Veronika Siegl

Im Namen der Moral

  • 10.10.2015, 09:00

Die russische Regierung erlässt ein homophobes Gesetz nach dem anderen. Aber Repression und Konservatismus sind nur eine Seite der Medaille. Die Risse im System Putin sind längst sichtbar und der Widerstand wächst.

Die russische Regierung erlässt ein homophobes Gesetz nach dem anderen. Aber Repression und Konservatismus sind nur eine Seite der Medaille. Die Risse im System Putin sind längst sichtbar und der Widerstand wächst.

Eigentlich wolle er Russland nicht verlassen, sagt Andrej*, zumindest nicht vor dem Abschluss seiner Dissertation. Aber nachdem der Student vor wenigen Wochen kommentarlos exmatrikuliert wurde, sieht er keine Alternative. Sein Rausschmiss steht aus seiner Sicht ganz klar damit in Verbindung, dass seine Betreuerin an der staatlichen St. Petersburger Universität kurz zuvor erfahren hatte, dass er schwul ist und sich öffentlich für die Rechte von LGBTI-Personen (LesbianGayBisexualTrans*Inter*-Personen, Anm. der Red.) einsetzt.

Vor der Verabschiedung des Gesetzes gegen „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen“ wäre dies kaum vorstellbar gewesen, meint Andrej. Das Gesetz wurde 2011 vom radikal-orthodoxen Petersburger Abgeordneten Witalij Milonow initiiert und verbietet es, diese Beziehungen in der (potentiellen) Anwesenheit von Minderjährigen, beispielsweise auf der Straße oder in den Medien, als normal oder positiv darzustellen.

Seit 2006 ist ein solches Verbot bereits in verschiedenen russischen Städten in Kraft; im Juni dieses Jahres unterzeichnete Vladimir Putin ein entsprechendes Gesetz auf föderaler Ebene. Die homophobe Einstellung der Regierungspartei Geeintes Russland fällt bei einem Gutteil der russischen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden. Eine Umfrage des unabhängigen Levada-Zentrums vom Februar 2013 zeigt, dass 34 Prozent der Befragten Homosexualität als Krankheit und 23 Prozent als „schlechte Angewohnheit“ sehen. Für knapp 40 Prozent wäre ein schwules oder lesbisches Paar in ihrer Nachbarschaft als „klar negativ“ zu beurteilen.

Seit Putins Partei Geeintes Russland in den Kreml eingezogen ist, scheint sich ein großer Teil der Bevölkerung immer mehr nach rechts zu bewegen und sich an der Vergangenheit zu orientieren. Dabei müssen LGBTI-Bewegungen als neue Projektionsfläche für den moralischen Niedergang der Nation herhalten.

Repression und Unsichtbarkeit. Noch vor fünf Jahren hat es kaum für Aufsehen gesorgt, wenn zwei Männer Hand-in-Hand auf der Straße spazierten, erzählt Andrej. Dennoch haben die wenigsten seiner schwulen Freunde ihre sexuelle Orientierung jemals offen gelebt. Homophobie gibt es in der russischen Gesellschaft schon lange, das Propaganda-Gesetz legitimiere aber nun diese Diskriminierung und Gewalt. „Es hat jenen Kraft gegeben, die uns hassen“, sagt Gulya Sultanova, Aktivistin und Organisatorin des LGBTIFilmfestivals Bok o Bok („Side by Side“). In letzter Zeit habe es einen klaren Anstieg an Gewalt gegen LGBTIPersonen gegeben. Auch für sie ist es inzwischen undenkbar, mit ihrer Freundin in der Öffentlichkeit Händchen zu halten, weil das sofort negative Reaktionen hervorruft. „Ich sehe das an den abschätzigen und feindlichen Blicken. Die Leute fragen sich, ob wir Kinder vergewaltigen und ob wir krank oder pervers sind“, so Gulya. Hinzu komme, dass bei gewalttätigen Übergriffen keine Unterstützung von Seiten der Polizei zu erwarten sei und auf Demonstrationen meist nur LGTBI-Aktivist_innen festgenommen werden, während ultranationale Gegendemonstrant_innen polizeilichen Schutz genießen.


