Sonja Luksik

fantastiques Festival

  • 25.02.2015, 20:21

Für die Premiere des queer-feministischen Festivals _tastique haben sich die Organisatorinnen* viel vorgenommen. Warum sie daran nur scheitern können, wie viele Solipartys es braucht, um das Festival zu finanzieren und was es bewirken soll, erzählt eine Mitorganisatorin* im progress-Interview.

Für die Premiere des queer-feministischen Festivals _tastique haben sich die Organisatorinnen* viel vorgenommen. Warum sie daran nur scheitern können, wie viele Solipartys es braucht, um das Festival zu finanzieren und was es bewirken soll, erzählt eine Mitorganisatorin* im progress-Interview.

progress: Warum der Name _tastique?

_tastique: Wir haben uns dagegen entschieden die Veranstaltung wieder Ladyfest zu nennen, weil wir den Begriff „Lady“ problematisch finden. Dazu und mit dem Konzept „Ladyfest“ gab es im Vorfeld eine lange Auseinandersetzung. Im Brainstorming meinteeine Person, dass „tastique“ eigentlich nett klingt und mit Unterstrich ein offener Begriff sein kann.

Ihr schreibt auf eurer Website, dass ihr Ideen und Anliegen habt, die ihr gemeinsam umsetzen wollt – welche sind das?

Die Ideen und Anliegen haben sich zu vier thematischen Schwerpunkten herauskristallisiert – Antirassismus, Antiableismus, Body-Positivity und Sex-Positivity. Wair haben versucht, Vorkommnisse oder Themen, die uns gerade in Bezug auf die queer-feministische Szene in Wien wichtig erscheinen, aufzugreifen. Vor allem wollten wir Ausschlüsse, die wir wahrgenommen haben, problematisieren.

Wie setzt ihr die thematischen Schwerpunkte praktisch um?

Wir versuchen das auf mehreren Ebenen. Zum einen spiegelt sich das im Programm durch die Auswahl an Workshops, Filmen und Bands wider. Darüber hinaus haben wir ein Awareness-Team, welches am Festival dafür sorgt, dass es keine Übergriffe gibt. Wir erwarten auch von unserem Publikum, dass es Verantwortung trägt.

Wie verbindet ihr den Anspruch Politisches zu vermitteln und gleichzeitig Partys zu veranstalten?

Ich sehe da ehrlich gesagt gar keinen Widerspruch. Für mich können Partys natürlich auch politisch sein. Ich finde es einen guten Weg, Inhalte rüberzubringen. Das kann durch Raumgestaltung, durch Aufeinander-Aufpassen, durch die Vermittlung von Inhalten, durch Texte oder durch die Repräsentation, also wer auf der Bühne steht, passieren. Das ist nicht ganz einfach, klar. Denn wir können nie alles berücksichtigen, und haben wahrscheinlich immer was übersehen oder es ist sich etwas nicht ausgegangen. Insgesamt ist Party aber durchaus ein wichtiges politisches Tool und ich glaube die Kombination mit Workshops funktioniert gut. Also zuerst Workshops und dann Party – ist ja perfekt. (lacht)

Was hat sich seit dem ersten Wiener Ladyfest 2004 in der queer-feministischen Szene verändert?

Ich würde sagen, dass es zu einer Politisierung und zu einer stärkeren Vernetzung gekommen ist. Es ist außerdem relativ neu, dass es bei _tastique keinen offenen Call für Beiträge, Workshops, Bands, und so weiter gibt. Wir haben das Festival quasi selbst programmiert, gezielt Leute eingeladen und damit mehr Kontrolle und Verantwortung übernommen. 2004 kamen die Fragen auf, warum das Kollektiv so homogen ist, wer überhaupt Ressourcen hat so was zu organisieren und warum Themen wie Antirassismus nur marginal vorkommen. Wir haben daraus viel gelernt.

Wie macht sich das bei _tastique bemerkbar?

Wir versuchen, bestimmte Themen durch das ganze Programm durchzuziehen und sie sichtbar zu machen. Der queer-feministische Anspruch ist natürlich in vielen anderen Festivals auch drin, aber der Rest ist oft implizit „mitgemeint“. Das klappt in vielen Fällen nicht. Wir haben uns dem gestellt und uns gefragt: Was müssen wir tun, damit wir diesen wahnsinnig hohen Ansprüchen gerecht werden? Also ein body-positives, sex-positives, antiableistisches, antirassistisches Festival zu organisieren. Da haben wir uns ziemlich steile Ansprüche gestellt, an denen man nur scheitern kann. (lacht)

Welche Probleme ergeben sich bei der Finanzierung?

Das ist eine brenzlige Frage. Wir wollen unsere Unabhängigkeit wahren, wir wollen keine fetten Logos, wir wollen nicht vereinnahmt werden. Gleichzeitig müssen wir Reisekosten bezahlen und den Workshopleitenden, den Bands zumindest kleine Honorare zahlen. Das läppert sich ganz schön zusammen – wir rechnen damit, dass wir die nächsten fünf Jahre Solipartys veranstalten müssen, um das Ganze wieder reinzukriegen. 

Welche Öffentlichkeit wollt ihr mit _tastique erreichen?

Ich finde es immer recht illusorisch zu glauben, dass es weit über die vorgetretenen Trampelpfade geht – auch wenn das schön wäre. Also im Idealfall erreichen wir Communities, die im Moment eher vereinzelt agieren. Die Minimalvariante wäre, innerhalb der queer-feministischen Szene Wiens, die eine recht akademische und Weiße Szene ist, Bewusstsein für bestimmte Themen zu schaffen, die wir versucht haben zu forcieren. Ich fände es trotzdem schön und wichtig, wenn es über die kleine Szene hinausschwappen und neue Netzwerke entstehen würden – mal schauen ob das funktioniert und wer dann tatsächlich auftaucht.

Was hoffst du, bleibt vom Festival? Habt ihr eine Fortsetzung geplant?

Ich werde ganz bestimmt die nächsten zehn Jahre nichts mehr in der Form machen. (lacht) Aber ich fände es super, wenn Leute das aufgreifen und weiterentwickeln. Es wird sicher viel zu kritisieren geben, viel zu diskutieren und das ist auch extrem wichtig. Aber ich glaube schon, dass Ladyfeste eine nachhaltige Wirkung hatten auf die Szene, auf Netzwerke, auf Freundschaften. Da ist echt sehr viel im Umfeld und auch danach entstanden und das erhoffe ich mir für _tastique auch. Wir haben Rampenbau-Workshops im Vorfeld des Festivals gemacht – diese Rampen sind da, die sind nutzbar für Orte die sonst nicht zugänglich für Rollstühle sind. Das ist auf alle Fälle was Nachhaltiges und Materielles. Und da kommt sicher noch mehr.

