr.  „Die Saison geht von Juni bis August“,  sagt  Gianfranco, der während dieser Zeit in einem Hotel arbeitet und sein Auto an JournalistInnen verleiht. Das restliche Jahr lebt der Mittdreißiger in Palermo. Mit Flüchtlingen hat Gianfranco oft zu tun, da er als Freiwilliger beim Roten Kreuz hilft. „Das letzte Flüchtlingsboot ist vor einer Woche angekommen“, sagt er. Sollte er von einer Rettungsaktion erfahren, melde er sich per Telefon.

ESPRESSO. Im Hafen schaukeln Fischkutter neben kleinen Yachten und Sportbooten. Wellen schlagen gegen die Hafenmauer, Möwen schreien, Mopeds knattern. Auf einer Anhöhe oberhalb des Hafens weht die Fahne des Malteserordens im Wind: weißes Kreuz auf rotem Grund. Am Horizont die Silhouette einer Frontex-Fregatte.

Vor der Hafenbar Sbarcatoio findet sich ein Parkplatz für Gianfrancos alten Renault. Auf der Terrasse sitzen bartstoppelige Fischer und Paola Pizzicori, die gelegentlich für JournalistInnen Interviews dolmetscht, beim Espresso. Die 48-Jährige lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa und weiß von den Sorgen der BewohnerInnen: Das Trinkwasser müsse mit einem Tankboot geliefert werden. Der Bau einer Wasseraufbereitungsanlage sei zwar begonnen, aber nicht fertiggestellt worden. Strom werde größtenteils durch Dieselgeneratoren erzeugt. „Und das auf einer Insel, wo es so viel Sonne und Wind gibt.“ Der Turnsaal der Schule könne nicht benutzt werden, weil das Gebäude einsturzgefährdet sei. Auf der anderen Seite des Hafens legt die Fähre ab, die einmal  am Tag nach Agrigent fährt. „Die Fähre ist langsam, neun bis zehn Stunden braucht sie bis Sizilien“, sagt Pizzicori. Die LampedusanerInnen hätten gerne ein Speedboot. Und auch die Flüge seien zu teuer.

Und die Flüchtlinge? Die Art der medialen Berichterstattung verärgert die InselbewohnerInnen. „Stell dir vor, du lebst auf Lampedusa vom Tourismus und  in den Medien wird ständig von Ertrinkenden geschrieben.“ Aber Auslöser der Probleme seien nicht die Flüchtlinge, sondern die europäische Flüchtlingspolitik. Sie zwinge die Menschen übers Meer zu fahren, um nach Europa zu kommen. Pizzicori blickt aufs Meer, wo die Fähre hinter dem Felssporn mit der Malteser-Flagge verschwindet. „Als EuropäerIn hast du einen Pass, mit dem du so ziemlich jede Grenze überqueren kannst. Hier auf Lampedusa mit all den Toten wird dir die Problematik von Grenzen bewusst.“

STRAND. Vorbei am Porto Nuovo, wo zwei graue Patrouillenboote der Guardia di Finanza dümpeln, schlängelt sich die Straße einen Hügel hinauf. Nach fünf Minuten weist ein Schild am Straßenrand auf den Abgang zur Spiaggia dei Conigli, dem Kaninchenstrand, hin. Einige hundert Meter vor dem Strand sank im Oktober 2013 nach einer zweitägigen Odyssee ein überfüllter Fischkutter aus Libyen. Etwa 150 Menschen konnten von der Küstenwache und den FischerInnen gerettet werden. 300 Flüchtlinge ertranken. Heute ist alles ruhig. Am weißen Sandstrand braungebrannte Körper auf Badetüchern vor azurblauem Meer. Möwen jammern.

Zur selben Zeit folgt die Monte Sperone dem Notruf eines GPS-Handys. Das Signal wurde irgendwo zwischen der libyschen Küste und Lampedusa geortet.  Mehrere hundert Menschen sollen sich an Bord eines überladenen Kutters befinden. Als das  Schiff der Guardia   di Finanza den Notruf erhält, ist es 100 Seemeilen vom Sender entfernt. Bei einer Geschwindigkeit von  35  Knoten  braucht  das  Schiff drei Stunden, um das  Flüchtlingsboot zu erreichen. Wenn eines der kleinen Flüchtlingsboote einmal leckt, dauert es etwa 30 Minuten bis es sinkt und die InsassInnen, meist NichtschwimmerInnen, ertrunken sind.

PiZZA. Die Via Roma ist die Hauptstraße von Lampedusa. Sie beginnt nahe beim Hafen und zieht sich schnurgerade an der Kirche vorbei bis an den Rand der Stadt. Marquisen beschatten die Auslagen der Boutiquen und Läden, Cafés und Restaurants reihen sich aneinander. Giuseppe Solina steht vor seiner Trattoria am Anfang der Fußgängerzone. „Wir LampedusanerInnen  helfen  den  Flüchtlingen. Das ist selbstverständlich“, sagt der Mittvierziger. „Aber wir wollen nicht, dass unsere Insel auf das Thema Migration reduziert wird.“ JournalistInnen hätten sogar von einem Ebola-Fall berichtet, den es nicht gab. Lampedusa sei eine schöne Insel mit netten Menschen, die gerne Urlaubsgäste empfangen wollen. Auf Grund der Berichterstattung glauben viele, dass Lampedusa ein einziges Flüchtlingslager sei.  „Aber sehen Sie sich doch um!“ Dann geht er zurück in die Trattoria, setzt sich an sein Piano und spielt die Melodie von „Stand by Me“.

SCHIFFSWRACK.  Neben der Uferstraße im Porto Nuovo verrotten hinter einer niedrigen Mauer Holzboote mit weiß-blauem Anstrich und arabischen Inschriften. Das linke Kollektiv  Askavusa hat auf den Decks und in den Laderäumen der Boote die Zeugnisse jener Menschen gesammelt, die mit den Booten nach Europa kamen. Am Hafen bauen sie ein altes FischerInnenhaus zu einem Ausstellungsraum um. „Die Menschen auf Lampedusa wollen, dass die MigrantInnen unsichtbar bleiben“, sagt Francesca, eine Aktivistin von  Askavusa.  Dem  will Askavusa  ein Museum mit persönlichen Gegenständen der Flüchtlinge entgegensetzen: Tunesische Zigarettenpackungen, Kleider, in die Telefonnummern eingenäht sind, Notizen und Zeichnungen, Schwimmwesten, Koran und Bibel, vom Meerwasser aufgeweicht.

Und der Tourismus? Es kämen jetzt zwar weniger UrlauberInnen auf die Insel, dafür umso mehr JournalistInnen, NGO-ArbeiterInnen, PolizistInnen und SoldatInnen – die müssen alle versorgt werden, brauchen Schlafplätze, besuchen Restaurants   und  Bars. „Früher lebten die Menschen von der Fischerei, dann vom Tourismus, jetzt auch von der Militär- und Flüchtlingsindustrie“, sagt Francesca und dreht sich eine Zigarette. „Die Ökonomie der Insel verändert sich.“

Als die Monte Sperone 40 Seemeilen vor der  libyschen Küste auf das Boot der Flüchtlinge  trifft, sind diese seit sechs Stunden unterwegs. Kinder, Jugendliche, Erwachsene drängen sich auf dem überfüllten Fischkutter. EineR nach dem/der anderen werden sie auf das Schiff der Guardia di Finanza gebracht, wo sie Decken und Wasser erhalten und HelferInnen die Flüchtlinge erstversorgen. Anschließend wird der Kutter versenkt.

