Paul Aigner

Brücken statt Stacheldraht

  • 13.02.2013, 17:30

Klaus Schwertner: "Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es ird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben."

progress: Wann wären die Proteste in der Votivkirche aus Sicht der Caritas ein Erfolg?

Klaus Schwertner: Durch ihren Protest haben die Flüchtlinge schon sehr viel erreicht: Sie haben sichtbar gemacht, dass es  grundsätzliche Probleme in den Unterkünften und im Verfahren gibt. Erstmals treten AsylwerberInnen in einer breiten Öffentlichkeit selber für ihre Anliegen ein. Menschenrechte gelten für alle, das vermitteln sie eindrucksvoll. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass  wir in einem Rechtsstaat leben, das heißt nicht jedeR die oder der Asyl beantragt, wird auch Asyl erhalten. Die PolitikerInnen könnten zwei Dinge von den Flüchtlingen lernen: mehr Menschlichkeit und mehr Mut. Eine Lösung für die Flüchtlinge in der Votivkirche ist eine Frage des Wollens, nicht des Könnens.

Warum hat sich aus der Bundesregierung niemand in die Kirche begeben? Oder der Bundespräsident, der sich auch
für Arigona Zogaj stark gemacht hat?

 
Das müssen Sie die PolitikerInnen selbst fragen. Es gab in der Kirche Gespräche mit Kardinal Schönborn und mit Othmar Karas, dem Vize-Präsidenten des Europaparlaments. Aber es ist nicht so wichtig, wo ein Dialog stattfindet, sondern dass ein Dialog stattfindet. Die Innenministerin hat Anfang Jänner vier Flüchtlinge, die in der Votivkirche Schutz suchen, empfangen. Dabei hat sie zwei Stunden lang mit ihnen gesprochen und faire Verfahren versprochen – aber auch betont, dass es keine strukturellen Änderungen im  Asylrecht geben werde.

Welche gesetzlichen Änderungen braucht es aus Ihrer Sicht?

Es ist nicht alles schlecht und nicht alles gut im österreichischen Asylwesen. Wenn man sich die Verhältnisse in Griechenland anschaut, stehen wir hier nicht so schlecht da. Trotzdem sollte Europa gemeinsam Brücken bauen, anstatt Stacheldrähte hochzuziehen. Österreich braucht rasche, qualitätsvolle Asylverfahren. In acht von neun Bundesländern gibt es baufällige, schimmlige Quartiere. Da brauchen wir Mindeststandards: Es geht nicht um Hotels mit drei Sternen, sondern um menschenwürdiges Wohnen. Wir brauchen eine einheitliche Beurteilung der Gefahren in den Herkunftsländern der Flüchtlinge. Es mutet eigenartig an, dass auf der Homepage des Außenministeriums Reisewarnungen der höchsten Sicherheitsstufe für Pakistan ausgesprochen werden, aber die Flüchtlinge aus diesen Regionen möglicherweise dorthin zurück müssen.

Menschenrechtsorganisationen kritisieren, dass im Asyl- und Fremdenrecht seit 20 Jahren eine Verschärfung die andere jagt.

Unzählige Novellen haben dazu geführt, dass die Qualität der Gesetze immer schlechter geworden ist. Durch die Schaffung des Bundesamtes für Flüchtlinge und Migration sollte es aber hier dringend notwendige Verbesserungen geben. In den letzten Jahren hat  sich einiges zum Positiven verändert. Aber auf der einen Seite wirft man Flüchtlingen oft vor, dass sie viel Steuergeld kosten, und auf der anderen Seite lässt man sie nicht arbeiten – das ist zynisch. Die aktuelle Regelung erlaubt nur Saisonarbeit bei der Ernte. AsylwerberInnen dürften Gurkerl ernten, aber aufgrund der Einschränkung der Bewegungsfreiheit dürfen sie oft nicht dort hin, wo  die Gurkerl sind.

Haben sich SPÖ und ÖVP in der Frage der Rechte von MigrantInnen zu lange von der FPÖ treiben lassen?

Ich glaube, dass die ÖVP nach dem Wahlkampf in Wien 2010 erkannt hat, dass es keine Wahlerfolge bringt, Menschen in Not zu kriminalisieren. Es wird am 1. Jänner 2014 eine Liberalisierung des Fremdenrechts geben. Menschen, die sich fünf Jahre in Österreich aufhalten, drei davon legal, bekommen einen Rechtsanspruch auf humanitäres Bleiberecht. Abschiebungen von Kindern mit Sturmgewehren, Familien, die auseinandergerissen werden: Diese Zustände müssen in Österreich ein Ende haben und ich bin  guten Mutes, dass uns das gelingt. Es braucht klare Gesetze und Menschlichkeit.

Was das Herz berührt

  • 13.02.2013, 17:17

Alexander Pollak (SOS Mitmensch): "Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen."

progress: Wie hat sich das politische Klima für Menschenrechte in den letzten 20 Jahren entwickelt? Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen 1993 und 2013?

