Olja Alvir

Licht ins Dunkel

  • 23.10.2014, 01:18

Für gemeinnützige Zwecke auf der Straße Spenden zu sammeln ist ein typischer Studi-Job. Doch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und unmoralische Sammelmethoden rücken NGOs in eine fragwürdige Ecke.

Für gemeinnützige Zwecke auf der Straße Spenden zu sammeln ist ein typischer Studi-Job. Doch ausbeuterische Arbeitsbedingungen und unmoralische Sammelmethoden rücken NGOs in eine fragwürdige Ecke.

„Hallo! Hallo! Ja, genau du! Du hast doch sicher eine Minute für den Tierschutz, oder?!“

Wer sich zu Semesterbeginn in Uninähe oder auf belebten Plätzen und Einkaufsstraßen aufhält, dem ist diese Art von Werbung nicht fremd. Keiler*innen, die an öffentlichen Plätzen Spenden, Unterschriften oder Mitgliedschaften für eine NGO sammeln, sind fixer Bestandteil des Stadtbildes geworden. Im Sommer und Herbst hat aber nicht nur das Werben Hochsaison, auch die Stellenanzeigen im Bereich des sogenannten Face-to-Face-Fundraisings sind insbesondere zu Studienbeginn nicht zu übersehen. Für viele Studierende ist Promotor*in (auch Fundraiser*in oder Keiler*in genannt) der perfekte Nebenjob: flexibel, an der frischen Luft und obendrein noch für den guten Zweck. Was die meisten jedoch nicht wissen: Promotor*innen sind in der Regel gar nicht bei der jeweiligen NGO, sondern bei einer Agentur angestellt. Das bringt viele Nachteile mit sich und macht den Studi-Job prekärer und problematischer als zunächst gedacht.

Wer im Bereich Promotion arbeitet, lebt nämlich von der Provision und nicht von einem fixem Gehalt. Zwar erhalten Promotor*innen ein Fixum, dieses ist aber so niedrig, dass sie von der Provision abhängig sind: Laut Angaben von NGOs und (Ex-)Promotor*innen liegt das Fixum zwischen 3,50 Euro bis 6,25 Euro pro Stunde. Die Höhe der Provision ist wiederum abhängig von der Höhe der Spende und vom Zeitraum, über den Spender*innen Geld locker machen. Manchmal wirken sich auch Parameter wie das Alter und die Einkommenssituation der Spender*innen auf die Provision der Promotor*innen aus. Ein solches Bezahlungsmodell übt Druck auf die Promotor*innen aus. Sie lernen in teils mehrtägigen Schulungen, wie sie möglichst schnell und effektiv an qualitativ hochwertige Spender*innen herankommen. Ein Blick auf die Webseiten von Promotion-Agenturen wie Face2Face Fundraising, DialogDirect oder Direct Mind zeigt: Ausnahmslos jede bekannte NGO arbeitet oder arbeitete für die Spendenbeschaffung mit Agenturen zusammen: Greenpeace, Global 2000, Vier Pfoten, Ärzte ohne Grenzen, Rote Nasen, Volkshilfe, SOS- Kinderdorf, Caritas und viele, viele mehr. Aber auch zahlreiche kleinere und nur lokal aktive Organisationen finden sich in den Klient*innenlisten.

Der Großteil der Agenturen stellt Promotor*innen geringfügig über einen freien Dienstvertrag an. Freie Dienstverträge werden zurecht wegen ihrer Unsicherheiten kritisiert. Das Arbeitsrecht und seine Schutzbestimmungen gelten hier nicht. Freie Dienstnehmer*innen haben keinen Anspruch auf Urlaub und Krankengeld und es gibt keine Regelungen für Mindestlöhne. Die Verträge enthalten außerdem oft Verschwiegenheitsklauseln, die es (Ex-) Promotor*innen verunmöglichen, über ihre frühere Arbeit zu sprechen. Daher haben wir die Namen unserer Interviewpartner*innen teilweise geändert.

Foto: Christopher Glanzl

Nicht abwimmeln lassen! Die 25-jährige Nina O. (Name der Redaktion bekannt) ist zur Zeit freiberufliche Mediendesignerin in Graz. Im Jahr 2010 fing sie an, für Greenpeace als Keilerin zu arbeiten. „Ich wollte damals vor allem einfach meine Miete bezahlen. Außerdem hatte es für mich einen Beigeschmack davon, etwas Gutes zu tun.“ Das „Vorstellungsgespräch“ gestaltete sich als Wettkampf zwischen 50 Leuten: „Wir bekamen Klemmbretter und wurden zu unterschiedlichen Plätzen in Graz geschickt, wo wir drei Stunden Zeit hatten, so viele Unterschriften wie möglich für ein Projekt von Greenpeace zu sammeln. Wir waren auf uns allein gestellt und mussten gegeneinander arbeiten.“ Danach große Enttäuschung, Ärger und Schimpfen: Wie konnten die Bewerber*innen in drei Stunden nur so wenige Unterschriften sammeln? Trotz der harschen Kritik wurde Nina aber eingestellt. Beim nächsten Treffen fand eine Schulung statt. Geübt wurde, das Produkt – also den Spendenvertrag – zu verkaufen. Nina erzählt, dass den zukünftigen Keiler*innen eingetrichtert wurde, „dranzubleiben“, sich nicht „abwimmeln zu lassen“ und die Leute „nicht in Ruhe zu lassen“. Zu den Verkaufstechniken zählte auch, Passant*innen ein schlechtes Gewissen zu bereiten und diese aufgrund von Äußerlichkeiten zu kritisieren. Nina dazu: „Uns wurde immer wieder angeschafft, bei rauchenden oder dicken Menschen zu sagen, dass sie lieber weniger essen oder rauchen und stattdessen der Umwelt helfen sollten. Ich habe diese Strategie nicht angewandt, ich fand es ekelhaft und falsch so etwas zu sagen.“

Der Villacher Geschichte-Student Gregor Z. (Name der Redaktion bekannt) hat nur dreieinhalb Tage als Keiler für Global 2000 ausgehalten: „Es war irrsinnig anstrengend, ständig fröhlich und enthusiastisch zu tun.“ Gregor versuchte, den Job als Verkaufstraining und kleine Schauspielausbildung zu sehen. Außerdem gab es Verlockungen: „Es wurde unterschwellig kommuniziert, dass es für besonders gute Keiler*innen Belohnungsfahrten nach Ägypten oder Tunesien gibt. In den Unterlagen gab es Fotos von in Swimmingpools cocktailtrinkenden Menschen.“ Desillusioniert kündigte Gregor, als er beobachtete, wie ein besonders erfolgreicher Kollege zu den vielen Spenden pro Tag kam: „Er suchte sich gezielt sehr alte Menschen aus und solche, die vielleicht inhaltlich nicht mehr ganz mitkamen und erzählte ihnen, sie würden damit ihren Enkeln helfen, ihrer Familie Geld geben.“

Solche fragwürdige Strategien gibt es im Bereich Promotion leider zuhauf. In sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter kommen Beschwerden auf. Manche berichten davon, dass ihr Äußeres kommentiert oder sie angeflirtet wurden, andere haben Erfahrungen mit Promotor*innen, die ihnen ein schlechtes Gewissen machen wollten. Twitter-Nutzer*innen erzählen, mit der Frage konfrontiert worden zu sein, ob sie denn „keine Kinder mögen“, weil sie nicht für eine bestimmte NGO spendeten und von Beschimpfungen seitens hartnäckiger Keiler*innen, wenn sie sich gegen aufdringliches und grenzüberschreitendes Verhalten wehrten.