 

Infos:
5.-8. März in Wien
Konzerte, Workshops, Flit*sexparty, Performances, Screenings, Lesungen, Austellungen und und und…
Programm und Anmeldung: http://tastique.me



Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Stammbaumrütteln

  • 05.02.2015, 08:00

Ahnenforschung klingt ungefähr so spannend wie Briefmarkensammeln. progress erklärt, warum es sich dennoch lohnen kann, den eigenen Stammbaum zu erkunden.

Ahnenforschung klingt ungefähr so spannend wie Briefmarkensammeln. progress erklärt, warum es sich dennoch lohnen kann, den eigenen Stammbaum zu erkunden.

„Liebe Kinder, ich will Euch kurzüber unseren Lebensweg berichten“, schreibt meine Uroma im November 1992 in Wien. Wobei, selber schreibt sie nicht. Sie diktiert ihrem Sohn Episoden aus ihrem Leben, dieser tippt sie auf der Schreibmaschine. Das Ergebnis ist ein 13-seitiges Schriftstück, vollgepackt mit Erinnerungen an die Flucht aus der damaligen Karpatenukraine nach Wien in den letzten Kriegsmonaten 1944 und 1945.

DIY STAMMBAUM. Die Motivation sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen ist die Vermutung, Interessantes zu entdecken. Ich wollte mehr über meine Großeltern erfahren, die nicht im Gebiet des heutigen Österreichs geboren wurden und bereits als Kinder Kriegs- und Fluchterfahrungen machten. Ausgangspunkt meiner Nachforschungen war ein Stammbaum, den ich selbst erstellte. Der Aufwand bemisst sich danach, wie umfassend man sich bereits mit der eigenen Familie beschäftigt hat und wie gut man sich Namen merkt. Denn die Herausforderung, Namen von entfernten Verwandten vom hintersten Eck des Gedächtnis auf ein Blatt Papier zu bringen, sollte nicht unterschätzt werden.

Die erste Anlaufstelle für Informationen genealogischer Natur waren meine Eltern, können selbstverständlichaber auch Oma oder Opa sein. Wie ich bereits vermutet hatte, ist das Stammbaumzeichnen ein guter Anlass, um ins Gespräch über Vorfahren zu kommen. Für alle, die gerne in alten Sachen stöbern, bietet sich außerdem die Gelegenheit, Familienfotos und -dokumente genauer anzusehen. Ich hatte das Glück, dass sich mein Großonkel bereits mit seinem und damit auch mit meinem Stammbaum auseinandergesetzt hatte. Ein Stück Vorarbeit war also schon geleistet. Wenn man beim Erstellen des eigenen Stammbaums an Grenzen stößt und Familieninformationen und -dokumente nicht reichen, hofft man bei einer offiziellen Stelle mehr Daten zu finden.

EINE UNENDLICHE GESCHICHTE. Doch das Ergebnis der Recherche bei Behörden ist ernüchternd. So wird meine Erwartung an ein Suchregis- ter, in dem man nur den Namen der gesuchten Person eingeben muss und welches alle Informationen ausspuckt, enttäuscht. Zwar kursieren im Internet zahlreiche Datenbanken, diese werden in der Regel aber von Privatvereinen oder -personen betrieben und sind dubios. Das Österreichische Staatsarchiv betont auf seiner Website, dass es keine „Personenzentralkartei“, in der unter dem Namen des_der Gesuchten nachgeschlagen werden kann, verwaltet. Ich habe mich im Zuge meiner Recherche für das Kriegsarchiv interessiert, auch hier findet man entgegen verbreiteter Vorstellungen kein Gesamtverzeichnis aller österreichischer Soldaten. Schnell wird klar: Familienforschung ist zeit- und kostenaufwendig.

Bevor man weitere Schritte plant,sollte man sich die bereits vorhandenen Familiendokumente genau ansehen. Sie liefern nicht nur die ergiebigsten Informationen, sie kosten auch am wenigsten Mühe und Geld. Tagebücher, Briefe und Urkunden gibt es oft in vergessenen Schubladen und auf knarzigen Dachböden. Trotzdem kommt es vor, dass alte Fotos und dergleichen wegen Lebensumbrüchen, Verlusten oder Wohnortwechsel entsorgt werden.

Falls man sich daher doch an Archive oder ähnliche Institutionen wendet, muss man über Basisdaten (zum Beispiel Geburts- und Sterbedaten) und Vorkenntnisse (zum Beispiel der deutschen Sprache und Schreibschrift) verfügen. Das Wiener Stadt- und Landesarchiv recherchiert nur nach Personen, wenn der vollständige Name sowie ein Identifizierungsmerkmal (zum Beispiel Adresse zu einem bestimmten Zeitpunkt) bekannt sind.

GESCHICHTEN DER ANDEREN. Auch über die eigenen Wurzeln hinaus können sich Gespräche mit Verwandten lohnen. Sie tragen nicht nur die Familiengeschichte, sondern auch Zeitgeschichte in sich. Die Bereitwilligkeit, mit der die Groß- oder Urgroßelterngeneration erzählt und damit unvermeidlich erinnert, kann allerdings unterschiedlich groß sein. Je nachdem, wie mit Erlebtem umgegangen und dieses verarbeitet wurde, kann auch die Form des Erzählens variieren. Beim Erinnern erzählen manche einprägsame Erlebnisse, andere wollen einen möglichst vollständigen oder detaillierten Blick auf Erfahrenes zulassen. Wieder andere halten gar nichts vom Erinnern, das Erlebte sei „vergangen und vergessen“.

Die Bereitschaft, den Nachkommen ein Stück Familiengeschichte anzuvertrauen, hängt außerdem wesentlich damit zusammen, was als erzählenswert gilt. In der Schule lernen wir die Stammbäume von Herrscher_innen auswendig und merken uns Datenvon Schlachten. Kein Wunder, dass Geschichte(n) abseits derjenigen von mächtigen Männern, blutigen Kriegen und wichtigen Tagen verloren gehen. Diejenigen, deren Lebensgeschichte marginalisiert und als nicht bedeutend hingestellt wird, erzählen nicht so leicht. Jene, die Geschichten von Alltag und Arbeit, von Familie und Pflege zu erzählen haben und Verfolgung, Krieg, Flucht und Migration aus einer anderen Perspektive erlebt haben, gilt es zu ermutigen.

Selbst fertige Stammbäume zeigen allerdings lediglich Namen, die miteinander in Verbindung stehen. Gebrochene Äste oder Risse in Blättern sieht man nicht, der Stammbaum alleine liefert keine Informationen über Konflikte in der Familie. Auch wenn die Familieoft als harmonisches und natürliches Gebilde imaginiert wird, wollen und können sich auch manche nicht mit der eigenen Familiengeschichte auseinandersetzen. Dass kann auch daran liegen, dass nicht für alle Menschen die Familie, die sie als ihre verstehen, die biologische ist. Dies sollte genauso respektiert werden, wie das Vorhaben, den eigenen Stammbaumwurzeln auf den Grund zu gehen.

