Michael Fischer

„Natürlich gibt es Frauen, die lieber traditionell leben.“

  • 13.04.2017, 11:41
Lena Sara* studiert an der Universität in Bonn und gibt jungen Asylwerber_innen Deutschunterricht. Zudem ist sie in einem Netzwerk tätig, das junge Mädchen unterstützt. Schon früh ließ man sie spüren, dass sie anders ist.

Lena Sara* studiert an der Universität in Bonn und gibt jungen Asylwerber_innen Deutschunterricht. Zudem ist sie in einem Netzwerk tätig, das junge Mädchen unterstützt. Schon früh ließ man sie spüren, dass sie anders ist. Ein friedensbewegter Pfarrer kettete sie aus Protest gegen den Irak-Krieg an einen Baum. Er hielt es für ein tolles Symbol. Mit dem Irak hatte sie zwar nichts zu tun, doch sie war das einzige schwarzhaarige Mädchen in der Klasse. Diese und andere Erfahrungen haben sie wachsam gegenüber Fremd- und Selbstethnifizierung gemacht. Am 21. April wird sie gemeinsam mit Sama Maani an der Universität Wien über die Kritik der Religion und des Islams diskutieren.

progress: Sie waren für einen Vortrag in Wien. Der Titel lautete „Wie die Multirassisten die Verfolgten im Stich lassen“. Was genau ist mit Multirassismus gemeint?
Lena Sara:
Der Begriff Multirassismus stammt von Wolfgang Pohrt. 1992 sprach Pohrt auf einer Konferenz in München, sie trug den Titel „Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und das Europa von morgen“. Er wandte sich in seinem Vortrag mit dem Begriff des Multirassismus gegen den damaligen Multikulturalismus. Für Pohrt war die Rede von Kulturen nur ein schlecht versteckter Rassismus der Mittelschichten. Multirassismus ist eine Selbst- und Fremdethnifizierung. Menschen wird das Gefühl vermittelt, unabänderlich Teil einer Kultur oder Ethnie zu sein. Die Kultur verdrängte laut Pohrt die Klasse, man redete auch nicht mehr über ökonomische Dinge wie Wohn- oder Lebensverhältnisse. Die Besserdeutschen mögen ihre Ausländer_innen am liebsten authentisch. Die Spanier_innen tanzen Flamenco und haben Schinken dabei und die Türk_innen fragen: „Alles mit scharf?“ und verkaufen Döner. Sie werden von Anfang an anderes behandelt. Die Botschaft ist klar: Du bist Türke/Türkin und wirst das auch immer bleiben. Aber erzähl mal was von deiner Kultur, wir sind nämlich unglaublich tolerant hier. Menschen werden behandelt, als sei ihre Kultur oder Religion eine vererbte und unabänderliche Wesenseigenschaft. Als müsste ich arabisch Sprechen und arabisches Essen lieben. Das ist Multirassismus. Das ist wohl auch der Grund, warum sich viele deutsche Ämter so falsch gegenüber den Opfern von spezifisch islamischer Gewalt verhalten. Die Beamt_innen denken sich: Naja, das greife ich mit der Kneifzange nicht an, das ist eben die Kultur der Moslems – was geht mich das denn an. Dieser Multirassismus ist unglaublich zynisch und menschenverachtend gegenüber all jenen, die nicht „ihrer“ Kultur entsprechend leben wollen, sondern da hineingedrängt werden. Auch für den Neoliberalismus hat dieser Multirassismus eine wichtige Funktion. Es ist nun mal billiger für den Staat, Menschen ihren Familien zu überlassen, als für sie aufzukommen. Die „Muslime“ sollen authentisch im Familienbetrieb Gemüse verkaufen oder zumindest von traditionellen Familien versorgt werden. Die Deutschen haben weniger Konkurrent_innen auf dem ersten Arbeitsmarkt und der Staat muss weniger Sozialleistungen bezahlen. Das ist die herrschaftsstützende Funktion dieses Multirassismus.

Was hat denn diese Ersetzung der Klasse durch die Kultur in der Linken für Auswirkungen?
Klasse, Bildung, Elternhaus, Gewaltfaktoren fallen als Analysekategorien vollkommen weg. Deshalb fühlen sich Vertreter_innen des Postkolonialismus auch von jemandem wie Ayaan Hirsi Ali unterdrückt. Hirsi Ali kommt aus einem sehr armen Teil der Welt, wurde genitalverstümmelt, ist nach Deutschland geflüchtet und hat in den Niederlanden Asyl erhalten. Sie ist auch tatsächlich schwarz. Doch in dieser postkolonialen Denkrichtung ist Hiris Ali die Unterdrückerin. An jeder größeren Universität gibt es People-of-Color-Gruppen, die ähnliches vertreten. Diese Positionen sind zumindest in linken Kontexten hegemonial. Sie werden bei den jungen Grünen, der SPD und auch im SDS vertreten. Vertreter_innen der Postcolonial Studies bekommen sehr wohlwollende Reportagen im Deutschlandfunk. Sie werden von der Mädchenmannschaft supportet, halten Vorträge, leiten Demos und waren Mit-Initiator_innen von #ausnahmelos – einer Kampagne, die nach den Vergewaltigungen und sexuellen Übergriffen in der Silvesternacht 2015 am Kölner Hauptbahnhof ins Leben gerufen wurde. Die sind schon sehr tonangebend.