Alexander Pollak: Zum Einen hat sich verändert, wer die Debatte führt. Die Zivilgesellschaft hat mehr Gewicht bekommen, es gibt mehr Organisationen, die sich individuell und politisch für Flüchtlinge engagieren. Es kommen immer wieder Impulse von der EU,  die in Österreich umgesetzt werden müssen. Ich denke an die Einführung der Grundversorgung für AsylwerberInnen vor zehn Jahren. Neu sind die Herkunftsländer der Flüchtlinge: AsylwerberInnen aus Afrika und Asien, die sich mit den restriktiven Regelungen  herumschlagen müssen, haben wir erst seit den letzten Jahren. Verändert hat sich auch die Wahrnehmung der FPÖ: Sie ist zu einem  Teil der Normalität geworden. Vor 20 Jahren war die Empörung über die Hetze der FPÖ noch größer.

Der Journalist Peter Huemer hat bei der Matinee zur 20-Jahr-Feier des Lichtermeers die Frage in den Raum gestellt, ob man nicht  mindestens so massiv gegen SPÖ und ÖVP protestieren müsste, die Haider und jetzt auch Strache immer wieder nachgegeben  haben. Wie sehen Sie das?

Unsere politische Arbeit richtet sich in erster Linie an die Regierung, also beispielsweise an den Sozialminister, wenn es um ein Recht auf Arbeit für AsylwerberInnen geht, oder an die Innenministerin, wenn es etwa um unzulässige Härten in Asylverfahren geht. Die FPÖ nimmt vor allem eine Rolle wahr: Den Diskurs immer wieder aus einer menschenfeindlichen Perspektive anzuheizen.

Hat  sich die politische Mitte durch diesen Anti- Migrations-Diskurs verschoben?

Es gibt eine gewisse Verschiebung. Aber diese ist nicht eindimensional. Eine negative Verschiebung sehe ich, was die Bereitschaft betrifft, menschenfreundliche Reformen anzugehen. Aber ich sehe auch positive Verschiebungen: Vor 20 Jahren gab es kaum  Dorfgemeinschaften und BürgermeisterInnen, die sich für Asylsuchende stark gemacht haben.

Welche Strategien gibt es gegen die angesprochene Abstumpfung gegenüber dem Thema Asyl?

Menschen sind leichter für Mitleid als für konkrete rechtliche Anliegen zu gewinnen. Viele haben Probleme damit, wenn Flüchtlinge plötzlich beginnen, Forderungen zu stellen und sich selbst zu artikulieren, wie das in der Votivkirche passiert. Unsere Kampagnen richten sich nicht primär danach aus, ob Mitleid erregt werde kann, etwa weil Kinder betroffen sind, oder nicht. Aber alles, was das  Herz berührt, hat größere Chancen, wahrgenommen zu werden und Engagement zu wecken. Dieser Logik kann sich niemand ganz  entziehen.

Was ist das Neue an den Protesten in der Votivkirche?

Dass eine Innenministerin Flüchtlinge empfängt, ist auf jeden Fall neu. Dass Flüchtlinge vor Medien für sich selbst sprechen, ist auch neu. Symbolisch ist der aktuelle Protest kaum zu übertreffen. Die politischen Erwartungen muss man davon trennen. Ich glaube nicht an Erfolge von heute auf morgen. Regierungen lassen sich ungern von außen zu Änderungen zwingen. Allerdings sind Verbesserungen im Asylbereich dringend nötig. Positive Reformen weiter hinauszuschieben, ist keine gute Idee.

Was hindert die Regierungsparteien daran, für zumutbare Bedingungen für Flüchtlinge zu sorgen?

Inoffiziell hören wir aus der SPÖ und auch aus der ÖVP immer wieder, dass sie unsere Anliegen unterstützen. Aber die Ängstlichkeit der Regierungsparteien vor der FPÖ und dem Boulevard verhindert Verbesserungen. Diese Angst macht aber gerade die FPÖ nicht schwächer, sondern gibt ihr immer wieder neue Nahrung. Wenn die Regierungen der letzten 20 Jahre konsequenter eine Linie für  Menschenrechte eingenommen hätten, wäre die FPÖ um nichts stärker, sondern eher schwächer, als sie heute ist.

Keine Frage des Könnens

  • 13.02.2013, 17:12

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer, Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

In der Wiener Votivkirche protestieren Flüchtlinge in Österreich zum ersten Mal selbst für ihre Rechte. Doch gerade der Rechtsstaat wird wohl verhindern, dass auch für sie Menschenrechte gelten. Was sich ändern muss, erzählten zwei ungleiche Unterstützer,  Alexander Pollak und Klaus Schwertner, progress-Autor Paul Aigner.

Es war die größte politische Kundgebung, die Österreich je gesehen hatte und bis heute gesehen hat. 300.000 Menschen demonstrierten am 23. Februar 1993 am und um den Wiener Heldenplatz. Keinen halben Kilometer Luftlinie weiter frieren und hungern im Winter 2013 AsylwerberInnen in der Wiener Votivkirche. Sie finden die Lebensumstände in den Asyllagern nicht mehr  zumutbar und ihre Position aussichtslos.