TOTE. „Porta d'Europa“ nennt der italienische Künstler Mimmo Paladino sein Werk an der Südküste, nahe des Hafens: ein fünf Meter hoher Durchgang, an dem Schuhe, Mützen und andere Habseligkeiten, die Bootsflüchtlinge bei ihrer Ankunft  am Körper trugen, hängen. Gegen die schroffen,  scharfen Felsen unterhalb des Tores brandet das Meer. Ein Handy läutet, es ist Gianfranco: Das Schiff der Guardia di Finanza mit 600 Flüchtlingen laufe in den Hafen ein.  Langsam nähert sich die graue Bordwand der Kaimauer. Über der Reeling die Köpfe hunderter AfrikanerInnen und SyrerInnen. Dazwischen HelferInnen in weißen Schutzanzügen, Handschuhen und Mundmasken. Am Kai warten zwei Dutzend Carabinieri, Kamerateams, FotografInnen, Malteser-HelferInnen  in Uniform, das Rote Kreuz mit zwei Krankenwägen und junge Leute mit „Save the Children“-T-Shirts.  „Sofern möglich, werden die Geretteten gleich nach  Sizilien gebracht", sagt Comandante Leonardo Gnoffo  von der Guardia di Finanza, der Finanzaufsicht, deren Schiffe bei der Operation „Triton" zum Einsatz kommen. Aber der Kapitän und die ÄrztInnen an Bord des Schiffes bestehen darauf, die Menschen zuerst nach Lampedusa zu bringen, da sie medizinische Hilfe brauchen, so Gnoffo. Eine Frau sei schwanger, es gäbe Fälle von Krätze und gebrochene Knochen. Viele seien erschöpft von einer wochen- oder monatelangen Reise, von der die Fahrt übers Meer nur das letzte Stück darstellt. Ob abgesehen von den  bekannten Unglücken vor Lampedusa von mehr Toten auszugehen sei?  „Auf Grund der Größe des Areals, der Anzahl der Flüchtlinge und des Zustands der Boote können wir davon ausgehen, dass es weit mehr Tote gibt als bekannt", sagt Comandante Gnoffo.

Etwa 60 Frauen, Mädchen und Kinder gehen von Bord des Schiffes. Alles, was sie dabei haben, ist eine Tasche oder ein Rucksack, viele nicht einmal das. Rot-Kreuz-MitarbeiterInnen kontrollieren sie auf erhöhte Temperatur und Hautkrankheiten. „Die Flüchtlinge kommen aus Eritrea, Zentralafrika und  Syrien“, sagt  Giada Bellanca, eine Malteser-Helferin.  „Libyen ist das Delta der Flüchtlingsströme. Dort gehen sie auf die Boote Richtung EU.“

Und die SchlepperInnen? „Die, die das große Geld machen, sitzen in Libyen“, sagt Bellanca. Die das Boot nach Europa steuern, seien kleine Handlanger, oft 16- oder 17-jährige Burschen: „Genauso verzweifelt wie die Flüchtlinge.“ Der erste Bus ist voll und bringt die Flüchtlinge ins Aufnahmezentrum außerhalb der Stadt.

ENDE DER REISE? Normalerweise bleiben die Flüchtlinge nicht länger als 48 Stunden auf der Insel, dann werden sie nach Sizilien gebracht. Kommen viele Boote auf einmal an, ist das Zentrum mit einer Kapazität für ein paar hundert Menschen rasch  über füllt. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge, die 2014 über das Mittelmeer nach Europa kamen, stammen laut UNO aus Syrien und Eritrea. Auch Danyal kommt aus Eritrea, der Militärdiktatur am Horn von Afrika. Er sitzt im Schatten einer Pinie hinter dem Gitter des Aufnahmezentrums. Das Tor wird von SoldatInnen bewacht, der Zugang ist nur mit Genehmigung der Präfektur in  Agrigent gestattet.

Danyal musste 1.800 US-Dollar für die Überfahrt bezahlen. Bei 600 Menschen am Boot wanderten   rund eine Million Dollar in die Taschen jener Organisationen, die von Libyen aus die Überfahrt organisieren. Von Eritrea bis Libyen war er ein Monat unterwegs. Einige seiner ReisegefährtInnen hatten es nicht geschafft, sie wurden im Tschad gekidnappt, andere geschlagen, alle hungerten sie und waren obdachlos. In Tripolis musste er auf gutes Wetter für die Überfahrt warten. Jetzt würde er gerne seine Familie verständigen, dass er Europa erreicht hat.  Aber er besitzt kein Handy.

Am nächsten Tag im Hafen von Lampedusa. Etwa 50 Flüchtlinge verschwinden im Bauch der Fähre. Dann schließt sich die Luke und das Schiff legt Richtung Agrigent ab, wo die Flüchtlinge auf verschiedene Flüchtlingslager verteilt werden. Rauch qualmt aus den Kaminen, Möwen folgen dem Schiff eine Weile, bevor sie abdrehen.

Von den 220.000 Flüchtlingen, die 2014 versuchten über das Mittelmeer Europa zu erreichen, sind laut UNHCR 3.500 ertrunken. Seit Anfang des Jahres bis April (2015) sind bereits 1.600 Menschen auf ihrer Flucht umgekommen.

 

Markus  Schauta  studierte  Geschichte,  Archäologie  und Religionswissenschaft an der Universität Wien. Seit 2011 macht er zahlreiche Reportagen als freier Nahost-Reporter.

Hier kannst du das Video ansehen, das im Rahmen von Markus Recherchetätigkeiten in Lampedusa entstanden ist. 

„Das Unbekannte mit offenen Armen willkommen heißen“

  • 24.03.2015, 08:41

„Möchten Sie mit einem Asylbewerber Verstecken spielen?“ Dieser Tage kommt es vor, dass man auf dem Weg von der U-Bahn zum mobilen Stadtlabor der Technischen Universität angesprochen wird, um im Resselpark an einem besonderen Versteckspiel teilzunehmen. Hintergrund ist eine Performance im Rahmen des imagetanz 2015.

„Möchten Sie mit einem Asylbewerber Verstecken spielen?“ Dieser Tage kommt es vor, dass man auf dem Weg von der U-Bahn zum mobilen Stadtlabor der Technischen Universität angesprochen wird, um im Resselpark an einem besonderen Versteckspiel teilzunehmen. Hintergrund ist eine Performance im Rahmen des imagetanz 2015.

Unter dem Titel „Organized Disintegration“ gestaltet Núria Güell ein Versteckspiel im Resselpark. Die Künstlerin aus Barcelona widmet sich dabei Asylsuchenden in Österreich und ihrer Position am Arbeitsmarkt. Es geht um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit dieser Personen, eben: hide & seek, wie das Versteckenspiel im Englischen heißt.

ARBEITSMARKT. Die rechtliche Lage von arbeitssuchenden Asylsuchenden ist verstrickt und kompliziert. Peter Marhold von helping hands hat versucht, einen Leitfaden für genau diese Problematik anzufertigen und musste einsehen, dass selbst erfahrene Jurist*innen ihm dabei nicht helfen konnten. Zu ungenau seien die diesbezüglichen Gesetze. Im Grunde läuft es darauf hinaus, dass am Arbeitsmarkt kein Platz für Asylsuchende ist.

Anstellungsverhältnisse sind illegal. Es gibt mit einer speziellen Erlaubnis die Möglichkeit nach drei Monaten Aufenthalt im Land Saisonarbeit im Tourismusbereich oder in der Landwirtschaft zu verrichten. Der einzige sonstige Ausweg ist die Selbstständigkeit, wodurch prekäre Verhältnisse vorprogrammiert sind. Nur über Werkverträge dürfen Asylsuchende längerfristig Geld verdienen.