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Haben sie die Kopftuchdebatte in Österreich ein wenig mitbekommen, die von Sebastian Kurz (ÖVP) Anfang dieses Jahres losgetreten wurde? Was ist davon zu halten? Im Februar gab es dann eine Demo von islamischen Gruppen, der Linkswende und der ATIB gegen das geplante Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst. Auf der Demo für die „Selbstbestimmung“ der Frau wurde eine Geschlechtertrennung durchgeführt. Ein Skandal, der scheinbar keinen interessiert.
Ich muss da immer an die Frauen der Linkspartei denken. Die haben sich während der Fahrt auf der Friedens-Flottile gegen Israel auch auf das Frauendeck schicken lassen. Dass sich ansonsten sehr emanzipierte Frauen solchen Regelungen fügen, hängt wohl mit dem Multirassismus zusammen. In der Geschlechtertrennung erkennen diese linken Frauen einen authentischen Ausdruck einer Kultur, der sie sich gefahrlos für eine gewisse Zeit anpassen. Sie können danach problemlos wieder in ihre heile europäische Welt zurückkehren. Doch kommen wir zum Hijab. Vernünftig wäre es, wenn Linke, Laizist_innen und Liberale für ein Verbot des Hijab bei Polizistinnen, Richterinnen und Lehrerinnen eintreten würden. Natürlich meine ich damit kein Hijab-Verbot im öffentlichen Raum. Als noch wichtiger erachte ich jedoch ein Hijab-Verbot für Schülerinnen bis zum legalen Heiratsalter, also bis sie 16 Jahre alt sind. Dadurch würden Schülerinnen immens geschützt. Sie wären nicht weiter der enormen sozialen Kontrolle der Familien, Brüder und Schwestern ausgesetzt, das Kopftuch tragen zu müssen. Damit wäre vielen geholfen. Auch liberalere Eltern könnten von ihren Nachbar_innen nicht mehr unter Druck gesetzt werden, wenn sich die Tochter gegen den Hijab entscheidet. Unter den aktuellen Umständen wachen alle über die Durchsetzung des religiösen Gebots und setzten die Verweigerinnen mit der Frage unter Druck: „Schwester, warum trägst du denn keinen Hijab?“. Auch ich werde immer wieder damit konfrontiert. Hinzu kommt, dass die Sittenwächterei nach der Durchsetzung des Hijabs nicht aufhört. Ist das Gebot durchgesetzt, wird kontrolliert, ob die Hose nicht zu eng ist. Die Standards der Sittlichkeit werden immer weiter nach oben geschraubt. Das Verbot in der Schule würde zu einer Entsexualisierung führen. Die Männer und Buben könnten sich nicht mehr auf die wenigen Frauen mit offenen Haaren stürzen. Wenn alle ohne Hijab in der Schule sitzen, verändert dies den Umgang miteinander.

Es gibt aber durchaus viele muslimische Frauen, die das Kopftuch freiwillig tragen. Die würde so ein Verbot doch hart treffen?
Wieso denn? Die können doch freiwillig nach der Arbeit oder der Schule den Hijab tragen. Das ist ein sehr schlechtes Argument. Es interessiert mich auch bei ostdeutschen jungen Männern nicht, ob sie ihre rechtsradikalen Symbole freiwillig tragen. Natürlich gibt es Frauen, die lieber traditionell leben. Aber ist das ein Argument gegen die Emanzipation der Frau? Das ständige Tragen des Kopftuches hat für jene Frauen und Mädchen, die dies nicht wollen oder dazu gezwungen werden, sehr negative Auswirkungen. Von Frauen, die das Kopftuch so selbstbewusst tragen, kann man erwarten, dass sie ein wenig Rücksicht auf andere nehmen und es für die paar Stunden einfach lassen. Muss man denn unbedingt 24/7 die Religiosität nach außen tragen?

Sie werden den Einwand schon öfters gehört haben, aber hilft diese Kritik am Islam nicht den Rechten?
Ganz im Gegenteil, es gräbt ihnen das Wasser ab. Wenn die Kritik des Islams aus einer laizistischen und linken Ecke kommt, entlarvt es den rassistischen Hintergrund dieser Parteien vollkommen. Ich will nicht, dass jemand die Staatsbürger_innenschaft oder das Asylrecht verliert. Gegen Abschiebungen und Ausbürgerungen werde ich immer protestieren. Nein, es geht ganz banal um die Gleichheit aller Menschen. Rassistisch ist es doch zu glauben, dass Menschen anders seien, weil sie aus einer anderen Kultur kommen. Jede_r soll hierbleiben – in diese Richtung geht meine Kritik. Ich spreche die Themen Hijab, Ehrenmorde und Zwangsbeschneidung vor dem Hintergrund universeller und unverletzlicher Menschenrechte an. Genau das entlarvt die FPÖ als rassistische Partei. Die Freiheitlichen haben mit dem Islam doch gar kein Problem, solange er außerhalb von Europa praktiziert wird. Deshalb haben sie auch Hardcore-Islamisten aus Ägypten ins österreichische Parlament eingeladen. Es gibt auch andere Beispiele: Malcom X von der Nation of Islam hat sich auch mit den amerikanischen Nazis getroffen. Beide Organisationen hatten ein gemeinsames Ziel: Die Separation der „Rassen“. Jede_r soll – und hier ist auch die Schnittmenge zu zeitgenössischen rechtsaußen Parteien – unter „seinesgleichen“ bleiben. Doch es schadet der FPÖ, der Alternative für Deutschland oder dem Front National, wenn man diese Sachen konkret anspricht. Eine Hirsi Ali ist in einer rechtsliberalen Partei, der Volkspartei für Freiheit und Demokratie (VVD) gelandet, weil sie sich bei den niederländischen Sozialdemokraten unverstanden fühlte. Hamed Abdel Samad hat es jahrelang bei den Linken versucht und ist dort hängen gelassen worden. Die meisten Menschen, die aus islamischen Ländern kommen und etwas verändern wollen, haben ein großes Bedürfnis nach Freiheit und Freizügigkeit. Deshalb werden sie anfangs von den Liberalen und Linken angezogen. Dort erhalten sie aber viel zu wenig Unterstützung.

