Asylpolitik

Der notstandslegitimierte Notstand

  • 21.06.2016, 21:53
Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Wie Angst für rassistische Asylgesetzgebung genutzt wird.

Am 27. April 2016 beschloss der österreichische Nationalrat erneut eine Verschärfung des Asylrechts, wie das auch schon in den letzten Jahren in regelmäßigen Abständen passiert ist. Die aktuelle Novelle bedeutet eine De-facto-Abschaffung des allgemeinen Rechts auf Asyl. So wird es für viele verunmöglicht, ihre Familie nach Österreich nachzuholen, wodurch noch mehr Flüchtende auf gefährliche Migrationsrouten gedrängt werden. Nicht minder problematisch ist die Regelung zu „Asyl auf Zeit“, die den Asylstatus auf drei Jahre beschränkt und danach eine neuerliche Prüfung sämtlicher Asylgründe vorsieht: Dies hebelt aktiv die Teilhabe von Geflüchteten an der Gesellschaft aus und erschwert zahlreichen Menschen eine langfristige Lebensplanung, etwa beim Versuch, eine Wohnung oder einen Job zu bekommen.

AKTUELLE DISKURSE. Diese Verschärfungen wirken sich auf unterschiedliche Aspekte des Lebens Geflüchteter und von Migrant*innen aus, dennoch zielen sie alle auf eines ab: Abschottung. Diese Abschottung aber geschieht – wie jeder andere soziale Prozess – nicht in einem „luftleeren“ Raum, sondern bildet vielmehr konkrete gesellschaftliche Machtverhältnisse ab. Sieht man den Staat als Verdichtung eines materiellen Kräfteverhältnisses, eröffnet das den Blick darauf, dass Gesetze nicht von der vermeintlich privaten Ebene des sozialen Lebens zu trennen sind und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse eben dieses Lebens strukturiert und reproduziert.

Hier setzen aktuelle Diskurse über den Notstand an. Dieser sei, so heißt es, unumgänglich: Österreich sehe sich mit einer unbewältigbaren Menge an Geflüchteten konfrontiert. Refugees werden nicht mehr als individuelle Menschen mit eigenen Schicksalen wahrgenommen, sondern als entmenschlichte Masse – was sich auch auf der sprachlichen Ebene manifestiert, etwa durch die Verwendung einer Rhetorik, die ansonsten der Beschreibung von Naturkatastrophen dient.

TRAISKIRCHEN: DIE ÜBERFORDERUNG. Dass diese Bilder der Überforderung relativ wenig mit der Realität zu tun haben, zeigt sich besonders deutlich am Beispiel Traiskirchen. Wenn wir uns an den letzten Sommer erinnern, beherrschten vor allem die katastrophalen Zustände im Erstaufnahmezentrum die mediale Berichterstattung. Politik und Verwaltung schienen nicht in der Lage zu sein, auch nur ein Mindestmaß an Versorgung sicherzustellen. Die Grundversorgung, was Essen oder Hygiene betraf, war mangelhaft, Geflüchtete mussten sich zeitweise stundenlang anstellen, um Essen oder Kleidung zu bekommen. Wurden diese Probleme angesprochen, wurde auf ihre Unlösbarkeit verwiesen: Es wären schlichtweg zu viele Menschen in Traiskirchen, hieß es vonseiten des Innenministeriums. Dass es kein Problem wäre, in einem der reichsten Länder der Welt 4000 Menschen adäquat zu versorgen, wenn der politische Wille dazu vorhanden ist, erklärt sich eigentlich von selbst. Wenig später – als vermehrt Menschen in Österreich ankamen und in den Folgemonaten blieben – gab es plötzlich Unterkünfte.