Foto: Eva Ludwig-Glück Brut Wien

UNGLEICHE MACHTVERTEILUNG. Núria Güell musste sich für ihr Projekt auch hauptsächlich mit rechtlichen Gegebenheiten auseinandersetzen. Das Festival für Choreografie, Performance und unheimliche Körper zeigt mit diesem Spiel die eindeutige Machtverteilung. Asylwerber*innen verstecken sich, Passant*innen und Festivalbesucher*innen können dann nach ihnen suchen.

Asylsuchende sind es gewohnt, sich innerhalb der Gesellschaft unsichtbar machen zu müssen. Die Praxis am Arbeitsmarkt ist nur eins von vielen Beispielen, die diese Fähigkeit erfordern. Das Resultat daraus ist Abschottung, Kriminalisierung und Langeweile. Amine, der auch schon beim Refugee Protest Camp mitgewirkt hat, beschreibt die fehlende Tagesstruktur und das lange Warten als extrem zermürbend. Er ist überzeugt, dass die Gesetzgebung Asylsuchende dazu bringt, den Prozess des Asylantrags frühzeitig abzubrechen und aufzugeben.

ÖFFNUNG DES ARBEITSMARKTES. Alexander Pollak, Sprecher von SOS Mitmensch, sieht in dieser Causa dringenden Handlungsbedarf. Der Arbeitsmarkt müsse unbedingt geöffnet werden, zumindest aber nach drei Monaten Aufenthalt. Das fordert er auch für Ausbildungen. Das emotional aufgeladene Thema wird immer wieder von Politiker*innen instrumentalisiert. Nicht zuletzt, da sehr viele Österreicher*innen ebenfalls einen Job suchen. Die Meinung, dass eine Öffnung des Arbeitsmarktes einen zahlenmäßigen Anstieg der Asylsuchenden in Österreich bedeuten würde, hält sich hartnäckig. Gleichzeitig wären Abschiebungen schwieriger.

Foto: Eva Ludwig-Glück Brut Wien

Den Asylwerber*innen geht es nicht nur um das Geld, das sie potentiell verdienen würden. Sie haben ein Gefühl der Sinn- und Zwecklosigkeit. Berichte aus Traiskirchen bezeugen immer wieder, dass Langeweile und Ziellosigkeit psychisch erdrückend sind. Umso mehr freuen sich die Asylsuchenden, die an „Organized Disintegration“ teilnehmen, über die Möglichkeit Kontakt zu Mitmenschen zu finden und über ihr Anliegen zu informieren.

ZWISCHENWELT. Das mobile Stadtlabor vor der TU ist wie gemacht dafür, Ausgangs- und Treffpunkt des Spiels zu sein. Das Gebilde aus Seecontainern ist eine öffentliche Intervention zwischen U-Bahn-Station und Universitätsgebäude. Es ist temporär und mobil. Die einzelnen Stücke hatten in ihrem früheren Dasein ganz andere Aufgaben: Sie transportierten die verschiedensten Konsumgüter von A nach B, bevor sie schließlich im Resselpark landeten. Man könnte sagen, sie sind gestrandet. Genauso fühlen sich auch viele Asylsuchende in Wien. Sie befinden sich in einer Zwischenwelt, leben oft gezwungenermaßen parallel zur Mehrheitsgesellschaft. Sie müssen sich die Zeit bis zum Asylbescheid vertreiben und versuchen neben der Jobsuche ihre Chancen zu erhöhen, indem sie zum Beispiel Deutsch lernen oder sich andere Fähigkeiten aneignen.

RASSISMUS. Das Hauptproblem neben der unübersichtlichen rechtlichen Situation in Österreich ist der hier institutionalisierte Rassismus. Außerdem werden die wenigen Jobs, die tatsächlich an Asylsuchende herangetragen werden, an diejenigen vergeben, die sie für den niedrigsten Lohn machen. Bei Werkverträgen gibt es keinen Mindestlohn – es zählt nicht die Zeit, die für die Tätigkeit aufgebracht werden muss, sondern lediglich das „Werk“.

Ob Núria Güell einen Weg gefunden hat, diese Gesetze zu unterwandern? Ihre klare Antwort lautet: nein. Genau deswegen hat sie das Projekt „Organized Disintegration“ umgesetzt. Die unfairen Gesetze kann man nicht durch einen einfachen Trick umgehen. Man solle politisch aktiv werden und mit Asylwerber*innen arbeiten. Jede*r kann sie auf Werkvertragsbasis beschäftigen, solange die Gesetze der „Neuen Selbstständigkeit“ eingehalten werden, doch das reicht nicht. Es fehlt ein Bewusstsein dafür, dass Arbeit ein wichtiger Bestandteil des menschlichen Selbstwertgefühls ist. Güells Aufgabe ist erfüllt, wenn sie einige wenige Leute auf die Lebensrealitäten von Asylsuchenden aufmerksam macht.

 

Katja Krüger ist Unternehmerin und studiert Gender Studies an der Universität Wien.

„Asylsuchende werden handlungsunfähig gemacht“

  • 05.02.2015, 08:00

Mit der Verwaltungsreform hat sich Einiges für Asylsuchende geändert. Warum ein Gebäude Angst machen kann und es schwieriger wurde sich zu beschweren, darüber hat progress mit Andrea Fritsche und Kevin Fredy Hinterberger von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung gesprochen.

Mit der Verwaltungsreform hat sich Einiges für Asylsuchende geändert. Warum ein Gebäude Angst machen kann und es schwieriger wurde sich zu beschweren, darüber hat progress mit Andrea Fritsche und Kevin Fredy Hinterberger von der Deserteurs- und Flüchtlingsberatung gesprochen.

Im Jänner 2014 trat in Österreich erstaunlich still und unbeachtet die größte Verwaltungsnovelle der letzten Jahrzehnte in Kraft. Neben Änderungen in der Verwaltungsgerichtsbarkeit und im Gesetzgebungsprozess bedeutete diese auch große Umwälzungen im Asylbereich.

progress: Was hat sich in der Praxis im Asylverfahren geändert?

Hinterberger: Früher gab es im Asylverfahren in erster Instanz das Bundesasylamt und in zweiter Instanz den Asylgerichtshof. Mit 1. Jänner 2014 hat sich das geändert. Es wurde in erster Instanz das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) eingeführt, das mehr Kompetenzen, als das Bundesasylamt hat. Der Asylgerichtshof wurde aufgelöst, in zweiter Instanz entscheidet jetzt das neu geschaffene Bundesverwaltungsgericht (BVwG).

Fritsche: Vor der Novelle war das Bundesasylamt grundsätzlich nur für das Asylverfahren zuständig. Ausweisung, Schubhaft und Abschiebung waren Aufgabe einer anderen Behörde, der Fremdenpolizei im Rahmen der Sicherheitsverwaltung. Die Entscheidung über das humanitäre Bleiberecht fällte in Wien die MA 35. Über all das entscheidet jetzt das neue BFA.

Wie äußert sich die engere Verknüpfung von asylrechtlichen und fremdenpolizeilichen Angelegenheiten im Alltag der Asylwerber_innen?

Fritsche: Das BFA Wien ist in jenem Gebäude am Hernalser Gürtel untergebracht, in dem früher die Fremdenpolizei war. Dort befindet sich auch, wie zuvor, das Polizeianhaltezentrum, in dem die Schubhäftlinge eingesperrt sind. Es ist ein Ort mit hohem Symbolcharakter, gerade unter den Asylsuchenden und Illegalisierten. Unsere Klient_innen verbinden das mit einem ganz anderen Gefühl als das frühere Bundesasylamt: nämlich mit großer Angst, weil es der Ort der Schubhaft ist und der Ort der Fremdenpolizei war. Es ist oft schwierig, Klient_innen dazu zu bringen hinzugehen, wenn sie zum Beispiel einen Antrag auf Bleiberecht stellen oder ein Dokument für ihr Asylverfahren abgeben müssen. Die Zusammenlegung von drei Stellen an diesem negativ besetzten Ort ist sehr problematisch.