Eine Konsequenz all dessen sei, dass LGBTI-Personen gesellschaftlich unsichtbar bleiben, erzählt Herta, die vor rund 30 Jahren aus Westeuropa nach Moskau gezogen ist. Für Außenstehende gäbe es häufig keine Indizien dafür, dass eine Person schwul oder lesbisch ist. „Auch ich habe ein Doppelleben. Im Büro bin ich eine andere Person als privat und für meine gesellschaftlichen Aktivitäten verwende ich ein Pseudonym.“ Herta und ihre Partnerin gründeten vor 15 Jahren eine feministisch-lesbische Zeitschrift Ostrow („Insel“), die bis heute etwa viermal jährlich im Selbstverlag erscheint. Zusätzlich betreuen sie den dazugehörigen Blog und organisieren Lesungen, Konzerte und Workshops.

Neben dem Propaganda-Gesetz hat auch das 2012 in Kraft getretene Foreign Agent Law massive Auswirkungen auf LGBTI-Organisationen. Das Gesetz, das begrifflich an die Spitzelrhetorik der Sowjetzeit erinnert, verpflichtet NGOs, die politisch tätig sind und ausländische Finanzierung erhalten, sich als „foreign agents“ zu registrieren und sich jährlichen Kontrollen zu unterziehen. In diesem Jahr wurden die St. Petersburger LGBTI-Gruppen Bok o Bok und Vychod („Coming Out“) angeklagt, weil sie sich der Registrierungspflicht verweigert hatten. Während die beiden Organisationen Anfang Oktober jedoch freigesprochen wurden, ist das Verfahren gegen Gulya als Verantwortliche des Filmfestivals noch ausständig. „Was früher Kulturaustausch hieß, heißt jetzt politische Agent_innentätigkeit“, meint Herta: „Ein Filmfestival dessen zu bezichtigen – das ist absurd.“

Wahrhaftig absurd sind auch so manche der homophoben Feindseligkeiten. So soll beispielsweise in einem biographischen Film über Pjotr Tschaikowski (1840–1893) dessen Homosexualität geleugnet werden. In der Stadt Magnitogorsk erkundigte sich ein Bürger beim Gericht, ob eine in Regenbogenfarben gestrichene Straßenlaterne „Schwulenpropaganda“ sei. Die Antwort lautete: nein. Andere Vorfälle rufen jedoch weit mehr als nur ein Kopfschütteln hervor. Im April 2013 etwa äußerte der Vize-Generaldirektor des Staatsfernsehens vor laufenden Kameras den Wunsch, noch brutaler gegen LGBTI-Personen vorzugehen: „Man muss ihnen Blut- und Samenspenden verbieten, und ihre Herzen nach einem tödlichen Autounfall in der Erde vergraben oder verbrennen, da sie für eine Lebensverlängerung – ganz gleich für wen – ungeeignet sind.“ Wenige Monate später unterschrieb Vladimir Putin ein Gesetz, das alleinstehenden Personen und gleichgeschlechtlichen Paaren aus Ländern, in denen die eingetragene Partner_innenschaft erlaubt ist, die Adoption russischer Kinder untersagt. Außerdem wird momentan eine Gesetzesnovelle diskutiert, die schwulen und lesbischen Paaren das Sorgerecht für ihre Kinder entziehen soll. Die russische Duma soll im Frühling 2014 über den Entwurf abstimmen.

Die goldene Vergangenheit. Diese Entwicklungen sind Teil der konservativen und autokratischen Wende in Russland, die sich nicht zuletzt auf die enttäuschten Hoffnungen der 1990er Jahre auf Demokratie und Wohlstand zurückführen lässt. Während die Idee der Partizipation spätestens mit der Verfassungskrise 1993 niedergeknüppelt wurde, lösten die Reformversuche des alkoholkranken Boris Jelzin ein unsägliches Durcheinander in Politik und Wirtschaft aus, in dem die sozial Schwächsten unter die Räder gerieten. Als ehemaliger KGB-Offizier verstand es Putin in dieser Situation, sich den Wunsch vieler Russ_innen nach politischer Stabilität, klaren moralischen Leitlinien und neuem Nationalstolz zunutze zu machen. Er war sich zudem im Klaren darüber, dass er die Hilfe der Orthodoxen Kirche benötigen würde. Das Aufleben religiöser Fundamentalismen war dabei sowohl Produkt als auch Ursache der Annäherung von Staat und Kirche, die vor allem seit dem Amtsantritt des milliardenschweren Patriarchen Kyrill 2009 vorangetrieben wird. Die Kirche stellt sich hinter Putin – Kirill bezeichnete seine Präsidentschaft als „Wunder Gottes“ – und Putin setzt religiöse Wertvorstellungen in gültiges Recht um. Das 2012 verabschiedete Gesetz, das die Kränkung der Gefühle von Gläubigen strafbar und zahlreiche Oppositionelle und Regimekritiker_innen mundtot macht, ist nur eine Ausgeburt dieser „Verpartnerung“.