Rückblende. Anfang der 1990er-Jahre scheint der Aufstieg der FPÖ kaum zu stoppen. Jörg Haider ist seit sechs Jahren Obmann der größten Oppositionspartei, er nennt SPÖ-Innenminister Franz Löschnak „meinen besten Mann in der Regierung“. Trotz interner  Widerstände setzt Haider  das sogenannte „Ausländervolksbegehren“ durch. Es beinhaltet gezielte Tabubrüche wie die Verknüpfung eines Zuwanderungsstopps mit der Arbeitslosenquote und eine „Ausländerquote“ in Schulklassen. Der liberale Flügel der FPÖ bricht nach dem Volksbegehren weg, fünf Abgeordnete um Heide Schmidt gründen das Liberale Forum (LIF). Den Takt in der  Fremdenpolitik gibt die FPÖ trotzdem weiter vor. 20 Jahre später ziehen zwei Protagonisten der Menschenrechtsbewegung von heute  ein vorläufiges Resümee. progress hat Caritas-Pressesprecher Klaus Schwertner und SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak getroffen und mit ihnen über das raue Klima in der österreichischen Menschenrechtspolitik und die Perspektiven des Protests in der Wiener Votivkirche gesprochen und dabei unterschiedliche Einschätzungen gefunden, was Flüchtlinge in Österreich in den kommenden Jahren erwartet.

Weiterlesen: Interview mit Alexander Pollak (SOS Mitmensch)

Weiterlesen: Interview mit Klaus Schwertner (Caritas)

Wer zahlt, schafft an

  • 02.01.2013, 17:42

Frank Stronach stellt die Medien vor ein Problem, mit dem sie schon bei Jörg Haider überfordert waren. Was tun mit TabubrecherInnen?

Frank Stronach stellt die Medien vor ein Problem, mit dem sie schon bei Jörg Haider überfordert waren. Was tun mit TabubrecherInnen?

Einer, der Milliardenumsätze in der weiten Welt macht, hält sich nicht an Spielregeln. Die ersten Auftritte des aus der Steiermark nach Kanada ausgewanderten Milliardärs Frank Stronach waren ein Vorgeschmack auf das, was im kommenden Wahljahr auf Österreich zukommt. Die Moderatorin der Zeit im Bild 2 traute ihren Augen nicht, als sich der Austro-Kanadier Anfang Juli in einem  Interview systematisch ihren Fragen entzog und sie anblaffte, dass er jetzt einmal reden wolle. Die KollegInnen aus der Branche  gratulierten Lou Lorenz-Dittelbacher über den Kurznachrichtendienst Twitter dennoch zu ihrem Auftritt. Von „geistiger Inkontinenz“ bei ihrem Gegenüber ist da bei Kurier-Redakteur Michael Hufnagl die Rede, Autor und Kabarettist Dieter Chmelar lobt die „grandiose“ Arbeit. Am nächsten Tag richtet Stronach über die Krone aus, er lasse sich von einem „Schulmädchen“ nicht so behandeln. ORF-Kollege Armin Wolf fragt „Geht‘s noch?“, Standard-Blogger Robert Misik nennt den Milliardär einen „senilen Lustgreis“. Die Moderatorin selbst bedankt sich über Facebook bei Frank Stronach: „Ausgerechnet am 38. Geburtstag als Schulmädchen bezeichnet zu werden, ist ein echtes Kompliment.“

Franks mächtige Freundinnen. Mit Frank Stronachs Promi-Fotos könnte man Bücherwände füllen. In einem Werbeclip spielt Stronach eine herzliche Szene mit US-Präsident Bill Clinton ein. Ein Mann von Welt? Zahlreiche österreichische PolitikerInnen fast aller Couleurs standen und stehen auf der Magna-Payroll. Der rote Ex-Kanzler Vranitzky und der langjährige ehemalige  SPÖ-Bundesgeschäftsführer Rudas, Ex-Finanzminister Grasser, der blaue Ex-Minister Reichhold und der steirische Ex-Wirtschaftslandesrat Paierl sind die prominentesten Beispiele. Auch in Kanada hat Stronach ein Naheverhältnis zur Politik gepflegt – das soll ihn, berichtet die Wiener Stadtzeitung Falter, 1988 vor dem Bankrott gerettet haben: Der Finanzminister intervenierte bei jener Bank, bei der Magna Schulden angehäuft hatte und die den Konzernchef aus dem Amt jagen wollte. 1990 kaufte sich die staatliche VOEST Alpine in Stronachs Europageschäft ein und rettete so mit öffentlichen Geldern die vier deutschen  und österreichischen Fabriken. Stronachs Biograph Norbert Mappes-Niediek resümiert: Der Milliardär „agiert am besten im Milieu der größtmöglichen Vermischung von privaten und öffentlichen Interessen“.