Hinterberger: Es ist auch fragwürdig, dass seit der Novelle vom Asylantrag bis zur Abschiebung alles ein_e Referent_in alleine entscheiden kann. Wir haben große Bedenken, ob man da objektiv beurteilen kann. Meines Erachtens ist es schwierig, über Asylanträge und Anträge auf humanitäres Bleiberecht zu entscheiden, wenn man zehn Jahre immer nur mit Schubhaft oder Abschiebung konfrontiert war.

Wie beurteilt ihr die Abschaffung des Asylgerichtshofs und die Eingliederung seines Kompetenzbereichs in das Bundesverwaltungsgericht?

Hinterberger: Positiv ist, dass festgefahrene Strukturen aufgebrochen werden, denn die Entscheidungspraxis des Asylgerichtshofs war teilweise fragwürdig. Negativ ist, dass seit 2014 in der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) alle Argumente vorgebracht werden müssen, die für eine rechtswidrige Entscheidung des BFA sprechen. Das BVwG darf nur über diese Gründe entscheiden. Wenn es sich den Fall ansieht und erkennt, dass die Entscheidung des BFA nicht korrekt war, aber aus anderen Gründen als in der Beschwerde vorgebracht, darf es die Entscheidung nicht aus diesen nicht vorgebrachten Punkten aufheben.

Während es früher möglich war, noch Argumente nachzubringen, wenn die Beschwerde fristgerecht eingebracht wurde, müssen jetzt also alle Argumente bereits innerhalb der zweiwöchigen Frist vorgebracht werden?

Fritsche: Ja, das ist für uns ein beträchtlicher Aufwand und fällt auf die Asylwerber_innen zurück, die den Bescheid oft gar nicht verstehen und erst kurz vor Fristende zu uns in die Beratungsstelle kommen. Dann sind oft nur noch ein bis zwei Tage Zeit. Früher konnten wir in dieser Zeit zumindest die Grundargumente vorbringen und dann etwas nachreichen. Das ist jetzt nicht mehr möglich.

Hinterberger: Zu begrüßen ist, dass mit der Novelle der Gang zum Verwaltungsgerichtshof wieder möglich ist. Davor war das Asylrecht seit 2008 als einzige verwaltungsrechtliche Materie davon ausgenommen.

Welchen Einfluss hat die Novelle auf eure Arbeit als NGO?

Fritsche: Die angesprochenen Veränderungen bedeuten mehr Arbeit. Und wir merken, dass das BFA mit der Umstellung überfordert ist. Anfang 2014 hat dort nichts funktioniert und nach wie vor ist bei vielen Fällen nicht klar, wer zuständig ist. Teilweise müssen die Einvernahmen wiederholt werden, weil die Referent_innen ständig wechseln. Das führt zu langen Verzögerungen und ist psychisch belastend für die Klient_innen.

Wo hätte die Novelle eine Möglichkeit auf Verbesserungen geboten?

Hinterberger: Bei der Effizienz des Verfahrens beispielsweise. Wir haben einen minderjährigen Klienten, der vor eineinhalb Jahren einen Asylantrag gestellt hat und noch immer wartet. Dabei müsste die Behörde innerhalb von sechs Monaten entscheiden. Es gibt viele solche Fälle. Die Menschen sind oft traumatisiert und dann befinden sie sich in Österreich in diesem Schwebezustand, das ist unvorstellbar.

Fritsche: Wir haben viele Klient_innen, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Zuerkennung des Asylstatus oder subsidiären Schutzes relativ hoch ist. Wenn das zwei bis drei Jahre dauert, bleiben in dieser Zeit der Zugang zum Arbeitsmarkt und viele andere Rechte verwehrt. Die Qualität des Verfahrens ist auch ein wesentlicher Punkt, der sowohl inhaltliche Entscheidungen betrifft, als auch die Art, wie mit Asylwerber_innen umgegangen wird. Auch den Dolmetscher_innen fehlt oft eine adäquate Ausbildung. Das führt dazu, dass Asylsuchende durch das Gesetz und die rechtliche Praxis handlungsunfähig gemacht werden, weil sie das Verfahren nicht verstehen. Das ist ein großes Drama für einen Bereich, in dem es um grundlegende Menschenrechte geht.

 

Katharina Gruber hat Politikwissenschaft an der Universität Wien studiert.

 

 

Geschmacksunterschiede

  • 10.06.2014, 16:31

6 spannende Fakten zum Thema Essen. Welches Essen macht gute Laune? Ernähren sich alle queeren Menschen vegan? Woher kommt Geschmack? Wie soll der Welthunger bekämpft werden? Riot oder Diet?

Geschmackssache
Über Geschmack lässt sich nicht streiten, heißt ein bekanntes Sprichwort. Ob mensch als Naschkatze auf die Welt kommt oder eben nicht, wird im Allgemeinen als individuell und zufällig betrachtet. Eine andere Meinung vertritt Pierre Bourdieu, der sich in seinem 1979 erschienenen soziologischen Klassiker „Die feinen Unterschiede” mit dem Zusammenhang von Geschmack und sozialer Klasse beschäftigt hat. Bourdieu argumentiert, dass sich Klassenstrukturen durch die Anhäufung von kulturellem Kapital reproduzieren. Unseren Geschmack – egal ob es um Kunst oder Nahrungsmittel geht – sieht er als eine der Manifestationen dieses Kapitals. Während sozial benachteiligte Klassen aufgrund ihrer Erfahrung von Not und Mangel nahrhafte Speisen vorzögen, würden privilegierte Klassen mehr Wert auf Luxus und Feinheit legen, so Bourdieu. Hinzu kommt dann eine Aufwertung des Essens der Privilegierten und die soziale Hierarchie der Geschmacksunterschiede verfestigt sich. Wer der Käsekrainer also Blauschimmelkäse oder Bio-Falafel vorzieht, darf sich aufgefordert fühlen, die Hintergründe ihrer*seiner Entscheidung mitzubedenken.

Gute-Laune-Essen
Nicht nur Keksen, auch vielen anderen Nahrungsmitteln wird nachgesagt, dass sie gute Laune machen. Der Verzehr von Schokolade, wie auch anderer kohlenhydratreicher Lebensmittel, lässt unseren Körper angeblich Glückshormone ausschütten und als besonders wirksames Wohlfühlmittel gilt immer noch das ehemalige Luxusgut Kaffee. Dabei findet ein Zusammenspiel von Chemie und Psychologie statt, das noch nicht vollends entschlüsselt wurde. Ob es der befriedigte Appetit nach dem Schema der Selbstbelohnung, das sinnliche Erleben von Wärme und Duft einer Speise oder ganz banal die Zuckerzufuhr ans Gehirn ist, was die Nerven beruhigt und die Welt nach einer Mahlzeit besser aussehen läßt, ist möglicherweise auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Was zählt, ist wohl, dass die Drogen des Alltags wirken. Um die verschiedenen Bedürfnisse, die fürs Essen sprechen, fassen zu können, gibt es mittlerweile verschiedene Begriffe wie beispielsweise Magenhunger, Augenhunger, Mundhunger oder Herzhunger. Forschungen über Essen, das schlechte Laune macht, scheinen bisher übrigens kaum fortgeschritten.