Der gegenwärtige Traditionalismus ist aber nicht nur religiöser, sondern auch nationalistischer Natur. So sind Putin und seine Anhänger_innen stets um eine Abgrenzung vom „Westen“ und einen Rückgriff auf eine imaginierte „goldene Vergangenheit“ Russlands bemüht – auf eine Zeit also, bevor sogenannte nichttraditionelle Sexualitäten „importiert“ wurden. Diesen Diskurs griff auch Sportstar Jelena Isinbajewa bei der Moskauer Leichtathletik- WM im September auf. „Bei uns leben Frauen mit Männern und Männer mit Frauen“, erklärte sie in einem Interview und sagte in Bezug auf Homosexualität: „Wir hatten diese Probleme nie und wollen sie auch in Zukunft nicht haben.“ Im Nachhinein soll dies nur ein Missverständnis gewesen sein. Welche Rolle dieses Thema bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi spielen wird, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass Isinbajewa „Bürgermeisterin“ des Olympischen Dorfes in Sotchi werden soll.

Harmlos oder bedrohlich? Viele Aktivist_innen erhoffen sich durch Olympia internationale Aufmerksamkeit für ihre Kämpfe und Interesse an der Geschichte der russischen LGBTI-Bewegung. Diese nahm in den 80er Jahren ihren Anfang, als sich Aktivist_innen für die Abschaffung des von Stalin wieder eingeführten Paragraph 121 einsetzten. Der Paragraph, der den sexuellen Kontakt zwischen Männern kriminalisiert, wurde allerdings erst 1993 im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zum Europarat abgeschafft. 1999 wurde Homosexualität schließlich von der Liste der geistigen Krankheiten entfernt. In dieser Zeit entstanden auch die ersten lesbisch-schwulen Clubs. „Die Szene entwickelte sich einigermaßen sichtbar“, erzählt Gulya, „aber es ging damals mehr um Unterhaltung als um Aktivismus.“ Für Herta waren die 1990er und frühen 2000er eine Zeit, in der „relativ viel Freiheit“ zu spüren war. Vor zehn Jahren war das (vermeintlich) lesbische Duo t.A.T.u. der russische Beitrag zum Eurovision Songcontest. Heute wäre das undenkbar. Damals seien die Leute zwar überrascht gewesen, erinnert sich Herta, „aber niemand hat darin einen Angriff auf Sitte und Moral gesehen“. Hier spiele aber womöglich auch die weit verbreitete Annahme eine Rolle, dass Lesben nur lesbisch seien, „weil sie den Richtigen noch nicht gefunden haben“. Schwule werden hingegen als reale Bedrohung für die Geschlechterordnung wahrgenommen: „Durch die Gay Prides denken die Leute, rosa Federboas und Lendenschurz wären das alltägliche Erscheinungsbild von Schwulen.“ Dabei haben die meisten Russ_innen noch nie eine Pride gesehen.

Letztes Jahr genehmigte St. Petersburg als erste russische Stadt die Parade – eine „historische Entscheidung“, so der Bürgerrechtler Nikolaj Alexejew, der seit 2005 erfolglos versucht, selbiges in Moskau umzusetzen. Innerhalb der LGBTI-Community sind die Prides aber durchaus umstritten, weil ein großer Teil der Gesellschaft sie als reine Provokation sieht. Laut Gulya haben die Veranstalter_innen verabsäumt zu kommunizieren, worum es bei solchen Paraden inhaltlich geht.

