Rainer Kienböck

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  • 08.03.2016, 16:31
Von der Herrschaft des Spektakels zur Revolution: Ein Rückblick auf die Guy-Debord-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum.

Von der Herrschaft des Spektakels zur Revolution: Ein Rückblick auf die Guy-Debord-Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum.

Ein kühler Jännerabend, die sonst so belebten Wiener Straßenzüge zwischen Oper, Hotel Sacher und Albertina sind wie ausgestorben. Es ist der Abend des sogenannten Akademikerballs und die Innenstadt ist zur Sperrzone erklärt worden. Dennoch hat sich eine beachtliche Menschenmenge durch die Absperrungen gekämpft und sammelt sich im heillos überfüllten Foyer des Österreichischen Filmmuseums. Der Jänner ist im Filmmuseum traditionell gut besucht, doch an diesem Abend sind es nicht Claudia Cardinale oder Marcello Mastroianni, die ins Kino locken, sondern die Wartenden haben sich zum Auftakt der Guy-Debord-Retrospektive eingefunden. Das Filmmuseum ist das erste Museum der Welt, das eine solche Schau veranstaltet und dafür alle Filme von Debord in seine Sammlung aufgenommen hat. Das liegt nicht zuletzt auch am Aufführungsverbot, das Guy Debord 1984 verhängte, nachdem sein Freund, Verleger und Produzent Gérard Lebovici ermordet worden war. Erst nach Debords Freitod 1994 gelangten die Filme wieder ans Tageslicht, und die Retrospektive des Filmmuseums ist die erste Gelegenheit seit den Filmfestspielen in Venedig 2001 Debords filmisches Werk im Kino zu sehen.

CONTRE LE CINÉMA. Aus dem winterlichen Wien ins frühlingshafte Cannes des Jahres 1951. Der 19-jährige Guy Debord besucht das Filmfestival, das schon damals Filmschaffende internationalen Ranges anzieht. Dort zeigt der Rumäne Isidore Isou seinen ersten (und einzigen) Film „Traité de bave et d'éternité“, der sogleich einen Skandal verursacht und den jungen Debord nachhaltig prägt. Seit einigen Jahren lebt Isou in Paris und hat dort eine Künstler_innengruppe in der Tradition der Vorkriegsavantgarden gegründet, die sich zum Ziel gesetzt hat, die Kunst zu revolutionieren. Die Lettristische Gruppe, so ihr Name, will mit der Dominanz des Wortes brechen und stattdessen den einzelnen Buchstaben zur Keimzelle ihrer Kunst machen.

„Traité de bave et d'éternité“ ist zugleich lettristisches Manifest, Kampfansage gegen das Kino und Stilexperiment. Isou spielt mit dem Verhältnis von Bild und Ton, indem er langen Voice-over-Passagen scheinbar zusammenhangslose Filmaufnahmen gegenüberstellt. Mit Fortdauer des Films wagt er sich an immer kühnere Formen des Experimentierens: Er zerkratzt und bemalt das Filmmaterial und kombiniert diese abstrakten Formen mit Rezitationen lettristischer Lyrik. Debord tritt schwer beeindruckt der Lettristischen Gruppe bei und schon 1952 erscheint sein erster eigener Film „Hurlements en faveur de Sade“, der bei seiner Erstaufführung ebenfalls für laute Proteste im Publikum sorgt. Der Kinobesuch unterscheidet sich bei Debords erstem Film radikal von einer herkömmlichen Filmaufführung: Über weite Strecken sind weder Bilder auf der Leinwand zu sehen, noch Musik oder Dialoge zu hören. Im dunklen Kinosaal beginnt das Publikum schließlich seinen Unmut kundzutun und wird so Teil des Kunstwerks. Debord antizipiert damit Tendenzen des experimentellen Kinos der Siebziger Jahre, das unter dem Sammelbegriff „Expanded Cinema“ ähnliche Einbindungen der Zuschauer_innen anstrebte.