Illustration einer Gabel. Illustration: Christina Uhl

What does the Unicorn eat?
Dass sich queere, nicht heteronormativ lebende Menschen vegan ernähren, ist ein Stereotyp. Obwohl sich wohl nur ein Bruchteil jener, die sich mit einer der unzähligen Definitionen von queer und Queerfeminismus identifizieren, tatsächlich vegan ernährt, findet sich auf theoretischer Ebene durchaus ein Zusammenhang: Antispeziezismus, Veganismus und der Einsatz für Tierrechte beruhen – zum Teil – auf einer Kritik der Herrschaft von Menschen über Tiere und einer straffen Grenzziehung zwischen Mensch und Tier, die viele Gemeinsamkeiten und Grauzonen zwischen den beiden Gruppen unbeachtet lässt. Auch der Queerfeminismus setzt sich gegen Herrschaft und Binarität zur Wehr. So meinen manche Queers/Queerfeminist*innen, der Prozess der Emanzipation von Menschen aus Geschlechterhierarchien und anderen diskriminierenden Strukturen müsse letztlich auch mit der Befreiung der Tiere einhergehen.

Riot! Don’t Diet
Mächtige Schönheitsideale und Körpernormen beeinflussen unser Essverhalten und verderben so manch einer*m den Appetit. Die Riot! Don‘t Diet-Kampagne stellt einen Versuch dar, sich gegen (kapitalistischen) Körperkult und damit einhergehende Zwänge und Vorstellungen von adäquatem Gewicht und optimaler Kleidergröße zu wehren. Statt sich für die Normierung des eigenen Körpers
abzustrampeln, solle sich mensch dem Widerstand gegen sexistische gesellschaftliche Unterdrückungsmechanismen widmen, so die Idee. Was jedoch nicht vergessen werden darf: Auch Diäten sind stigmatisiert. Als cool gilt heute am ehesten noch, wer auf
Diäten pfeift, genüsslich einen Burger verdrückt und dabei auch noch sexy aussieht. Weder der Imperativ „Don’t diet!” noch das Schweigen über den Druck, der vor allem – aber nicht nur – auf Frauenkörper ausgeübt wird, sind also der richtige Weg.

Illustration eines Cupcakes. Illustration: Christina Uhl

Zwangsernährung
Hungerstreik ist als eine Form des gewaltlosen politischen Protests bekannt. Der eigene Körper dient dabei oft als letztes Mittel des Widerstands, wenn andere Möglichkeiten des Ausdrucks nicht zugänglich sind. In Europa waren es in den letzten Jahren vor allem Flüchtlinge, die auf diese Protestform zurückgriffen – kollektiv, wie 2013 in der Wiener Votivkirche, oder einzeln, in Schubhaft und
von Abschiebung bedroht. Österreichische Schubhaftgefängnisse lassen Inhaftierte mitunter wieder frei, wenn diese einen niedrigen Blutzuckerwert haben. Das veranlasst viele dazu, sich selbst in Gefahr zu bringen. Denn Hungerstreik kann nicht nur akut lebensgefährdend sein, sondern auch mit körperlichen Langzeitschäden einhergehen, besonders wenn er wiederholt angewandt wird. Die zynische politische Reaktion auf diese Umstände war in Österreich die Einführung des Paragrafen 78 des Fremdenpolizeigesetzes, der fortan Zwangsernährung von hungerstreikenden Schubhäftlingen erlaubte.

Welthunger
Heute leiden etwa 870 Millionen Menschen an Unterernährung. Anders gesagt: jeder achte Mensch. Frauen und Kinder sind am stärksten von Hunger betroffen. Dass der Grund für den Hunger keineswegs Ressourcenknappheit ist, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Soziale und vor allem politische Zusammenhänge verursachen die anhaltende Unterernährung einer großen Zahl von Menschen. Auch die Nahrungsmittelhilfe, die akut in Hungersnöten eingesetzt wird, trägt mitunter zur Aufrechterhaltung jener Strukturen, die den Hunger (mit-)begründen, bei: So zum Beispiel eine kalorienreiche, komprimierte Speise namens PlumpyNut, die
aus nicht-regionalen Zutaten hergestellt und in Krisenregionen importiert wird, um kurzfristige Hilfe zu leisten. Dadurch werden jedoch unbeabsichtigt neue Abhängigkeiten geschaffen. In die Entwicklung und Patentierung von PlumpyNut wurden große Summen investiert, in den Ausbau der lokalen Landwirtschaft aber nicht. Nach wie vor wird über eine politische Lösung des Problems Welthunger selten gesprochen.

 

Jasmin Rückert studiert Japanologie und Gender Studies an der Universität Wien.
Illustrationen: Christina Uhl.

Schlepperei in Zeiten unbegrenzter Grenzen

  • 18.10.2013, 20:52

Wenn es um Schlepperei geht, wird emotionalisiert. Wer trotzdem differenziert, muss die restriktive Asylpolitik der EU als eine ihrer größten Förderinnen erkennen.

Wenn es um Schlepperei geht, wird emotionalisiert. Wer trotzdem differenziert, muss die restriktive Asylpolitik der EU als eine ihrer größten Förderinnen erkennen.

„In DDR-Zeiten hießen ‚Schlepper’ übrigens ‚Fluchthelfer’ und alle (außer der SED) fanden sie ganz toll. Nur ein Gedanke.“ Mitten in der Augusthitze, als die „Schlepper-Mafia“ nach der Verhaftung von drei Aktivisten der Refugee-Bewegung gerade in aller Munde war, sorgte Armin Wolf mit diesem Tweet für ein wenig zusätzliche Erregung. Die FPÖ tat in einer OTS-Meldung ihre Empörung darüber kund, dass Wolf „doch tatsächlich schwerst kriminelle Schlepper mit idealistischen Fluchthelfern aus DDR-Zeiten vergleicht“. Helmut Brandstätter mokierte sich im Kurier: „Wenn jetzt Fluchthelfer aus der kommunistischen Diktatur DDR mit heutigen Schlepperbanden verglichen werden, hört sich der Spaß auf.“ Als Begründung erteilte er den LeserInnen Geschichtsunterricht: „Alleine an der Berliner Mauer wurden zwischen 1962 und 1989 mindestens 251 Menschen getötet, die von Deutschland Ost nach Deutschland West übersiedeln wollten.“ Unerwähnt blieb hingegen, dass in den vergangenen 25 Jahren alleine im Mittelmeer schätzungsweise 20.000 Bootsflüchtlinge ertrunken sind, die versucht haben von Afrika nach Europa zu gelangen. Um Spaß ist es beim Thema Flucht zu DDR-Zeiten genauso wenig gegangen wie heute.

Das Delikt der Schlepperei liegt laut Fremdenpolizeigesetz dann vor, wenn Menschen materiellen Gewinn daraus erzielen, den illegalen Grenzübertrittanderer zu fördern – auf freiwilliger Basis, ohne Gewaltandrohung, Vorspiegelung falscher Tatsachen und Machtmissbrauch. Dadurch ist es klar vom Delikt des Menschenhandels abgegrenzt. SchlepperInnen bringen Geschleppte für Geld über Grenzen. MenschenhändlerInnen beuten ihre Opfer aus. Dazu, dass dieser Unterschied in der rechtlichen Definition kaum jemandem bewusst ist, haben Medien – in Österreich wenig überraschend allen voran die Krone –, aber auch so manche PolitikerIn viel beigetragen: Schlepperei wird mit Brutalität und Skrupellosigkeit verknüpft und tritt reflexartigeAssoziationen mit schweren Gewalttaten und Menschenhandel los. Jeder Versuch einer differenzierten Auseinandersetzung mit Schlepperei und den strukturellen Widersprüchen der europäischen Flüchtlingspolitik, auf die sie verweist, erscheint in diesem Licht von vornherein als anrüchig.