Solidarität durch Politisierung. Viele der politischen LGBTI-Organisationen, -Vereine und -Initiativen sind erst vor etwa sechs Jahren entstanden. So zum Beispiel Bok o Bok, Coming Out oder das LGBT-Network in St. Petersburg. Gulya berichtet, die Situation sei damals schwierig gewesen, weil viele LGBTI-Personen eher apathisch gewesen seien und politisches Bewusstsein für das Thema gefehlt habe. Das habe sich mittlerweile geändert, dafür sei es aber durch das Propaganda-Gesetz schwieriger geworden, Kooperationspartner_innen zu finden: „Sie finden unsere Arbeit toll, aber sie haben Angst.“

Dennoch hat gerade dieses Gesetz mit all seinen Nebenwirkungen eine neuartige Form der Solidarität hervorgebracht. Seit der Gesetzesentwurf vorgestellt wurde, gab es eine Vielzahl an Protesten, Aktionen und Kampagnen. „Den Informationskrieg haben eindeutig wir gewonnen“, freut sich Gulya. So hefteten sich Unterstützer_innen rosa Winkel an ihre Kleidung, in St. Petersburg gründete sich die Allianz der Heterosexuellen für die Gleichberechtigung der LGBT und viele Medien nehmen eine unterstützende Haltung ein.

Neben der Flut an diskriminierenden Gesetzesnovellen stellten die Bewegungen für gerechte Wahlen 2011 und 2012 einen wichtigen Kontext für die Solidarität mit und die Sichtbarkeit von LGBTI-Personen dar. Die Aktionen für mehr Demokratie führten nicht nur zur Politisierung verschiedener Bevölkerungsgruppen, sondern eröffneten auch neue Kontaktzonen. „Am Anfang war vielen unklar, was Lesben und Schwule hier zu suchen haben“, erinnert sich Gulya. Aber mit der Zeit kam die gegenseitige Annäherung und viele solidarisierten sich, nachdem sie selbst erlebt hatten, wie viel Gewalt LGBTI-Personen bei den Demonstrationen ausgesetzt waren.

Enttäuscht von der Gesellschaft. Der nationale und internationale Druck auf die Regierung nimmt zu, die Unzufriedenheit über die Lage in Russland ist groß, wenn auch nicht immer sichtbar. Andrej ist dennoch nicht optimistisch. Die Anti-Putin-Proteste trugen aus seiner Sicht zwar großes Veränderungspotential in sich, aber jetzt gehe niemand mehr auf die Straße. Alle hätten Angst vor Eskalation. „Ich bin enttäuscht von der Gesellschaft. Die Menschen haben keinen Willen mehr. Aber wenn wir nicht für unsere Rechte kämpfen, wer dann? Wenn wir uns verstecken, wird es keinen Wandel geben.“ Auch Gulya will nicht aufgeben. „Als Lesbe ist diese politische Arbeit für mich lebenswichtig“, sagt sie. „Für mich war es ein sehr langer Weg, meine eigene Homosexualität zu akzeptieren. Ich habe mich immer sehr geschämt und dachte, ich sei krank, weil es keine Informationen darüber gab.“ Das wolle sie anderen ersparen. Natürlich sei die aktuelle Situation sehr schwierig, so die Aktivistin, aber in Russland sei es nie leicht gewesen. Gulya hat sich daran gewöhnt.

Herta und ihre Partnerin planen inzwischen die gemeinsame Emigration, die ersten Jobbewerbungen sind bereits verschickt. „Bei mir ist die Schmerzgrenze eindeutig erreicht. Es wird für uns mit jedem Tag gefährlicher hier“, sagt sie. Trotz eines unbefristeten Aufenthaltsvisums könne sie beim kleinsten Vergehen fristlos ausgewiesen werden und hätte denn für die nächsten fünf Jahre Einreiseverbot. „Dann geh ich lieber selbst.“ Auch Andrej packt seine Taschen. Mittlerweile hat der Politikwissenschaftler einen Betreuer für seine Dissertation in München gefunden. Im November verlässt er Russland, dann möchte er seinen Fall an die Öffentlichkeit bringen, ohne sich hinter einem Pseudonym verstecken zu müssen.