Sexuelle Belästigung. Weiters spricht die positive Bezugnahme von Pick-Up-Artists nicht unbedingt für die von Promotion verwendeten Methoden. Diese selbsternannten „Künstler“ geben einander in Vorträgen, YouTube-Videos und Online-Foren Tipps, wie man Frauen möglichst schnell, effektiv und ressourcensparend näher kommt, um mit ihnen Sex zu haben. Dabei sind Erniedrigung, psychologische Tricks und Machtspielchen fixe Bestandteile im rhetorischen Repertoire der Artisten. User „roolio“ empfiehlt im pickupforum.de jüngeren Anmachkünstlern, als Fundraiser zu arbeiten, weil es „ein echt gutes Rhetorik-Training“ sei und man „viele hübsche HBs (Anm.: „Hot Babes“)“ als Kolleginnen habe. Pick-Up-Foren fallen seit einigen Jahren als Treffpunkt misogyner Männer auf.

Die Wiener Jus-Studentin Judith S. (Name der Redaktion bekannt) hat schon viele schlechte Erfahrungen mit männlichen Promotoren gemacht: „Sie lauern dir auf, wenn du nicht weg kannst – zum Beispiel, wenn du gerade in einer Reihe stehst oder bei der Ampel wartest.“ Judith erzählt, dass sie als Frau von Promotoren systematisch angeflirtet oder auf ihr Aussehen – Haare, Augen, Kleidungsstil – angesprochen wird. Die Promotoren gehen so auf sie zu, dass sie schlecht ausweichen kann. „Ich bin mir sicher, dass die Promotor*innen gezielt auf solches Verhalten geschult werden“, sagt Judith, die derartige Belästigung bereits von Promotoren vieler verschiedene NGOs miterlebt hat.

Aggressive Sammelei. Beim Geld sammeln aufdringlich sein: Promotor*innen dürfen es jedenfalls. Währenddessen gibt es aber in vielen österreichischen Städten Verbote von „aggressiver Bettelei“. Woher kommt diese Doppelmoral? Das Keilen bzw. Spendensammeln ist in Wien im Sammlungsgesetz geregelt. Erlaubt sind Sammlungen für gemeinnützige Zwecke; um Bewilligung muss vorher beim Magistrat angesucht werden. Betteln wird als Sammlung für einen eigennützigen und nicht gemeinnützigen Zweck definiert und fällt daher nicht in diese Regelung. Ferdinand Koller von der Wiener Bettellobby meint hierzu: „Wir kritisieren hier die ungleiche Behandlung durch den Gesetzgeber, denn es gibt kein Verbot von aufdringlichem Keilen, von aufdringlichem Betteln allerdings schon. Es handelt sich aber hierbei um exakt dieselbe Tätigkeit.“ Einzuwenden wäre auch, dass die Agenturen, bei denen Promotor*innen angestellt sind sowie die Promotor*innen selbst sehrwohl eigennützig handeln: Es geht schließlich um Lohn und Profit. „Das eine ist eben sozial erwünscht und gesellschaftlich akzeptiert, das andere nicht“, sagt Koller. Er verurteilt die Doppelstandards in der „Branche“: „Wenn Kinder betteln, wird gleich von organisierter Kriminalität und Gefährdung des Kindeswohls gesprochen. Doch wenn für die Roten Nasen und den Stephansdom Kinder sammeln, gibt es diese Bedenken nicht.“ Derartige Gesetzgebung kann nur als rassistisch und ohnehin schon marginalisierten Bevölkerungsgruppen gegenüber diskriminierend bezeichnet werden. Diesen Missstand thematisieren und den Spieß umdrehen möchte die Kampagne „Stell dich nicht so an – Stell mich an!“, die vom Verein Goldenes Wiener Herz im Rahmen der Wienwoche gestartet wurde. Mit online gesammelten Spendengeldern stellte der Verein sechs Bettler*innen im September und Oktober fix ein, um auf der Straße als Promotor*innen auf die Schikanen, die mediale Verunglimpfung und Kriminalisierung bettelnder Menschen aufmerksam zu machen: komplett mit Klemmbrett, Foldern, neonfarbenen Jacken und Kapperln.

Foto: Christopher Glanzl

Menschen- und Arbeitsrecht. Zwei NGOs, die sich im Bereich Straßenwerbung für einen anderen Weg entschieden haben, sind Amnesty International und WWF. Bis 2009 arbeiteten sie zusammen mit Agenturen, dann holten sich Amnesty und WWF das Werbetool ins Haus und die Arbeitsgemeinschaft AIWWF war geboren. Nun ist es möglich, dass 100% der Spenden direkt an die beiden NGOs fließen, der Umweg über eine Agentur, die als Unternehmen auf Profit angewiesen ist, fällt weg. Alexander Obermayr von AIWWF ist besonders stolz auf dieses Alleinstellungsmerkmal in der österreichischen Fundraising- Landschaft. Er betont außerdem die Bedeutung von Arbeitsrechten für AIWWF-Mitarbeiter*innen: „Als Menschenrechts-NGO wäre es absurd, arbeitsrechtliche Standards nicht einzuhalten.“ Deswegen stellt AIWWF ihre Mitarbeiter*innen bewusst nicht über freie Dienstverträge an, sondern legt auf feste Angestelltenverhältnisse und damit verbundene Vorteile wie das 13. und 14. Monatsgehalt, Urlaubsanspruch und Krankengeld wert. Hätte man weiter mit einer Agentur zusammengearbeitet, wäre das in dieser Form nicht möglich gewesen, ist Obermayr überzeugt.

Kathi L. (Name der Redaktion bekannt) studiert an der Universität für Bodenkultur in Wien und ist 22 Jahre alt. 2013 arbeitete sie ein halbes Jahr lang für Amnesty International und WWF. Als einfache Keilerin habe Kathi „in guten Monaten“ etwa 800 Euro bei 16 Wochenstunden verdient. „AIWWF arbeiten mit einem Punktesystem, wo dein Gehalt davon abhängt, wie viel die Personen spenden, wie alt die Personen sind und wie viel du insgesamt im Monat an Spenden lukrierst“, erklärt Kathi. „Es gibt kaum einen Job, bei dem du als unqualifizierte Arbeitskraft derart gut verdienen kannst.“ Als Teamleiterin habe sie einmal bei einer 32-Stunden-Woche sogar 3500 Euro Monatsbruttogehalt gehabt: „Als Leiterin verdienst du eben auch an jedem Spendenvertrag mit, die deine Kollegen abschließen.“ Länger als ein halbes Jahr hat Kathi die Keilerei aber nicht ausgehalten. „In den Sommermonaten herrscht doch ein ziemlicher Druck. Es ist ein psychisch und physisch sehr fordernder Job und ich habe einfach gemerkt, dass ich das körperlich nicht mehr schaffe“, erzählt die junge Studentin, die zwar von Profit und Persönlichkeitsentwicklung spricht, den Job aber auch nicht unbedingt als Nebenjob weiterempfehlen würde.

Qualität und Quantität. Im Rahmen der „Qualitätsinitiative Fördererwerbung“ hat der Fundraising Verband Austria gemeinsam mit allen wichtigen NGOs Richtlinien für das Face-to-Face-Fundraising ausgearbeitet. Unter die Qualitätsstandards fällt beispielsweise respektvoller und höflicher Umgang; das Gespräch soll jederzeit auf Anfrage beendet werden. Verantwortlich für die Einhaltung dieser Vorgaben ist die jeweilige NGO, sie muss vor dem ers ten Werbegespräch eine Schulung mit fix definierten Grundinhalten durchführen. Weiters ist klar geregelt, wie mit eventuellen Beschwerden umzugehen ist. Der Fundraising Verband Austria hat dafür eine eigene Ombudsstelle eingerichtet. Falls Passant*innen eine unangenehme Situation mit Promotor*innen erleben, haben sie die Möglichkeit, sich an die Ombudsstelle zu richten (fundraising.at).