Legale Fluchthilfe. Es macht aber durchaus Sinn, das Delikt der Schlepperei in einem größeren – auch historischen – Kontext zu reflektieren und dazu einen Blick in die deutsche Geschichte zu wagen. 1977 war auf organisierte Fluchthilfe angewiesen, wer aus der DDR floh, und der deutsche Bundesgerichtshof urteilte diesbezüglich: „Der Fluchthilfevertrag kann auch unter Berücksichtigung seines Gesamtcharakters nicht als verwerflichbetrachtet werden.“ Wer Flüchtende dabei unterstützt, „das ihnen zustehende Recht auf Freizügigkeit zu verwirklichen, kann sich auf billigenswerteMotive berufen und handelt sittlich nicht anstößig“. Für ihre Dienste durften FluchthelferInnen eine Vergütung verlangen, die sie auch vor Gericht einklagen konnten. Der stellvertretende Außenminister der DDR, Kurt Nier, kritisierte, dass damit „die Existenz und Tätigkeit krimineller Menschenhändler in der BRD legalisiert“ werde.

Heute ist fast immer auf „kommerzielle Fluchthilfe“ angewiesen, wer in Europa Schutz sucht. Aber ihre Bewertung in Europa hat sich seit dem Fall des Eisernen Vorhangs grundlegend gewandelt. Wo vormals von „Flucht“ die Rede war, geht es jetzt um „illegale Einreise“; aus nicht strafbaren Hilfs- undDienstleistungen wurde innerhalb weniger Jahre ein hochkriminalisiertes Verbrechen. Als Schlepperei wurde Fluchthilfe in den 1990ern zum strafbaren Delikt, das in weiterer Folge immer weiter ausgedehnt wurde – in Österreich zuletzt mit dem Fremdenpolizeigesetz 2005. Dr. Kurt Schmoller, damals Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Salzburg, attestierte eine „Überkriminalisierung“: Die Strafmaße seien unverhältnismäßig hoch und von der Möglichkeit der Definition von Ausnahmen – zum Beispiel für humanitäre Hilfe und die Zusammenführung von Angehörigen – wurde nicht Gebrauch gemacht.

Keine Fluchtwege. Die größten KritikerInnen der Missachtung des Rechts auf Freizügigkeit durch kommunistische Staaten arbeiten nunmehr selbst massiv an der Beschneidung der Mobilität eines beträchtlichen Teils der Weltbevölkerung. Die Möglichkeiten, auf reguläre Weise in ein europäisches Land einzureisen, um dort Asyl zu beantragen, wurden in den letzten 20 Jahren beinahe zur Gänze abgeschafft. Die viel verwendete Metapher der „Festung Europa“ beschreibt diese Situation nur dürftig. Aufgrund von Visapflicht, Drittstaaten-Regelungen und der Verlagerung der europäischen Grenzpolitik auf Transitstaaten scheitern viele Flüchtlinge nicht erst an den Grenzen der sich abschottenden europäischen Staaten. „Durch die Vorverlagerung der Grenzkontrollen werden sie bereits daran gehindert, ihren Weg in Richtung Europa überhaupt aufzunehmen“, konstatiert Tillmann Löhr in seinem Buch „Schutz statt Abwehr“ und schreibt deshalb von „Europas unbegrenzten Grenzen“.

Der Weg zum Asylverfahren führt heute folglich meist unweigerlich in die Illegalität und zur Inanspruchnahme „kommerzieller Fluchthilfe“. In diesem Sinne kamen John Morisson und Beth Crosland bereits 2001 in einem Paper für die UNHCR zu dem Schluss, dass ein großer Teil der Maßnahmen europäischer Staaten im Kampf gegen Schlepperei im Grunde Teil des Problems sei. Das restriktive europäische Grenzregime produziere nicht nur die Bedingungen, in denen die Nachfrage nach den Diensten von SchlepperInnen boomt. Die EU riskiere auch, das Menschenrecht auf Asyl in Europa faktisch abzuschaffen, solange keine ausreichenden legalen und sicheren Fluchtwege – beispielsweise durch Schutzvisa – geschaffen werden. Diese Zusammenhänge werden in der Regel jedoch weitgehend ignoriert. Leichter ist es, den Schwarzen Peter kriminellen Schlepperbanden zuzuschieben.

Auch nach dem Tod von über 300 Flüchtlingen vor Lampedusa am 3. Oktober ließen die Kampfansagen gegen Schlepperei nicht lange auf sich warten. EU-Kommissarin Cecilia Malmström kündigte prompt an, „die Anstrengungen im Kampf gegen Schleuser, die menschliche Hoffnungslosigkeit ausbeuten, zu verdoppeln“. Kausalitäten werden dabei einfach auf den Kopf gestellt, kritisiert der Oxforder Migrationsexperte Hein de Haas. Das neue Grenzkontrollsystem Eurosur wird nun als Maßnahme gegen das Sterben im Mittelmeer präsentiert. Dass die Bemühungen der Europäischen Grünen im entsprechenden Gesetz tatsächlich nennenswerte und konkrete Verbesserungen der Seenotrettung zu verankern, in den EU-Gremien wiederholt abgelehnt wurden, wird nicht dazu gesagt. Nur eine Woche später ertranken erneut Dutzende Flüchtlinge vor der italienischen Küste.

Zur Lage an der EU-Außengrenze kommt hinzu, dass mit der seit 2003 gültigen Dublin-II-Verordnung eine Situation geschaffen wurde, die Schlepperei auch innerhalb der EU fördert. Seither können Flüchtlinge nur in jenem Land Asyl beantragen, in das sie zuerst eingereist sind. Um den menschenunwürdigen Verhältnissen, denen AsylwerberInnen in Ländern wie Griechenland, Italien und Ungarn ausgesetzt sind, zu entgehen, müssen sie auch innerhalb Europas die Gefahren und Kosten irregulärer Grenzübertritte auf sich nehmen.

Kriminalisierung. Während es in diesem Rahmen höchst fraglich ist, dass der Schlepperparagraph Flüchtlingen zu Gute kommt, scheint er durchaus dazu geeignet, jene zu kriminalisieren, die tatsächlich helfen: Stephan Schmidt und Elias Bierdel waren 2004 nach der Rettung von 37 in Seenot geratenen Flüchtlingen mit dem Hilfsschiff Cap Anamur in Italien wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung in einem besonders schweren Fall angeklagt und wurden erst fünf Jahre später freigesprochen. Ähnliches widerfuhr 2007 Abdelbasset Zenzeri und Abdelkarim Bayoudh, den Kapitänen zweier tunesischer Fischerboote, die 44 afrikanische Flüchtlinge gerettet hatten. Zunächst der Schlepperei verdächtigt, wurden sie 2009 wegen „Beihilfe zur illegalen Einreise“ zu drei Jahren Haft und einer Geldstrafe verurteilt. Im gleichen Jahr wurde dieses Urteil zwar aufgehoben, die beiden Kapitäne wurden jedoch wegen Widerstand gegen ein Kriegsschiff zu 2,5 Jahren Haft verurteilt. Erst 2011 wurden sie vom Berufungsgericht tatsächlich freigesprochen. In Österreich wurde 2004 gegen den Anwalt Georg Bürstmayr wegen Schlepperei ermittelt, nachdem er tschetschenische Flüchtlinge in Tschechien über ihr Recht aufgeklärt hatte, in Österreich Asyl zu beantragen.