Harter österreichischer Boden. Der Mann wollte daheim am alten Kontinent immer ein Großer sein. Anders als in Kanada. Für sein wohl letztes großes Projekt nach dem vergeblichen Polit-Einstieg in Kanada, einer nicht ausgelasteten Pferderennbahn und einer gescheiterten Großinvestition in den österreichischen Fußball, muss sich Stronach mit der zweiten Reihe einer sich in  Auflösung befindlichen Partei zufriedengeben. Sein skurrilster Mitstreiter: Der rote Regional-Bürgermeister aus Kärnten. 2001 bekam Gerhard Köfer den „Big Brother Award“ für seine Idee verliehen, ein Kopfgeld für DrogendealerInnen zu zahlen. Eine Wahlempfehlung für Jörg Haider gab‘s vom Spittaler Ortschef auch. Stronachs Spitzenkandidat für die Kärntner Landtagswahl ist Wunderheiler und soll seine übernatürlichen Fähigkeiten auch an Frank Stronachs Pferden ausprobiert haben. Das Dilemma der Medien. Wie geht man mit einem wie Stronach um? Gekränkter Stolz spricht aus seinen Augen, wenn er in Fernseh-Auftritten
rabiat wird und Beleidigungen austeilt. Anstatt ihn, der als Held empfangen werden sollte, gebührend zu feiern, gräbt die journalistische Szene in seinen Schweizer Steuererklärungen, in den Eurofighter- Gegengeschäften und in den Lücken seiner Biographie.

Das Absurde daran: Es schadet dem Milliardär vorerst nicht. Der Aufwärtstrend in den Wahlumfragen ist trotz viel kritischer  Berichterstattung ungebrochen. Zuletzt kratzte Stronach an der 20-Prozent- Hürde. Das liegt zum einen daran, dass Stronach alsAnti-Establishment-Kandidat antritt. Medien werden von vielen ÖsterreicherInnen als Teil des Establishments wahrgenommen. Dementsprechend prallt die dort formulierte Kritik an Stronach weitgehend an ihm ab – noch mehr: Er kann sich als Opfer darstellenoder als gefährlicher Gegner eines Systems, obwohl er so viele Jahre daran mitgenascht hat. Das Haider‘sche und bereits von Strache kopierte „Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist“ feiert fröhliche Urständ‘. Regionalmedien sind auffällig vorsichtig im Umgang mit Stronach. Der hat angekündigt, mindestens 25 Millionen Euro in den Wahlkampf investieren zu wollen – in etwa soviel,  wie SPÖ und ÖVP zusammen im letzten Nationalratswahlkampf 2008 ausgegeben haben. Der Spagat zwischen der Kritik an zahlungskräftigen WerbekundInnen und wirtschaftlichen Notwendigkeiten ist ein täglicher Kampf in den Redaktionen von Eisenstadt bis Bregenz.

Stronach ist ein schwieriger Fall: Ausufernd in seinen Attacken auf Medien und gleichzeitig einer der zahlungskräftigsten Kunden für 2013. Das Dilemma der Redaktionen ist ein Ausblick auf das, was den BürgerInnen dieser Republik droht, wenn sie ihn im  nächsten Jahr zum Kanzlermacher wählen.

Paul Aigner hat Politikwissenschaft und Pädagogik in Innsbruck und Wien studiert und bloggt, unter anderem zum Team Stronach, auf www.querschrift.me.

Schwarze Fahne im Parlament?

  • 18.11.2012, 00:48

Wer sich der Piratenpartei seriös nähern will, muss erst einmal die Klischeefalle vermeiden. Eine so junge politische Bewegung hat einen zweiten und einen dritten Blick verdient.

Wer sich der Piratenpartei seriös nähern will, muss erst einmal die Klischeefalle vermeiden. Eine so junge politische Bewegung hat einen zweiten und einen dritten Blick verdient.

Eine Vorwarnung: Das ist kein Artikel, der die Welt erklären will. Normalerweise geht das ja so: Wer mit einem Piratenpartei-Text die Hirne der LeserInnen entern und nicht bei der Überschrift schon Schiffbruch erleiden will, muss in jedem zweiten Satz eine Jack- Sparrow-Metapher einbauen. Dann werden die PiratInnen wahlweise zu den kommenden HerrscherInnen der Weltmeere oder zum Sturm im Wasserglas erklärt. Zuviele Indianer ohne Häuptling, weltfremde IT-Nerds, FDPler ohne Porsche. Viel hat sich die Piratenpartei schon nennen lassen müssen. Was unbestritten ist: Sie hat bisher eine Erfolgsgeschichte hingelegt. 7,1 Prozent bei der Europawahl in Schweden 2009 waren gleichbedeutend mit dem ersten Einzug eines Piraten in ein legislatives Gremium. Drei Piraten sitzen in tschechischen Kommunalparlamenten, zwei Piraten in spanischen Gemeinderäten und ein Mandat in einem Schweizer Kanton wird von einem Piraten eingenommen. Das Mekka der Piratenpartei ist Deutschland. Mit insgesamt 45 Landtagsabgeordneten im Saarland, in Nordrhein- Westfalen, in Schleswig-Holstein und in Berlin sowie 194 VertreterInnen in Gemeinden sind die deutschen PiratInnen mitten im Parteiensystem angekommen. Zwischenzeitlich bis zu zwölf Prozent in deutschlandweiten Umfragen nach dem sensationellen Einzug ins Berliner Landesparlament im Herbst 2011 machten die Piratenpartei zum ersten ganz neuen politischen Player auf der Bühne des größten EU-Mitgliedsstaats, seit dem die Grünen vor 29 Jahren in den Bundestag eingezogen sind. In Berlin ärgern sich SPD und Grüne seit Monaten, dass die Piratenpartei ihre mögliche Mehrheit bei den nächsten Bundestagswahlen so gut wie verunmöglicht. Auch Österreich hat inzwischen seinen gewählten Piraten: Bei der Innsbrucker Gemeinderatswahl im April diesen Jahres zog Alexander Ofer mit 3,8 Prozent der Stimmen ins Stadtparlament ein.