*Die Eltern von Lena Sara mussten aufgrund ihres Engagements in der Vergangenheit unangenehme Erfahrung mit AKP-Anhänger_innen machen. Aus diesem Grund wird ihr Nachname hier nicht genannt.

Veranstaltung: Podium: Warum wir über den Islam reden sollten

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.

„Insgesamt bin ich nicht allzu optimistisch“

  • 21.06.2016, 20:22
Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

Moishe Postone ist Professor an der Universität von Chicago. Von 1972 bis 1982 lebte Postone in Frankfurt. In dieser Zeit entstand auch sein im deutschsprachigen Raum bekanntester Text „Nationalsozialismus und Antisemitismus“. Im Moment ist er für ein Forschungsprojekt in Wien.

progress: In Ihrem Buch „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ grenzen Sie die kritische Theorie von Marx stark vom Marxismus der II. und III. Internationale ab. Letzteres fassen Sie unter dem Namen traditioneller Marxismus zusammen. Können Sie das ein wenig ausführen und die Unterschiede erklären?
Moishe Postone: Die Kategorie „traditioneller Marxismus“ ist eine Bezeichnung, die sehr viele Ansätze einschließt. Der gemeinsame Nenner ist eine Kritik am Kapitalismus, die sich ausschließlich gegen die Distributionsweise, das Privateigentum und den Markt richtet. Der Standpunkt der Kritik ist die Arbeit. In einer postkapitalistischen Gesellschaft sollen die Arbeiter_innen den Reichtum, den sie produziert haben, innerhalb einer Planwirtschaft zurückbekommen. Zwar nicht als Einzelne, aber gesellschaftlich. Diese Analyse des „traditionellen Marxismus“ ist auf der einen Seite historisch inadäquat geworden und auf der anderen Seite ging schon die Kritik von Karl Marx in eine andere Richtung. Bei ihm ist es eine Kritik der Arbeit im Kapitalismus, statt einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit aus. Ich habe versucht herauszuarbeiten, wie der spezifisch kapitalistische Charakter der Arbeit im Kapitalismus einer sehr komplexen Dynamik unterliegt. Diese Dynamik unterscheidet den Kapitalismus von allen vorhergehenden Gesellschaften. Marx liefert mit seiner Analyse ein Instrumentarium, um diese widersprüchliche Dynamik zu begreifen.

Und diese Widersprüche im Kapitalismus sind dann auch jene, die zu Widersprüchen gegen den Kapitalismus führen?
Ja, und fast alle die sich mit Marx beschäftigt haben, reden von der Widersprüchlichkeit des Kapitalismus. Größtenteils wird dieser Widerspruch aber als einer zwischen Privateigentum und Markt auf der einen und Arbeit auf der anderen Seite verstanden. Ich halte dem entgegen: Nein, es ist ein Widerspruch zwischen dem Zustand, wie Arbeit heute organisiert wird und einer möglichen zukünftigen Organisation der Arbeit. Ein Widerspruch zwischen dem Bestehenden und dem in ihm enthaltenen Potential, welches aber durch das Bestehende selbst nicht verwirklicht werden kann und deshalb auf die Möglichkeit der Aufhebung des Kapitalismus verweist. Es ist eine Kritik an der auf Arbeit basierenden Gesellschaft.