Der Anwalt Lennart Binder schilderte kürzlich den weniger prominenten Fall einer kurdischen Aktivistn, die selbst nach Österreich geflohen war. Nachdem sie anderen kurdischen Flüchtlingen Unterschlupf gewährt hatte, ließen diese ihr 15 Euro da, weil sie ihren Kühlschrank leergegessen hatten. Jetzt sei sie wegen „gewerbsmäßiger Schlepperei“ angeklagt. Auch wenn die Ermittlungen gegen Bürstmayr rasch eingestellt wurden, hilfeleistende Seeleute letztlich freigesprochen wurden und Abdelbasset Zenzeri trotz allem sagte: „Ich würde es wieder tun“. Solche Geschichten transportieren, dass von Hilfeleistungen für Flüchtlinge in Notsituationen besser absieht, wer sich gehörige Scherereien mit der Justiz nicht leisten kann. Der europäische Kampf gegen illegale Migration und Schlepperwesen fördert Entsolidarisierung, kriminalisiert Zivilcourage und leistet damit einen weiteren Beitrag zur Produktion konkreter humanitärer Katastrophen. Dass sich das Desaster vom 3. Oktober zutragen musste, damit nun erwogen wird, der Kriminalisierung von Hilfeleistung und Seenotrettung ein Ende zu setzen, ist ein Armutszeugnis für Europa.

Schlepperei soll nicht verharmlost werden. Sie kann professionelle und verantwortungsvolle Dienstleistung sein und Leben retten. Ohne Zweifel gibt es zugleich eindeutig strafwürdige Fälle, bei denen die Grenze zum Menschenhandel verschwimmt und Flüchtlinge leichtfertig in den Tod geschickt werden. Eine verantwortungsvolle Politik müsste sich diesem differenzierten Spannungsfeld stellen und Konsequenzen daraus ziehen, statt eine pauschale und immer intensivere Kriminalisierung von Schlepperei weiter voranzutreiben. Dass SchlepperInnen oft primär aus finanziellen Interessen und nicht aus humanitären Motiven handeln, kann durchaus angenommen werden. Sicher ist aber, dass auch die Abschottung der europäischen Außengrenzen nicht in der Sorge um die Menschenrechte wurzelt.

Die Autorin hat Kultur- und Sozialanthropologie in Wien und Paris studiert.

Siehe auch: Ein Schleier, der sich über die Existenz legt

Verleitung zum Aufstand

  • 12.03.2013, 18:48

Michael Genners Autobiografie „Verleitung zum Aufstand“ lässt tief in das Leben eines Antirassimus-Aktivisten in Österreich blicken. Eine Rezension.

Michael Genners Autobiografie „Verleitung zum Aufstand“ lässt tief in das Leben eines Antirassimus-Aktivisten in Österreich blicken. Eine Rezension.

Michael Genners Leben ist von politischem Engagement, dem Kampf für Menschenrechte und eine bessere Gesellschaft gekennzeichnet. Der heute 64-jährige Obmann des Vereins „Asyl in Not“ ist jedoch – im Gegensatz zu vielen ProtagonistInnen der 68er-Generation – seinen Grundsätzen stets treu geblieben. Dementsprechend trägt seine Autobiografie den politisch programmatischen Titel „Verleitung zum Aufstand. Ein Versuch über Widerstand und Antirassismus“.  Als Sohn des kommunistischen Widerstandskämpfers Laurenz Genner und der Halbjüdin und Ärztin Lily Genner hatte er von Kindesbeinen an einen kritischen Blick auf die postnazistische österreichische Gesellschaft entwickelt. Im ersten Drittel des Buchs beschreibt Michael Genner sein politisches Engagement in seiner Zeit als Student sowie seine Differenzen mit der SPÖ und Bruno Kreisky. Den Schwerpunkt bildet allerdings sein Engagement bei der Gruppe „Spartakus“, mit der er in den „Heimkampagnen“ gegen die Zustände in den damaligen Erziehungsheimen kämpfte. Seine Darstellungen verdeutlichen die damals praktizierten autoritären Erziehungsmethoden und den gewalttätigen Missbrauch Heimzöglingen. Eine Thematik, die 2011 und 2012 in den österreichischen Medien als „Missbrauchsskandal“ nochmals thematisiert wurde. Doch die Aktionen von „Spartakus“ führten zu einer Kriminalisierung der AktivistInnen durch die Behörden, die unter anderem eine Verbindung zur Roten Armee Fraktion in Deutschland konstruierten. 1972 verließen Genner und andere Mitglieder der Gruppe aus diesem Grund Österreich und schlossen sich in Schweiz der Longo-Mai-Bewegung an. Über diesen Lebensabschnitt reflektiert Michael Genner in seinem Buch überaus selbstkritisch, er bezeichnet ihn als verlorene Zeit. Er thematisiert die autoritäre Führung sowie die Frauenfeindlichkeit und den psychischen Druck der Bewegung. Leider geht er dabei nicht ins Detail, sondern verweist auf einen Aufsatz in einem Sammelband. Es wäre jedoch gerade für jüngere LeserInnen interessant gewesen, den Inhalt des Aufsatzes auch in der Autobiografie zu lesen, da die Longo-Mai-Bewegung vielen unbekannt ist. Sein politisches Leben bis zum Jahr 1989 beendet Genner mit dem Kapitel „Ganz unten“, in dem er auf einer halben Seite auf sein Privatleben eingeht und von seiner gescheiterten Ehe und seinem Kind berichtet.

Die anschließenden zwei Drittel von Genners Autobigrafie umfassen sein Engagement für Flüchtlinge, das er nicht als karikative, sondern politische Arbeit betrachtet. Dieses begann 1989 mit der Blockade einiger Flugzeuge voll mit kurdischen Flüchtlingen und bestimmt bis heute sein Leben. Detailliert beschreibt er die sukzessive über die Jahre sich verschärfende Asylpolitik, die 1992 mit der Beendigung des Grundrechts auf Asyl einsetzte. 1993 trat Michael Genner unter dem Innenminister Franz Löschnak und dessen Juristen Manfred Matzka seinen Dienst als Rechtsberater beim „Unterstützungskomitee für politisch verfolgte Ausländer“, dem jetzigen Verein „Asyl in Not“ an. Er beschreibt, wie die unter Löschnak beschlossenen Gesetze Tausende von GastarbeiterInnen zu Illegalen machten und Flüchtlinge im Zuge des gesellschaftlichen Rechtsrucks zu AsylantInnen wurden. Als Rechtsberater hat Michael Genner in den vergangenen Jahren Tausende von Flüchtlingen juristisch betreut und an deren Schicksal Anteil genommen. Einige stellt er in seiner Autobiografie dar, die den LeserInnen die Willkür der BeamtInnen und die unmenschliche Behandlung der AsylwerberInnen vor Augen führen. Auch das jahrelange Warten auf die Anerkennung als Flüchtling wird von ihm eindringlich thematisiert. Besonders berührend ist das Schicksal zweier AfrikanerInnen aus der Republik Kongo, deren Asylanträge trotz Vergewaltigung und Folter zunächst abgelehnt wurden. Auch die Zurückweisung des Asylstatus von afghanischen Frauen während des Taliban-Regimes dürfte den meisten LeserInnen unbekannt sein. Bei all diesen Darstellungen zeigt Genner den Zynismus der Behörden und die Unmenschlichkeit der Asylgesetzgebung auf. Auch die Missstände der letzten Jahre werden dabei nicht ausgeklammert. Genner thematisiert die unter den Innenminister Ernst Strasser eingeführte „Dublin-Verordnung“ ebenso wie die von dessen Nachfolgerin Liese Prokop beschlossene Schubhaft-Verordnung. Auch die Folterung des gambischen Flüchtlings Bakary J. durch Fremdenpolizisten und der Tod von Marcus Omofuma und Seibane Wague werden von ihm dargestellt. Am Ende seines nach eigenen Worten „autobiografischen Berichts“ hofft Michael Genner, mit seinem Buch gezeigt zu haben, dass sich der Widerstand lohnt. Dies ist ihm als politischen Aktivisten und profunden Kenner der Flüchtlingsthematik eindeutig gelungen. Fazit: Für alle Menschen, die sich für die Geschichte der Linken und der Flüchtlinge in Österreich interessieren, ist Michael Genners Autobiografie „Verleitung zum Aufstand“ eine Pflichtlektüre, die das politische Bewusstsein gegenüber den Widrigkeiten deutlich erweitert.