Zusammengefasst: Deine Spendengelder fließen von der Straße teilweise direkt in die Taschen von Agenturen, die Menschen prekär beschäftigen und mit unethischen Methoden ihr Geschäft machen. Betteln hingegen wird gesellschaftlich geächtet und kriminalisiert. Eine Frage konnte uns während unserer Recherchen von keiner NGO beantwortet werden: Wie sind Gewinne für Agenturen, Belästigung und ausbeuterische Arbeitsverhältnisse mit den moralischen Ansprüchen karitativer Organisationen zu vereinbaren? „Ich würde überhaupt nie für eine NGO spenden, die mit Keiler*innen arbeitet“, schließt zum Beispiel Twitter-Userin @ponypost nach Beschwerden, die gegen SOS-Kinderdorf laut wurden. Da wird sie in Österreich aber wenig Auswahl haben.

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.
Sonja Luksik studiert Politikwissenschaft an der Universität Wien.

„Es war wie eine Mischung aus der Schachnovelle und dem Prozess“

  • 11.07.2014, 17:20

Ein Lehrstück der Repression: Gregor S. schildert seine Festnahme bei #blockit, Haft und all jenes, was (auch friedliche) Demonstrant*innen in Wien zu erwarten haben

Ein Lehrstück der Repression: Gregor S. schildert seine Festnahme bei #blockit, Haft und all jenes, was (auch friedliche) Demonstrant*innen in Wien zu erwarten haben

Am 17. Mai marschierten etwa 100 internationale Mitglieder einer jungen rechten Bewegung durch Wien. Sie nennen sich „die Identitären“, sorgen sich um die ethno-kulturelle Reinheit ihrer Nationen und schwingen gelb-schwarze Fahnen. Mit Slogans wie: „More border, more nation, stop immigration!“ wollten sie die Wiener Mariahilferstraße hinunter ziehen.

Der Verein „Offensive gegen Rechts“ rief in Folge zu einer Gegendemonstration auf. progress online berichtete in der Fotostrecke Kampf um die Straßen Wiens.

200 der ungefähr 400 antifaschistischen Gegendemonstrant*innen haben nun Anklagen zu befürchten. Darunter auch Gregor S*.

Der junge Mann aus Wien war bei der Demonstration gegen die neuen Rechten dabei, weil er nicht mitansehen wollte, „wie im Jahre 2014 Faschisten ungehindert mit ihren Parolen durch Wien schreiten“. Er beobachtete die Festnahme einer Frau, die behauptete, schwanger zu sein und um die sich später auch das Gerücht verbreitete, sie hätte wegen Polizeigewalt eine Fehlgeburt gehabt. Gregor S. war auch dabei, als die insgesamt 230,- € Sachschaden durch die Gegendemonstration entstanden (Anmerkung: Der Sachschaden wurde später von der Polizei auf 170,- € revidiert). Er schildert progress gegenüber den Ablauf und beschreibt seine Festnahme und Haft im Rahmen der Gegendemonstrationen, die unter dem Namen und Hashtag #blockit bekannt wurden.

progress online: Herr S., sind Sie gewaltbereit?

Gregor S.: Ich verstehe die Frage nicht. Was bedeutet denn gewaltbereit überhaupt? Eine Person ist entweder gewalttätig oder eben nicht. Dieser absolut schwammige Begriff der „Gewaltbereitschaft“ ermöglicht nur Angstmacherei und Hetze.

Festgenommen wurden Sie jedenfalls, also hat die Polizei Sie als gefährlich eingestuft.

Ich bin ein durchschnittlicher Demonstrationsteilnehmer, der einfach gegen Faschisten auf die Straße gehen wollte.

Gehören Sie zu einer Szene? Anarchos, Punks? Bewegen Sie sich in einem dem Verfassungsschutz bekannten Milieu?

Nicht, dass ich wüsste.

Können Sie die Ereignisse rund um Ihre Festnahme schildern? Wie sind Sie überhaupt im Douglas-Geschäft, wo der Sachschaden entstanden ist, gelandet?

Gegen Ende der Demonstration hieß es, dass wir zum Rathausplatz gehen. Die Polizei hatte angefangen, einzelne Gruppen einzukesseln bzw. ihnen nachzulaufen – so landeten wir in der Josefstädterstraße. Hinter uns war ein ziemlich großer Polizeitrupp, der das Pfefferspray schon in der Hand bereit hielt, also rannten wir weiter.

Wurden irgendwelche Dinge nach der Polizei geworfen? Diese in irgendeiner Form angegriffen?

Nein, wir liefen nur davon. Jemand schmiss dabei hinter sich ein Absperrgitter um, um die Polizei-Gruppe zu verlangsamen. Das war’s dann aber auch.

Was passierte weiter in der Josefstädterstraße?

Aus der anderen Richtung kam uns ein weiterer Trupp entgegen, wir waren also umzingelt. Daraufhin liefen ungefähr 30 Leute in das Douglas-Geschäft in der Nähe. Die Polizei hat uns quasi hineingetrieben – wir hatten Angst vor dem Pfefferspray. Es gab unter den Demonstrant*innen in dieser Situation Panik. Dabei ist ein Ständer mit Sonderangeboten oder Ähnlichem im Geschäft umgefallen bzw. umgeworfen worden. Das ist, denke ich, der Grund, warum es gegen uns alle Verdacht auf Sachbeschädigung gab. 

Das waren also die 230€ Sachschaden? Ein Ständer in einer Drogerie?

Ja. Für eine Parfumerie ist das gar nicht mal so viel, ein paar Flaschen am Boden. Das war jedenfalls die Szene, die in den Medien als „Verwüstung eines Lokals in der Josefstädterstraße“ herumgereicht wurde.

Wie hat die Polizei die Lage unter Kontrolle gebracht?

Größtenteils durch Einschüchterung. Sie zerrten uns heraus und legten oder setzten uns auf den Gehsteig. Einem Demonstranten wurden sogar kurz Handschellen angelegt.

Wart ihr vermummt, geschützt?

Nein.

Wie viele Männer und wie viele Frauen waren unter den Festgenommenen aus der Parfumerie?

Ich habe nicht nachgezählt und kann mich daher nicht genau erinnern – es waren aber auf jeden Fall mehr Frauen als Männer. Die Polizei war übrigens ausschließlich männlich. Die Frau, von der es nachher hieß, sie hätte eine Fehlgeburt gehabt, war ebenfalls dabei. Ich beobachtete, wie es zum Konflikt zwischen dieser Frau und den Polizisten kam, als sie abgeführt werden sollte. Sie stand fünf Beamten gegenüber, die sie anbrüllten. Von der Seite kamen mehr Polizisten dazu, einer packte sie an der Schulter und riss sie um. Sie fiel bäuchlings auf den Boden und der Polizist landete auf ihr. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Frau und mehrere andere Demonstrant*innen versucht, der Polizei klarzumachen, dass sie schwanger sei.

Wie hat die Polizei auf diese Information reagiert?

Zunächst gar nicht. Nach einer Weile, als auch zwei andere Demonstrant*innen eine Panikattacke hatten – eine davon war 14 Jahre alt – rief die Polizei dann die Rettung.

Wie traten die Polizist*innen Ihnen und den anderen Teilnehmer*innen gegenüber auf?

Die Polizei war grundlos sehr aggressiv. Beschwerden oder eben Panikattacken belächelte sie. Die Demonstrant*innen wurden unnötig rau behandelt, die Polizisten wurden persönlich beleidigend. Sie brüllten uns ununterbrochen an. Chaoten, Zecken und Vandalen schimpfte uns etwa ein Polizist. Es schien mir, als würde er völlig durchdrehen und nur darauf warten, uns zusammenzuschlagen. Nachdem ich ihn bat, sich etwas zu beruhigen, wurde ich auf den Boden geworfen und weiter beleidigt: „Bleib unten, G’schissener!“

Was ist weiter passiert? Wie ging die Festnahme vor sich?