„Ballettschwuchteln“ und „Realdemokraten“. Innsbruck ist aber nicht nur der erste Gemeinderatseinzug der neuen Partei. Die Tiroler Landeshauptstadt ist auch ein schönes Beispiel dafür, woran es bei den PiratInnen in Österreich krankt. Kurz nach dem Wahlerfolg gab es sofort erste Positionskämpfe. Es folgten Parteiausschlüsse und gegenseitige Klagsdrohungen. Mittlerweile hat sich Österreichs einziger gewählter Pirat mit seiner Landesorganisation überworfen. Auf Heinrich Stemeseders Facebook- Wall finden sich zahlreiche Fotos von Erotik-Models, der „PiratenAnwalt“ hetzt außerdem gegen „Ballettschwuchteln“. Österreichs Piratenpartei wiederum hatte kürzlich einen schmerzhaften Abgang zu verkraften: Der ehemalige Piratenpartei-Chef Stephan Raab gründete mit drei Mitstreitern die „Realdemokraten“, die ebenfalls bei der Nationalratswahl 2013 kandidieren wollen. Nur in der Steiermark und in Wien gibt es gewählte Vorstände der Piratenpartei. Die Wiener PiratInnen sind inzwischen für ihre Stammtische in ihr drittes Lokal übersiedelt, nachdem ihnen zwei Mal Hausverbot erteilt wurde. Unter anderem, weil Vorstands-Mitglied Rodrigo Jorquera einen anderen Piraten körperlich attackiert haben soll. In allen anderen Bundesländern sind die PiratInnen in der Gründungsphase. Ein relativ präzises Parteiprogramm haben die steirischen Piraten im September diesen Jahres beschlossen. Es enthält nicht nur allgemeine Positionierungen im liberalen Spektrum, sondern auch konkrete Forderungen wie die Nicht-Privatisierung eines Grazer Krankenhauses, die Rücknahme der Alkohol-Verbotszonen in der Landeshauptstadt und die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften. Dennoch: Die PiratInnen zwischen Neusiedler See und Schwäbischem Meer bleiben ein Fleckerlteppich von ambitionierten Linksliberalen und frustrierten ModernisierungsverliererInnen, die sich als Opfer eines politischen Systems sehen, das sie oft gar nicht zu fassen kriegen.

Nerd-Alarm? Eine Gruppe fehlt in der Aufzählung: in der IT-Branche beschäftigte Menschen, die rund um die Proteste gegen das Datenschutzabkommen ACTA das erste Mal auch in Österreich auf sich aufmerksam gemacht haben. Die Demonstrationen gegen das EU-Abkommen waren die erste Gelegenheit, bei der man in Österreich vielerorts PiratInnen- Fahnen sehen konnte. Aus dem männlich dominierten IT-Milieu kommt auch der programmatische Fokus der Piratenpartei. Denn trotz aller Unterschiede: Bei den sogenannten Internet-Themen sind sich die PiratInnen von Stockholm bis Barcelona und von Klagenfurt bis Kiel einig. Das ist es auch, was Aufschluss über potenziellen Erfolg und Misserfolg der PiratInnen geben könnte.

Lebenswelt Internet. 76 Prozent aller ÖsterreicherInnen haben Zugang zum Internet, 91 Prozent der Unter-30jährigen verbringen zumindest Teile ihrer Freizeit online. Dass in mehreren deutschen Städten am Höhepunkt der Proteste gegen ACTA vor allem junge, nicht politisch organisierte Menschen anwesend waren, führt Markus Beckendahl darauf zurück, dass sich sogenannte „youtube-Kids“ an den Aufrufen beteiligt haben. Diese Teenager betreiben auf der weltweit größten Videoplattform ihre privaten Tagebücher und berichten über ihre neue Frisur, das neue Auto des großen Bruders und über das Outfit, das sie am Samstag in die Disco anziehen werden. Und auf einmal berichteten die „youtube-Kids“ in Deutschland auch über ACTA. Nicht aus theoretisch-weltanschaulichem Interesse, sondern weil sie verstanden hatten, dass das Abkommen ihre unmittelbare Lebenswelt und den Lieblingstreffpunkt ihrer Freizeit gefährden würde. „Die nehmen uns unser Wohnzimmer weg“, sagt ein Videoblogger in einem Aufruf zu den Demos.