Wie Traiskirchen in den Jahren zuvor, sind auch diese Unterkünfte in der Regel nicht sonderlich lebenswert, aber: Sie sind vorhanden, obwohl es zuvor jahrelang hieß, es wäre nicht möglich, Plätze bereitzustellen und Traiskirchen zu entlasten. Hier zeigt sich auf der diskursiven Ebene ein kontinuierliches Verschieben dessen, was möglich ist oder nicht, sowie die ständige Anpassung der Auslegung von „Überforderung“: Es ist nicht die angeblich zu hohe Anzahl Geflüchteter, die Österreichs Behörden überlastet, sondern die politische Weigerung, jemals auch nur ein wenig mehr als das Mindestmaß an notwendigen Ressourcen bereitzustellen. Vor allem im Hinblick auf die unzähligen leerstehenden Wohnungen ist das Argument, es gäbe nicht genug Platz für alle, absurd.

EINE FRAGE DER VERTEILUNG. Hier zeigt sich, wie Diskurse der Überforderung konkrete ökonomische Interessen stützen: Anstatt über eine andere Verteilung von Ressourcen zu sprechen, wird – parallel zu rassistischen Diskursen über „undankbare Fremde“, die sich nicht mit unzumutbaren Massenunterkünften zufriedengeben – stetig ein neues Bild der Überforderung produziert. Dass diese Überlastung allerdings nicht einem tatsächlichen Mangel an Ressourcen, sondern bloß dem Unwillen, diese bereitzustellen beziehungsweise umzuverteilen, geschuldet ist, wird nicht angesprochen. Es gibt also nicht grundsätzlich zu wenig Wohnungen, Kindergartenplätze und Schulen, sondern es sind politische Entscheidungen, wie viele Wohnungen gebaut und wie viele Betreuungsplätze angeboten werden. Im öffentlichen Bewusstsein manifestiert sich nur das Problem, nicht aber seine Ursachen und naheliegende Lösungsansätze.

Durch das Nicht-Bereitstellen von grundlegenden Ressourcen hat sich Österreich selbst einen vermeidlichen Notstand konstruiert, auf den dann mit weiteren repressiven Gesetzgebungen reagiert wurde, wie etwa mit der Verschärfung des Asylrechts. Wenn es in Mainstreammedien heißt, der österreichische Staat und die handelnden Politiker_innen wären letzten Herbst überfordert gewesen, und dies der Grund sei, weshalb die Zivilgesellschaft die Versorgung von Refugees übernehmen musste, ist das eine grobe Verzerrung der Tatsachen. ausgeblendet wird, dass ein als überfordernd dargestellter Sachverhalt das Umsetzen neuer Verschärfungen erleichtert und gleichzeitig die Auslagerung staatlicher Aufgaben auf unbezahlte Helfer_innen vorantreibt. Diese „Privatisierung“ staatlicher Aufgaben kann auch zu Überforderung der Helfer_innen führen, nicht zuletzt, wenn ihre Bemühungen Hilfe zu leisten, durch staatliche Repression erschwert werden. So schließt sich der Kreis im Überforderungskarussell und der Notstand erscheint zwar nicht als ideale, aber zwangsläufig notwendige Lösung plötzlich akzeptabel.

Gruppe: Freedom not Frontex
Kontakt: freedomnotfrontex.net

„Hier wird die Problematik von Grenzen bewusst“

  • 24.06.2015, 17:51
Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Lampedusa liegt näher an Nordafrika als an Europa, das Klima ist mild, die Strände sind weiß. Eine Fahrt über eine Insel zwischen Flüchtlingselend und Urlaubsparadies.

Sanft landet die Propellermaschine der italienischen Post am Flughafen von Lampedusa. 25 Passagiere steigen aus dem Flugzeug aus, drei von ihnen JournalistInnen.  Rund 6.000 Menschen leben auf dem 20 Quadratkilometer großen Felsen im Mittelmeer. Im Sommer, wenn die TouristInnen kommen, sind es um einige Zehntausend mehr.  „Die Saison geht von Juni bis August“,  sagt  Gianfranco, der während dieser Zeit in einem Hotel arbeitet und sein Auto an JournalistInnen verleiht. Das restliche Jahr lebt der Mittdreißiger in Palermo. Mit Flüchtlingen hat Gianfranco oft zu tun, da er als Freiwilliger beim Roten Kreuz hilft. „Das letzte Flüchtlingsboot ist vor einer Woche angekommen“, sagt er. Sollte er von einer Rettungsaktion erfahren, melde er sich per Telefon.