Warum haben die Marxist_innen am Ende des 19. Jahrhunderts und am Anfang des 20. Jahrhunderts Marx so gelesen?  Wer den Autor der Kritik der politischen Ökonomie aufmerksam liest, stößt auf viele Stellen, in denen er diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit sehr explizit ausführt. Wie kam es also dazu?
Einmal ist es eine Rezeptionsgeschichte. Die Leute haben eigentlich nicht Marx gelesen, außer vielleicht das Kommunistische Manifest. Hauptsächlich haben sie Friedrich Engels gelesen. Was Marxismus genannt wird, sollte Engelsismus heißen. Es ist aber nicht nur eine Rezeptionsgeschichte. Die Arbeiterklasse wuchs zu dieser Zeit rasant an. Es war vor diesem Hintergrund sehr leicht vorstellbar, die Gesellschaft in Form der Kapitalistenklasse einfach zu enthaupten und damit eine befreite Gesellschaft zu erringen. Vor 50 Jahren kam diese Entwicklung aber an ihr Ende. Die Linke der 1960er verstand das nicht ganz. Zum einen vollzog sich damals etwas, was André Gorz den Abschied vom Proletariat nannte. Zum anderen gab es in Deutschland K-Gruppen, die den Gang in die Fabriken propagierten. Sie waren in historischen und politischen Belangen sehr verwirrt. Nicht, weil sie in die Fabriken gingen, sondern weil sie das Zentrum der Weltrevolution in China oder gar Albanien sahen. Die meisten hatten keine Ahnung was Albanien für ein Land war. Enver Hodscha war nicht nur kein netter Typ, in Albanien gab es fast keine Motorisierung. Und dieses Land sollte die Sperrspitze der Weltrevolution repräsentieren? Hier wurde Kritik zur reinen Glaubenssache.
Wenn man die Bewegung in den 1960er Jahren betrachtet, dann ist diese Form der Dogmatisierung jedoch nicht die Richtung, in die diese amorphe Bewegung gegangen ist. Es kam damals zu einer großen Verschiebung. Im Großen und Ganzen wurde die Stelle des Proletariats von den antikolonialen Kämpfen eingenommen. Es gibt einen Unterschied, ob man antikoloniale Bewegungen unterstützt, weil sie als vollwertige Menschen anerkannt werden wollen, oder ob man denkt, dies sei der Keim einer postkapitalistischen Gesellschaft. Das hatte verheerende Folgen. Am stärksten wurde dies im Nahen Osten sichtbar. Jahrelang sympathisierten Antiimperialisten mit Polizeistaaten im Nahen Osten. Solange sie keine langen Gewänder trugen und nicht allzu religiös waren, galten sie den europäischen Antiimperialisten als progressiv. Aber das waren sie nicht, auch wenn sie damals von der Sowjetunion unterstützt wurden. Die teils berechtigte, teils völlig unberechtigte totale Fokussierung auf Israel hat viele Linke blind für diese Probleme gemacht. Man bemerkt das noch heute im Fall von Syrien: Die Linke hat dazu nicht viel zu sagen. Dabei hat das Regime unter Assad vermutlich schon über 300,000 Syrer_innen ermordet. Zudem kam in den 1960er Jahren die Identitätspolitik auf. Sie begann als Kritik an einem abstrakten Universalismus, der Differenz nicht berücksichtigte, engte sich aber schnell zu einem Partikularismus ein. Was es auf keinen Fall gab, war eine Rettung der proletarisch zentrierten Politik. Dazu gab es nur Lippenbekenntnisse und viele marschierten mit roten Fahnen, aber das war alles.

Wenn man Autoren der 1960-70er Jahr liest, fällt vereinzelt auf, dass es doch auch welche gab, die beim Arbeitsbegriff vom traditionellen Marxismus sehr abwichen. Wie weit verbreitet war das damals?
Es war nicht sehr verbreitet. Das kann jetzt auch Lokalpatriotismus sein, aber ich würde behaupteten, es wurde vor allem in Frankfurt vertreten. Seit den späten 1930er Jahren hatten Autoren wie Theodor W. Adorno oder Max Horkheimer Abschied von der Verherrlichung der Arbeit genommen. Gut, ich finde die Kritik der Frankfurter Schule einseitig und problematisch. Sie drehten die Bewertung der Arbeit einfach nur um. Das sehe ich kritisch, aber diese Tradition hat viele Linke in Frankfurt gegen den Marxismus-Leninismus geimpft. Die ML-Gruppen waren wohl auch deshalb in Frankfurt schwächer als in vielen anderen deutschen Städten.

Wie verhält es sich denn mit der Marx-Rezeption außerhalb des deutschsprachigen Raumes, gibt es da neben ihnen auch andere Autoren, die diese Kritik an der kapitalistischen Arbeit vertreten?
Ja, aber sie sind höchstwahrscheinlich nicht so bekannt. Patrick Murray, Christopher Arthur, Marcel Stoetzler, es gibt sie schon. Unabhängig davon gibt es eine starke Marx-Welle in den USA und Großbritannien, aber dort wird Marx anders gelesen. Der angelsächsische Marxismus war schon immer auf die Ökonomie zentriert, er war immer mehr eine kritische politische Ökonomie statt einer Kritik der politischen Ökonomie. Es fehlt eine gewisse Reichhaltigkeit der deutschsprachigen Diskussion. Wenn die Linken in Großbritannien versuchten, sich Theorie anzueignen, blickten sie nach Frankreich und lasen Louis Althusser, Ètienne Balibar und dann später Michel Foucault. Jene Kritik aber, die mit dem Werk von Georg Lukàcs beginnt und in der kritischen Theorie fortgesetzt wird, die eine Gesellschafts- und Kulturkritik formuliert, wird in den USA nur von einer kleinen Gruppe von Akademiker_innen und ihren Student_innen vertreten. Dennoch, Marx ist in den USA und Großbritannien viel weiter verbreitet als in Deutschland oder Österreich.

Spielen sie bei dieser kleinen Gruppen von Akademiker_innen und Student_innen auf die Gruppe Platypus an?
Ich meinte das viel allgemeiner. Die Gruppe Platypus, die kaum für alle Gruppen steht, die die kritische Theorie rezipieren, ist leider sehr zwiespältig. Ich kannte die Gründungsmitglieder sehr gut. Manche haben meine Seminare belegt und sind aus Chicago. Sie präsentieren sich als Gruppe, die sich sehr ernsthaft mit Theorie beschäftigt, sehr viel ernsthafter, als viele andere. Andererseits versuchen die Führungskader etwas zu tun, was nicht machbar ist. Sie wollen meine Arbeit, die von Adorno und von Lenin verbinden. Mein Buch ist sehr bewusst gegen den Leninismus geschrieben. Es war ein Versuch auf einer sehr grundlegenden Ebene gegen den Leninismus vorzugehen.