Michael Genner, Verleitung zum Aufstand. Ein Versuch über Widerstand und Antirassismus, Mandelbaum kritik & utopie, 2012, 255 S., 20,-- Euro (10 Euro gehen an Asyl in Not, 10 Euro an den Verlag)

Termin:

Buchpräsentation und Podiumsdiskussion mit Michael Genner und Susanne Scholl in der Hauptbücherei am Gürtel 1070 Wien, Urban-Loritz Platz 2a, 3. Stock am Freitag, den 22. März 2013, 19 Uhr.

Das Buch kann bei Asyl in Not bestellt werden: office@asyl-in-not.org Es kostet dann 20.- Euro plus 4.- Euro für den Versand. Selbstabholung um 20.- Euro (davon gehen 10.- an Asyl in Not, 10.-. an den Verlag) bei Asyl in Not im WUK (1090 Wien, Währingerstraße 59) oder im WUK-Infobüro.

Links:

www.asyl-in-not.org

Audiointerview mit Michael Genner zu seiner über sein Engagement.

Brücken statt Stacheldraht

  • 13.02.2013, 17:30

Klaus Schwertner: "Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es ird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben."

progress: Wann wären die Proteste in der Votivkirche aus Sicht der Caritas ein Erfolg?

Klaus Schwertner: Durch ihren Protest haben die Flüchtlinge schon sehr viel erreicht: Sie haben sichtbar gemacht, dass es  grundsätzliche Probleme in den Unterkünften und im Verfahren gibt. Erstmals treten AsylwerberInnen in einer breiten Öffentlichkeit selber für ihre Anliegen ein. Menschenrechte gelten für alle, das vermitteln sie eindrucksvoll. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass  wir in einem Rechtsstaat leben, das heißt nicht jedeR die oder der Asyl beantragt, wird auch Asyl erhalten. Die PolitikerInnen könnten zwei Dinge von den Flüchtlingen lernen: mehr Menschlichkeit und mehr Mut. Eine Lösung für die Flüchtlinge in der Votivkirche ist eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.

Warum hat sich aus der Bundesregierung niemand in die Kirche begeben? Oder der Bundespräsident, der sich auch
für Arigona Zogaj stark gemacht hat?

 
Das müssen Sie die PolitikerInnen selbst fragen. Es gab in der Kirche Gespräche mit Kardinal Schönborn und mit Othmar Karas, dem Vize-Präsidenten des Europaparlaments. Aber es ist nicht so wichtig, wo ein Dialog stattfindet, sondern dass ein Dialog stattfindet. Die Innenministerin hat Anfang Jänner vier Flüchtlinge, die in der Votivkirche Schutz suchen, empfangen. Dabei hat sie zwei Stunden lang mit ihnen gesprochen und faire Verfahren versprochen – aber auch betont, dass es keine strukturellen Änderungen im  Asylrecht geben werde.

Welche gesetzlichen Änderungen braucht es aus Ihrer Sicht?

Es ist nicht alles schlecht und nicht alles gut im österreichischen Asylwesen. Wenn man sich die Verhältnisse in Griechenland anschaut, stehen wir hier nicht so schlecht da. Trotzdem sollte Europa gemeinsam Brücken bauen, anstatt Stacheldrähte hochzuziehen. Österreich braucht rasche, qualitätsvolle Asylverfahren. In acht von neun Bundesländern gibt es baufällige, schimmlige Quartiere. Da brauchen wir Mindeststandards: Es geht nicht um Hotels mit drei Sternen, sondern um menschenwürdiges Wohnen. Wir brauchen eine einheitliche Beurteilung der Gefahren in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Es mutet eigenartig an, dass auf der Homepage des Außenministeriums Reisewarnungen der höchsten Sicherheitsstufe für Pakistan ausgesprochen werden, aber die Flüchtlinge aus diesen Regionen möglicherweise dorthin zurück müssen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass im Asyl- und Fremdenrecht seit 20 Jahren eine Verschärfung die andere jagt.

Unzählige Novellen haben dazu geführt, dass die Qualität der Gesetze immer schlechter geworden ist. Durch die Schaffung des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration sollte es aber hier dringend notwendige Verbesserungen geben. In den letzten Jahren hat  sich einiges zum Positiven verändert. Aber auf der einen Seite wirft man Flüchtlingen oft vor, dass sie viel Steuergeld kosten, und auf der anderen Seite lässt man sie nicht arbeiten – das ist zynisch. Die aktuelle Regelung erlaubt nur Saisonarbeit bei der Ernte. AsylwerberInnen dürften Gurkerl ernten, aber aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit dürfen sie oft nicht dort hin, wo  die Gurkerl sind.

Haben sich SPÖ und ÖVP in der Frage der Rechte von MigrantInnen zu lange von der FPÖ treiben lassen?

Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es wird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben. Menschen, die sich fünf Jahre in Österreich aufhalten, drei davon legal, bekommen einen Rechtsanspruch auf humanitäres Bleiberecht. Abschiebungen von Kindern mit Sturmgewehren, Familien, die auseinandergerissen werden: Diese Zustände müssen in Österreich ein Ende haben und ich bin  guten Mutes, dass uns das gelingt. Es braucht klare Gesetze und Menschlichkeit.

Keine Frage des Könnens

  • 13.02.2013, 17:12

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer, Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer,  Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

Es war die größte politische Kundgebung, die Österreich je gesehen hatte und bis heute gesehen hat. 300.000 Menschen demonstrierten am 23. Februar 1993 am und um den Wiener Heldenplatz. Keinen halben Kilometer Luftlinie weiter frieren und hungern im Winter 2013 AsylwerberInnen in der Wiener Votivkirche. Sie finden die Lebensumstände in den Asyllagern nicht mehr  zumutbar und ihre Position aussichtslos.

Rückblende. Anfang der 1990er-Jahre scheint der Aufstieg der FPÖ kaum zu stoppen. Jörg Haider ist seit sechs Jahren Obmann der größten Oppositionspartei, er nennt SPÖ-Innenminister Franz Löschnak „meinen besten Mann in der Regierung“. Trotz interner  Widerstände setzt Haider  das sogenannte „Ausländervolksbegehren“ durch. Es beinhaltet gezielte Tabubrüche wie die Verknüpfung eines Zuwanderungsstopps mit der Arbeitslosenquote und eine „Ausländerquote“ in Schulklassen. Der liberale Flügel der FPÖ bricht nach dem Volksbegehren weg, fünf Abgeordnete um Heide Schmidt gründen das Liberale Forum (LIF). Den Takt in der  Fremdenpolitik gibt die FPÖ trotzdem weiter vor. 20 Jahre später ziehen zwei Protagonisten der Menschenrechtsbewegung von heute  ein vorläufiges Resümee. progress hat Caritas-Pressesprecher Klaus Schwertner und SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak getroffen und mit ihnen über das raue Klima in der österreichischen Menschenrechtspolitik und die Perspektiven des Protests in der Wiener Votivkirche gesprochen und dabei unterschiedliche Einschätzungen gefunden, was Flüchtlinge in Österreich in den kommenden Jahren erwartet.

Weiterlesen: Interview mit Alexander Pollak (SOS Mitmensch)

Weiterlesen: Interview mit Klaus Schwertner (Caritas)