ESPRESSO. Im Hafen schaukeln Fischkutter neben kleinen Yachten und Sportbooten. Wellen schlagen gegen die Hafenmauer, Möwen schreien, Mopeds knattern. Auf einer Anhöhe oberhalb des Hafens weht die Fahne des Malteserordens im Wind: weißes Kreuz auf rotem Grund. Am Horizont die Silhouette einer Frontex-Fregatte.

Vor der Hafenbar Sbarcatoio findet sich ein Parkplatz für Gianfrancos alten Renault. Auf der Terrasse sitzen bartstoppelige Fischer und Paola Pizzicori, die gelegentlich für JournalistInnen Interviews dolmetscht, beim Espresso. Die 48-Jährige lebt seit 25 Jahren auf Lampedusa und weiß von den Sorgen der BewohnerInnen: Das Trinkwasser müsse mit einem Tankboot geliefert werden. Der Bau einer Wasseraufbereitungsanlage sei zwar begonnen, aber nicht fertiggestellt worden. Strom werde größtenteils durch Dieselgeneratoren erzeugt. „Und das auf einer Insel, wo es so viel Sonne und Wind gibt.“ Der Turnsaal der Schule könne nicht benutzt werden, weil das Gebäude einsturzgefährdet sei. Auf der anderen Seite des Hafens legt die Fähre ab, die einmal  am Tag nach Agrigent fährt. „Die Fähre ist langsam, neun bis zehn Stunden braucht sie bis Sizilien“, sagt Pizzicori. Die LampedusanerInnen hätten gerne ein Speedboot. Und auch die Flüge seien zu teuer.

Und die Flüchtlinge? Die Art der medialen Berichterstattung verärgert die InselbewohnerInnen. „Stell dir vor, du lebst auf Lampedusa vom Tourismus und  in den Medien wird ständig von Ertrinkenden geschrieben.“ Aber Auslöser der Probleme seien nicht die Flüchtlinge, sondern die europäische Flüchtlingspolitik. Sie zwinge die Menschen übers Meer zu fahren, um nach Europa zu kommen. Pizzicori blickt aufs Meer, wo die Fähre hinter dem Felssporn mit der Malteser-Flagge verschwindet. „Als EuropäerIn hast du einen Pass, mit dem du so ziemlich jede Grenze überqueren kannst. Hier auf Lampedusa mit all den Toten wird dir die Problematik von Grenzen bewusst.“

STRAND. Vorbei am Porto Nuovo, wo zwei graue Patrouillenboote der Guardia di Finanza dümpeln, schlängelt sich die Straße einen Hügel hinauf. Nach fünf Minuten weist ein Schild am Straßenrand auf den Abgang zur Spiaggia dei Conigli, dem Kaninchenstrand, hin. Einige hundert Meter vor dem Strand sank im Oktober 2013 nach einer zweitägigen Odyssee ein überfüllter Fischkutter aus Libyen. Etwa 150 Menschen konnten von der Küstenwache und den FischerInnen gerettet werden. 300 Flüchtlinge ertranken. Heute ist alles ruhig. Am weißen Sandstrand braungebrannte Körper auf Badetüchern vor azurblauem Meer. Möwen jammern.

Zur selben Zeit folgt die Monte Sperone dem Notruf eines GPS-Handys. Das Signal wurde irgendwo zwischen der libyschen Küste und Lampedusa geortet.  Mehrere hundert Menschen sollen sich an Bord eines überladenen Kutters befinden. Als das  Schiff der Guardia   di Finanza den Notruf erhält, ist es 100 Seemeilen vom Sender entfernt. Bei einer Geschwindigkeit von  35  Knoten  braucht  das  Schiff drei Stunden, um das  Flüchtlingsboot zu erreichen. Wenn eines der kleinen Flüchtlingsboote einmal leckt, dauert es etwa 30 Minuten bis es sinkt und die InsassInnen, meist NichtschwimmerInnen, ertrunken sind.