Die Autorin hat in Wien Kultur- und Sozialanthropologie sowie Internationale Entwicklung studiert und ist Redakteurin von PARADIGMATA. Zeitschrift für Menschen und Diskurse.

*Alle Namen wurden von der Redaktion geändert. Die vollständigen Namen sind der Redaktion bekannt.

 

Sich dem Glück in den Weg stellen

  • 10.03.2014, 23:50

Die feministische Theoretikerin Sara Ahmed spricht im Interview über die Dynamiken affektiver Ökonomien, die rassialisierte Figur des_der Fremden und das ermächtigende Potential feministischer killjoys.

Die feministische Theoretikerin Sara Ahmed spricht im Interview über die Dynamiken affektiver Ökonomien, die rassialisierte Figur des_der Fremden und das ermächtigende Potential feministischer killjoys.

Seit Mitte der 1990er-Jahre lässt sich ein steigendes Interesse an den Themen Emotion und Affekt innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften beobachten. Während Emotionen zuvor primär der Privatsphäre zugeordnet wurden, rückte nun die Wechselwirkung mit sozialen, politischen und ökonomischen Faktoren in den Vordergrund. Aber der sogenannte affective turn übersieht oft ein wichtiges Vermächtnis: die Arbeiten von queeren, feministischen, postkolonialen und Schwarzen Theoretiker_innen und Aktivist_innen. Sara Ahmed schließt diese Lücken und leistet gleichzeitig durch ihre eigenen Forschungen einen wichtigen Beitrag zur Weiterentwicklung dieses Themenbereichs. Zurzeit unterrichtet sie an der Goldsmith University (UK) und ist dort Direktorin des Centre for Feminist Research.

progress traf Ahmed während ihres Besuchs in Wien, wo sie im Rahmen des Workshops „Emotionen als Regierungstechnik“ und der „Gender Talks“-Reihe einen Vortrag zu „Diversity Work as Emotional Work“ hielt.

progress: Beschäftigt man sich mit Emotionen, zählen Ihre Publikationen zum Standardrepertoire. Was hat Sie an dem Thema gereizt?

Ahmed: Als ich angefangen habe über die Figur des Fremden – „the body out of place“ – nachzudenken, wollte ich auch meine eigenen Erfahrungen verarbeiten. Ich bin als Person of Colour in einer sehr weißen Nachbar_innenschaft in Australien aufgewachsen. Diese Umstände haben mich zu der Frage geführt, wie Emotionen in sozialen Interaktionen wirken und welche Rolle sie für die Konstruktion von einem „Wir“ spielen. Ein „Wir“, das begrenzt wird durch die Vorstellung, dass bestimmte Körper Quellen der Gefahr oder schlechter Gefühle seien. Meine Arbeit beschäftigt sich also mit der Frage, wie Emotionen auf bestimmte Objekte gerichtet werden. In meinen Untersuchungen zu Rassismus hat mich besonders die Beziehung zwischen der Figur des_der Asylwerber_ in und des_der potentiellen Terrorist_in interessiert. Und die Frage, wie diese Figuren „zusammengeklebt“ werden.

Sie verwenden den Begriff „affektive Ökonomien“, um diese Beziehungen und ihre Zirkulation in Gemeinschaften zu beschreiben.

Ja. Das ökonomische Vokabular erleichtert es, diese Bewegungen zu verstehen. Man kann sehen, wie verschiedene Emotionen als Technologien angewendet werden, um Menschen zu regieren. Im australischen Kontext ist das Gefühl der Scham sehr interessant, denn sich gegenüber der indigenen Bevölkerung für die Vergangenheit zu schämen, erzeugt ein neues nationales „Wir“. Diese Emotion wird so „performed“, als sei die Geschichte schon überwunden. Sie verdeckt eine Wunde, die aber bis heute präsent ist.

Eine von Europas Figuren des Fremden ist der Flüchtling. Wie beurteilen Sie die Diskussionen rund um den Tod so vieler Refugees im Mittelmeer, zum Beispiel im Kontext des tragischen Bootsunglücks vor Lampedusa im Oktober 2013?