Männer und Frauen wurden zunächst getrennt. Personaldaten wurden aufgenommen, wir wurden durchsucht und man nahm uns alle persönlichen Gegenstände ab. Dann führten Polizisten die Menschen in kleinen Gruppen ab. Ich weiß nicht genau, wie viele Menschen in so ein Polizeiauto passen – jedenfalls gibt es in so einem Bus mehrere getrennte Abteile, in die die Demonstrant*innen einzeln eingesperrt werden.

Wie sieht es in diesen Zellen im Polizeiauto aus?

Sie sind ganz weiß und es gibt eine Überwachungskamera. Es gibt keine Gurte – eine Vollbremsung wäre sehr gefährlich. Es gibt auch keine Möglichkeit, sich festzuhalten, es ist ein ganz steriler kleiner Raum mit einer kleinen Bank. Genau so, wie es immer in den Filmen in aussieht, wenn vermeintlich Verrückte in eine Zelle kommen.

Wohin ging es mit dem Auto?

Man fuhr uns ins Anhaltezentrum Roßauer Lände. Dort wurden wieder alle einzeln herausgeführt. Ich wurde am längsten im Auto sitzen gelassen – vielleicht, weil ich darin herumgetrommelt und Lärm gemacht habe.

Was ist dann der konkrete Vorgang im Anhaltezentrum?

Zuerst gibt es eine Leibesvisitation in einer größeren Eingangshalle. Ich musste Hemd, Gürtel und Schuhe ausziehen, wurde genau abgetastet – das passierte immer durch einen Beamten in kleineren Kabinen. Dann wurde eine Liste meiner Besitztümer angefertigt, die ich unterschreiben musste. Interessanterweise wurde genau der Gegenstand, den sie mir als Waffe hätten auslegen können – eine recht große Glasflasche – nicht aufgeschrieben. Ich denke, sie haben einfach darauf vergessen. Danach wurde ich von zwei Beamten in den Zellentrakt gebracht und eingeschlossen.

Beschreiben Sie bitte Ihre Zelle.

Der kleine Raum war sehr hoch, gelb gestrichen und hell beleuchtet. Es gab ein Bett, ein vergittertes Fenster, einen Holztisch, ein Waschbecken und einen zerbrochenen Spiegel. Ein WC, das zuletzt vor ungefähr hundert Jahren geputzt wurde; das Wasser, das aus dem Hahn kam, war die ersten zehn Sekunden lang knallgelb. Die Tür war sehr massiv und aus Metall und hatte einen Schlitz, der nur von außen geöffnet werden konnte. Es gab auch eine Gegensprechanlage, die ich von innen nutzen konnte.

Wurde Ihnen irgendwann erklärt, warum Sie festgenommen und in eine Einzelzelle gebracht werden?

Nein. Ich schätze, dass sie zuerst die Einzelzellen füllten, bis keine mehr übrig waren und dann dazu übergingen, andere Zellen mit Demonstrant*innen zu belegen. Meine Rechtsbelehrung an dem Tag: „Sie wissen, dass sie das Recht haben, nicht auszusagen. Sie müssen nix sagen, aber Sie wissen eh, dass das schlecht wäre für Sie.“ Ich fragte mehrere Male, wieso ich festgenommen werde, bekam aber meistens keine Antwort. Erst am Weg zur Zelle sagte mir ein Beamter, dass es Verdacht auf Sachbeschädigung gäbe.

Was machten Sie in der Zelle?

Mir war sehr langweilig, weil es in der Zelle gar nichts zu tun gab und mir alles abgenommen wurde. Ich verschob dann das Bett, um draufzusteigen und aus dem Fenster heraus sehen zu können. Kurz darauf erschien zufällig ein Beamter mit einem medizinischen Fragebogen – es gab in der Zelle keine Kamera. Er fragte mich, was ich da mit ihrem Bundeseigentum aufführte und meinte, dass ich gefälligst runterkommen soll. Ich wurde noch zwei Mal kurz herausgeführt: Ein Arzt maß mir den Blutdruck und es wurden Fotos und Fingerabdrücke gemacht. Mittlerweile weiß ich, dass das mit den Fingerabdrücken wohl nicht einmal erlaubt gewesen wäre.

Woran dachten Sie zu dieser Zeit?

Ich habe nur versucht, nicht wahnsinnig zu werden. Ich grübelte darüber, was wohl passieren würde und ob ich noch am selben Tag heimgehen dürfte. Ich hatte noch nie Erfahrungen mit der Polizei gemacht und war auch sehr schockiert darüber, wie sie bei der Demonstration vorgegangen ist. Ich hatte das nicht erwartet. Ich dachte früher immer, dass Polizist*innen auch nur einfache Menschen seien, die ihren Beruf ausübten. Ich konnte den ganzen Polizeihass davor nicht nachvollziehen. Aber an diesem Tag realisierte ich einiges. Die Polizist*innen agierten willkürlich und wussten genau, dass sie sich alles leisten können. Ich hatte Angst. Ich bin die ganze Zeit nur auf und ab gegangen. Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war…

Hätten Sie nachfragen können?

Wahrscheinlich schon, aber die Polizisten auf der anderen Seite der Gegensprechanlage waren sehr unfreundlich. Ich fragte drei Mal, ob ich nun endlich meine gesetzlich für mich vorgesehenen Telefonate durchführen durfte: „Na, jetzt geht’s ned!“ Sie vertrösteten mich jedes Mal auf die Vernehmung, sagten mir aber nicht, wann diese stattfinden würde. Bei weiterem Nachfragen drohten sie mir damit, noch länger warten zu müssen.

Haben Sie dann im Endeffekt mit jemandem telefoniert? Ihren Eltern, Freund*innen, einem Anwalt?

Nach insgesamt 10 Stunden – das habe ich erst im Nachhinein errechnen können – wurde ich endlich vernommen. Das war kurz nach Mitternacht. Und bei der Vernahme wurde mir abermals deutlich klargemacht, dass einen Anwalt anzurufen die Prozedur verlängern würde: „Sie können jetzt schon telefonieren, aber wir müssen Sie dann wahrscheinlich etwas länger hier behalten…“

Also wurden Ihnen die Telefonate faktisch verweigert. Wie gestaltete sich die Vernahme sonst?

Ungefähr zu Mitternacht wurde ich aus der Zelle geführt. Ich war sehr müde, dehydriert und eingeschüchtert. Ich wurde geistig nicht fertig mit der Situation, ich war irgendwie nicht mehr richtig zurechnungsfähig. Ich kann mich gar nicht mehr wirklich an alles erinnern, ständig wollten irgendwelche Beamten und Formulare etwas von mir. Es war wie eine Mischung aus dem Prozess und der Schachnovelle. Ich habe dann bereitwillig Informationen herausgegeben, die ich wahrscheinlich nicht hätte teilen müssen. Aber ich wollte einfach, dass es endlich vorbei ist, ich war nicht in der Verfassung zu diskutieren. Ich habe der Polizei über die Demonstration dann ungefähr das erzählt, was ich jetzt Ihnen erzählt habe. Der Beamte hat das dann sehr langsam und mit vielen Rechtschreibfehlern für mich am Computer zusammengefasst. Ich wurde gefragt, ob ich „mir vor der Demo etwas eingeworfen“ hätte, weil ich derart gezittert habe. Ich hatte zu dem Zeitpunkt seit sicher mehr als 24 Stunden nichts gegessen. Um 00:45 konnte ich gehen, nachdem ich mir meine Sachen abgeholt hatte, auch die Glasflasche.