 

Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Licht ins Dunkel

  • 23.10.2014, 01:18

Für gemeinnützige Zwecke auf der Straße Spenden zu sammeln ist ein typischer Studi-Job. Doch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und unmoralische Sammelmethoden rücken NGOs in eine fragwürdige Ecke.

Für gemeinnützige Zwecke auf der Straße Spenden zu sammeln ist ein typischer Studi-Job. Doch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und unmoralische Sammelmethoden rücken NGOs in eine fragwürdige Ecke.

„Hallo! Hallo! Ja, genau du! Du hast doch sicher eine Minute für den Tierschutz, oder?!“

Wer sich zu Semesterbeginn in Uninähe oder auf belebten Plätzen und Einkaufsstraßen aufhält, dem ist diese Art von Werbung nicht fremd. Keiler*innen, die an öffentlichen Plätzen Spenden, Unterschriften oder Mitgliedschaften für eine NGO sammeln, sind fixer Bestandteil des Stadtbildes geworden. Im Sommer und Herbst hat aber nicht nur das Werben Hochsaison, auch die Stellenanzeigen im Bereich des sogenannten Face-to-Face-Fundraisings sind insbesondere zu Studienbeginn nicht zu übersehen. Für viele Studierende ist Promotor*in (auch Fundraiser*in oder Keiler*in genannt) der perfekte Nebenjob: flexibel, an der frischen Luft und obendrein noch für den guten Zweck. Was die meisten jedoch nicht wissen: Promotor*innen sind in der Regel gar nicht bei der jeweiligen NGO, sondern bei einer Agentur angestellt. Das bringt viele Nachteile mit sich und macht den Studi-Job prekärer und problematischer als zunächst gedacht.

Wer im Bereich Promotion arbeitet, lebt nämlich von der Provision und nicht von einem fixem Gehalt. Zwar erhalten Promotor*innen ein Fixum, dieses ist aber so niedrig, dass sie von der Provision abhängig sind: Laut Angaben von NGOs und (Ex-)Promotor*innen liegt das Fixum zwischen 3,50 Euro bis 6,25 Euro pro Stunde. Die Höhe der Provision ist wiederum abhängig von der Höhe der Spende und vom Zeitraum, über den Spender*innen Geld locker machen. Manchmal wirken sich auch Parameter wie das Alter und die Einkommenssituation der Spender*innen auf die Provision der Promotor*innen aus. Ein solches Bezahlungsmodell übt Druck auf die Promotor*innen aus. Sie lernen in teils mehrtägigen Schulungen, wie sie möglichst schnell und effektiv an qualitativ hochwertige Spender*innen herankommen. Ein Blick auf die Webseiten von Promotion-Agenturen wie Face2Face Fundraising, DialogDirect oder Direct Mind zeigt: Ausnahmslos jede bekannte NGO arbeitet oder arbeitete für die Spendenbeschaffung mit Agenturen zusammen: Greenpeace, Global 2000, Vier Pfoten, Ärzte ohne Grenzen, Rote Nasen, Volkshilfe, SOS- Kinderdorf, Caritas und viele, viele mehr. Aber auch zahlreiche kleinere und nur lokal aktive Organisationen finden sich in den Klient*innenlisten.

Der Großteil der Agenturen stellt Promotor*innen geringfügig über einen freien Dienstvertrag an. Freie Dienstverträge werden zurecht wegen ihrer Unsicherheiten kritisiert. Das Arbeitsrecht und seine Schutzbestimmungen gelten hier nicht. Freie Dienstnehmer*innen haben keinen Anspruch auf Urlaub und Krankengeld und es gibt keine Regelungen für Mindestlöhne. Die Verträge enthalten außerdem oft Verschwiegenheitsklauseln, die es (Ex-) Promotor*innen verunmöglichen, über ihre frühere Arbeit zu sprechen. Daher haben wir die Namen unserer Interviewpartner*innen teilweise geändert.

Foto: Christopher Glanzl

Nicht abwimmeln lassen! Die 25-jährige Nina O. (Name der Redaktion bekannt) ist zur Zeit freiberufliche Mediendesignerin in Graz. Im Jahr 2010 fing sie an, für Greenpeace als Keilerin zu arbeiten. „Ich wollte damals vor allem einfach meine Miete bezahlen. Außerdem hatte es für mich einen Beigeschmack davon, etwas Gutes zu tun.“ Das „Vorstellungsgespräch“ gestaltete sich als Wettkampf zwischen 50 Leuten: „Wir bekamen Klemmbretter und wurden zu unterschiedlichen Plätzen in Graz geschickt, wo wir drei Stunden Zeit hatten, so viele Unterschriften wie möglich für ein Projekt von Greenpeace zu sammeln. Wir waren auf uns allein gestellt und mussten gegeneinander arbeiten.“ Danach große Enttäuschung, Ärger und Schimpfen: Wie konnten die Bewerber*innen in drei Stunden nur so wenige Unterschriften sammeln? Trotz der harschen Kritik wurde Nina aber eingestellt. Beim nächsten Treffen fand eine Schulung statt. Geübt wurde, das Produkt – also den Spendenvertrag – zu verkaufen. Nina erzählt, dass den zukünftigen Keiler*innen eingetrichtert wurde, „dranzubleiben“, sich nicht „abwimmeln zu lassen“ und die Leute „nicht in Ruhe zu lassen“. Zu den Verkaufstechniken zählte auch, Passant*innen ein schlechtes Gewissen zu bereiten und diese aufgrund von Äußerlichkeiten zu kritisieren. Nina dazu: „Uns wurde immer wieder angeschafft, bei rauchenden oder dicken Menschen zu sagen, dass sie lieber weniger essen oder rauchen und stattdessen der Umwelt helfen sollten. Ich habe diese Strategie nicht angewandt, ich fand es ekelhaft und falsch so etwas zu sagen.“

Der Villacher Geschichte-Student Gregor Z. (Name der Redaktion bekannt) hat nur dreieinhalb Tage als Keiler für Global 2000 ausgehalten: „Es war irrsinnig anstrengend, ständig fröhlich und enthusiastisch zu tun.“ Gregor versuchte, den Job als Verkaufstraining und kleine Schauspielausbildung zu sehen. Außerdem gab es Verlockungen: „Es wurde unterschwellig kommuniziert, dass es für besonders gute Keiler*innen Belohnungsfahrten nach Ägypten oder Tunesien gibt. In den Unterlagen gab es Fotos von in Swimmingpools cocktailtrinkenden Menschen.“ Desillusioniert kündigte Gregor, als er beobachtete, wie ein besonders erfolgreicher Kollege zu den vielen Spenden pro Tag kam: „Er suchte sich gezielt sehr alte Menschen aus und solche, die vielleicht inhaltlich nicht mehr ganz mitkamen und erzählte ihnen, sie würden damit ihren Enkeln helfen, ihrer Familie Geld geben.“