Sie beschreiben eine Dynamik, die unabhängig von spezifischen Regierungen überall auf der Welt ähnlich abläuft. Wie kann man erklären, dass der Wohlfahrtsstaat heute nicht mehr finanziert werden kann oder warum die Sowjetunion und der Wohlfahrtsstaat zur gleichen Zeit untergingen?
Es gibt sehr viele Theorien über die Gründe der Krise in den frühen 1970er Jahren. Keine davon überzeugt mich vollkommen. Wenn die amerikanische Presse versucht das Phänomen Trump zu erklären, reden sie über die Misere der ehemaligen industriellen Arbeiterklasse in den USA. Ihr Durchschnittslohn ist seit 1973 gleich geblieben. In Deutschland stieg er dagegen noch eine gewisse Zeit an. Deutschland blieb in manchen Bereichen länger ein Wohlfahrtsstaat. Es gab aber auch in Deutschland gegenläufige Tendenzen. In den 1960er Jahren nahm die Zahl der Student_innen stark zu. Um dies zu finanzieren, wurde der Sozialstaat ab den frühen 1970er zurückgeschraubt. Ich glaube es gibt einen Zusammenhang zwischen den Grenzen einer auf proletarischer Arbeit basierenden Gesellschaft, den Grenzen des Keynesianismus und der ökonomischen und ökologische Krise.

Der Kapitalismus hat die Tendenz, immer weniger Arbeit für die Produktion seines Reichtums zu gebrauchen. Dies bedeutet gleichzeitig eine Abnahme der Zahl von Arbeiter_innen. Damit wird eine wichtige Einkommensquelle des Wohlfahrtsstaates beschnitten. Kann man sich das so irgendwie vorstellen?
Ja, aber ich möchte dies noch wertkritisch ausarbeiten. Dort bin ich noch nicht. Die Krise von 2008 ist wirkliche ein Nachbeben der Krise von 1973.

In der Linken ist im Moment eine gewisse Re-Traditionalisierung zu beobachten. Man liest wieder Lenin oder Luxemburg. Oder man bezieht sich auf den Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre. Beide wollen eine neue linke Partei gründen, wie erfolgsversprechend ist das?
Dramatisierend gesagt, es ist ein widersprüchliches Problem. Es gab früher einen Zusammenhang von Arbeitskämpfen und Veränderung. Progressive Leute müssten in der heutigen Situation zwei Sachen versuchen, die in zwei verschiedene Richtungen gehen. Die Arbeiter_innen vor den Auswirkungen des Kapitalismus schützen, denn ihre Situation wird Zusehens erbärmlich und den Kapitalismus mit dem Ziel seiner Überwindung kritisieren.

Kommen wir zum Antisemitismus, zu dem Sie in der Vergangenheit viel geforscht haben. Wie funktioniert der Antisemitismus in der bürgerlichen Gesellschaft und warum wird er unter bestimmten Verhältnissen virulent?
Der Antisemitismus ist eine Fetisch-Form, die den seit mindestens einem Jahrtausend existierenden christlichen Antijudaismus zur Voraussetzung hat. Aber beide Phänomene sind nicht dasselbe. Der Antisemitismus ist eine bestimmte antikapitalistische Ideologie, die zwischen der konkreten Dimension des Kapitals (Industrie, Maschinen) und der abstrakten (Geld, Börse, Banken) trennt. Dabei wird in dieser Ideologie die konkrete Seite des Kapitals als gesund und gut erachtet. Die abstrakte Seite dagegen als zersetzend und global. Diese Trennung drückt sich konkret in einer ideologischen Sicht auf den Kapitalismus aus, die sowohl die industriellen Kapitalist_innen, als auch die Arbeiter_innen als Produzent_ innen sieht und alleinig die Bankiers als Schmarotzer_ innen identifiziert.

Das ist die Basis der antisemitischen Ideologie. Wie kommt es dazu, die abstrakte Seite des Kapitals als jüdisch zu imaginieren?
In Ländern wie Österreich oder Deutschland gab es nicht nur eine lange Tradition des christlichen Antisemitismus: Die Jüd_innen erlangten ihre Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft genau in dem Moment, in dem auch die kapitalistische Industrialisierung expandierte. Jüd_innen wurden plötzlich sichtbar und zwar besonders in Berufen, die mit dieser Entwicklung aufkamen, während traditionellere Berufe bedroht waren. Antisemitismus ist jedoch nicht nur eine Form des Rassismus. Ich könnte auch auf andere Dimensionen des Problems aufmerksam machen, wie den Unterschied zwischen Gesellschaften, die durch staatliche Intervention modernisiert wurden, wie in Zentraleuropa und zum Teil auch in Frankreich, und Gesellschaften mit einer älteren liberal-kapitalistischen Geschichte. Nein, der Antisemitismus ist eine Weltanschauung. Diese Ideologie will die Welt erklären und deshalb ist sie so weit verbreitet. Der Rassismus funktioniert dagegen anders. Ich will das nicht hierarchisch verstanden wissen. Das eine ist nicht bekämpfenswerter als das andere. Der Antisemitismus ist zudem ein Krisenphänomen. Schauen wir dazu in den Nahen Osten. Es gibt mehrere Gründe, warum der Antisemitismus dort heute so verbreitet ist. Da wäre die Nazi-Propaganda während des Zweiten Weltkriegs. Aber das erklärt natürlich nicht alles. Ein zweiter Faktor ist die Sowjetunion: 1967 hatte Israel die mit der Sowjetunion verbündeten arabischen Staaten geschlagen. Nach der Niederlage ihrer Verbündeten startete die Sowjetunion eine Propaganda, die dem Stürmer entstammen hätte können. Der Zionismus wurde mit dem Faschismus gleichgesetzt. Dann ist da der ökonomische Abstieg dieser Weltregion auf ein Niveau vergleichbar mit dem Afrikas südlich der Sahara. Der Abstieg der arabischen Welt beginnend in den 1980er Jahren und der gleichzeitige Aufschwung anderer Weltteile, die früher als Dritte Welt galten, haben viele Menschen im Nahen Osten empfänglich für Verschwörungstheorien gemacht. Diese Verschwörungstheorien hatten sie zur Hand.