PiZZA. Die Via Roma ist die Hauptstraße von Lampedusa. Sie beginnt nahe beim Hafen und zieht sich schnurgerade an der Kirche vorbei bis an den Rand der Stadt. Marquisen beschatten die Auslagen der Boutiquen und Läden, Cafés und Restaurants reihen sich aneinander. Giuseppe Solina steht vor seiner Trattoria am Anfang der Fußgängerzone. „Wir LampedusanerInnen  helfen  den  Flüchtlingen. Das ist selbstverständlich“, sagt der Mittvierziger. „Aber wir wollen nicht, dass unsere Insel auf das Thema Migration reduziert wird.“ JournalistInnen hätten sogar von einem Ebola-Fall berichtet, den es nicht gab. Lampedusa sei eine schöne Insel mit netten Menschen, die gerne Urlaubsgäste empfangen wollen. Auf Grund der Berichterstattung glauben viele, dass Lampedusa ein einziges Flüchtlingslager sei.  „Aber sehen Sie sich doch um!“ Dann geht er zurück in die Trattoria, setzt sich an sein Piano und spielt die Melodie von „Stand by Me“.

SCHIFFSWRACK.  Neben der Uferstraße im Porto Nuovo verrotten hinter einer niedrigen Mauer Holzboote mit weiß-blauem Anstrich und arabischen Inschriften. Das linke Kollektiv  Askavusa hat auf den Decks und in den Laderäumen der Boote die Zeugnisse jener Menschen gesammelt, die mit den Booten nach Europa kamen. Am Hafen bauen sie ein altes FischerInnenhaus zu einem Ausstellungsraum um. „Die Menschen auf Lampedusa wollen, dass die MigrantInnen unsichtbar bleiben“, sagt Francesca, eine Aktivistin von  Askavusa.  Dem  will Askavusa  ein Museum mit persönlichen Gegenständen der Flüchtlinge entgegensetzen: Tunesische Zigarettenpackungen, Kleider, in die Telefonnummern eingenäht sind, Notizen und Zeichnungen, Schwimmwesten, Koran und Bibel, vom Meerwasser aufgeweicht.

Und der Tourismus? Es kämen jetzt zwar weniger UrlauberInnen auf die Insel, dafür umso mehr JournalistInnen, NGO-ArbeiterInnen, PolizistInnen und SoldatInnen – die müssen alle versorgt werden, brauchen Schlafplätze, besuchen Restaurants   und  Bars. „Früher lebten die Menschen von der Fischerei, dann vom Tourismus, jetzt auch von der Militär- und Flüchtlingsindustrie“, sagt Francesca und dreht sich eine Zigarette. „Die Ökonomie der Insel verändert sich.“

Als die Monte Sperone 40 Seemeilen vor der  libyschen Küste auf das Boot der Flüchtlinge  trifft, sind diese seit sechs Stunden unterwegs. Kinder, Jugendliche, Erwachsene drängen sich auf dem überfüllten Fischkutter. EineR nach dem/der anderen werden sie auf das Schiff der Guardia di Finanza gebracht, wo sie Decken und Wasser erhalten und HelferInnen die Flüchtlinge erstversorgen. Anschließend wird der Kutter versenkt.