Nagelprobe Berlin. Im „digital gap“ liegt die Chance der PiratInnen. Denn auch wenn viele Grüne und netzaffine SozialdemokratInnen schon seit mehreren Jahren die Themen Datenschutz, Netzneutralität und Open Government beackern, ist die Piratenpartei trotzdem am klarsten mit dem Thema „Internet“ verknüpft. Diese Positionierung ist doppelt erfolgsversprechend: Einerseits, weil die Netzthemen längst keine Nischenprobleme mehr sind . Und andererseits, weil mit der Netzpolitik ein modernes, kreatives Image verknüpft ist. Die Nagelprobe für die Piratenpartei in Berlin statt: Hier waren die PiratInnen bei den Landtagswahlen auch deswegen erfolgreich, weil sich eine einmalige Chance bot. Die Grünen waren mit dem Rückenwind der gewonnenen Wahlen im bürgerlichen Südwesten des Landes als „neue Volkspartei“ im Gespräch, inszenierten ihre Bürgermeisterinkandidatin Renate Künast bombastisch und machten damit Platz für eine nicht-etablierte, linksliberale Oppositionspartei. Jetzt muss sich die Fraktion im Landesparlament beweisen. In der Berliner Fraktion sitzen 14 Männer und eine Frau. Österreichs PiratInnen sind von diesen realpolitischen Sphären noch weit entfernt. Ihr innerparteilicher Aufbau ist aber schon wie beim großen Bruder in der Bundesrepublik. Im Bundesvorstand sitzen drei Männer, im Länderrat sechs Männer. Frauen sucht man in den höchsten Gremien der Österreichischen PiratInnen vergeblich. Das ist mehr als ein Schönheitsfehler: Es ist ein Zeichen für mangelnden Pluralismus. Schade, denn die Piratenpartei wäre eine Chance für das verkrustete Parteiensystem dieser Republik. Vor allem in Kenntnis der Alternativen, die sich bei der Nationalratswahl 2013 anstellen, um den etablierten Parteien ihre Stimmen und Mandate streitig zu machen.

Der Autor hat Politikwissenschaft und Pädagogik in Wien und Innsbruck studiert und bloggt u.a. zur Piratenpartei auf www.querschrift.me.

Hochschulfremd in Leitungsfunktionen

  • 28.09.2012, 23:46

Die Innsbrucker Pädagogische Hochschule wirbelt Staub auf. Die Bestellung von gleich vier der fünf neuen InstitutsleiterInnen wird im Ministerium geprüft. Die Ausschreibung für diese Leitungsfunktionen steht im Verdacht, gesetzeswidrig zu sein. Kein Einzelfall, sondern ein Mosaikstein in einem System, das nicht einmal die bescheidenen demokratischen Standards der Universitäten erfüllt.

Die Innsbrucker Pädagogische Hochschule wirbelt Staub auf. Die Bestellung von gleich vier der fünf neuen InstitutsleiterInnen wird im Ministerium geprüft. Die Ausschreibung für diese Leitungsfunktionen steht im Verdacht, gesetzeswidrig zu sein. Kein Einzelfall, sondern ein Mosaikstein in einem System, das nicht einmal die bescheidenen demokratischen Standards der Universitäten erfüllt.

Vier der fünf vom Rektor bestellten InstitutsleiterInnen sind hochschulfremde Personen“, beschwert sich eine Lehrende der Innsbrucker Pädagogischen Hochschule (PH). Geht es nach dem Gesetz, hat sie recht mit ihrer Kritik. Die Ausschreibung für die Leitungsfunktionen hatte Rektor Markus Juranek im März diesen Jahres unüblicherweise per E-Mail verschickt, sie liegt PROGRESS vor. Angesprochen fühlen sollen sich laut Ausschreibung alle Lehrerinnen und Lehrer, die bisher an den Pädagogischen Akademien des Bundes oder am Pädagogischen Institut Tirol „im Ausmaß von wenigstens einer Wochenstunde verwendet werden.“ Der Knackpunkt liegt wie so oft im Detail. Laut Gesetz müssen die InstitutsleiterInnen nämlich aus den Reihen des Stammpersonals kommen, die Regierungsvorlage argumentiert das mit der notwendigen Kontinuität.