 

Gregor S. erhielt eine Anzeige wegen Sachbeschädigung, nach $125 StGB. Er wartet, wie viele am 4. Juni Festgenommenen, sehr lange auf eine Verständigung der Staatsanwaltschaft, ob es zu einem Verfahren kommen würde oder nicht. Nach fünf Monaten dann endlich die Nachricht: Die Ermittlungen gegen Gregor wurden wegen mangelnder Beweislage eingestellt.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien, twittert unter dem Namen @OljaAlvir und hat eine Facebookseite.

In die Erdbeeren gehen

  • 16.06.2020, 20:36
Ohne migrantische Arbeitskräfte wäre die österreichische Landwirtschaft aufgeschmissen. Das wurde während der Pandemie schmerzlich klar, als plötzlich Tausende fehlten. So unverzichtbar sie sind, so misslich ist jedoch ihre Lage.

Etwa 15 bis 20 000 migrantische Erntehelfer_innen arbeiten in Österreich, um die Lebensmittelversorgung zu ermöglichen. Bei Erntehilfe handelt es sich um schwere körperliche Arbeit mit langen Arbeitstagen und -wochen. Die Saisonarbeiter_innen sind unterbezahlt, gesellschaftlich isoliert und genießen kaum rechtlichen Schutz. Vor einigen Jahren wurde deshalb von der Gewerkschaft Pro-Ge, NGOs und linken Aktivist_innen die sogenannte „Sezonieri-Plattform“ für die Rechte von Erntehelfer_innen gegründet. Olja Alvir sprach für progress mit Bernhard Höfler, Gewerkschaftssekretär bei ÖGB-ProGe, über die problematische Geschichte der Erntehilfe und ihren Weg in eine gerechtere Zukunft.

progress: Von der migrantischen Erntehilfe hören wir jetzt wegen der Corona-Reisebeschränkungen viel. Doch schon in den 1990ern arbeiteten viele etwa aus Jugoslawien Geflüchtete als Erntehelfer_innen. Ich kann mich noch erinnern, dass man vom „in die Erdbeeren gehen“ sprach. Es hieß: „Wenn du nichts Besseres findest, kannst du immer noch in die Erdbeeren gehen.“

Bernhard Höfler: Richtig. In den 90ern, mit dem Zerfall Jugoslawiens, kamen viele Menschen nach Österreich, die anfangs als Erntehelfer_innen arbeiteten. Für das Logo unserer Plattform haben wir bewusst die Erdbeere gewählt, als kleinen Hinweis auf diese Assoziationen in der Community. Man sagt das teilweise immer noch so oder ähnlich. Obwohl die Erntehilfe auch Spargel, Marille, und noch so viel mehr umfasst.

Es gibt da historische Kontinuitäten. Seit wann verlässt sich die österreichische Landwirtschaft so stark auf migrantische Arbeitskräfte? Und warum?

Das ist ein Ergebnis der letzten 40 Jahre. Diese Entwicklungen hängen mit dem Wohlstand zusammen: Je höher dieser in Österreich wurde, desto weniger Menschen waren bereit, für wenig Geld am Feld zu arbeiten. Aus welchen Ländern die Erntehelfer_innen kamen, hat sich dann entsprechend im Laufe der Zeit gewandelt. Am Anfang kamen viele aus Polen und der Türkei, dann Jugoslawien und Ungarn. Später Rumänien und Bulgarien. Mit der Zeit stieg auch in diesen Regionen der Wohlstand, weshalb auf andere, ärmere Regionen ausgewichen wurde – ein Dominoeffekt sozusagen. Heute werden die Sezonieri aus dem immer weiter entfernten Osten rekrutiert. Mittlerweile arbeiten Menschen aus der Ukraine und Weißrussland in Österreich am Feld.

Das System ist also angewiesen auf die Armut in den jeweiligen Herkunftsländern der Sezonieri.

Genau, und es ist ein unglaublich fragiles landwirtschaftliches Modell. Wie eine Glasvase. Wenn ein Teil splittert, dann droht das ganze Konstrukt zu zerbrechen. Während der Corona-Krise konnte man das sehr gut beobachten.

„Erntehilfe“ klingt sehr freundlich und positiv, fast einladend. Was ist das eigentlich für eine Arbeit?

Das Wort suggeriert so etwas wie freundliche Unterstützung. Die Realität ist anders. Ich habe das bereits einmal als modernen Menschenhandel bezeichnet. Die Erntehelfer_innen kommen über Personalvermittlungsfirmen zu ihrem Job. Das sind Firmen, die in den Herkunftsländern ihre Büros haben und in wirtschaftlich devastierte Regionen gehen, um dort Menschen für die Erntehilfe zu rekrutieren. Sie liefern die Erntehelfer_innen direkt an die Landwirte, welche die Arbeiter_innen online bei der Recruitingfirma angefragt haben.

Es läuft dann so: Der Erntehelfer aus beispielsweise Cluj, Rumänien, steigt dort in einen Bus ein und muss seinen Pass abgeben. Den bekommt er erst wieder, wenn die Saison beendet ist. Dann arbeitet er monatelang zehn bis zwölf Stunden am Tag in gebückter Haltung für 6,50 bis 7€ netto, sechs bis sieben Tage Woche. Das sind 50 bis 60 Wochenstunden. Manchmal werden sogar die Anfahrtskosten vom ersten Lohn abgezogen. Und es herrscht ein irrsinniger Druck, denn es muss auch eine gewisse Stückzahl verarbeitet werden, die der Handel verlangt. Die Erntehelfer_innen leben währenddessen teilweise vor Ort in Gruppenunterkünften unter mehr als fragwürdigen Bedingungen.

Im Frühling gab es in Österreich aufgrund der Corona-Pandemie so viele Arbeitslose wie zuletzt nach dem zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig werden für die Erntehilfe tausende Menschen aus dem Ausland eingeflogen beziehungsweise eingeschleust; mitunter auch bei für die Reisenden gesundheitsgefährdenden Bedingungen …

In Österreich dürfen Menschen, die Arbeitslosengeld beziehen, AMS-Angebote außerhalb ihrer Berufssparte ablehnen, ohne dass ihnen das Arbeitslosengeld gestrichen wird. Wenn man das geändert hätte und Menschen de facto gezwungen hätte, gewisse Jobs anzunehmen – das hätte eine fatale negative Sogwirkung auf das Sozialsystem und andere solidarische gesellschaftliche Strukturen gehabt. Arbeitslose hätten am Feld weniger bekommen als durch den AMS-Bezug und unterm Schnitt verloren. Das hätte individuelle Armutsspiralen ausgelöst und den Weg für einen weiteren Abbau des Sozialsystems geebnet.

Deshalb bin ich dagegen, den Berufsschutz abzuschaffen und Arbeitslose oder Geflüchtete de facto zur Arbeit am Feld oder anderen schlecht bezahlten Arbeiten zu zwingen. Man macht damit die Büchse der Pandora auf. Da muss man politisch extrem vorsichtig sein. Das würde nur verschiedene verletzliche Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausspielen.

Trotzdem erscheint es befremdlich und auch gefährlich – zuallererst für die Erntehelfer_innen selbst – dass sie mitten in einer Pandemie zusammengepfercht quer durch Europa reisen, damit wir Spargel knabbern können.