TOTE. „Porta d'Europa“ nennt der italienische Künstler Mimmo Paladino sein Werk an der Südküste, nahe des Hafens: ein fünf Meter hoher Durchgang, an dem Schuhe, Mützen und andere Habseligkeiten, die Bootsflüchtlinge bei ihrer Ankunft  am Körper trugen, hängen. Gegen die schroffen,  scharfen Felsen unterhalb des Tores brandet das Meer. Ein Handy läutet, es ist Gianfranco: Das Schiff der Guardia di Finanza mit 600 Flüchtlingen laufe in den Hafen ein.  Langsam nähert sich die graue Bordwand der Kaimauer. Über der Reeling die Köpfe hunderter AfrikanerInnen und SyrerInnen. Dazwischen HelferInnen in weißen Schutzanzügen, Handschuhen und Mundmasken. Am Kai warten zwei Dutzend Carabinieri, Kamerateams, FotografInnen, Malteser-HelferInnen  in Uniform, das Rote Kreuz mit zwei Krankenwägen und junge Leute mit „Save the Children“-T-Shirts.  „Sofern möglich, werden die Geretteten gleich nach  Sizilien gebracht", sagt Comandante Leonardo Gnoffo  von der Guardia di Finanza, der Finanzaufsicht, deren Schiffe bei der Operation „Triton" zum Einsatz kommen. Aber der Kapitän und die ÄrztInnen an Bord des Schiffes bestehen darauf, die Menschen zuerst nach Lampedusa zu bringen, da sie medizinische Hilfe brauchen, so Gnoffo. Eine Frau sei schwanger, es gäbe Fälle von Krätze und gebrochene Knochen. Viele seien erschöpft von einer wochen- oder monatelangen Reise, von der die Fahrt übers Meer nur das letzte Stück darstellt. Ob abgesehen von den  bekannten Unglücken vor Lampedusa von mehr Toten auszugehen sei?  „Auf Grund der Größe des Areals, der Anzahl der Flüchtlinge und des Zustands der Boote können wir davon ausgehen, dass es weit mehr Tote gibt als bekannt", sagt Comandante Gnoffo.

Etwa 60 Frauen, Mädchen und Kinder gehen von Bord des Schiffes. Alles, was sie dabei haben, ist eine Tasche oder ein Rucksack, viele nicht einmal das. Rot-Kreuz-MitarbeiterInnen kontrollieren sie auf erhöhte Temperatur und Hautkrankheiten. „Die Flüchtlinge kommen aus Eritrea, Zentralafrika und  Syrien“, sagt  Giada Bellanca, eine Malteser-Helferin.  „Libyen ist das Delta der Flüchtlingsströme. Dort gehen sie auf die Boote Richtung EU.“

Und die SchlepperInnen? „Die, die das große Geld machen, sitzen in Libyen“, sagt Bellanca. Die das Boot nach Europa steuern, seien kleine Handlanger, oft 16- oder 17-jährige Burschen: „Genauso verzweifelt wie die Flüchtlinge.“ Der erste Bus ist voll und bringt die Flüchtlinge ins Aufnahmezentrum außerhalb der Stadt.

ENDE DER REISE? Normalerweise bleiben die Flüchtlinge nicht länger als 48 Stunden auf der Insel, dann werden sie nach Sizilien gebracht. Kommen viele Boote auf einmal an, ist das Zentrum mit einer Kapazität für ein paar hundert Menschen rasch  über füllt. Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge, die 2014 über das Mittelmeer nach Europa kamen, stammen laut UNO aus Syrien und Eritrea. Auch Danyal kommt aus Eritrea, der Militärdiktatur am Horn von Afrika. Er sitzt im Schatten einer Pinie hinter dem Gitter des Aufnahmezentrums. Das Tor wird von SoldatInnen bewacht, der Zugang ist nur mit Genehmigung der Präfektur in  Agrigent gestattet.

Danyal musste 1.800 US-Dollar für die Überfahrt bezahlen. Bei 600 Menschen am Boot wanderten   rund eine Million Dollar in die Taschen jener Organisationen, die von Libyen aus die Überfahrt organisieren. Von Eritrea bis Libyen war er ein Monat unterwegs. Einige seiner ReisegefährtInnen hatten es nicht geschafft, sie wurden im Tschad gekidnappt, andere geschlagen, alle hungerten sie und waren obdachlos. In Tripolis musste er auf gutes Wetter für die Überfahrt warten. Jetzt würde er gerne seine Familie verständigen, dass er Europa erreicht hat.  Aber er besitzt kein Handy.

Am nächsten Tag im Hafen von Lampedusa. Etwa 50 Flüchtlinge verschwinden im Bauch der Fähre. Dann schließt sich die Luke und das Schiff legt Richtung Agrigent ab, wo die Flüchtlinge auf verschiedene Flüchtlingslager verteilt werden. Rauch qualmt aus den Kaminen, Möwen folgen dem Schiff eine Weile, bevor sie abdrehen.