Ich finde Judith Butlers Arbeiten hier sehr hilfreich. In ihrem Buch „Gefährdetes Leben“ fragt sie danach, was ein Leben „grievable“ – also betrauerbar – macht, welche menschlichen Verluste betrauert werden und welche vom politischen Horizont verschwinden. Das bleibt eine der dringendsten politischen Fragen. Aktivismus spielt hiereine wichtige Rolle, denn er macht diese Verluste sichtbar und stellt gleichzeitig die Art und Weise in Frage, wie der nationale Körper imaginiert wird. Im britischen Kontext steht das Thema Anti-Immigration momentan in engem Zusammenhang mit David Camerons „muscular liberalism“. Dieser Begriff geht von der Notwendigkeit körperlicher Stärke aus, um sich der Bedrohung durch die „Anderen“ entgegenstellen zu können. Und das hängt eindeutig mit der vermehrten Praxis der Inhaftierung von Flüchtlingen und der Ablehnung von Trauer zusammen.

Manche Wissenschaftler_innen und Aktivist_innen argumentieren, es habe in Bezug auf Themen wie Armut und Flucht eine Verschiebung von einem Menschenrechtsdiskurs hin zu einem emotionaleren Diskurs gegeben, der von Konzepten der Wohltätigkeit und des Humanitarismus geprägt ist. Würden Sie dem zustimmen?

Es lässt sich sicher argumentieren, dass es eine solche Verschiebung gibt. Wir brauchen dringend postkoloniale Kritiken von Wohltätigkeit und Humanitarismus. Die Idee der Wohltätigkeit ist sehr komplex. Sie kann bestehende soziale und ökonomische Beziehungen reproduzieren, weil der Akt des Gebens auf Großzügigkeit beruht. Das verschleiert oft die Geschichte des Diebstahls, der es manchen Personen überhaupt erst ermöglicht zu geben. Aber es gibt auch sehr viele Probleme in Bezug auf den Menschenrechtsdiskurs. Man müsste sich die Geschichte der Gewalt anschauen, die seine spezifischen Konzepte der Freiheit und des Individuums geschaffen hat. Das müssen wir im Rahmen einer Kritik des globalen Kapitalismus denken. Wenn wir also eine Verschiebung zu einem humanitären oder wohltätigen Modell identifizieren, sollten wir den Menschenrechtsdiskurs nicht nostalgisch glorifizieren.

Seit August 2013 betreiben Sie den Blog „Feminist Killjoys – Killing joy as a world making project“. Wie lässt sich dieser Titel verstehen?

Als ich anfing mein Buch über Glück zu schreiben, fiel mir auf, dass Glück immer als etwas Gutes imaginiert wird. Wenn man aber auf die Geschich te des Feminismus zurückblickt, zum Beispiel auf die Arbeiten von Simone de Beauvoir, Shulamith Firestone oder Audre Lorde, findet sich oft eine sehr starke Kritik an dieser Idee. Das habe ich als die „unglücklichen Archive des Feminismus“ bezeichnet. Die Figur des feminist killjoy sehe ich als Teil davon. Ich trage sie schon mein Leben lang mit mir herum. Ich bin häufig mit meiner Familie um den Esstisch gesessen und war dabei immer diejenige, die auf problematische Aussagen hingewiesen hat und dadurch selbst zum Problem wurde. Das war sehr anstrengend. Aber ich habe verstanden, dass es in solchen Situationen darum geht, dass sich jemand scheinbar dem Glück in den Weg stellt, in diesem Fall in Bezug auf die Familie, die sich als glücklich imaginiert. Und diese Zuschreibung der Rolle als killjoy ist eine klare Zurückweisung. Es ist also meist eine recht schmerzvolle Erfahrung. Aber viele Personen haben sich zu dieser Figur hingezogen gefühlt. Alle schienen eine killjoy-Geschichte zu haben. Das hat mir gezeigt, wie eine Figur, in der sich so viel Verletzung verdichtet, auch ein Ort des Potentials sein kann.

Sie sprechen von einer allgemeinen Hinwendung zum Glück auf gesellschaftlicher Ebene – Therapien und der Selbsthilfediskurs sind im Aufstieg begriffen, die Feel-good-Industrie wächst und wächst. Nichtsdestotrotz treten Sie für das Recht ein, unglücklich zu sein. Was meinen Sie mit dieser provokanten Forderung?
Ich folge hier einer langen feministischen Tradition. Meine Lieblingskritik am Glück sind Audre Lordes autobiografische „Cancer Journals“, das ist ein sehr starkes Buch. Lorde kritisiert die Betonung des positiven Denkens, quasi die Pflicht des_der Kranken, auf die heitere Seite zu schauen. Sie sieht das als Technik, die Ungleichheiten verdeckt, weil die Menschen für ihre Lebensumstände selbst verantwortlich gemacht werden. Das ist ein sehr moralisierender Diskurs, der bestimmte soziale Normen als Voraussetzung für ein gutes Leben definiert. Ein Sprechakt, der mich immer sehr interessiert hat, war der Ausspruch: „Ich will ja nur, dass du glücklich bist.“ Früher hörte ich das oft, meist wenn ich etwas gemacht hatte, was meinen Eltern nicht gefallen hat. Diese Idee, dass man den Weg verlässt, der einen zum Glück führen würde, findet sich überall in der queeren Literatur. Die Figur der unglücklichen queeren Person wurde daher sehr wichtig für mich. Wenn ich also von der Freiheit zum Unglücklichsein spreche, meine ich die Freiheit, nicht den vorgeschrieben Weg zu gehen.

Allen Warnungen zum Trotz haben Sie den queerfeministischen Weg gewählt. Von einer emotionalen Perspektive aus betrachtet, welche Gefühle haben Sie zum Feminismus bewogen?

Was mich bewegt hat, war sicher ein Gefühl der Ungerechtigkeit und der Wut, aber eine Wut, die auch eine Richtung hatte – denn wenn Wut keine Richtung hat, wird sie oft zu Frustration und das kann sehr entmächtigend sein. Auch das habe ich vor allem aus Audre Lordes Arbeiten gelernt; sie ist meine größte Inspiration. Aber es gab auch ein Wundern, eine Neugier sowie die Hoffnung, dass es Alternativen gibt. Einen großen Teil meiner positiven feministischen Energie habe ich von der pakistanischen Seite meiner Familie. Meine Tanten, die während der Teilung Indiens aufwuchsen, haben mein Verständnis von Feminismus als Selbstbestimmung sehr geprägt. Damit verbinde ich sehr viele positive Gefühle.

Nächstes Jahr erscheinen einige Monographien von Ihnen. Welche Themen beschäftigen Sie in letzter Zeit?

Jedes Buch ist eine Art Sprungbrett zum nächsten. „Willful Subjects“, das gerade in Druck ist, ist aus „The Promise of Happiness“ entstanden. Mich hat hier die Frage beschäftigt, wie Weiblichkeit mit dem Aufgeben von Willen verbunden wird. Mich interessiert daran auch die Vorstellung von Eigensinn als Problem, als Ursache dafür unglücklich zu sein. Außerdem arbeite ich an einem weiteren Projekt über die Geschichte des Konzepts des Nutzens. Was bedeutet es, wenn Nutzen eine Anforderung wird, zum Beispiel im Kontext von citizenship? Vor allem in der britischen Geschichte von citizenship gibt es einen sehr starken Diskurs über Arbeitsfähigkeit. Bürger_innen sollen eine angemessene Beschäftigung haben. Mein drittes Projekt – „Living a feminist life“ – wird auf ein größeres Publikum ausgerichtet sein. Ich möchte dafür einige Texte zu Sexismus, lesbischem Feminismus, killjoys und Eigensinn überarbeiten und in diesem Buch primär auf Alltagssituationen und Erfahrungen aufbauen. Obwohl ich die Philosophie liebe, erkenne ich an, dass sich nicht alle in ihr zuhause fühlen. Es sind also einige Projekte im Entstehen, das Schreiben belebt mich – es gibt mir Kraft gegen die Reproduktion von Machtstrukturen anzukämpfen.

Veronika Siegl hat in Wien Kultur- und Sozialanthropologie sowie Internationale Entwicklung studiert und ist Redakteurin von „PARADIGMATA. Zeitschrift fürMenschen und Diskurse“.