Es gab ja auch Versuche, österreichische Arbeitskräfte über eine Online-Kampagne zu rekrutieren. Ich habe das abschätzig als landwirtschaftliche „Datingplattform“ bezeichnet, weil mir von Anfang an klar war, dass das ohne attraktive Rahmenbedingungen nicht funktionieren wird. Es ist ein Wohlstandsproblem: Die Realität der harten Arbeit wird verkannt. Nur ein Bruchteil jener, die sich freiwillig gemeldet haben, haben auch wirklich produktiv als Erntehelfer_innen gearbeitet. Man hätte allerdings als Motivation Steuerfreigrenzen einschieben, attraktivere Löhne oder Arbeitsbedingungen anbieten können – es gäbe genug Möglichkeiten. Doch das wurde nicht getan. Das ist dann der Kontext, in dem dann die ausländischen Erntehelfer_innen geholt wurden. So hat man von beiden Problemen die schlechtmöglichsten Aspekte kombiniert. Die Österreicher_innen sind weiterhin arbeitslos und die Migrant_innen arbeiten hart und unterbezahlt unter gesundheitsgefährdenden Umständen. Eine richtige österreichische Lösung eben.

Kommen wir zurück zu den migrantischen Arbeitskräften. Es kommt immer wieder zu Fällen, wo Erntehelfer_innen nicht ordnungsgemäß für ihre Arbeit entlohnt werden. Wie kann das sein? „Arbeiter_innenrechte, aber nur für unsere Leut‘“, oder wie?

In dem Machtdreieck zwischen Bäuer_innen, Handel und Erntehelfer_innen sitzen die letzteren immer am kürzesten Ast und zahlen drauf. Die Sezonieri-Plattform wurde genau deshalb ins Leben gerufen. Die Erntehelfer_innen sind in einem ausbeuterischen System gefangen. Sie werden über ihre Rechte kaum informiert, zusätzlich haben nicht wenige auch noch Berührungsängste mit der ihnen gegenüber unfreundlich eingestellten Bürokratie, auch Sprachbarrieren kommen dazu.

Was tut Sezonieri konkret, um Abhilfe zu schaffen?

In den ersten paar Jahren bestand unsere Arbeit daraus, den Betroffenen die Angst zu nehmen. Viele Erntehelfer_innen trauten sich nicht, Missstände anzuklagen, weil sie fürchteten, ihren Job zu verlieren. Am Anfang bearbeiteten wir daher alle Beschwerden und Anliegen anonymisiert. Wir haben im Namen der Betroffenen Beschwerden eingereicht und medial Druck ausgeübt. Die Sezonieri-Plattform hat so bereits viele Skandale aufgedeckt und Menschen zu ihrem Recht und zu zurückgehaltenen Löhnen verholfen. Mittlerweile engagieren sich auch viele selbst bei uns. Doch wir beraten und helfen nicht nur individuell Betroffenen, sondern wir nützen die Plattform auch, um auf generelle Probleme in der Landwirtschaft hinzuweisen.

Zum Beispiel?

Österreich könnte, was Lebensmittel angeht, Selbstversorgerin sein. Was davon abhält, ist einzig die in wenigen Handelskonzernen konzentrierte Macht.

Wir sprechen jetzt von Konzernen wie Spar oder der Rewe Group, welcher Geschäfte wie Billa, Merkur und Penny gehören. Sie kontrollieren den Großteil des Einzelhandels in Österreich.

Genau. Diese Konzerne diktieren den Bäuer_innen die Preise. Die Bäuer_innen müssen die Preise der großen Konzerne annehmen, auch wenn sie für sie zu niedrig sind. Denn sonst sagen die Handelsketten einfach: Pech, dann nehmen wir eben noch billigeres Gemüse aus dem Ausland.

Was ja auch von ökologischer Seite her katastrophal ist, weil es mehr Transportemissionen bedeutet.

Es ist eine Wahnsinnsspirale! Jahrzehntelang rief man: „Der freie Mark regelt alles!“ Die Stimmen, die diese Maxime kritisierten, hatten angeblich keine Ahnung von Wirtschaft. Aber heute sieht man insbesondere in diesem Bereich: Der freie Markt hat komplett versagt. Der Handel diktiert Preise, welche aber nicht wirtschaftlich sind. Die Bäuer_innen machen somit schlechtes Geschäft, und die Verluste werden an die Schwächsten weitergegeben: die Erntehelfer_innen.

Wie ließe sich aus dieser Wahnsinnsspirale ausbrechen?

Meiner Meinung nach müssten Grundnahrungsmittel aus dem Preisspekulationsbereich herausgenommen werden. Es sollten Mindestpreise eingeführt werden, die Bäuer_innen das Überleben sichern und die Gewinnmargen des Handels eingrenzen. So etwas Ähnliches gab es bereits vor nicht allzu langer Zeit mit dem Milchpreis. Wenn man es will, dann kann man es.

Wie sieht die Zukunft für die Sezonieri-Plattform aus, welche nun im Rahmen der Corona-Krise mehr Aufmerksamkeit bekommen hat?

Egal von welcher Seite man sich dem Problem nähert – aus der Sicht der Arbeiter_innenrechte, der ökologischen Nachhaltigkeit oder aus der Sorge für die heimischen Bäuer_innen: Die Lösung ist, die Übermacht der Großkonzerne zu zerschlagen und mehr Rechtssicherheit zu schaffen. Dafür setzen wir uns ein. Aktuell sind ja Landwirtschaft und Tourismus in einem Ministerium vereint. Was da für Möglichkeiten bestehen, für Synergien entstehen könnten! Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wenn die jetzige Ministerin den Handel, die Landwirtschaft und den Tourismus – den nächsten großen Player in diesem Bereich – an einen Tisch bekommt und eine gemeinsame Lösung sucht, wäre schon so viel getan. Zum Beispiel: Wenn nur 20% des österreichischen Gemüses an den Tourismus gingen, gäbe es in diesem Bereich eine de facto Vollauslastung. Diese Umsatzsicherheit würde sich, gemeinsam mit rechtlichem und medialem Druck, dann auch in besseren Arbeitsbedingungen für die Erntehelfer_innen widerspiegeln. Und das ist nur eine Idee. Es ist alles möglich, wenn der politische Wille dazu besteht.

OMG, Österreichbezug!

  • 15.12.2014, 11:25

Spiel-Rezension

1895 im Kaiserreich Österreich-Ungarn: Die Herzogstochter Aurora wird krank und findet sich in einem märchenhaften Fiebertraum wieder. Die Spieler*innen schlüpfen fortan in die Rolle des mutigen und entschlossenen rothaarigen Mädchens und versuchen, aus einer geheimnisvollen Welt namens Lemuria zu entkommen und zurück zur Familie zu finden. Zur Hilfe steht Aurora Igniculus, ein kleines Glühwürmchen; ausgestattet ist die kleine Heldin mit einer viel zu großen Krone, die ihr ständig vom Kopf fällt, und einem riesigen Schwert, dessen Handhabung ihr sichtlich Schwierigkeiten bereitet. Nichtsdestotrotz geht Aurora im Laufe der Platform-Adventure viele Kämpfe mit mystischen und teilweise gruseligen Gestalten ein. Die rundenbasierten Auseinandersetzungen stellen sich als richtig schwierige Hürden heraus, was einen schönen Kontrast zur Verträumtheit Lemurias darstellt.

Ohne die Gefährt*innen, die Aurora immer ein Stück weit begleiten, wären die Kämpfe aussichtslos – mit aber leider manchmal auch. So müssen Spieler*innen Side-Quests aufgeben und sich neu in der Welt orientieren, weil sie für den Anfang einfach viel zu schwer sind. Das aber und die teilweise kryptischen Nachrichten, die Aurora in Lemuria findet, wecken in den Spieler*innen einen starken Entdeckungsdrang: Worum geht es hier wirklich?