Von den 220.000 Flüchtlingen, die 2014 versuchten über das Mittelmeer Europa zu erreichen, sind laut UNHCR 3.500 ertrunken. Seit Anfang des Jahres bis April (2015) sind bereits 1.600 Menschen auf ihrer Flucht umgekommen.

 

Markus  Schauta  studierte  Geschichte,  Archäologie  und Religionswissenschaft an der Universität Wien. Seit 2011 macht er zahlreiche Reportagen als freier Nahost-Reporter.

Hier kannst du das Video ansehen, das im Rahmen von Markus Recherchetätigkeiten in Lampedusa entstanden ist. 

Kein Asyl ohne Erektion

  • 25.03.2015, 18:42

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

Nach dem Mord an der Trans* Frau Hande Öncü wird an den Asylverfahren von LGBTI-Personen scharfe Kritik geübt. Mit der geplanten Einführung von Schnellverfahren droht nun eine weitere Verschlechterung.

LGBTI-Personen begegnen im Zuge ihres Asylverfahrens Klischees, Stereotypen und verschiedenste Grenzüberschreitungen.  Der Mord an der Türkin Hande Öncü, die vor Gewalt gegen Trans*Frauen und Sexarbeiter*innen nach Österreich geflüchtet ist, ist ein Beispiel dafür, dass die Gewalt an LGBTI-Flüchtlingen in Österreich leider weitergeht.

MISGENDERN IST GEWALT. Ein anderer bekannter Fall spielte sich 2011 ab: Die Trans*Frau Yasar Ö. wurde in der Türkei aufgrund ihrer Transsexualität mehrmals verprügelt, ihre Familie setzte einen Mörder auf sie an. Ihr Asylantrag in Österreich wurde trotzdem abgelehnt. Der Grund: Sie wurde von den Asylbehörden nicht als Trans*Frau, sondern als homosexueller Mann, dem keine Verfolgung in der Türkei drohe, behandelt.

„Klare Themenverfehlung“, fasst Judith Ruderstaller das Urteil zusammen. Sie war damals beim Verein Asyl in Not tätig und betreute Yasars Fall. Nachdem NGOs wie Asyl in Not oder transX die Sachlage klarstellten, konnte das Urteil doch noch aufgehoben werden. Yasar wurde aus der Schubhaft entlassen und ein neues Verfahren wurde eingeleitet. Für Judith Ruderstaller war der Fall ein Wendepunkt, was den Umgang der österreichischen Asylbehörden mit LGBTI-Flüchtlingen betrifft: „Durch diesen Fall ist sehr viel Sensibilisierung reingekommen.“ Generell habe sich in den letzten fünf Jahren vieles verbessert: „2010 habe ich die Judikatur in Österreich im Bezug auf LGBTI-FLüchtlinge analysiert. Ich habe viele Asylbescheide gelesen und das waren grauenhafte Interviews, voller Stereotypen, die auch in intime Details der Sexualität hineinreichten“, erinnert sich Ruderstaller, die heute bei der Organisation Helping Hands Rechtsberatung zum Thema Fremdenrecht anbietet. Von Schulungen für Betreuer_innen, Dolmetscher_innen oder Richter_innen war damals noch keine Rede. Die Probleme, mit denen LGBTI-Flüchtlinge sowohl in ihrem Herkunftsland als auch in Österreich konfrontiert waren, konnten daher nur selten miteinbezogen werden.