Solche fragwürdige Strategien gibt es im Bereich Promotion leider zuhauf. In sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter kommen Beschwerden auf. Manche berichten davon, dass ihr Äußeres kommentiert oder sie angeflirtet wurden, andere haben Erfahrungen mit Promotor*innen, die ihnen ein schlechtes Gewissen machen wollten. Twitter-Nutzer*innen erzählen, mit der Frage konfrontiert worden zu sein, ob sie denn „keine Kinder mögen“, weil sie nicht für eine bestimmte NGO spendeten und von Beschimpfungen seitens hartnäckiger Keiler*innen, wenn sie sich gegen aufdringliches und grenzüberschreitendes Verhalten wehrten.

Sexuelle Belästigung. Weiters spricht die positive Bezugnahme von Pick-Up-Artists nicht unbedingt für die von Promotion verwendeten Methoden. Diese selbsternannten „Künstler“ geben einander in Vorträgen, YouTube-Videos und Online-Foren Tipps, wie man Frauen möglichst schnell, effektiv und ressourcensparend näher kommt, um mit ihnen Sex zu haben. Dabei sind Erniedrigung, psychologische Tricks und Machtspielchen fixe Bestandteile im rhetorischen Repertoire der Artisten. User „roolio“ empfiehlt im pickupforum.de jüngeren Anmachkünstlern, als Fundraiser zu arbeiten, weil es „ein echt gutes Rhetorik-Training“ sei und man „viele hübsche HBs (Anm.: „Hot Babes“)“ als Kolleginnen habe. Pick-Up-Foren fallen seit einigen Jahren als Treffpunkt misogyner Männer auf.

Die Wiener Jus-Studentin Judith S. (Name der Redaktion bekannt) hat schon viele schlechte Erfahrungen mit männlichen Promotoren gemacht: „Sie lauern dir auf, wenn du nicht weg kannst – zum Beispiel, wenn du gerade in einer Reihe stehst oder bei der Ampel wartest.“ Judith erzählt, dass sie als Frau von Promotoren systematisch angeflirtet oder auf ihr Aussehen – Haare, Augen, Kleidungsstil – angesprochen wird. Die Promotoren gehen so auf sie zu, dass sie schlecht ausweichen kann. „Ich bin mir sicher, dass die Promotor*innen gezielt auf solches Verhalten geschult werden“, sagt Judith, die derartige Belästigung bereits von Promotoren vieler verschiedene NGOs miterlebt hat.

Aggressive Sammelei. Beim Geld sammeln aufdringlich sein: Promotor*innen dürfen es jedenfalls. Währenddessen gibt es aber in vielen österreichischen Städten Verbote von „aggressiver Bettelei“. Woher kommt diese Doppelmoral? Das Keilen bzw. Spendensammeln ist in Wien im Sammlungsgesetz geregelt. Erlaubt sind Sammlungen für gemeinnützige Zwecke; um Bewilligung muss vorher beim Magistrat angesucht werden. Betteln wird als Sammlung für einen eigennützigen und nicht gemeinnützigen Zweck definiert und fällt daher nicht in diese Regelung. Ferdinand Koller von der Wiener Bettellobby meint hierzu: „Wir kritisieren hier die ungleiche Behandlung durch den Gesetzgeber, denn es gibt kein Verbot von aufdringlichem Keilen, von aufdringlichem Betteln allerdings schon. Es handelt sich aber hierbei um exakt dieselbe Tätigkeit.“ Einzuwenden wäre auch, dass die Agenturen, bei denen Promotor*innen angestellt sind sowie die Promotor*innen selbst sehrwohl eigennützig handeln: Es geht schließlich um Lohn und Profit. „Das eine ist eben sozial erwünscht und gesellschaftlich akzeptiert, das andere nicht“, sagt Koller. Er verurteilt die Doppelstandards in der „Branche“: „Wenn Kinder betteln, wird gleich von organisierter Kriminalität und Gefährdung des Kindeswohls gesprochen. Doch wenn für die Roten Nasen und den Stephansdom Kinder sammeln, gibt es diese Bedenken nicht.“ Derartige Gesetzgebung kann nur als rassistisch und ohnehin schon marginalisierten Bevölkerungsgruppen gegenüber diskriminierend bezeichnet werden. Diesen Missstand thematisieren und den Spieß umdrehen möchte die Kampagne „Stell dich nicht so an – Stell mich an!“, die vom Verein Goldenes Wiener Herz im Rahmen der Wienwoche gestartet wurde. Mit online gesammelten Spendengeldern stellte der Verein sechs Bettler*innen im September und Oktober fix ein, um auf der Straße als Promotor*innen auf die Schikanen, die mediale Verunglimpfung und Kriminalisierung bettelnder Menschen aufmerksam zu machen: komplett mit Klemmbrett, Foldern, neonfarbenen Jacken und Kapperln.

Foto: Christopher Glanzl

Menschen- und Arbeitsrecht. Zwei NGOs, die sich im Bereich Straßenwerbung für einen anderen Weg entschieden haben, sind Amnesty International und WWF. Bis 2009 arbeiteten sie zusammen mit Agenturen, dann holten sich Amnesty und WWF das Werbetool ins Haus und die Arbeitsgemeinschaft AIWWF war geboren. Nun ist es möglich, dass 100% der Spenden direkt an die beiden NGOs fließen, der Umweg über eine Agentur, die als Unternehmen auf Profit angewiesen ist, fällt weg. Alexander Obermayr von AIWWF ist besonders stolz auf dieses Alleinstellungsmerkmal in der österreichischen Fundraising- Landschaft. Er betont außerdem die Bedeutung von Arbeitsrechten für AIWWF-Mitarbeiter*innen: „Als Menschenrechts-NGO wäre es absurd, arbeitsrechtliche Standards nicht einzuhalten.“ Deswegen stellt AIWWF ihre Mitarbeiter*innen bewusst nicht über freie Dienstverträge an, sondern legt auf feste Angestelltenverhältnisse und damit verbundene Vorteile wie das 13. und 14. Monatsgehalt, Urlaubsanspruch und Krankengeld wert. Hätte man weiter mit einer Agentur zusammengearbeitet, wäre das in dieser Form nicht möglich gewesen, ist Obermayr überzeugt.