In Europa ist geographisch eine Spaltung der radikalen Rechten zu beobachten. In Westeuropa sind es vor allem Rechtspopulist_innen die einen Ethnopluralismus vertreten, der Muslime und den Islam nicht in Europa will. In Osteuropa sind viele dieser Parteien sehr traditionell völkisch und antisemitisch. Woran liegt das?
Die Staaten in Osteuropa definieren sich seit ihrer Entstehung ethno-nationalistisch. Einzig die tschechische Republik ist da eine partielle Ausnahme. Schon die Unabhängigkeitsbewegungen gegen die Habsburger waren ethno-nationalistisch. Nach der Unabhängigkeit der einzelnen Staaten von Österreich-Ungarn bestanden viele ethnische Konflikte weiter. Die einzige säkulare Tradition in diesen Staaten war der Kommunismus. Der heutige reaktionäre Charakter vieler dieser Staaten und ihrer Bevölkerung ist ein Zeichen für das Scheitern des sowjetischen Modells. Aktuell sind die osteuropäischen Staaten in ernsthaften ökonomischen Schwierigkeiten. In Ungarn spricht Viktor Orban von einer weltweiten Verschwörung gegen Ungarn, er verbindet dies alles mit dem Namen eines Mannes: George Soros. Es ist kein Zufall das Soros jüdisch ist. (Mehr zu dem Thema in diesem Artikel) Im Westen war der Ethno-Nationalismus nicht so stark, weil die Nationen sich früher als bürgerliche Staaten konstituierten. Es gab auch immer eine Spannung zwischen dem ethnischen Charakter der Nation und ihrem formal politischen Anspruch. Im Westen will man wohl zumindest den Anschein erwecken, ein wenig kosmopolitisch zu sein. Im Fall von Österreich bin ich mir da aber nicht so sicher. Insgesamt bin nicht allzu optimistisch. Wenn man sich die Zwischenkriegszeit ansieht, kippten zwar zuerst die osteuropäischen Staaten nach rechts, doch diese Tendenz verschob sich danach Richtung Westen. AfD oder Pegida sind klar ethno-nationalistische Bewegungen mit starken antisemitischen Tendenzen. Sie geben sich öffentlich nicht so, aber sie sind es.

Es wird immer wieder gesagt, die Schwäche der Linken sei die Stärke der FPÖ. Die SPÖ würde ihre Werte eben gar nicht mehr vertreten.
Und was wäre sozialdemokratische Politik?

Ein Wohlfahrtsstaat der 1970er Jahre, Keynes.
Ja aber wenn das nicht geht? Es ist ein Dilemma. Egal ob SPÖ oder SPD, sie sind immer weniger und weniger Arbeiter_innenparteien. Aber das hängt mit den strukturellen Veränderungen zusammen. Der Untergang einer Klasse ist nie schön. Die Linke war sich darüber im Falle des Kleinbürgertums sehr bewusst. Aber sie stehen diesem Umstand im Falle der industriellen Arbeiter_innenklasse ein wenig hilflos gegenüber. Genau das passiert gerade: Es ist eine Krise der industriellen Arbeiter_innenklasse.

Und was wird mit dieser Klasse passieren?
Viele werden sehr arm und wütend werden. In den USA führt das auch zu einer Militarisierung der Gesellschaft. Es gibt immer mehr Menschen, die arbeitslos oder halb-angestellt sind. Das nennt man die Gig-Economy. Angelehnt ist das Wort an den Jazz-Musiker, der eine kurze Anstellung nach der anderen hat. Du kannst Taxi-Fahrer am Morgen, Putzfrau am Nachmittag und ein Nachwächter in der Nacht sein und trotzdem reicht es kaum zum Leben. Man muss immer flexibel sein und dies wird als Freiheit verkauft. Ich glaube wir sind in einer großen Krise und die Rechte wird davon profitieren. Die Rechte hat kein Programm, aber sie kann Wut kanalisieren. Die Linke will das nicht und versucht rational zu bleiben.