Bestechend ist bei „Child of Light“ die Tatsache, dass Aurora in Lemuria vorwiegend auf Frauen trifft und dass die Nebencharaktere im Videospiel sehr differenziert ausgearbeitet sind. Sie haben alle eine Hintergrundgeschichte, Eigenheiten (was sich auch in ihren spezifischen Kampf-Fähigkeiten niederschlägt) und einen typischen Humor, der sich etwa in Sprechweisen zeigt. À propos Sprechweisen: „Child of Light“ ist tatsächlich komplett in Versform geschrieben. Alle Spieleanweisungen, Rückblenden, Nachrichten und sogar Dialoge sind kunstvoll gereimt, was dem Spiel aber keinen altbackenen oder verstaubten Anstrich gibt, sondern perfekt zum wasserfarben-träumerischen Artwork passt. Das erste Ubisoft-Videospiel mit Österreichbezug ist dank der sympathischen Heldin, der rätselhaften Story und nicht zuletzt einem hypnotischen Soundtrack die perfekte Begleitung für dunkle Winterabende.

„Child of Light“
Ubisoft
Einzel- oder Mehrspieler*innen für Windows, PlayStation (3, 4 und Vita), Wii U, Xbox (360 und One)
min. 14,99 Euro, max. 24,99 Euro

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

Distanzirkus

  • 12.12.2014, 17:51

Warum das Distanzieren plötzlich derart in Mode gekommen ist und was es wirklich bedeutet.

„Treffen sich zwei Linke und spalten sich“: Seit Neuestem wird dazu bewusst und manipulativ durch eine unvergleichliche Zusammenarbeit zwischen Medien und Rechten angestiftet. Das geschieht durch einen hinterhältigen rhetorischen Trick: die Distanzierungsaufforderung.

Parteien, Organisationen und Unternehmen werden ja regelmäßig dazu aufgerufen, sich von bestimmten Aussagen oder Vorkommnissen zu distanzieren. Das gehört zum gesellschaftlichen Diskurs dazu und ist als Methode gar nicht so originell. So werden auch Rechte regelmäßig aufgefordert, von „Einzelfällen“ in ihren Parteien oder „verbalen Entgleisungen“ Abstand zu nehmen – was sie dann auch mehr oder weniger herzhaft regelmäßig machen (müssen).

Was allerdings derzeit vergleichsweise neu ist, sind die Aufrufe beziehungsweise der vorauseilende Ge- horsam, sich von einer Materie zu distanzieren, die nichts mit einem zu tun hat. So müssen sich neuerdings etwa Parteien und Menschenrechtsorganisationen von den Protesten gegen den Akademikerball und gegen die Identitären distanzieren, obwohl sie weder Organisator*innen noch Teilnehmer*innen der antifaschistischen Demos waren.

Der letzte Schrei

Ein Auszug aus dem aktuellen Programm des Distanzzirkus: Die ÖVP ruft etwa in einer Aussendung dazu auf, „linke Gewalttäter“ zu verurteilen. Prompt antwortet der grüne Bildungssprecher Harald Walser und distanziert sich „von allen Gewaltanwendern“ (außer der Polizei natürlich, die immerhin ein Gewaltmonopol hat). Werner Herbert von den Freiheitlichen Arbeitnehmern formuliert seinen Distanzierungswunsch penibelst vor: „Wir, die Organisatoren der Gegendemonstration von letztem Samstag, distanzieren uns in aller Schärfe von den Ausschreitungen linksextremer, krimineller Gewalttäter“, so der Vorschlag. Und nicht zuletzt appellieren auf Twitter ORF-Journalist*innen an die ÖH, von „Gewaltbereiten“ abzurücken.

Die Distanzierung ist der letzte politische Schrei, wie schon auf die Schnelle durchgeführte Presseagentur- und Mediensuchen zeigen. Zur Erinnerung: Niemand, der jemals in diesen Zusammenhängen zur Distanzierung aufgerufen wurde oder sich distanziert hat, war nachweislich an irgendwelchen „Gewaltexzessen“ oder Scheibeneinschlägereien beteiligt. Niemand. Die Unschuldsvermutung interessiert Medien wie auch die Politik, wenn es um die vermeintlich „kriminelle“ Antifa geht, ja auch gar nicht: Diese ist nur bei namhaften Menschen mit der Bereitschaft und den Möglichkeiten zu klagen, wie Grasser, Strasser und Co., zu beachten.

Distanzierungswut

Die in Österreich als distanzierungswürdig eingestuften Scheibenbrüche werden übrigens wegen den niedrigen Sachschäden und ausbleibender Gewalt in anderen Ländern als „kleine Zwischenfälle“ oder „friedliche Demos“ beschrieben. Die hetzerische Berichterstattung in Österreich und die Diffamierung von friedlichem antifaschistischem Protest als „Gewaltexzess“, „Straßenschlacht“ und „Bürgerkrieg“ heizt die Distanzierungswelle an. Ohne Skandalisierung nämlich keine Distanzierungswut.

Jede und jeder fühlt sich aber nun plötzlich dazu be- und aufgerufen, sich von NOWKR, #blockit und der Ausübung von Demonstrationsrecht generell zu distanzieren – was auch immer das eigentlich in diesem Zusammenhang bedeuten soll. Oftmals erschöpfen sich Kommentare zu wichtigen Themen wie dem Rechtsruck und Antifaschismus lediglich darin, dass Abstand gesucht wird. Ist die brennend aktuelle Materie vielleicht auch einfach zu unbequem? Es ist für politisch Agierende jedenfalls viel einfacher, sich pauschal von irgendwelchen fiktiven Krawallen abzugrenzen, als sich inhaltlich mit den Fragen und den gesellschaftlichen Anliegen auseinanderzusetzen, die antifaschistische Proteste aufwerfen. Eine Distanzierung ist auch eine konsequente Verweigerung, Position zu beziehen.

Zu dieser Nicht-Ortung in der österreichischen Politik gehört meistens auch die fahrlässige und unglaublich fakten- und geschichtsblinde Gleichsetzung von Rechtsextremismus und (in Österreich nicht-existentem) „Linksextremismus“. Dazu kann nur eins gesagt werden: Wer von links und rechts gleich weit entfernt stehen will, befindet sich mitten in der Scheiße.

Jedenfalls führt die hysterische Distanzierungsmode zu einer breiten Entsolidarisierung mit antifaschistischem Protest und seinen Anliegen – eine perfide Strategie der Rechten, auf welche die Medien hereinfallen. Es ist eine enge Zwickmühle, aus der es nur schwer ein Entkommen gibt. Der Populismus ist nämlich eine gut geölte Maschine, die die mediale und politische Rhetorik fest in ihren Zahnrädern mahlt.

Entsolidarisierung

Ein besonders eindrückliches und erschreckendes Beispiel für die Entsolidarisierung war etwa die Kundgebung gegen den Putin-Besuch in Wien am 24. Juni: Die Organisator*innen der Demo gegen die homophobe Politik Russlands hatten die Antifa dezidiert ausgeladen – eine Antifa, die immer auch für die Rechte von Homosexuellen auf die Straße gegangen ist und sich – im Falle der Regenbogenparade etwa – dafür sogar festnehmen ließ.

Sich von Dingen zu distanzieren, die nichts mit einem zu tun haben – etwa zu Bruch gegangenen Scheiben – ist entbehrlich. Distanzieren muss oder kann man sich nur von Dingen, die man selbst angestellt hat oder für die man namentlich bürgt. In Österreich grenzt eine Distanzierung vom Antifaschismus an ein Verbrechen. Immerhin steht der antifaschistische Grundkonsens der Zweiten Republik trotz aller rechten Polemik mahnend im Raum. Trotzdem wird etwa in Interviews und Fernsehdiskussionen ständig zur Distanzierung gedrängt und selbstständig darauf hingestürmt.