Ministerium prüft Bestellung. Der Innsbrucker PH-Rektor rechtfertigt sich, es gäbe bei der Bestellung keine Unregelmäßigkeiten. Das Bildungsministerium verweist auf Nachfrage auf das laufende Prüfverfahren, zu dem man keine Auskunft erteilen könne. Bei einem Tirol-Besuch hatte Ministerin Schmied Mitte Oktober das Verfahren und die mögliche Neuausschreibung bestätigt. Wann es abgeschlossen sein wird, konnte sie nicht abschätzen. Die InstitutsleiterInnen haben inzwischen ihre Arbeit aufgenommen. Dazu gehören Aufgaben wie die strategische Entwicklung der PH oder die Evaluierung der Lehrpläne. „Die neuen LeiterInnen werden mit allen PH-Interna vertraut gemacht“, so die eingangs zitierte Lehrende. Sie befürchtet, der ihrer Ansicht nach rechtswidrige Bestellungsvorgang werde mit Verweis auf die langfristigen Aufgaben der LeiterInnen nicht mehr rückgängig gemacht.
Ein anderer Innsbrucker Rektor hat in seiner Eröffnungsrede zu den „Innsbrucker Bildungstagen“ klar zu den Pädagogischen Hochschulen Stellung bezogen. Der neue Leiter der Leopold-Franzens-Universität will, dass die fachliche Ausbildung aller Hauptschul- und GymnasiallehrerInnen gemeinsam an der Universität stattfindet. „Nur hier sind wir am Puls der Zeit und können höchste Qualifikation garantieren“, so Karl-Heinz Töchterle. Das würde eine Neuordnung der LehrerInnenausbildung bedeuten, die schon der Rechnungshof im Jahr 2005 in seiner Stellungnahme zum Gesetzesentwurf für die Pädagogischen Hochschulen favorisiert hatte. SPÖ-Bildungssprecher Erwin Niederwieser mutmaßte sogar, die Innsbrucker PH könne in die Bildungswissenschaftliche Fakultät der Stammuniversität integriert werden.

Entpolitisierung: fehlgeschlagen; Akademisierung: verpasst. Das Innsbrucker Chaos macht eine neue Diskussion über die Struktur der Pädagogischen Hochschulen notwendig. Eines der stärksten Argumente für deren Einführung waren die Akademisierung und die Entpolitisierung. Die Besetzung des Hochschulrats, der die wichtigsten Entscheidungen von der Festlegung der Lehrpläne bis hin zur Erstellung des RektorInnen-Dreiervorschlags trifft, zeigt ein fragwürdiges Verständnis von Entpolitisierung. Im fünfköpfigen Gremium sitzen drei Mitglieder, die vom Ministerium bestellt werden, der oder die amtsführende LandesschulratspräsidentIn und ein von der Landesregierung bestelltes Mitglied.
An der Universität ist das anders. Das Pendant des PH-Hochschulrats, der Universitätsrat, darf laut Gesetz nicht mit derzeitigen oder ehemaligen (rückwirkend für die letzten vier Jahre) Mitgliedern der Bundes- oder Landesregierung, des Nationalrats und Angestellten einer Partei besetzt werden. Die Mitglieder des Universitätsrats werden zu gleichen Teilen von der Bundesregierung und vom Uni-Senat bestellt. Hier könnten die PHs alleine schon deshalb „nicht mit“, weil es keinen Senat gibt, in dem Mitglieder der Studierendenvertretung, des universitären Mittelbaus und der ProfessorInnen sitzen. Ein erhebliches Manko, das zeigt, dass die PHs in der Frage der internen Mitbestimmung nicht akademisiert wurden.
Ganz neu sind diese Kritikpunkte nicht. Schließlich waren 2005 von den 38 Stellungnahmen zum Entwurf des PHGesetzes 30 negativ. Selbst die Bundesleitungskonferenz der Pädagogischen Institute kritisierte die „monokratische, auf den Rektor ausgerichtete Struktur“. Der Katholische Familienverband übte vor allem Kritik an der politischen Gewichtung des Hochschulrats, diese entspreche nicht der universitären Autonomie. Eine universitäre Einrichtung würden die Pädagogischen Hochschulen nicht, prognostizierte die Österreichische Rektorenkonferenz. Vielmehr bedeute der Entwurf eine „Fortschreibung des status quo“. Ähnlich die Arbeiterkammer: Das PH-Gesetz bringe keine Qualitätssicherung mit sich, die „akademischen Elemente einer Universität“ fehlen. Die Opposition sprach von Etikettenschwindel und von einer „Türschildpolitik“.

Studienqualität bleibt bescheiden. Die Studierenden sind massiv von der Debatte über die PHs betroffen. Die Gleichstellung von Hauptschul- und GymnasiallehrerInnen ist nach wie vor nicht in Sicht. Zu unterschiedlich bleibt die Ausbildung. Das schlägt sich im Job dann am Lohnzettel nieder. Dafür ist der Zugang zu den PHs schwieriger als zum Lehramtsstudium. Zugangsbeschränkungen können PH-RektorInnen nämlich per Verordnung beschließen, dafür gibt es keinerlei Kriterien.
Das Chaos an der Innsbrucker PH, das sich auch auf das Klima an der Hochschule und damit auf die Qualität des Studiums niederschlägt, kommt nicht von ungefähr. Eine Struktur, die den RektorInnen völlig unverhältnismäßige Rechte einräumt, sorgt naturgemäß für Unruhe unter den Lehrenden und Studierenden. Die Stellungnahmen zum Gesetzesentwurf zeigen: Auch ohne den Innsbrucker Sonderfall der fragwürdigen Besetzung von Spitzenfunktionen haben PHs das Etikett „akademisch“ nicht verdient. Das geht hauptsächlich zu Lasten der Studierenden, die nicht von der vermeintlichen Hochschulwerdung profitieren, zusätzlich noch unter den Folgewirkungen der undemokratischen Struktur leiden. Für die Innsbrucker PH kann man nur auf eine Neuausschreibung der Institutsleitungsfunktionen hoffen. Langfristig brauchen die Pädagogischen Hochschulen ohnehin eine Generalsanierung ihrer rechtlichen Grundlagen unter Einbindung der Lehrenden und der Studierenden.