Aber es gibt linke Politiker, die das doch schaffen?
Bernie Sanders kann die Wut auch gut kanalisieren. Es gibt viele Arbeiter_innen, zumindest wenn man den Medien glauben kann, die nicht sicher sind, ob sie Donald Trump oder Sanders wählen sollen. Aber Sanders Lösungen sind auch nur linker Populismus. Dieser ist natürlich nicht reaktionär wie rechter Populismus. Aber es wird nicht funktionieren. Es sind nicht die Freihandelsverträge, die allein für den Rückgang der Beschäftigung verantwortlich sind. Ein Beispiel: Letztens las ich einen interessanten Artikel über die Tomaten-Ernte in Kalifornien. 1952 wurden 2,5 Millionen Tonnen Tomaten geerntet, dafür wurden 45.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Dann entwickelten Forscher an der Universität von Kalifornien in Davis eine viereckige Tomate, die von Maschinen einfach geerntet werden konnten. Heute werden 12 Millionen Tonnen Tomaten geerntet und dafür werden 2.000 Arbeiter_innen beschäftigt. Das passierte nicht weil die Tomatenindustrie in ein anderes Land verlegt worden wäre. Diese Entwicklung der Wissenschaft und der Maschinen im beengenden kapitalistischen Rahmen ist der Hauptgrund dafür, dass es immer weniger Jobs gibt. Natürlich kann man die Handelsverträge kritisieren, auch diese neoliberale Phantasie, dass mehr Freihandel mehr Beschäftigung bedeutet. Aber wer behauptet, die strukturellen Veränderungen in den USA seien hauptsächlich durch die Handelsverträge entstanden, liegt einfach falsch. Das ist eine Verkürzung.

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.

Der tendenzielle Fall der Profitrate

  • 10.03.2016, 13:59
Der Kapitalismus ist schon ein verrücktes Produktionsverhältnis. Die Arbeit ist hier die Quelle des Reichtums. Gleichzeitig strebt er durch fortschreitende und durch die Konkurrenz notwendige Entwicklung der Maschinen und der Wissenschaft dahin, die Arbeit immer überflüssiger zu machen.

Der Kapitalismus ist schon ein verrücktes Produktionsverhältnis. Die Arbeit ist hier die Quelle des Reichtums. Gleichzeitig strebt er durch fortschreitende und durch die Konkurrenz notwendige Entwicklung der Maschinen und der Wissenschaft dahin, die Arbeit immer überflüssiger zu machen.

Der Widerspruch zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte und der Verfasstheit des Produktionsverhältnisses kann am Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate veranschaulicht werden. Die meisten Leser_innen dieser Zeilen haben womöglich die drei Bände des Kapitals von Karl Marx nicht gelesen. Umso größer ist deswegen die Herausforderung für den Autor dieses Gesetz zu erklären. Deshalb sei eine kleine Geschichte über den Kapitalismus vorangestellt, die anhand eines Kapitalisten mit ungewöhnlich langer Lebensdauer erzählt wird. Das Licht der Welt erblickte er im 17. Jahrhundert.

Wie alles begann. Da ist er nun, Adam, unser Kapitalist mit seiner kleinen Textil-Manufaktur. Doch noch kann es nicht losgehen. Es fehlen noch die Arbeitskräfte, die er beschäftigen kann. Aber Adam hat Glück, in England wurden gerade die Kleinbäuer_innen von ihrem Land vertrieben, sie mussten Schafen für die Wollproduktion weichen. Was sind schon ein paar 100.000 tote und vertriebene Landbewohner_innen im Vergleich zu den Exportgewinnen durch Garn und Kleidung. Unseren Adam geht das nichts an, er freut sich über diese doppelt freien Arbeiter_innen, die in dieser ursprünglichen Akkumulation freigesetzt wurden und gezwungen sind, in die Städte zu fliehen. Unser Kapitalist erwartet sie schon mit offenen Armen. Ganz selbstlos ist dies natürlich nicht. Er schielt dabei auf den Mehrwehrt, den ihm die Arbeiter_innen produzieren. Als guter Bürger ist er von der Gerechtigkeit getrieben und zahlt seinen Beschäftigten den Wert ihrer Arbeitskraft. Denn wert ist sie so viel, wie aufgewandt werden muss, um den/die Arbeiter_in und seine/ihre Arbeitskraft zu erhalten (Lebensmittel, Wohnung, Familie usw.). Doch schon wieder hat Adam Glück, die Arbeitskraft kann nämlich mehr Wert produzieren, als sie für die eigene Reproduktion benötigt. Einen Teil des Tages arbeitet der/die Arbeiter_in für sich und den Rest des Tages schafft sie Adams Mehrwert. Das Seelenheil des guten Bürgers ist gerettet. Der gerechte Lohn garantiert die Ausbeutung und alle erhalten, was ihnen zusteht.

Adam ist aber nicht der einzige Kapitalist, der seine Kleidung an die Käufer_innen bringen will. Die Konkurrenz ist unerbittlich: Jeder versucht, seine Waren so billig wie möglich zu produzieren und zu verkaufen. Doch wie kommt der Wert der einzelnen Ware zustande? Im Fall eines Pullovers übertragen der Rohstoff und der Verschleiß der Maschine Wert auf die Ware. Dies schafft aber keinen zusätzlichen Wert. Zusätzlichen Wert erhält der Pullover erst durch die in sie/ihn eingegangene menschliche Arbeitskraft. Wertbildend ist dabei aber nur die Arbeitszeit, die gesellschaftlich notwendig ist, um einen bestimmten Gebrauchswert zu produzieren. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen: Adam hat sich vor ein paar Jahren einige technische Geräte angeschafft. Mit deren Hilfe produziert er 100 Pullover am Tag, die er auch zu ihrem Wert verkaufen kann. Nicht so viel Glück hat Paul mit seinen veralteten Produktionsmethoden, er produziert nur 60 Stück, kann das Einzelstück aber nur zum gleichen Wert verkaufen wie Adam und wird sich deshalb bald aus der Kapitalistenklasse verabschieden müssen. Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Einzig die fortwährende Steigerung und Verbesserung der Produktionsmethoden garantieren dem Kapitalisten seine Stellung.