Somit entgeht dem Antifaschismus in Österreich die Solidarität und Unterstützung einer breiteren Mitte. Es entsteht eine tiefe Kluft zwischen jenen, die für den Antifaschismus auf die Straße gehen, und jenen, die diesen prinzipiell oder zumindest feigenblättrig unterstützen würden. Diese Entsolidarisierung ermöglicht eine immer stärkere Kriminalisierung von Antifaschismus, eine Diffamierung aller, die ihr Demonstrationsrecht wahrnehmen, und absurde Polizeigewalt und -strategien. Um diese Entwicklung zu stoppen, müssten Journalist*innen und Medien aufhören, ständig zur dieser gesellschaftlichen Spaltung aufzurufen.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

                               

                       

               

 

Vom Wahren, Schönen und Guten

  • 11.12.2014, 12:34

Sechs Annäherungsversuche an unser Dossier-Thema: „Back to the roots - Von der Sehnsucht nach Ursprüngen, Natürlichkeit und Authentischem“.

J-Law is the law

America’s Next Sweetheart: Jennifer Lawrence. Den meisten bekannt in ihrer Rolle als Katniss in der Verfilmung der „Hunger Games“-Trilogie – oder von ihrer Oscar-Annahmerede, die sie prompt mit einem Stolperer und einem Fall auf die Stufen eröffnete. Die 24 Jahre junge Schauspielerin ist wohl das größte Talent, das Hollywood in den letzten Jahren gesehen hat. Spannenderweise wird sie nicht nur für ihre ausgeprägte Verstellungskunst gefeiert, sondern insbesondere auch für ihre unmittelbare Art etwa während Interviews und Red-Carpet-Auftritten. Sie schneidet Grimassen, photobombt, stößt mit Lebendigen und nicht Lebendigem zusammen, spricht größtenteils übers Essen, ist sichtlich nervös, zittert aufgeregt und macht generell viel unladylikes Zeug. Beim Reden über ihre Arbeit gibt sie sich bescheiden, zurückhaltend und ihrer Privilegien bewusst. Klatschspalten und Feuilleton sind sich einig: Das Talent aus Kentucky, das nie auch nur eine Stunde Schauspielunterricht genommen hat, ist die „No. 1 Realness Keeper of American cinema“ (Wired).

Das Tourismus-Paradoxon

Wer auf Reisen geht, möchte oft für die Region, die Kultur oder die Landschaft besonders typische Dinge besichtigen – sei es nun der Trip zum buddhistischen Kloster, der Besuch eines Stierkampfes oder das Besteigen eines Gletschers. Das weiß die „autochthone“ Bevölkerung, die teilweise von Tourismus lebt, und gestaltet daher die Sehenswürdigkeiten besonders zugänglich, interessant und passend für Tourist*innen. Das wiederum verändert, unterläuft und verzerrt naturgemäß die „Authentizität“ der Reiseführer*innen-Schmankerl (die eben ihre Attraktivität ausmachen soll). So kommt es zur Heisenberg’schen Unschärferelation des Tourismus: Das, was die Tourist*innen zu beobachten versuchen, zerstören sie durch ihre eigene Anwesenheit.

Sind die echt?

Als die Bridget-Jones-Darstellerin Renée Zellweger im Oktober zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder bei einem größeren Event öffentlich auftrat, überraschte sie mit einem – nun ja – veränderten Antlitz. Die Schauspielerin war gealtert, hatte sich aber wohl auch „unters Messer gelegt“ und war fast nicht mehr als das charakteristische süße Knuffelwangengesicht zu erkennen. Prompt brandete Kritik auf – wie könne sich eins so „verunstalten“? Zellweger ist das aktuellste Beispiel für die Zwickmühle, in der sich Frauen und insbesondere jene, die in der Öffentlichkeit stehen, befinden: Sie sollen möglichst wenig altern, aber auch möglichst wenig nachhelfen. Jung bleiben, ohne an Authentizität zu verlieren. Geschminkt sein, aber bitte möglichst in einem „natürlichen Look“. Einem konstruierten Schönheitsideal ganz genau entsprechen, ohne an sich selbst herumzubasteln. Frauen, die sich für Beauty-OPs entscheiden, werden verarscht, weil ihre Schönheit fabriziert und daher sekundär ist, jene, die sich dagegen entscheiden, werden wegen ihrer Falten kritisiert: You just can’t win.

originalverpackt

Das Wort authentisch geht auf das griechische αὐθεντικός („echt“) beziehungsweise auf das spätlateinische authenticus („verbürgt, zuverlässig“) zurück. Der Begriff „Authentizität“ spielt in vielen Bereichen unterschiedliche Rollen. In der Archäologie bezeichnet er die richtige historische Zuschreibung von Quellen, Artefakten und Fundstücken. Als authentisch gilt etwas, was tatsächlich da herkommt, wo es herzukommen vorgibt. In der Informatik geht es bei Authentizität (authentification) um Überprüfungen, beispielsweise der Identität angegebener Sender*innen oder digitaler Signaturen. In der Fachdidaktik wird unter Authentizität Unterrichtsmaterial verstanden, das nicht extra für die Schule produziert wurde, sondern „aus der echten Welt“ kommt. Die Sozialpsychologie unterscheidet vier Kriterien dafür, dass eine Person sich selbst als authentisch erlebt: Bewusstsein, Ehrlichkeit, Konsequenz und Aufrichtigkeit. Einige Philosoph*innen haben allerdings auch das gesamte Konzept von „Echtheit“ angegriffen – es sei nur ein Konstrukt, „Wahrhaftigkeit“ nur eine Zuschreibung und Authentizität in Wirklichkeit inexistent.

Reality vs. TV

Die allererste Reality-TV-Show war wohl das dänische Format „Nummer 28“, das schon 1991 im Fernsehen lief. Sieben einander zuvor Unbekannte zogen hierbei in das namensgebende Haus in Amsterdam und wurden bei ihren täglichen Aktionen und Interaktionen gefilmt. Die Show, die nur eine Staffel lang lief und recht unbekannt blieb, dürfte die Blaupause für MTVs „The Real World“ sowie „Survivor“ und „Big Brother“ gewesen sein, die dem Genre Reality-TV zum endgültigen Durchbruch verholfen haben. Heute sind vermeintlich realistische Wackelhandkamera-Optik, schlüpfrige Nachtkamera- Einblicke und tränenreiche Video-Beichten nicht mehr aus Fernsehprogrammen wegzudenken. Allerdings: Reality-TV ist nicht real, sondern soll nur (z.B. durch eine rauere Ästhetik) real wirken. Die meisten Formate haben Drehbücher („Scripted Reality“) und sehr genaue Vorstellungen davon, wer was wann zu tun und zu sagen hat.

(un-)verfälscht

Plagiate haben in Kunst, Kultur und Wissenschaft eine lange Tradition. Besondere Medienaufmerksamkeit genießen Plagiatsvorwürfe gegen Politiker*innen, die ihre Dissertationen abgeschrieben haben (sollen). Der bekannteste und am besten dokumentierte Fall ist jener des früheren deutschen Bundesverteidigungsministers Karl-Theodor zu Guttenberg, der nach der Entdeckung von 23 strafrechtlich relevanten Urheber*innenrechtsverletzungen in seiner Dissertation zurücktrat. Auch Annette Schavan, Bildungs- und Forschungsministerin Deutschlands, legte 2013 ihr Amt nach der Aberkennung des Doktorgrades zurück. Dass auch in Österreich ausgerechnet der ehemalige Wissenschaftsminister Johannes Hahn wegen „schlampigen Zitierens“ kritisiert wurde, entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Ein Gutachten ergab, dass 17,2 Prozent der Gesamtzeilenanzahl der Dissertation Hahns abgeschrieben waren; die Universität Wien ließ verlautbaren, dass es sich zwar nicht um ein Plagiat handle, aber dass eine solche Arbeit heute nicht mehr angenommen werden würde. Hahn trat natürlich nicht zurück.

 

Olja Alvir studiert Germanistik und Physik an der Universität Wien.

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