Kathi L. (Name der Redaktion bekannt) studiert an der Universität für Bodenkultur in Wien und ist 22 Jahre alt. 2013 arbeitete sie ein halbes Jahr lang für Amnesty International und WWF. Als einfache Keilerin habe Kathi „in guten Monaten“ etwa 800 Euro bei 16 Wochenstunden verdient. „AIWWF arbeiten mit einem Punktesystem, wo dein Gehalt davon abhängt, wie viel die Personen spenden, wie alt die Personen sind und wie viel du insgesamt im Monat an Spenden lukrierst“, erklärt Kathi. „Es gibt kaum einen Job, bei dem du als unqualifizierte Arbeitskraft derart gut verdienen kannst.“ Als Teamleiterin habe sie einmal bei einer 32-Stunden-Woche sogar 3500 Euro Monatsbruttogehalt gehabt: „Als Leiterin verdienst du eben auch an jedem Spendenvertrag mit, die deine Kollegen abschließen.“ Länger als ein halbes Jahr hat Kathi die Keilerei aber nicht ausgehalten. „In den Sommermonaten herrscht doch ein ziemlicher Druck. Es ist ein psychisch und physisch sehr fordernder Job und ich habe einfach gemerkt, dass ich das körperlich nicht mehr schaffe“, erzählt die junge Studentin, die zwar von Profit und Persönlichkeitsentwicklung spricht, den Job aber auch nicht unbedingt als Nebenjob weiterempfehlen würde.

Qualität und Quantität. Im Rahmen der „Qualitätsinitiative Fördererwerbung“ hat der Fundraising Verband Austria gemeinsam mit allen wichtigen NGOs Richtlinien für das Face-to-Face-Fundraising ausgearbeitet. Unter die Qualitätsstandards fällt beispielsweise respektvoller und höflicher Umgang; das Gespräch soll jederzeit auf Anfrage beendet werden. Verantwortlich für die Einhaltung dieser Vorgaben ist die jeweilige NGO, sie muss vor dem ers ten Werbegespräch eine Schulung mit fix definierten Grundinhalten durchführen. Weiters ist klar geregelt, wie mit eventuellen Beschwerden umzugehen ist. Der Fundraising Verband Austria hat dafür eine eigene Ombudsstelle eingerichtet. Falls Passant*innen eine unangenehme Situation mit Promotor*innen erleben, haben sie die Möglichkeit, sich an die Ombudsstelle zu richten (fundraising.at).

Zusammengefasst: Deine Spendengelder fließen von der Straße teilweise direkt in die Taschen von Agenturen, die Menschen prekär beschäftigen und mit unethischen Methoden ihr Geschäft machen. Betteln hingegen wird gesellschaftlich geächtet und kriminalisiert. Eine Frage konnte uns während unserer Recherchen von keiner NGO beantwortet werden: Wie sind Gewinne für Agenturen, Belästigung und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse mit den moralischen Ansprüchen karitativer Organisationen zu vereinbaren? „Ich würde überhaupt nie für eine NGO spenden, die mit Keiler*innen arbeitet“, schließt zum Beispiel Twitter-Userin @ponypost nach Beschwerden, die gegen SOS-Kinderdorf laut wurden. Da wird sie in Österreich aber wenig Auswahl haben.

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.
Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Eine Freundin der Aussageverweigerung

  • 15.12.2014, 11:39

Nach dem Prozess um Josef S. blieb das Gefühl zurück, dass staatliche Repression jede*n treffen kann. progress fragte bei Kristin Pietrzyk, der in Jena arbeitenden Anwältin von Josef S., nach.

 

Nach dem Prozess um Josef S. blieb das Gefühl zurück, dass staatliche Repression jede*n treffen kann. progress fragte bei Kristin Pietrzyk, der in Jena arbeitenden Anwältin von Josef S., nach.

progress: Vertreten Sie öfter politische Aktivist*innen?

Kristin Pietrzyk: Ja, ich vertrete relativ oft, was man in Deutschland „politisch motivierte Kriminalität links“ nennt.

Was war das Besondere am Prozess rund um Josef S.?

Für jemanden, der in Deutschland praktiziert, ist es natürlich etwas Besonderes, wenn man in einem anderen EU-Land verteidigt. Man muss sich ganz einfach auf andere Gerichtsgepflogenheiten einstellen. Zum Beispiel wird in Deutschland der Angeklagte nicht so stark präsentiert. Bei uns sitzen Angeklagte nicht auf einer Bank ohne Tisch vor der Verteidigung, sondern neben der Verteidigung, sie haben einen Tisch und damit auch einen gewissen psychologischen Schutz. Besonders war außerdem, dass es eine derart auf einen Zeugen fokussierte Beweislage gab. Das ist mir bisher sehr selten untergekommen. Dabei haben Zeug*innen diesen Belastungszeugen eines Widerspruchs überführt. Zum Beispiel die MA48 (Anm.: Wiener Magistrat für Straßenreinigung), die gesagt hat: „Da lagen gar keine Pflastersteine.“ Von Seiten der Staatsanwaltschaft, in der Anklageschrift und im Eröffnungsstatement wurde außerdem stark gegen die Demonstration polemisiert.

Handelte es sich um einen politischen Prozess? Gibt es so etwas wie „politische Prozesse“ überhaupt?

Es gibt ganz viele politische Prozesse, aber sie werden selten von der Öffentlichkeit als solche anerkannt. Natürlich ist der Prozess um Josef S. ein politischer, da man ihn stellvertretend für eine ganze Demonstration angeklagt hat. Es handelt sich immer um einen politischen Prozess, wenn man als Verteidiger*in in die Situation versetzt wird, den Angeklagten frei beweisen zu müssen. Wir von der Verteidigung mussten eigentlich nachweisen, dass hier ein Unschuldiger sitzt. Wenn Prozesse so ablaufen, dann ist das rechtspolitisch höchst bedenklich. Die österreichische Strafprozessordnung ist nicht so gestrickt, die Grundrechte und auch die europäische Menschenrechtskonvention sind nicht so gestrickt. Und dann wird es natürlich politisch.

Kritische Stimmen haben der Justiz und dem Staat vorgeworfen, dass sie mit Josef S. ein Exempel statuieren wollten. Sehen Sie das auch so?

Ja, das wohnt politischen Prozessen immer inne. Es wird ein Signal an die Öffentlichkeit gesendet: Lasst euch nicht mit denen ein, die euch in Gefahr bringen könnten, angeklagt zu werden. Mit dem Landfriedensbruchparagraphen reicht es schon, bei einer Versammlung dabei zu sein, um eines Deliktes beschuldigt zu werden. Damit spaltet man in „gute“ und „böse“ Demonstrant*innen. Das ist natürlich gewollt, das befriedet und nimmt einen Haufen politischer Aushandlungsprozesse vorweg. Man muss sich nicht mehr damit auseinandersetzen, warum die, die man immer in die linksradikale Ecke gestellt hat, gemeinsam mit der bürgerlichen Mitte gegen die gleiche Sache auf die Straße gehen. Das kann man einfach abwenden, indem man sagt: So, hier kommt das Strafrecht, das greift jetzt regulierend in diesen politischen Aushandlungsprozess ein.

Spätestens im Jänner werden die Demonstrationen gegen den Akademikerball wieder Thema sein. Sollte man sich die Teilnahme an dieser Demonstration zweimal überlegen?

Es besteht ein Grund sich zu fürchten, wenn man gezwungen wird, diese Überlegung anzustellen. Ich plädiere aber dafür, die Grundrechte, die einem/er gegeben sind, wahrzunehmen. Wer gegen den Akademikerball protestieren möchte, soll das auch tun. Wenn am Schluss die Entscheidung steht: Nein, ich geh’ da nicht hin, ich habe zu viel Angst davor, Objekt eines Repressionsprozesses zu werden – dann hat genau das funktioniert, was ich vorhin beschrieben habe.

Spätestens im Jänner werden die Demonstrationen gegen den Akademikerball wieder Thema sein. Sollte man sich die Teilnahme an dieser Demonstration zweimal überlegen?

Es besteht ein Grund sich zu fürchten, wenn man gezwungen wird, diese Überlegung anzustellen. Ich plädiere aber dafür, die Grundrechte, die einem/er gegeben sind, wahrzunehmen. Wer gegen den Akademikerball protestieren möchte, soll das auch tun. Wenn am Schluss die Entscheidung steht: Nein, ich geh’ da nicht hin, ich habe zu viel Angst davor, Objekt eines Repressionsprozesses zu werden – dann hat genau das funktioniert, was ich vorhin beschrieben habe.

Gibt es überhaupt Möglichkeiten, sich vor staatlicher Repression zu schützen?

Man kann jetzt salopp sagen: nichts machen, was der Staat als bestrafungswürdig ansieht. Aber es gibt ja durchaus Beispiele, wo nicht einmal eine Straftat begangen werden muss, um Repression zu erfahren. Vor ein paar Jahren gab es in Dresden nach einer Demonstration eine riesige Repressionswelle. Im Februar 2011 leitete die Staatsanwaltschaft 1.431 Strafverfahren ein, die alle an einem Tag am Rande der Demonstration begangen worden sein sollen. Die Ermittlungsansätze kamen zum Teil aus Funkzellenüberwachung. Da könnte man sich überlegen, sein Handy nicht auf Demonstrationen mitzunehmen. Generell ist es ratsam, sich zu informieren, als Betroffene die Repression öffentlich zu machen und sich darüber auszutauschen. Der beste Schutz ist Öffentlichkeit zu schaffen, Diskussionen und Veranstaltungen zu initiieren, um Repression ins Bewusstsein zu rücken.

Wie verhält man sich auf einer Demonstration am besten, wenn man polizeilich kontrolliert, einer Straftat beschuldigt oder festgenommen wird?

Ruhig bleiben. Das ist immer der erste Schritt, um nicht noch eine Widerstandsanzeige zu bekommen oder polizeiliche Gewalt zu provozieren. Auch wenn das kein Allheilmittel ist. Man sollte sich die Situation sehr gut einprägen und hinterher ein Gedächtnisprotokoll machen. Sollte man tatsächlich festgenommen werden, ist es ratsam, immer wieder nach dem Grund zu fragen. Man sollte unbedingt sein Telefonat wahrnehmen, damit andere Personen wissen, dass man festgenommen wurde. In solchen Situationen rate ich meinen Mandant*innen immer ganz dringend dazu, die Aussage zu verweigern. Oftmals sind das Situationen, in denen man einfach überhaupt nicht weiß, was einem konkret vorgeworfen wird und was die angeblichen Beweismittel gegen eine*n sind. Wenn man dann Akteneinsicht hat, nimmt man sich Rechtsbeistand. Ich halte es für einen Trugschluss zu meinen, man müsse das denen nur erklären und dann verstehen die das schon. Deswegen bin ich aus Verteidiger*innensicht eine große Freundin von Aussageverweigerung.

Das Interview führte Sonja Luksik.

Ohne Papiere, ohne Rechte?

  • 20.08.2014, 09:12

In Wien eröffnet mit UNDOK eine neue gewerkschaftliche Anlaufstelle. Zielgruppe sind jene, die undokumentiert arbeiten und dabei oft ausgebeutet werden.

In Wien eröffnet mit UNDOK eine neue gewerkschaftliche Anlaufstelle. Zielgruppe sind jene, die undokumentiert arbeiten und dabei oft ausgebeutet werden.

Wochenlang hat Zoheir S. undokumentiert am Bau gearbeitet. Dann blieb ihm sein Arbeitgeber seinen Lohn schuldig. Eine prekäre Situation, trotzdem hat Zoheir S. für sein Recht gekämpft. Bei der offiziellen Eröffnung von UNDOK – Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung UNDOKumentierter Arbeitender – Anfang Juni im ÖGB-Haus berichtete der ehemalige Asylwerber vor 150 Gästen über seine Erfahrungen.

Als „undokumentierte Arbeit“ wird die Lohnarbeit von Migrant_innen bezeichnet, die über kein Aufenthaltsrecht verfügen oder aufgrund ihres Aufenthaltstitels keinen oder nur beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Im Alltag wird dies oft als „Schwarzarbeit“ bezeichnet. Undokumentierte Arbeit ist häufig unsicher, schlecht bezahlt und gefährlich. Denn Arbeitgeber_innen nutzen die prekäre Situation von Betroffenen immer wieder aus, erpressen sie, beuten sie aus, zahlen Löhne zu spät oder gar nicht und umgehen damit arbeitsrechtliche Standards. Hinzu kommt, dass undokumentiert Arbeitende oftmals nicht über ihre Rechte Bescheid wissen und von Abschiebung bedroht sind.

Bindeglied zwischen Arbeits- und Fremdenrecht. Deswegen lautet das Motto von UNDOK „Arbeit ohne Papiere, aber nicht ohne Rechte!“. Die Botschaft ist klar: Undokumentiert Arbeitende haben Rechte und sollen für diese kämpfen, sie haben beispielsweise Anspruch auf Krankenversicherung und auf eine adäquate Entlohnung. Bestehende Beratungsangebote seien aber oftmals nicht niederschwellig genug. Mit kostenlosen, mehrsprachigen Informationen will UNDOK dem endlich etwas entgegensetzen. „Wir wollen ein Bindeglied zwischen Arbeits- und Aufenthaltsrecht schaffen“, erklärt Karin Jović. Die Mitwirkenden sind sich bewusst, dass ein unsicherer Aufenthaltsstatus allerdings eine Hürde sein kann, sich an Stellen wie UNDOK zu richten. Durch die enge Zusammenarbeit mit antirassistischen Initiativen und NGOs erhofft man sich Know-how im Bereich Fremdenrecht. Außerdem können Betroffene unverbindliche Anfragen per Telefon stellen. Eventuelle Risiken bei rechtlichen Schritten sollen gemeinsam mit den Betroffenen abgeklärt werden. Die Entscheidung, wie es in ihrem konkreten Fall weitergehen soll, treffen die Betroffenen immer selbst.