Doch wie finanziert er sich den Ankauf neuer Maschinen? Durch den von den Arbeiter_innen produzierten Mehrwert. Adam hat schon einiges versucht, um die Mehrwertrate zu erhöhen. Zuerst hatte er die Arbeiter_ innen 18 Stunden arbeiten lassen. In drei Stunden hatten sie den Wert produziert, den Adam für sie bezahlt hatte und in den restlichen 15 Stunden wurde Adams Mehrwert produziert. Den Arbeiter_innen war das endgültig zu viel und was außer ihren Ketten hatten sie denn zu verlieren? Es kam zu Streiks, Klassenkämpfen und ein Hauch von proletarischer Revolution hing in der Luft. Um die Lage zu entschärfen, verabschiedete das britische Parlament ein Gesetz zur Beschränkung des Arbeitstages. Doch Adam fand auch hier eine Lösung, er intensivierte einfach die Arbeit und erhöhte dadurch die Mehrwertrate. Der Weg zur Krise. Wir nähern uns jener Zeit, in der Karl Marx seine drei Bände des Kapitals verfasste. Was in dieser Geschichte von Adam bisher noch ausgespart blieb, soll nun mit Marx und seinem Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate erklärt werden. Vorneweg: Der Fall der Profitrate ist eine Tendenz, die durch viele Faktoren verlangsamt und sogar umgedreht werden kann. Das Gesetz soll nicht so verstanden werden, dass der Kapitalismus notwendigerweise zusammenbrechen müsste. Denn leider findet das Kapital immer einen Weg, um weiter zu existieren und zwar auf Kosten der Menschen.

Doch nun zum Gesetz. Die beschriebene Produktivkraftsteigerung führt dazu, dass immer weniger Arbeit immer mehr Maschinerie, Roh- und Hilfsstoffe anwenden kann. Ansich eine tolle Sache, denn die frei gewordene Zeit könnte unter vernünftigen Verhältnissen in Freizeit verwandelt werden, doch im Rahmen des Kapitalismus wird dies zu einem fundamentalen Problem, welches sich zur Krise steigert. Doch warum? Das variable Kapital (Arbeitskraft) nimmt in Relation zum eingesetzten konstanten Kapital (Maschinen und Roh-Hilfsstoffe) relativ ab. Vereinfacht ausgedrückt: Die Kosten für Maschinen und Rohstoffe erhöhen sich. Selbst wenn aufgrund dieser fortwährenden Konzentration des Kapitals mehr Arbeiter_innen im einzelnen Betrieb beschäftigt werden, sinkt deren Anteil relativ zu den Maschinen. Die Profitrate berechnet sich durch den Bruch zwischen produziertem Mehrwert (m) und insgesamt vorgeschossenem Kapital (c + v). Denn nur mithilfe des Mehrwerts kann in neue Produktionsmethoden und Maschinen investiert werden und dies ist notwendig, um als Kapitalist in der Konkurrenz zu bestehen. Weil der Anteil der Maschinen schneller steigt, als der der lebendigen Arbeit, wird im Verhältnis zum vorgeschossenen Kapital relativ (nicht absolut) weniger Mehrwert produziert und die Profitrate sinkt. Deshalb kann die Mehrwertmasse (Profitmasse) steigen, aber die Profitrate sinken. Dies ist keine Ausnahme, sondern der Regelfall. Die in der einzelnen Ware vergegenständlichte Arbeit sinkt, es werden aber mehr Waren produziert. Der Mehrwert ist produziert. So weit so gut.

Doch nun muss er auch noch auf dem Markt realisiert werden. Kurz, die Waren müssen an die Konsument_innen gebracht werden. Von diesem Verkauf hängt die Zukunft des einzelnen Kapitals ab. Werden sie nicht verkauft, kann nicht weiter produziert werden. Die Masse der Waren steigt ins Unendliche und was abzusehen ist, passiert: Zu viele Waren finden keine Käufer_innen mehr. Der produzierte Mehrwert wird nicht mehr realisiert. Die Konsumtionsfähigkeit bewegt sich nur auf einem durch den Kapitalismus gesetzten Minimum. Man nennt dies eine Überakkumulationskrise. Doch mit der zunehmenden Konzentration des Kapitals und der Entwicklung hin zu den Trusts und Monopolen will und kann das Kapital sich diese Krisen nicht mehr leisten. Der Staat tritt als großer Regulator auf den Plan, er überwindet die Krise nicht, sondern nimmt sie in staatliche Regie. Dies geschah in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, womit die liberale Phase des Kapitalismus beendet wurde. So begann die Ära des Spätkapitalismus, in der wir heute leben.

Michael Fischer studiert Deutsch und Geschichte auf Lehramt an der Universität Wien.