BLUTFLUSSFRAGEN. Eine 2013 erlassene EU-Richtlinie sieht nun vor, dass Menschen, denen eine Haftstrafe aufgrund ihrer sexuellen Identität oder Orientierung droht, Anspruch auf Asyl haben. In Österreich wurde die EU-Richtlinie noch nicht im staatlichen Gesetz verankert. Hier werden LGBTI-Flüchtlinge zur Kategorie der „sozialen Gruppe“ gezählt. Asylgrund besteht also dann, wenn eine „Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe“ gegeben ist. Zu einer sozialen Gruppe zählen all jene Menschen, denen von der Gesellschaft in ihrem Heimatland ein gemeinsames Merkmal zugewiesen wird. Damit der Asylantrag positiv ausfällt, muss die Verfolgung jedoch eine gewisse „Erheblichkeitsschwelle“ überschreiten. Was das konkret bedeutet, ist Interpretationssache.

Die Personen müssen den Behörden glaubwürdig machen, dass sie homo-, bi-, trans- oder intersexuell sind. Im Bezug auf die Glaubwürdigkeit treten laut Ewa Dziedzic, Gründerin des Vereins MiGay, jedoch Probleme auf: „Wenn Menschen auf Grund einer Bedrohung flüchten, fällt ihnen in Europa nicht als erstes ein, über ihre Diskriminierungskategorie zu sprechen. Sie können auch zum Teil gar nicht wissen, wie hier mit diesem Thema umgegangen wird.“ Und doch: Über den Fluchtgrund mit geschultem und sensiblem Personal zu sprechen, ist ein weniger gewaltvolles und diskriminierendes Instrument als sogenannte „sexualpsychologische Gutachten.“ Zu diesen gehören die Forderung nach visuellen Beweisen intimer Handlungen oder wie bis vor kurzem in Tschechien noch üblich, phallometrische Messungen ebenso dazu wie indiskrete Fragen über das sexuelle Leben der Flüchtlinge. Gefragt wird zum Beispiel nach Sexstellungen bei gleichgeschlechtlichem Sex, der sexuellen Aktivität und der Anzahl der Partner_innen. Dass all diese „Gutachten“ nicht nur wissenschaftlich fragwürdig sind, sondern vor allem die Menschenwürde verletzen, stellte Anfang Dezember 2014 auch der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest.

SENSIBILITÄT. Trotz der Gewalterfahrungen, die Flüchtlinge aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemacht haben, muss wohl über diese Zugehörigkeit gesprochen werden. Denn es gibt kaum andere Instrumente, Fluchtgründe und ihre „Rechtfertigung“ zu ermitteln, als die eines sensiblen Nachfragens. Vereinzelt findet in Österreich noch ein anderes Instrument bereits Anwendung, so Ewa Dziedzic: „Was wir in Österreich auf NGO-Ebene machen, ist den Beweis dadurch zu erbringen, dass wir  den Behörden klarmachen, dass die betroffene Person in der LGBTI-Community aktiv ist. Insofern haben wir hier ein verstärkendes Instrument aus der Zivilgesellschaft.“

Auch wenn die Dolmetscher_innen, Berater_innen und Richter_innen schon etwas sensibler mit dem Thema umgehen als früher, gibt es immer wieder homo- und transphobe Situationen. So erzählt Ruderstaller von einem Gespräch zu einem Asylantrag: „Einmal hat sich ein Klient von einem Dolmetscher verletzt gefühlt. Auch die Vertrauensperson, die dabei war, empfand die Atmosphäre in dem Gespräch als homophob.“ Aufholbedarf sieht Ruderstaller auch bei der Judikatur. LGBTI-Flüchtlinge, die in ihren Herkunftsländern zwar nicht mit harten Strafen rechnen müssen, denen es aber unmöglich gemacht wird, ihr Privat- bzw. Familienleben öffentlich auszuüben, haben auch heute noch eher schlechte Chancen auf einen positiven Asylbescheid: „Da sollten die Asylbehörden sensibler werden“, wünscht sich Ruderstaller: „Man sollte das Privatleben überhaupt nicht verbergen müssen, weil man sonst in der Persönlichkeit stark eingeschränkt wird. Das sollten die Asylbehörden gerade bei Ländern, in denen etwa Homosexualität ein Tabu ist, auch einsehen und Asyl gewähren.“

 

Valentine Auer ist freiberufliche Journalistin und studiert Theater-, Film- und Medientheorie an der Universität Wien.