REVOLUTION: THEORIE UND PRAXIS. Mit den Jahren entwickelte sich Debord vom avantgardistischen Künstler zum politischen Aktivisten, der Kunst nicht unabhängig von Politik und Gesellschaft betreiben wollte. Debord war eine ehrgeizige Persönlichkeit und entschlossen, seine eigenen Ideen umzusetzen, weshalb er sich schließlich zusammen mit einigen Gleichgesinnten vom Lettrismus abspaltete und die Situationistische Internationale gründete. Die Grundsätze dieser Gruppe lassen sich nur schwer zusammenfassen. Debords Buch „Die Gesellschaft des Spektakels“, situationistisches Manifest und Stichwortgeber der Maiunruhen 1968, lässt sich zwar in einer hegelianisch-marxistischen Denktradition verorten, bricht aber bewusst mit gängigen linken Denkweisen und Strömungen seiner Zeit. Kommunismus, Maoismus und Sozialdemokratie bewegen sich nach Debords Sicht in der vorgegebenen Logik der Spektakelgesellschaft und unterscheiden sich darin nur marginal von der herrschenden Klasse der Kapitalisten. Das Spektakel kontrolliert und beschränkt zunehmend die Zeit und den Lebensraum der Menschen und sorgt dafür, dass die Menschen von realitätsfernen Bildern betäubt, unmündig und ohne Handlungsmacht bleiben: „Das Spektakel ist der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist.“ Der Situationismus war auf der Suche nach Möglichkeitsbedingungen einer Revolution, die schon damals in Westeuropa nur mehr schwer denkbar war. Anderen linken Bewegungen warfen die Situationist_innen vor, in Passivität zu verharren und sich im Wälzen grauer Theorie zu gefallen. Sie wollten stattdessen aktiv handeln, ganz im Sinne Michail Bakunins: „In den letzten neun Jahren wurden innerhalb der Internationale mehr Ideen entwickelt als nötig sind, um die Welt zu retten, wenn Ideen allein die Welt retten könnten, und ich glaube nicht, dass irgendjemand imstande ist noch eine neue zu erfinden. Die Zeit der Ideen ist vorbei, die Zeit für Tatsachen und Taten ist gekommen.“

Diese Tatsachen liegen im Schaffen konkreter Situationen, die aus einer Verbindung künstlerischer und politischer Praxis entstehen, und in denen gegen die Spektakelherrschaft vorgegangen wird, indem deren eigene Erzeugnisse gegen sie gewendet werden. Diese Vorgehensweise der Zweckentfremdung, Verfremdung und Umdeutung der Waren des Spektakels bezeichnen die Situationist_innen als détournement; in den Worten von Jacques Rancière: „Das ‚détournement‘ besteht nicht darin, die Hochkultur zu profanieren oder die nackte Realität der Ausbeutung hinter dem schönen Schein zu enthüllen. Es versucht nicht, ein Bewusstsein zu produzieren, indem es denjenigen die Mechanismen der Welt enthüllt, die angeblich an deren Unkenntnis leiden. Es will eben jene Güter vom Feind zurückerobern, die dieser zu seiner Waffe gegen die Anteillosen gemacht hat. […] Es ist die direkte Wiederaneignung dessen, was in die Repräsentation entrückt worden ist.“ Was ist also naheliegender, als sich am breiten Bilderfundus der Filmgeschichte zu bedienen und ihre Bilder in filmischer Form gegen sie zu wenden?