Wanted: Selbstorganisation. So wichtig die individuelle Betreuung ist, für UNDOK ist gleichzeitig klar, dass der Kampf um Arbeitsrechte nicht vor den Türen des Beratungsbüros aufhört. „Das langfristige Ziel ist eine Selbstorganisation und Vernetzung der undokumentiert arbeitenden Kolleginnen und Kollegen“, so Sandra Stern, die als basisgewerkschaftliche und antirassistische Aktivistin bei UNDOK tätig ist. „Allein durch Einzelklagen ändert sich nichts an der systematischen Überausbeutung von undokumentiert Arbeitenden.“ Seit 2011 schmiedet der UNDOK-Arbeitskreis Bündnisse mit politischen Akteur_innen aus unterschiedlichsten Bereichen und treibt eine Verankerung des Themas in den Gewerkschaften voran. Neben diesen machen sich nun auch Interessensvertretungen wie die ÖH oder die Arbeiterkammer Wien, NGOs, migrantische Selbstorganisationen und antirassistische Aktivist_innen für die Rechte undokumentiert Arbeitender stark. Vorbilder fand man in verschiedenen
europäischen Ländern, in Österreich fehlte ein solches Projekt bisher gänzlich.

Dabei ist die Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit zur Verbesserung der Situation von undokumentiert Beschäftigten dringend notwendig. Noch immer haben Gewerkschaften das Thema „Arbeit ohne Papiere“ nicht auf ihrer Agenda oder arbeiten sogar oft gegen die Interessen von Migrant_innen, wenn sie herrschende Migrationsregime und -gesetze unterstützen. Nationalistische Gewerkschaftspolitik verschleiert, dass eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen einzelner Gruppen eine Schwächung der Anliegen aller unselbstständig Beschäftigten bedeutet. Die UNDOK-Anlaufstelle macht deshalb auf Spaltungen in der Arbeitnehmer_innenschaft aufmerksam und will das Thema undokumentierte Arbeit gesellschaftlich sichtbar machen, ganz nach dem Motto: Undokumentierte Arbeit geht uns alle etwas an – ob mit oder ohne Papiere.

Dokumentierter Lohnbetrug. Auch zahlreiche Studierende leisten in Österreich undokumentierte Arbeit. Mit der Verdoppelung der
Studiengebühren für Nicht-EU-Bürger_innen haben sie hautnah die Folgen diskriminierender Politik erlebt. Am Arbeitsmarkt ist es nicht wesentlich anders – auch hier sind Studierende aus „Drittstaaten“ massiven Beschränkungen ausgesetzt. Zwar verfügen Studierende während ihres Studiums über eine Aufenthaltsbewilligung und sind dahingehend abgesichert, allerdings können sich viele mit dem bewilligten Beschäftigungsausmaß (zum Beispiel zehn Stunden pro Woche) ihr Leben nicht finanzieren und müssen somit darüber hinaus undokumentierter Lohnarbeit nachgehen. Ähnlich gestaltet sich die Situation von Asylwerber_innen: Sie verfügen während des Asylverfahrens zwar über ein zeitweiliges Aufenthaltsrecht, dürfen aber nur mit einer Beschäftigungsbewilligung, vor allem in der Saisonarbeit, legal arbeiten. Den meisten Asylwerber_innen bleibt die Möglichkeit, regulär zu arbeiten, somit versperrt.

So ging es auch Zoheir S., der über einen Freund mit UNDOK und der Gewerkschaft in Kontakt gekommen ist. Gemeinsam sollte der ausstehende Lohn erkämpft werden. Die betroffene Sub-Firma von Porr meldete allerdings Konkurs an und bestritt, dass Zoheir S. jemals für sie gearbeitet hätte. Eine außergerichtliche Einigung brachte Zoheir S. schließlich den kollektivvertraglich festgelegten Mindestlohn plus die ihm zustehenden Zuschläge.

In der Vergangenheit setzten österreichische Gewerkschaften bei Fällen wie diesem vor allem auf die Bestrafung von Arbeitgeber_innen. Razzien und Behördenkontrollen sind jedoch nicht immer im Sinne der Beschäftigten, besonders wenn deren Aufenthaltsstatus unsicher ist und ihnen die Abschiebung droht. UNDOK will daher den Fokus auf die Betroffenen und ihre Rechte legen. Dem steht nach der erfolgreichen Eröffnung der UNDOK-Anlaufstelle nicht mehr viel im Weg. Für Sandra Stern ist klar: „Als Gewerkschaft wollen wir nicht vor Konflikten zurückschrecken, sondern diese austragen!“

UNDOK, ÖGB (Catamaran), Johann-Böhm-Platz 1, 1020 Wien

Öffnungszeiten: MO, 9.00 Uhr – 12.00 Uhr und MI, 15.00 Uhr – 18.00 Uhr

Termine jenseits der Öffnungszeiten sind nach Vereinbarung
möglich. Tel.: +43/1/534 44 -39040, Email: office@undok.atwww.undok.at

Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Uni Wien.

100 % rassistisch

  • 18.05.2014, 22:21

Spätestens mit ihrer Aktion gegen die Refugees in der Wiener Votivkirche letztes Jahr, erlangte die „Identitäre Bewegung“ hierzulande mediale Aufmerksamkeit. Ein Buch legt nun die Ideologie und Strategien der neuen Rechtsextremen offen. progress traf die Autor_innen Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl zum Interview.

Spätestens mit ihrer Aktion gegen die Refugees in der Wiener Votivkirche letztes Jahr, erlangte die „Identitäre Bewegung“ hierzulande mediale Aufmerksamkeit. Ein Buch legt nun die Ideologie und Strategien der neuen Rechtsextremen offen. progress traf die Autor_innen Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl zum Interview.

progress: Entgegen ihrer Selbstdarstellung als politisch in der Mitte stehend, charakterisiert ihr die Identitären in eurem Buch als Jugendbewegung der Neuen Rechten. Was bedeuten die Begriffe „identitär“ und „Neue Rechte“?

Bruns: Die Alte Rechte hat eindeutig einen biologistischen Rassismus an den Tag gelegt, sich antisemitisch positioniert, etc. Das war nach dem Holocaust verpönt und in dieser Form nicht mehr möglich.

Strobl: Die Neue Rechte versucht durch neue Kommunikationsstrategien subtiler zu wirken. Typisch ist die „Salamitaktik“, also Positionen erst nach und nach preis zu geben.

Glösel: Der Begriff „identitär“ wird von den Gruppen selbst nicht definiert, er ist eher eine Projektionsfläche für diverse Sehnsüchte. „Identitär“ bleibt so zwar schwammig, ist gleichzeitig aber auch unverbraucht, unbelastet und selbstbejahend.

Was unterscheidet die Identitären von herkömmlichen rechtsextremen oder neonazistischen Gruppierungen?

Strobl: Identitäre haben ihr Vorbild in CasaPound aus Italien. Das ist eine Bewegung, die Codes und Aktionsformen, wie Hausbesetzungen oder Flashmobs, aus dem linken politischen Spektrum übernimmt und Stilmittel der modernen Werbeindustrie verwendet. Mit dem klassischen Rechtsextremismus verbindet man ja eher militantes Auftreten. Die Jugendbewegung der Neuen Rechten hingegen ist viel weichgezeichneter, jünger und popkultureller.

Glösel: Aktionismus ist ein weiteres wichtiges Unterscheidungsmerkmal, weil Identitäre ihre Öffentlichkeit selber herstellen. Anders als Player_innen der Alten Rechten beharren sie nicht auf Anonymität, sondern inszenieren sich als Celebrities.

Bruns: Oberflächlich grenzen sie sich außerdem von Rassismus ab. Einer ihrer Sprüche lautet „0 % Rassismus, 100 % identitär“. Das ist ein Versuch, aus der rechtsextremen Schmuddelecke rauszukommen und junge Menschen anzusprechen, die sich als in der politischen Mitte stehend definieren.

Strobl: Dabei ist diese sogenannte Mitte erfunden. In der Vorstellung von Verfassungsschutz und Parteien ist sie normativ positiv und erstrebenswert. Sie wird einem gleichermaßen negativ besetzten links- und rechtsextremen Rand gegenübergestellt. Anhand der Neuen Rechten sieht man gut, dass so ein Extremismuskonzept nicht haltbar ist.

Wo können die ideologischen Bezugspunkte und politischen Einstellungen der Identitären verortet werden?

Bruns: Ein wesentlicher Eckpunkt ihrer Ideologie ist der Ethnopluralismus. Dabei gehen sie von verschiedenen, in sich homogenen Ethnien aus, deren Vermischung immer Konflikte auslöse. Die Konsequenz dieses originär neurechten Konzepts wäre weltweite Apartheid, um das Bedrohungsszenario des Verlustes der Identität abzuwehren.

Strobl: Identitäre propagieren auch einen krassen antimuslimischen Rassismus, damit stehen sie der Alten Rechten in nichts nach.

Glösel: Auch ihr Heterosexismus und ihr biologistisch aufgeladenes Geschlechterbild sind nichts Neues. Sie bieten auch lediglich Männern eine Identifikationsfläche und konstruieren ein soldatisches Männlichkeitsbild.

Bruns: Ein weiterer markanter Eckpunkt der Neuen Rechten ist, dass alle mit der 68er-Bewegung verbundenen Errungenschaften und Begriffe – zum Beispiel „political correctness“ oder Emanzipation – große Feindbilder sind.

Wie wollen die Neuen Rechten intervenieren?

Bruns: Identitäre fallen durch Aktionen auf, die nicht viel kosten, die leicht und schnell zu organisieren sind und die man filmen und ins Internet stellen kann. Sie bringen sich zum Beispiel bei Protesten gegen Asylwerber_innenheime ein.

Strobl: Ihr Ziel ist es, auf den vorpolitischen Raum einzuwirken. Mithilfe dieser „metapolitischen“ Strategie sollen der öffentliche Diskurs und Meinungsbildner_innen beeinflusst werden.

Glösel: Wir haben versucht zu zeigen, dass es der Neuen Rechten um den Aufbau einer Gegenkultur geht. Bei den Identitären merkt man das daran, dass sie ein ganzes Repertoire, das von einem eigenen Verlag bis hin zu einer eigenen Ästhetik reicht, aufgebaut haben.

Warum spricht die Identitäre Bewegung vor allem Student_innen und Schüler_innen an?

Glösel: Das liegt an ihren Themen, an der Weise, wie sie diese ansprechen und an den Mitteln, die sie dazu verwenden. Viele junge Erwachsene sind erstmals mit sozialen Unsicherheiten konfrontiert. Identitäre greifen genau das auf, allerdings ohne profunde Kritik am ökonomischen System. Ihre aktionistische Ausrichtung und ihre Medien ermöglichen es, schnell mitzumachen.

Strobl: In Gruppierungen wie den Identitären ist es außerdem sehr leicht, dem eigenen Rassismus und den eigenen Vorurteilen Raum zu geben, ohne sich vor sich selbst rechtfertigen zu müssen. Identitäre Aktivist_innen haben sicher nicht das Gefühl, bei den Stiefelnazis gelandet zu sein. Trotzdem können sie gegen dieselben Feindbilder hetzen.

Warum sollten wir die Identitäre Bewegung nicht einfach ignorieren?

Strobl: Historisch war es noch nie besonders sinnvoll Rechtsextremismus zu ignorieren. Man muss sich vor Augen halten, dass jene, die mehr Ressourcen haben und sich in bürgerlichen Kreisen bewegen, oft gefährlicher sind als diejenigen, die man sofort als Rechtsextreme erkennt.

Glösel: Die Identitären schaffen sich ihre Öffentlichkeit selbst, sie zu ignorieren würde ihren Handlungsspielraum vergrößern. Außerdem sehe ich ein Auftreten gegen Identitäre als Möglichkeit gegen das Extremismuskonzept des Verfassungsschutzes zu arbeiten. Wir wollen zeigen, dass Rechtsextreme immer von der Ungleichheit von Menschen ausgehen und gegen Marginalisierte agitieren. Das unterscheidet sich diametral von dem, wofür Linke auftreten. Wer links und rechts ständig gleichsetzt, übersieht das und ist dann völlig überrascht, dass es Bewegungen wie die Identitären gibt.

Bruns: Wir wollen Identitäre nicht über-, aber sicher auch nicht unterschätzen. Es ist uns wichtig, aufzuzeigen, dass diese Bewegung nicht harmlos ist. Sie kommt aus demselben Lager wie die NPD, die Pro-Bewegung in Deutschland oder die FPÖ. Dass die Identitären weichgezeichneter auftreten, ändert nichts an ihrer rechtsextremen Ideologie.

Das Interview führte Sonja Luksik.