Paul Aigner studiert Politikwissenschaft und Pädagogik in Innsbruck.

Pufferzone zum Arabischen Frühling

  • 28.09.2012, 00:34

Was das Mittelmeer im Süden ist, ist die Türkei im Osten: Hier muss durch, wer nach Europa will.

Was das Mittelmeer im Süden ist, ist die Türkei im Osten: Hier muss durch, wer nach Europa will.

Ungefähr so groß wie St. Pölten ist Reyhanli, die südosttürkische Grenzstadt, an deren Rand eines der drei großen Auffanglager für syrische Flüchtlinge steht. 25.000 SyrerInnen sind in den drei Lagern untergebracht, die Erdogans Republik zur Verfügung stellt. Um dauerhaften Aufenthalt geht es bei diesen Flüchtlingen nicht. Sie sind Spielball der internationalen Politik, in der das NATO-Mitgliedsland Türkei sich eine immer gewichtigere Rolle erarbeitet. Einem Syrer hat die Türkei dagegen Asyl angeboten: dem syrischen Diktator Bashar al-Assad. Ein Detail am Rande, das verdeutlicht, dass sich die Türkei als Maklerin der Interessen zweier Welten - jener der Europäischen Union im Westen und jener der instabilen Regimes im Osten - positionieren will.

Das zeigt auch eine andere Geschichte aus Reyhanli: NGOs und JournalistInnen war der Zutritt zu den Flüchtlingslagern bisher verboten. Weil die Türkei sich noch nicht endgültig entschieden hat, auf wessen Seite sie im syrischen Konflikt steht, will sie nicht, dass zu viele Geschichten der Flüchtlinge an die Öffentlichkeit kommen, sagt Senay Özden, Migrationsforscherin an der Istanbuler Koc Universität. Ein Regimewechsel in Syrien mischt die Karten der gesamten Region neu: Von Teheran bis Gaza und von Manama bis Bagdad wird nichts mehr so sein, wie es war, wenn Assad fällt. Wenn sich allerdings der UN-Sonderbeauftragte für Syrien ankündigt, muss die Türkei die Tore zu den Lagern öffnen. Mit Kofi Annan kommen JournalistInnen, deren Berichte von syrischen Flüchtlingen einen neuen Blickwinkel auf den Konflikt ermöglichen. Es ist ein diplomatisches Schachspiel.

EINWANDERUNGSLAND TÜRKEI. Die Europäische Union braucht Erdogans Republik in der Flüchtlingsfrage ganz unabhängig von der akuten Situation in Syrien als Partnerin. Die Türkei ist längst vom Auswanderungs- zum Einwanderungs- und Transitland geworden. Für europäische Anti-Einwanderungs-HardlinerInnen ist sie die letzte Befestigung vor den Toren der Union. Die Zahl der Flüchtlinge, die sich in der Türkei beim UNO-Flüchtlingsrat um Asyl beworben haben, stieg von 2006 bis 2008 von 4500 auf 12.980. Und das war vor dem Arabischen Frühling. Für Flüchtlinge aus Asien und Afrika kommt erschwerend hinzu, dass in der Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention, die weitreichenden Asylschutz bietet, nur für Schutzsuchende aus Europa gilt. Dennoch: In der türkischen Asylpolitik haben Zivilgesellschaft, NGOs und der UNHCR zuletzt entscheidende Fortschritte erkämpft. Zwar müssen Asylberechtigte nach wie vor in zugewiesene Städte weit entfernt von den Metropolen Istanbul und Ankara ziehen und haben dort eine Melde- und Residenzpflicht. Aber sie bekommen seit 2008, zumindest am Papier, eine Grundversorgung und den Anspruch auf medizinische Behandlung.

Damit der Druck auf die türkische Regierung wächst, alle Flüchtlinge gleich zu behandeln, braucht es eine Öffentlichkeit für deren Lage und Interesse an ihren Geschichten. Bis dahin fließt aber noch viel Wasser durch den Bosporus. Denn für die Regierung Erdogan steht im Vordergrund, internationales Profil zu gewinnen und sich in Bezug auf die wackelnden Diktaturen an ihren Ostgrenzen möglichst alle Optionen offenzuhalten.

Paul Aigner studiert Pädagogik in Innsbruck und ist derzeit Praktikant beim Kulturverein „diyalog“ in Istanbul.