APRÉS MAI. Im Kinosaal des Österreichischen Filmmuseums haben sich einstweilen Direktor Alexander Horwath, Debords Witwe Alice Becker-Ho und der Filmemacher Olivier Assayas eingefunden. Assayas verbindet eine besondere Beziehung sowohl mit dem Österreichischen Filmmuseum, das ihm 2012 eine große Retrospektive und eine Buchpublikation widmete, als auch mit Debord, seinem geistigen Ziehvater. Geboren 1955 und aufgewachsen in der wohlbehüteten Pariser Vorstadt, war er zu jung, um die Maiunruhen 1968 mitzuerleben. Das Gefühl, die großen Ereignisse seiner Generation verpasst zu haben und womöglich niemals den revolutionären Geist dieser Zeit zu spüren, prägte sein Leben und Werk. In Richard Linklaters „Dazed and Confused“ bezeichnen die jugendlichen Protagonist_innen die Siebziger als ein langweiliges Jahrzehnt, das die aufregenden Versprechungen der Sechziger nicht erfüllen konnte. Ihre Lebenserfahrung ist jener von Olivier Assayas nicht unähnlich. Es ist ein Lebensgefühl zwischen revolutionärem Eifer und Ziellosigkeit. Sein intellektueller Werdegang führte Assayas über Anarchismus, George Orwell, Malerei und Rockmusik schließlich zu den Schriften und Filmen von Guy Debord. Die Gruppe hatte sich zwar 1972 nach einer wechselhaften Geschichte voller Ausschlüsse und internen Verwerfungen aufgelöst, aber ihr politisches, künstlerisches und philosophisches Programm diente fortan als Inspiration und Leitfaden für Assayas’ Leben und Arbeit. Wenig verwunderlich also, dass er sich aktiv für die Verbreitung der Ideen Debords einsetzt. So machte er es nach dessen Tod überhaupt erst möglich, dass die Filme wieder gezeigt werden und war auch maßgeblich an der 2004 erschienenen DVD-Edition von Debords gesammeltem filmischem Werk beteiligt.

VOM FEUER VERZEHRT. An diesem Abend werden zwei Kurzfilme von Debord gezeigt, die er in der Anfangszeit der Situationistischen Interna- 13 tionale produziert hat. „Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps“ (1959) und „Critique de la Séparation“ (1961) sind in vielerlei Hinsicht Vorboten Debords späterer Langfilme. In bester lettristischer Tradition vertraut Debord auf einen begleitenden Off-Kommentar, der oft in Kontrast zu den Bildern und Textelementen steht. Die Konfrontation von Bild, Text und Ton soll zu fruchtbarer Überforderung und dialektischer Synthese führen. Debords Filme sind, so Assayas, außerhalb der Logik des Kinos hergestellt und folgen deshalb auch nicht den Regeln des konventionellen Filmemachens, wie sie die Spektakelgesellschaft vorschreibt. Frei nach dem Motto seines Vertrauten Gil J. Wolman: „Most films only merit being taken apart and used to create new works“, bedient sich Debord ausgiebig bei Hollywood- und Werbefilmen, zitiert Schriftsteller_innen und Philosoph_innen und fertigt daraus komplexe Bild-Ton-Collagen. Debords spätere Filme schließen trotz zwölf Jahren Pause nahtlos an seine früheren Arbeiten an. Auch in „La société du spectacle“ (1973) und in seinem Opus magnum „In girum imus nocte et consumimur igni“ (1978) greift er auf ähnliche Inszenierungsmittel zurück: Der kreative Einsatz von Found Footage und parallel dazu die philosophischen Erörterungen des Off-Kommentars führen zu einem elaborierten Katz-und-Maus-Spiel zwischen Bild und Ton. Es ist „der schmale Grat zwischen Poesie und Philosophie“, wie Assayas es ausdrückt, der Debords gesamtes Schaffen, aber insbesondere seine Filme auszeichnet. Sie sind überaus komplex, doch lässt man sich auf den ungewöhnlichen Rhythmus, die komplizierte Sprache und die ungewöhnliche Ästhetik ein, so offenbart sich eine Gedankenwelt, die Debords schriftstellerischer Arbeit in nichts nachsteht. Es war immer Debords Anliegen alle Bereiche seines Lebens miteinander zu verschränken – seine Kunst, seine Philosophie und seine Politik sollten in seiner Lebenspraxis aufgehen.

In Anbetracht seiner filmischen Arbeiten kann man nur anerkennend bemerken, dass er reüssierte. Alexander Horwath: „[Debord’s writings, films and art] should be seen as very much one thing.“ Guy Debords Werk zeichnet ein unbändiger Wille aus, die Schockstarre der Spektakelgesellschaft zu durchbrechen und aktiv Veränderung herbeizuführen. Im Zeitalter des postmodernen Relativismus, der für utopisches Denken nur ein zynisches Lächeln übrig hat, ist das ein umso wertvollerer Gedanke.

Rainer Kienböck studiert Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin.