Marlene Brüggemann

Schönheitsideale

  • 26.12.2012, 14:09

Magersucht, Essbrechsucht und Esssucht sind allesamt Essstörungen und ernstzunehmende, psychische Krankheiten. Das Gewicht spielt dabei oft eine bedeutende Rolle. Für Menschen mit Essstörungen ist das Essen oder die Kontrolle darüber, eine Sucht, die seelische, körperliche und soziale Folgen hat.

Essstörungen

Magersucht, Essbrechsucht und Esssucht sind allesamt Essstörungen und ernstzunehmende, psychische Krankheiten. Das Gewicht  spielt dabei oft eine bedeutende Rolle. Für Menschen mit Essstörungen ist das Essen oder die Kontrolle darüber, eine Sucht, die  seelische, körperliche und soziale Folgen hat. Durch das ständige Bedürfnis, ihr Essverhalten zu vertuschen, sind Menschen mit Essstörungen oft sozial isoliert. Die Heilung von Essstörungen stellt sich als schwierig heraus. Anders als bei drogensüchtigen  Menschen kann man Menschen mit Esssucht oder Essbrechsucht das Essen nicht entziehen. Bei Essstörungen wird versucht, ein positives Verhältnis zum Essen und zum eigenen Gewicht zu schaffen, um das Essverhalten zu ändern. Mit 95 Prozent sind meistens  Frauen und Mädchen von Essstörungen betroffen. Doch die Zahl der Männer und Buben mit Essstörungen steigt.

Schönheitsideale

Der Körper ist heute stark in das Zentrum des gesellschaftlichen Bewusstseins gerückt. Wellness, Diäten und Fitnesstrainer_innen  boomen. Lisa Tomaschek-Habrina von sowhat, einem Beratungsund Therapiezentrum für Menschen mit Essstörungen, sieht darin aber nur eine oberflächliche Auseinandersetzung mit dem Körper. Wichtig ist, wie der Körper geformt werden kann, nicht aber, ob  man sich in diesem auch wohlfühlt. Vor allem von Frauen wird erwartet, einem einheitlichen gesellschaftlichen Schönheitsideal zu entsprechen. Der Einfluss der Medien und der Starwelt trägt gerade bei jungen Menschen zum Wunsch bei, das eigene Aussehen zu verändern. Die Anforderung, dass Frauen dünn sein müssen, um erfolgreich zu sein, bestimmt das Weiblichkeitsideal. Der ständige Drang, einem Bild zu entsprechen, das man aber nicht erfüllen kann, treibt die Zahl der Menschen, vor allem der Frauen, die an Essstörungen erkranken, in die Höhe.

Magersucht (Anorexia Nervosa)

Das Hauptmerkmal der Magersucht ist die extreme Gewichtsabnahme. Magersüchtige Personen versuchen durch zwanghafte Kontrolle der Nahrungsaufnahme ihr Gewicht zu senken. Obwohl Magersüchtige dünn sind, fühlen sie sich immer zu dick, essen weiterhin nur sehr wenig, kalorienarme Nahrung und missbrauchen Abführmittel, was zu extremem Gewichtsverlust führt. Körperliche Folgeschäden sind Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Magen-Darm- Beschwerden, das Ausbleiben der Menstruation durch hormonelle Veränderungen, das Absinken des Stoffwechsels, des Pulses, des Blutdrucks und der Körpertemperatur. Aufgrund von Vitamin- und Mineralmangel entstehen Zahnschäden, Muskelschwäche und Veränderungen der Körperbehaarung. Seelische Folgen sind Stimmungsschwankungen, Angst, Depression und Zwangsverhalten. Fünf bis zehn Prozent der magersüchtigen Menschen sterben an ihrer Sucht. Damit haben Magersüchtige die höchste Sterblichkeitsrate aller psychiatrischen Störungen.

Ess-Brechsucht (Bulimia Nervosa)

Die Essbrechsucht ist ein Wechsel von Heißhunger anfällen und dem Erbrechen des kurz zuvor Gegessenen. Während der Anfälle stopfen essbrechsüchtige Menschen leicht essbare, kalorienreiche Nahrung in kurzer Zeit in sich hinein. Aus Angst vor einer Gewichtszunahme erbrechen sie alles wieder, bevor es verdaut wird. Durch das ständige Erbrechen wird der Zahnschmelz zerstört und die Speiseröhre verätzt. Durch mechanische Brechhilfen entstehen häufig Verletzungen. Außerdem kommt es zu Störungen des Mineralstoffhaushalts, die zu Haarausfall, Veränderungen der Haut, Zahnproblemen und gestörten menstruellen Zyklen führen  können. Essbrechsüchtige sind von Herzrhythmusstörungen betroffen. Da sich essbrechsüchtige oft wehrlos und depressiv fühlen, kann es zu Suizidgedanken und -versuchen kommen.

Esssucht (Binge Eating Disorder – BED)

Im Gegensatz zur Magersucht verwenden esssüchtige  Menschen Essen als psychisches Mittel, um sich zu belohnen, zu trösten oder zu beruhigen, was jedoch nur kurzfristig hilft. Das Essen von hochkalorischen Nahrungsmitteln in großen Mengen gerät dabei außer Kontrolle. Mit dem Essen aufhören können esssüchtige Menschen erst, wenn ein unangenehmes Völlegefühl eintritt. Essen ist zentrales Thema, doch Esssüchtige fühlen sich dem Essen ausgeliefert. In Folge der Esssucht nehmen Betroffene bis zu 30 Prozent ihres Normalgewichts zu. Überlastung des Herzens, des Kreislaufs und des Skeletts können zu Schlaganfall, Herzinfarkt,  Leberschäden, Diabetes, Gelenkleiden und Wirbelsäulenschäden führen. Esssüchtige fühlen sich schuldig und unbehaglichund  werden oft ängstlich und depressiv.

Körperbild- oder Körperwahrnehmungsstörung (Dysmorphophobie)

Die Dysmorphophobie bezeichnet die Angst davor, hässlich zu sein. Ein bis zwei Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen. Merkmal von dysmorphen Menschen ist die krankhafte Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen. Minimale Makel werden als extrem hässlich empfunden. Die Folge ist eine übermäßige Beschäftigung mit dem Körper und ständige Kontrolle des Aussehens. Ständig empfinden dysmorphe Menschen den Drang, ihren Körper zu verändern. Chirurgische Eingriffe bleiben oft die einzige Möglichkeit, das Gefühl der Zufriedenheit bleibt dennoch meist aus. In Gesellschaft fühlen sich dysmorphe Menschen extrem  unsicher und beobachtet, dies kann zur kompletten sozialen  Isolation führen. Angstzustände, Minderwertigkeitskomplexe, Selbstwertprobleme und depressive Verstimmungen gehen mit der Dysmorphophobie einher.

Quellenangabe: Sowhat – Professionelle, interdisziplinäre Unterstützung für Menschen, die von Essstörungen betroffen sind.

High in the Sky

  • 19.11.2012, 12:30

Drachen sind ein Zeichen für Freiheit und Muße. Man findet sie am Himmel von Japan bis Europa, von Indien bis in die USA. progress frischt eine Kinderfreude auf.

Drachen sind ein Zeichen für Freiheit und Muße. Man findet sie am Himmel von Japan bis Europa, von Indien bis in die USA. progress frischt eine Kinderfreude auf.

Was will ich?

Zum Drachensteigen braucht man einen Drachen. Aber welchen soll man nehmen? Schließlich gibt es eine unglaublich große Auswahl. Drachen gibt es in allen Farben, unzähligen Formen und Größen. Die erste Entscheidung ist: Soll es ein Einleinerdrachen sein oder ein Lenkdrachen? Der Unterschied zwischen den beiden ist, dass der Einleinerdrachen nur mit einer Schnur und der Lenkdrachen mit zwei Schnüren gehalten wird. Was dabei unbedingt mitbedacht werden sollte, ist, bei welchen Windbedingungen ich meinen Drachen steigen lassen will. Der Einleinerdrachen ist für all jene das Richtige, denen es genügt, den Drachen an den großen Zeh zu binden, sich ins Gras zu legen und ihn von dort aus am Himmel zu beobachten. Hierfür sind Drachen, die bei geringer Windstärke fliegen, geeignet. Der bekannteste ist der charakteristische viereckige Eddy-Drachen.

Einleinerdrachen

Für spontane Ausflüge bekommt man einen Eddy aus Plastik für ungefähr drei Euro im Spielwarengeschäft. Die Auswahl an Motiven reicht von Tweety über Spider Man bis zum Adler. Vorsicht: Die Nylonschnur schneidet bei einer starken Zugkraft ein. Also nicht um den Finger oder Zeh wickeln, sobald der Wind stärker weht. Wer sich einen qualitativeren Drachen leisten will, sollte in ein Fachgeschäft gehen. In Wien bekommt man im Fly High schöne Drachen ab 15 Euro. Worauf man beim Kauf achten sollte: Halten die Nähte, ist das Material gut verarbeitet und ist er für die regionalen Windverhältnisse passend?

Lenkdrachen

Wer gerne ausprobiert und an Tricks tüftelt, ist mit einem Lenkdrachen gut bedient. Hier ist die Auswahl etwas anspruchsvoller. Das billigste Modell im Wiener Geschäft Fly High ist Tango und kostet 58 Euro. Jeder Drachen hat seinen eigenen Charakter. Es gibt einige, die fliegen wie auf Schienen, andere sind verspielter. Um möglichst viel Spaß zu haben, sollte man einen auswählen, der auch zur eigenen Persönlichkeit passt. Da lohnt sich eine Beratung im Fachgeschäft. Zum Beispiel: Ist man chaotischer, eignet sich ein Drachen, der gut im Wind tänzelt.

Selber Bauen

Es ist ein Unterschied, ob man irgendeinen oder den eigenen Drachen hat. Wer einen Lenkdrachen selber bauen will, muss sich fragen, welche Form er haben soll. In Bezug auf weitere Fragen kann man sich in einem Fachgeschäft beraten lassen. Baupläne lassen sich leicht im Internet finden, zum Beispiel auf der Fly-High-Seite. Leider sind die Kosten für einen selbstgebauten Drachen meist höher als beim Kauf eines fertigen. Für eine ganz einfache Version kann man ein trockenes Blatt und Streichhölzer verwenden. Hauptsache, man hat ein Bespannungsmaterial, ein Gestänge und eine Schnur. Als Verzierung kann man einen Schweif anheften. Die klassischen Mascherln sind dafür meist zu schwer, besser sind bunte Streifen, zum Beispiel aus Müllsäcken. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

Tricks

Wie ich ein Fahrrad lenke, so lenke ich auch einen Drachen. Also: Wenn ich an der rechten Schnur ziehe, fliegt der Drachen nach rechts, wenn ich an der linken Schnur ziehe, fliegt er nach links. Wenn man rechts und links schnell abwechselt, dann kommt der Drachen in der Luft zum Stehen. Um zu bewirken, dass der Drachen stehen bleibt, muss man sich auf ihn zubewegen. Dann Kreiseln lassen und den Drachen auf den Bauch oder Rücken legen. Am besten einfach selbst herumprobieren.

Ort

Wenn du einen geeigneten Platz zum Drachensteigen auswählst, sollte hinter dir möglichst viel freie Fläche sein, damit der Wind ungehindert Zugang hat. Bewährte Plätze zum Drachensteigen in Wien sind die Donauinsel bei der Floridsdorferbrücke, der Wienerberg, Laaer Berg, und etwas weiter oben Am Himmel. Wer nachher gerne noch etwas trinken gehen möchte, für die oder den empfiehlt sich der Böhmische Prater in der Löwygrube. Im Umkreis von sieben Kilometern von Fluganlagen ist das Drachensteigen nur bis auf eine Höhe von 100 Metern erlaubt. Im näheren Umkreis nur bis auf 60 Meter Höhe.

Wetter

Jedes Wetter ist für das Drachensteigen geeignet. Regen macht den meisten Drachen nichts, bei Gewitter sollte man den Drachen aber doch zuhause lassen. Die besten Wetterbedingungen sind bei 23 Grad und 15 km/h Windgeschwindigkeit gegeben. Drachen kann man das ganze Jahr hindurch verwenden – entgegen der Meinung im deutschsprachigen Raum, dass nur der Herbst Drachenzeit sei.

Zeit und Leute

Nimm dir Zeit. Drachen machen erst richtig Spaß, wenn man sich Zeit lassen kann. Drachensteigen- Lassen ist ein kommunikatives Hobby. Am besten man sucht sich ein paar Leute zusammen und geht gemeinsam. Drachen machen gute Laune. Es ist seltsam, aber: Wer zum Drachen hoch am Himmel aufsieht, der_die lächelt. Wenn sich mal zwei Drachen ineinander verheddern, dann wird nicht geschimpft. Sondern man kommt beim Entwirren ins Gespräch. So bleiben auch Leute, die ohne Begleitung unterwegs sind, nicht lange allein.

Das Alter ist unbeherrschbar

  • 17.11.2012, 01:36

Altern, das hat nichts mit Science Fiction zu tun. Eine Zusammenschau von Marlene Brüggemann.

Altern, das hat nichts mit Science Fiction zu tun. Eine Zusammenschau von Marlene Brüggemann.

Zu essen, zu trinken und zur Toilette zu gehen verlangt dem Ehepaar Anne und Georges in Michael Hanekes neuem Film Amour alle Kräfte ab. Georges treibt mehrmals eine weiße Taube aus der Wohnung und mit ihr fliegt die Muße des Alters davon. Denn seit Anne einen Schlaganfall hatte, geht es ihr von Tag zu Tag schlechter. Schließlich bittet sie Georges darum, sie umzubringen. Er aber willigt nicht ein und nimmt den Kampf mit Annes Krankheit auf. Doch Annes Zustand verbessert sich nicht, bis Georges sie aus Verzweiflung mit einem Kissen erstickt. Michael Haneke hat uns mit Amour einen Ausnahmefilm geliefert, der zeigt, dass Altern mehr bedeutet als runzlige Haut, leisen Buttersäuregeruch und gelbe Flecken auf der Hose. Die Grundlage für seinen Film war tragisch unspektakulär: der Rheumatismus seiner Tante. Im Falter-Interview (37/12) wurde er gefragt, ob Amour zu Beginn seiner Karriere schwierig zu realisieren gewesen wäre. Haneke antwortete: „Sicher. Große Zuschauerzahlen lässt das Thema ja nicht erwarten.“

Die Lebenskünstlerin. Maude in Harold and Maude lässt das Alter gar nicht so weit kommen. An ihrem 80. Geburtstag schluckt sie Tabletten. Sie entzieht sich Harold und übernimmt die Verantwortung für ihren Tod. Die Reaktion Harolds: pures Entsetzen. Er ist rund 60 Jahre jünger als Maude, als er sich in sie verliebt. Dass Maude sich umbringen will, kann er nicht akzeptieren. Er will sie retten. Aber wovor? Maude warnt Harold: „Viele Menschen genießen es, tot zu sein. Aber sie sind nicht wirklich tot. Sie gehen nur in Deckung vor ihrem Leben.“ Und sie meint die Jungen wie die Alten. Harold entdeckt Maudes eintätowierte KZ-Nummer am Unterarm. Sie sprechen nicht darüber, dafür bleibt Maude keine Zeit. Maude düst auf geklauten Polizeimotorrädern dahin und rettet Bäume vor dem Ersticken. Sie erfindet Maschinen, die die Gerüche von Zigarettenqualm, Roast Beef und Schnee produzieren. Dass Maude ihr Leben einmal nicht mehr selbst bestimmen könnte, will sie nicht akzeptieren – sie nimmt sich vor den Augen des verzweifelten Harold das Leben. In Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran lernt der Teenager Momó mit Monsieur Ibrahim das Leben kennen. Ibrahim adoptiert Momó und kümmert sich um ihn, nachdem sich Momós Vater umgebracht hat. Er lehrt ihn das Leben, die Liebe und den Koran. Er ist der alte Weise, der Momó sagt: „Das, was du liebst, Momó, das gehört dir, auf ewig. Was du behältst, das ist für immer verloren.“ Monsieur Ibrahim hat sein ganzes Leben in seinem Lebensmittelladen verbracht. Mit Momó kehrt er in das Land zurück, das er als Junger verlassen hat: die Türkei. Ibrahim kauft ein rotes Cabriolet und macht den Führerschein mit Momós Hilfe. In der Türkei verunglückt Ibrahim mit dem Wagen. Bevor er stirbt, versichert er Momó: „Mein Leben war schön und ich bin alt. Ich sterbe nicht, ich gehe nur ein in die Ewigkeit.“

Die Alten können anders. 66 Jahre – so alt ist die Punkikone Patti Smith. Am 28. August gab sie ein Konzert in der Arena Wien, einer ihrer „favourite places to play“. Zwei Stunden lang beschrie sie unter freiem Himmel den Mond, fegte über die Bühne und zerriss die Saiten ihrer Gitarre. Von Punk kann man sich nicht pensionieren lassen. Dem Rock entstirbt man, die einen früher, die anderen später. Janis Joplin, Jimi Hendrix, Jim Morrison und Brian Jones wären 2012 allesamt circa 70 Jahre alt. Alle starben jedoch im 27. Lebensjahr. Patti Smith hat den 27 Club überlebt. Im Juni erschien ihr neues Album Banga. Es soll nicht die einzige Veröffentlichung einer Rocklegende in diesem Jahr bleiben. 2012 erschienen auch Tempest von Bob Dylan, 71, und Privateering von Mark Knopfler, 63. Ihr Altern gibt nicht den Eindruck von dem, was Paul McCartney mit 25 so stoisch besang:

Doing the garden/ Digging the weeds/ Who could ask for more?/ Will you still need me/ Will you still feed me/ When I'm sixty-four?

Der Song When I’m sixty-four erschien 1967 auf der Beatles Platte Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band. Er vermittelt das Bild eines Ehepaars, das seinem Lebensabend zufrieden entgegenblickt. Es sind die Jungen, die das Altern als sinnvoll und glücklich besingen. Udo Jürgens war 33, als er in den Studios trällerte: „Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an/mit 66 Jahren, da hat man Spaß daran.“ Yiha, wenn ich mal in Rente bin, dann lass’ ich mir eine Vokuhila wachsen, schwing’ mich auf mein Bike und tanz’ mit der Oma in der Disko. Auch gut. Trotzdem heißt Altern oftmals nicht „Ich gewinne mein Alter!“, sondern „Ich verliere meine Jugend.“

Pessimismus. Die beiden Norweger Eirik Glambæk Bøe und Erlend Øye sind 1975 geboren. Als Indie Pop Band Kings of Convenience schreiben sie eine Ode an die Jugend: The Power of Not Knowing.

I see you changing girl/ From Day to Day/ Impressed by and trying to imitate/ Those who are older/ Those who are colder/ Suddenly embarrassed by your age/ Our bigger blessing, girl/ Is being young/ The power of not knowing/ Where you belong/

Und es geht noch drastischer: I’m Not Ready For The Grave Yet ist der Titel des neuesten Albums von B. Fleischmann. Das Cover zeigt einen Sarg im leeren Raum, gefüllt mit orangen, grünen und blauen Bällen. Ähnliche Bälle findet man in einem Traum von Kinderspaß: ein Raum voll mit bunten Bällen, der zum schwimmen einlädt. Man bewegt sich auf das Grab zu und merkt es nicht. Dann sieht und hört man schlechter, steht schwer auf und manche fürchten sich. Da hilft es auch nicht, das Licht bei Nacht brennen zu lassen und sich die Ohren zuzuhalten. Kann man im Alter ein Ende mit dem eigenen Leben finden? Die französische Chansonsängerin Édith Piaf schloss glatt mit den Liebhaber_innen, den Drogenexzessen und ihrem Werk ab. Ihre Mitmenschen hätten sie gerne im Alter schwer daran tragen sehen. Stattdessen sang Piaf einen ihrer größten Hits, drei Jahre vor ihrem Tod. Non, je ne regrette rien. – „Nein, ich bereue gar nichts.“

„Liebe ist das Erstrebenswerte, Normalität ihr Schatten“

  • 06.11.2012, 01:50

Im Zuge des rampenfiber-Festivals traf Progress die Berliner Band Normal Love. Mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner sprachen die Bandmitglieder Paula P., Inka Kamp und Ben Kaan über gesellschaftliche Normen, Feminismus und natürlich über die Liebe.

Im Zuge des rampenfiber-Festivals traf Progress die Berliner Band Normal Love. Mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner sprachen die Bandmitglieder Paula P., Inka Kamp und Ben Kaan über gesellschaftliche Normen, Feminismus und natürlich über die Liebe.

progress: Normal Love, was ist für euch diese normale Liebe?

Inka Kamp: Ja, das ist doch auch die Frage. Ich finde, der Name ist so schön, weil er so offen ist. Ab dem Moment, wo man den Fokus auf die Normalität lenkt, wird es interessant. Weil das ist genau das, worüber man sonst nicht spricht. Man fragt sich, was ist die Norm, was ist normal oder normale Liebe.

progress: Wie kam es zu dem Namen Normal Love?

Inka Kamp: Er ist eine Referenz zu einem Film von Jack Smith aus den 1960er Jahren, der ebenfalls Normal Love hieß. In diesem Film ist sehr unklar, was Normalität ist.

progress: Wie kann man dem gesellschaftlichen Bild von Normalität entgegenwirken?

Pauline P: Das ist eine taktische Frage. Ich denke, man muss sich selbst fragen: Warum gibt es diese Normen, wie sehen diese aus und wie werden sie gemacht? Wer gehört zu dieser Norm und wer nicht? Manchmal ist es lustiger zu sagen, dass etwas, das nicht als eine Norm wahrgenommen wird, jetzt die Norm ist, anstatt sich selbst immer nur zu marginalisieren.

progress: Fließt das Spiel mit den Normen auch in euer Band-Konzept hinein?

Ben Kaan: Das ist einfach auch die Erfahrung, die wir jetzt mit unserem Namen gemacht haben. Ich denke, jede_r würde die eigenen Erfahrungen, die gemacht wurden, als normal setzen. Es gibt aber auch in Berlin gerade diesbezüglich einen kleinen Diskurs: Christiane Rösinger hat auch dieses Buch Liebe wird oft überbewertet herausgebracht und ist damit aufgetreten. Ich denke, Liebe mit einem Adjektiv wie normal zu paaren ist eine gewisse Provokation. Weil die Liebe ist ja gemeinhin das total Erstrebenswerte und die Normalität wird immer als ihr Schatten unter den Tisch gekehrt.
Die Leute reagieren eigentlich sehr positiv auf unseren Namen. Es ist ein Name, den jede und jeder für sich selbst interpretieren kann. Da wollen wir auch gar nicht zu viel vorgeben.

P: Das ist auch das, was interessant wird. Wenn man über Normalität spricht, wird es sehr offen. Wer kann sich damit identifizieren und wer nicht. Für uns ist dieser offene Name sehr schön.

progress: Was sind eure Einflüsse?

P: Wir haben unglaublich viele Einflüsse. Einerseits gibt es unsere Vorliebe für Discomusik und andererseits eben diese mit Indie-Elementen zu verbinden. Also so etwas wie Disco zu machen mit analogen Instrumenten, gefällt uns sehr gut. Dabei wollen wir auch unkonventionelle Songstrukturen haben wie zum Beispiel Zweigesänge, das ist sonst eher nicht so verbreitet. Aber auch feministische Bands haben uns beeinflusst.

B: Visuelle Faktoren spielen bei uns ebenso eine große Rolle. Inka, Pauline und ich haben auch viel mit Film zu tun. Wir haben beim Songwriting nicht immer nur die Musik im Kopf, sondern eben auch visuelle Elemente, die uns inspirieren. Viele Songs sind Szenen, die wir selber mit Kreuzberg, als Lebensmittelpunkt assoziieren. Das ist ja nicht nur eine musikalische Kultur, sondern da steckt das Konzept Popkultur dahinter. Gerade die beiden Ecken – elektronische Einflüsse und das, was wir analog machen, greift eben die beiden Schienen auf, wo wir uns nicht eindeutig für eine entscheiden wollen. Also auf der einen Seite die Club-Tradition mit der elektronischen Musik aus Berlin und gleichzeitig ein bisschen Kreuzberg mit seiner Kellerraumromantik und dem Punk.

P: Wir spielen auch in dem Proberaum, in dem Nina Hagen in den 1980er Jahren geprobt hat. Vielleicht gibt uns das auch ein bisschen Punk-Spirit.

progress: Ihr tretet auf queer-feministischen Festivals auf, was bedeutet Queer-Feminismus für euch?

P: Für mich war das schon immer wichtig in allen Sachen, die ich gemacht habe. Aber nicht nur Queer und Feminismus, sondern auch andere Politiken oder generell kritische Positionen zu beziehen. Feminismus ist immer essentiell gewesen für die Musik, die mir wichtig war. Ich denke nicht, dass ich in meiner eigenen Biografie einen Begriff von Musik oder Kunst von Feminismus trennen kann. Das heißt einerseits, Role-Models zu haben und sich auf eine Geschichte zu beziehen, die noch nicht so bekannt ist. Aber auch versuchen, diese sichtbar zu machen und in einer Diskussion mit anderen Frauen stehen. Das ist wichtig für die Band, auch wenn es nicht der einzige Kontext ist, in dem wir uns bewegen.

B: Soweit ich das erlebt habe, seit ich mit Pauline und Inka zusammen spiele und wir auch gemeinsam auftreten, ist Feminismus ein Begriff, den man nicht zu sehr verschlagworten sollte. Für uns ist wichtig, dass wir über diesen Zusammenhang auf Tuchfühlung gehen können mit anderen Leuten, die aktiv werden, wo wir dann wieder spielen können. Das ist so ein Ding, wo man sich einer gemeinsamen Sache verschreiben kann, ohne das endgültig zu beschreiben.

P: Ein wichtiger Aspekt für mich ist auch, dass ein großer Teil der Leute, für die ich eben Musik mache, Frauen sind. Das spielt für mich eine so große Rolle. Es gab so wichtige Frauen und ich sehe mich in einer Geschichte, einer Tradition. Ich möchte Sachen mitentscheiden, mitbestimmen und das eben auch weiter geben.

progress: Auf eurer Myspace-Seite findet man Fotos, die sehr mit Geschlechterrollen spielen, beispielsweise schminkt ihr euch gegenseitig alle mit Lippenstift, was hat es damit auf sich?

P: Bei diesem Bild ist vor allem lustig, dass nicht nur Ben, sondern auch Inka und ich normalerweise keinen Lippenstift tragen. Also sind wir alle so ein bisschen in Drag. Das fanden wir sehr lustig. Es ist ein Bild aus einem Film von Jack Smith, in dem  nur Männer das mit dem Lippenstift machen. Daraufhin dachten Inka und ich, dass wir beide auch in Drag gehen mit dem Lippenstift. Die Normalität wäre wohl, dass Männer das machen und darum machen wir das jetzt auch.

progress: Wie lässt sich eure politische Einstellung mit Party vereinbaren; ist das überhaupt notwendig?

P: Das ist sehr wichtig. Ich denke, das hat etwas mit Begehren zu tun. Es geht um Lust und darum, Sachen miteinander zu teilen. Und das geht nicht nur auf der Straße oder an der Uni, sondern auch in einem Partyraum. Das gehört zusammen.

B: Natürlich ist es eine Gratwanderung, aber wir wollen eben nicht auf diesen Unterhaltungsaspekt reduziert werden. Genauso wenig wollen wir, dass man jetzt bei all dem das vergisst, was als Stimmung oder Lust und Begehren passiert. Wie gesagt, eine Gratwanderung, aber es ist gut, dass man zwischen diesen beiden Ebenen hin und her wechseln kann. Man kennt das ja: Oft gibt es diese Metaebene nicht und dann ist es schön, auch mal unbewusst eben dort erwischt zu werden. In genau dem Moment, in dem klar ist: „Cool, ich kann also gleichzeitig tanzen und denken“. Vielleicht ist das ein bisschen arrogant. Aber darauf läuft es irgendwie hinaus, sich nicht ganz da drinnen zu verlieren aber sich schon gehen zu lassen.

Feuer und Flamme für Sprache

  • 06.11.2012, 01:31

Sookee, Quing of German Hip Hop, erzählt im Gespräch mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner von ihrer Faszination an Sprache, über Geschlechternormen und politisches Engagement.

Sookee, Quing of German Hip Hop, erzählt im Gespräch mit Marlene Brüggemann und Oona Kroisleitner von ihrer Faszination an Sprache, über Geschlechternormen und politisches Engagement.

progress: Woher kommt eigentlich dein Künstlerinnenname Sookee?

Sookee: Den hab ich in alten Graffiti-Zeiten gewählt. Ich war auf der Suche nach einem Namen, den man möglichst unterschiedlich schreiben kann. Bei Graffitis geht es ja darum, Buchstaben zu gestalten und dass es nicht immer das gleiche, sondern abwechslungsreich ist. Mein Wunsch war, unterschiedliche Schreibungen zu ermöglichen. „Sookee“ hab ich außerdem von dem Film „Die Hexen von Eastwick“ geklaut: Michelle Pfeiffer spielt dort eine Rolle, die heißt Suki. Graffiti war dann irgendwann für mich kein Thema mehr, aber der Name war da. 

progress: Wie empfindest du die Wechselwirkung von deinem akademischen Hintergrund und Hip Hop?

Sookee: Hip Hop ist eigentlich das Gegenteil von Universität, wo die Straße als Ort des Lernens inszeniert wird. Student_innenrap ist eher ein diffamierender Begriff für langweiliges unmännliches Zeug. Es ist also ein recht großes Spannungsfeld. Ich kriege oft die Rückmeldung, meine Texte wären zu schwierig und anspruchsvoll. Man kenne verschiedene Wörter nicht und die müsste man dann erst googlen. Das finde ich aber gar nicht schlimm, dafür gibt es ja so etwas wie Google. Du musst dich eben nicht erst an eine Uni setzen, um dich mit bestimmten Begriffen zu befassen. Du setzt dich hin, googlest die Scheiße und kriegst die Antwort ausgespuckt. Wenn du Bock hast, dann setzt du dich halt hin und lernst etwas dazu – oder eben nicht. Ich habe aber auch oft Workshops mit Kindern und Jugendlichen, wo ich gemerkt habe, dass das auch ein Gesprächsanlass ist.

progress: Wie sieht das aus?

Sookee: Zum Beispiel letztens in der Schule, in der ich seit drei Jahren arbeite (lacht), jetzt kommt eine Geschichte: Wir sind eine alternative Grundschule, so ein linkes Bildungsprojekt in Kreuzberg, wo die Leute von den Hausprojekten und vom Wagenplatz ihre Kinder hinschicken. Uns werden gerade die Räume gekündigt, darum haben wir uns an diese Kotti (Kottbuser Toor, Anm.) und Co. Initiative angeschlossen.  Es gab von der Initiative eine Demo, an der wir als Schule mit unseren kleinen Leuten teilgenommen haben. Im Vorfeld hab ich mit den Kindern das Positionspapier durchgenommen und eine grammatische Übung mit Lückentexten gemacht. Darin kam der Begriff „Solidarität bekunden“ vor. Ein Mädchen fragte mich: „Du sagst doch auch immer ‚Ich zeig mich solidarisch mit dem Regenbogen‘, ist das damit gemeint?“ Und da merkt man, dass es eben auch um diese Umwege geht, zu lernen. Das finde ich spannend. Ich google ja auch Sachen, die ich nicht verstehe. Letzten Endes schreibe ich meine Texte aber so wie ich will; und so kann ich das am besten. Die Uni hat mich verpflichtet, mich mit Sachen zu beschäftigen und das ist auch gut so.

progress: Du hast Gender Studies und Linguistik studiert …

Sookee: Die Studienwahl hat mich enorm politisiert, die Entscheidung für diese Fächer war total wichtig für mich. Sie hat mich verändert und noch ein Stück vorne geschubst. Das schlägt sich dann natürlich thematisch in meinen Texten nieder. Und wiederum komme ich mit den Inhalten, die ich an der Uni gelernt habe, zurück zu ihr mit meinen Vorträgen, die ich zu Gender und Pop-Kultur halte. Das ist also eine ziemlich große Wechselwirkung.

progress: Auf deinem zweiten Album findet sich der Track Qunig. Wie kam es zu diesem Konstrukt und was hat Quing für eine Bedeutung für dich?

Sookee: Quing habe ich aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, dass ich nicht wusste, wie ich mich einordnen soll. Es gibt im Rap bestimmte Image-Angebote und Identifikationsfelder für Frauen, mit denen ich allen nicht glücklich war. Es gibt diese Schubladen, die schon vorgefertigt sind, in die Frauen reingeworfen werden: die Sisters, Bitches, Gangstagirls. Das war alles nicht meins. Da war für mich die Frage „was machst du jetzt?“ Du brauchst schon irgendwas, um dich mit einer Identität in diesem ganzen Feld auszustatten. Du brauchst irgendwas, auch für dich selbst zur Orientierung.

progress: Und wieso gerade Quing?

Sookee: Im Rap gibt es ganz royal diese Angewohnheit, sich mit King oder Queen auszustatten – auch im Namen. Es bot sich für mich an, das zu verschmelzen und die sprachliche Mitte zu wählen. Das ist eine schöne positive Irritation in Bezug auf Geschlechter und stellt meiner Meinung nach eine Öffnung her. Da war ich glücklich, dass das plötzlich durch Quing so einfach da war.

Es ist aber auch der Versuch, eine Möglichkeit für Hip-Hop-affine Leute, aber auch Leute in anderen Subkulturen, zu eröffnen einen Bezug haben, in dem sie sich wohl fühlen und ein Feld haben, in dem sie sich aufhalten können. Eine Referenz. Es geht darum, sich gegen Hierarchien und Normen zu wenden und in Frage zu stellen, wie denn alles zu sein hat. Es geht nicht nur um Antisexismus und gegen Homophobie, es geht auch um Körpernormen, Nationalität … es geht darum, sich ein bisschen im Dekonstruieren auszuprobieren. Neue Sachen für sich zu eröffnen und die Dinge nicht so hinzunehmen, wie sie halt erscheinen, sondern Gegenrealitäten zu schaffen.

progress: Und davon erzählt der Song?

Sookee: Der Track erzählt von verschiedenen Aspekten dessen. Aber auch zu sich selbst gut zu sein, sich selbst zu lieben. Du rennst halt ein ganzes Leben lang mit dir herum. Wenn dich irgendwer anderer nervt, kannst du sagen „Tschüss, ich bin raus. Alles Gute noch im Leben.“ Aber du bist ja immer da. Wenn man es schafft, sich gegen bestimmte Normen zu wehren und sich nicht mehr so sehr davon einnehmen zu lassen, ist das jedenfalls ein guter Schritt in Richtung Selbstanerkennung und bietet viel Entwicklungsfreiheit.

progress: Quing ist eine Sprachkreation von dir, auf deiner Homepage verwendest du geschlechtergerechte Sprache usw. Wie wichtig ist Sprache für dich, wie machtvoll ist sie? 

Sookee: Es ist der Wahnsinn, dass Menschen die Münder aufmachen und andere beginnen zu lachen, zu weinen oder nachzudenken. Ich finde es faszinierend, dass so etwas wie Kommunikation auf so vielen unterschiedlichen Levels stattfinden kann. Auch Gebärdensprache, ist für mich unglaublich spannend. Was Menschen alles auf die Reihe kriegen, um zu kommunizieren. Ich bin da Feuer und Flamme, ich könnte heulen. Ich stehe wie ein kleines Kind da und will davon ganz viel mitkriegen. Ich habe ein großes Vertrauen in Sprache und es ist Teil unseres sozialen Handelns, sonst würde es sich ja nicht so in unserer Realität auswirken. Ich muss manchmal darauf achten, dass ich auch nicht überreagiere, wenn Leute bestimmte Begriffe verwenden. Ich will auch keine Maulklappen verteilen. Ich fände es eben schön, wenn Menschen verstehen würden, warum mir das so wichtig ist und warum ich diese Begriffe nicht verwende. Weil ich auch nicht Teil dieser Reproduktion sein möchte, die wieder zu der Normalisierung von Konzepten und Ideologien und Menschenbildern wird. Auch was Gedanken sprachlich erfassen.

progress: Woher kommt das?

Sookee: Ich hab das schon als Kind immer gemocht, wenn Leute toll erzählen können. Meine Mutter ist eine großartige Erzählerin und sie hat nie eine Uni von innen gesehen. Der Bildungsweg wurde ihr in der DDR verbaut, weil sie nicht in der FDJ (Freie Deutsche Jugend, Anm.) war. Deswegen ist sie einfach in die Berufspraxis gegangen. Es braucht einfach keinen akademischen Background, damit Leute mit Sprache umgehen können. Ich habe das geliebt. In der Schule waren dann natürlich alle Fächer, die was mit Sprache zu tun hatten, meine liebsten. Ich habe sehr viel gelesen und geschrieben. Ich war auch immer so stolz, wenn ein Text oder ein Brief geglückt war.

progress: Du bist in der DDR geboren. Welchen Einfluss hatte der Realsozialismus auf dich?

Sookee: Meine Eltern waren in der DDR sogenannte Oppositionelle und die Kirche hat damals Leuten, die widerständig waren, einen Schutz geboten. Meine Eltern waren über die Kirche organisiert und mein Vater musste in den Knast, weil er den Dienst an der Waffe verweigert hat. Aus dieser Version des Sozialismus wollten meine Eltern dann auch fliehen vor der ganzen Repression, die dahinter stand; auch wenn es eine unglaublich traurige Geschichte ist, dass der Sozialismus an der Stelle nicht funktioniert hat. Irgendwann wurde unser Ausreiseantrag bestätigt und wir hatten 24 Stunden Zeit, das Land zu verlassen, oder mussten für immer dort bleiben. Ich war damals Zweieinhalb, ich hab nicht viel davon mitbekommen, aber das Thema schlägt sich dann natürlich im Familiengefüge nieder. Nur weil du weg bist, ist es ja noch nicht vorbei. Da hängt biografisch einfach viel zu viel dran. Darum war es auch ein hochpolitischer Teil meiner Familienbiografie, der auch mein politisches Bewusstsein relativ früh angefüttert hat. Dadurch, dass meine Eltern dann plötzlich demonstrieren gehen konnten bei der Volkszählung oder Öl-Krisen. Sie konnten dann viel öffentlicher über Politik reden, weil es machbar war und ich habe das als Kind schon mitbekommen und war auch auf relativ vielen Demos und hatte früh ein Verständnis davon, wie sich Politik anfühlt, selbst wenn man nicht Berufspolitiker_in ist. Dass der Sozialismus in der Form und an der Stelle so sehr gescheitert ist, ist halt Scheiße. Es bleibt eben noch Utopie.

progress: Wie lässt sich Politik mit Musik verbinden?

Sookee: Das klingt vielleicht ein bisschen größenwahnsinnig, aber soziale Bewegungen waren immer mit Musik begleitet. Du musst ja auch beispielsweise auf einer Demo zwischen den Redebeiträgen mal Musik spielen. Wie andere auch kulturelle Produkte wie Film oder Fotografie oder Tanz  hat Musik einen gewissen Raum, um Inhalte rauszureichen. Diese können unbedarft sein und nur von der Feierei berichten oder sich einfach inhaltlich anders ausstatten. Und damit unterstützend in einen realpolitischen Bereich eingreifen. Ich glaube Musik ist eine gute Ergänzung. Ich könnte über diese ganzen Dinge auch Bücher schreiben, aber das ist mir viel zu aufwendig und das kann ich auch nicht so gut. Diese Songs sind Versuche, das was diskursiv gerade durch die Szene oder die Gesellschaft bewegt, einzufangen und in eine Dreieinhalb-Minuten Version zu verpacken. Es sind kleine Zusammenfassungen dessen, woran ich gerade herumgrübel.

progress: Und worüber grübelst du gerade?

Sookee: Auf der nächsten Veröffentlichung wird es einen Track geben, der sich mit Intersektionalität befasst. Das klingt total theoretisch, aber ich glaube, das ist möglich.
Ein Song auf dem aktuellen Album handelt von männlicher Dominanz in vermeidlich emanzipatorischen Szenen. Gerade dieser Song ist ein Beispiel, dass Leute mit ihrer konkreten Politik eine Unterstützung erhalten durch meine Songs. Ich habe ganz viele Rückmeldungen erhalten, dass sie durch meinen Song plötzlich darüber sprechen können, dass Frauen genervt sind, immer nur protokollieren zu müssen. Wo klar ist, Jungs haben in einer linken Politik bestimmte Aufgaben und Mädchen ebenso und es gibt ein Unbehagen darüber – das wurde lange hingenommen. Da gibt es dann schon einen Einfluss.

 

 

 

Theorie und Party

  • 30.10.2012, 17:51

Das queer-feministisches Musikfestival rampenfiber findet heuer zum dritten Mal statt. Progress hat die Organisatorinnen* getroffen, um mit ihnen über feministische Popkultur, queer feministische danger zones und das Magazin fiber zu sprechen.

Das queer-feministisches Musikfestival rampenfiber hat heuer zum dritten Mal stattgefunden. Progress hat die Organisatorinnen* getroffen, um mit ihnen über feministische Popkultur, queer feministische danger zones und das Magazin fiber zu sprechen.

progress: Wie ist es zum rampenfiber gekommen?

Angela: Das erste rampenfiber hat 2006 stattgefunden. Die Idee ist damals aus dem Zeitschriftenprojekt fiber heraus entstanden, um die zehnte Ausgabe zu feiern. Wir wollten nicht nur ein Fest mit einer Band oder Auflegen machen, sondern etwas Größeres. Auch um ein Gegengewicht zu den stark *männlich-dominierten Auflegereien und Bühnenauftritten zu schaffen. Das hat sich damals auch noch in der Formulierung sehr widergespiegelt: „*Frauen fördern“. Das war jedenfalls die Intention 2006.
Zum rampenfiber 2009 kam es dann, als alle den Organisations-Schock vom ersten überstanden hatten. Es gab damals fast jedes Jahr ein Ladyfest oder queer-feministische Tage und in diesem Jahr gab es einfach nichts. Das kam uns wie ein Loch vor, da konnte man gut ein queer-feministisches Fest organisieren – also warum nicht wieder rampenfiber.

progress: Das Programm war heuer international angelegt – Noblesse Oblige beispielsweise kam nur fürs rampenfiber den weiten Weg aus London nach Wien. Wie kam es dazu?

Katrin: Das war extra gewählt. Als wir überlegt haben, worum sich das Festival thematisch drehen soll, haben wir uns dazu entschlossen, dass Internationalisierung ein Schwerpunkt sein soll.

Angela: Die Grunddiskussion war, warum wir rampenfiber überhaupt noch machen. Wir haben überlegt, warum wir es politisch wichtig finden ein queer-feministisches Musikfestival zu machen und internationale Vernetzung war ein Punkt, den wir dieses Jahr angehen wollten.

progress: Auch im Bezug auf die Künstler_innen und Genres war es vielfältig…

Angela: Was wir bei rampenfiber versuchen, ist zu zeigen, dass gerade *Frauen sehr unterschiedliche Musik machen. Dass es eben nicht immer nur Gitarre mit netter Stimme auf einem Stuhl ist, wobei das ja auch großartig ist. Wir wollen zeigen, dass es ganz Unterschiedliches gibt an Musiksparten, Genres, und Performances und das ist  auch dieses Jahr so passiert.

progress: In Österreich gibt es kaum *weibliche Produzentinnen, würde die Musiklandschaft anders aussehen, wenn mehr *Frauen hinter der Musik stehen würden?

Katrin: Das setzt so viele Vorannahmen voraus, die schon vielleicht zu klischeehaft werden. Die Annahme, *Frauen würden *Frauen fördern, stimmt eben nicht immer. Da unterscheidet sich die Gruppe *Frauen innerhalb oft mehr als zu *Männern.

Katharina: Und dann auch noch in eine Richtung, die so anders als der Mainstream ist.

Angela: In Wien gibt es mittlerweile mehrere Labels, die von *Frauen betrieben werden. Dadurch gibt es meiner Meinung nach eine verstärkte queer-feministische Musikszene. Daraus kann man schon rückschließen, dass wenn sich *Frauen mehr an die Dinge wagen und Projekte aufziehen, sich das Musikbusiness verändert.

progress: Die Veranstaltungsorte waren nicht die typischen queer-feministischen Räume. Wie kam es zu der Auswahl?

Katharina: Wir wollten diese Räume bespielen, um eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen und nicht immer in einem kleinen Raum zu bleiben. Das birgt aber auch Gefahren. Da muss man mit bestimmten Situationen rechnen, die wir eher nicht wünschen. Wie damit umgegangen wird, ist ein großes Thema bei uns.

Katrin: Das war auch schon 2009 so, da stand dann groß auf einem Transparent über dem Eingang „You’re entering a feminist danger zone“, dieses Jahr ist es erweitert um die queer-feminist danger zone. Es soll eine queer-feministische Raumnahme sein. Ein ganz bewusster Satz, dem wir uns  aussetzen. Zum Beispiel, indem wir mit den Securities Workshops machen und uns mit ihnen absprechen.

progress: Wie geht ihr mit sexistischen Übergriffen um?

Daniela: Das ist auch ein Grund, warum es die Securitytreffen gab. Wir haben uns diesmal mit positiv und negativ Beispielen vom letzten Mal befasst. Eine wichtige Aussage von uns ist eben, dass nicht nur körperliche Gewalt Gewalt ist, sondern dass auch durchaus das Gegenüber sagt: „Das passt nicht, es reicht“.

Angela: Wir griffen dabei aber nicht nur auf die Securities zurück, sondern hatten auch Helfer_innen, die vor Ort und auch ansprechbar waren, wenn unangenehme Situationen passieren oder Übergriffe stattfinden. Uns ist sehr wichtig, dass das nicht nur auf die Securities ausgelagert wird. Und Raumnahme meint in dem Fall, wie kann ich den Raum so gestalten, dass sich alle angenehm sind.

progress: Das rampenfiber entstand aus der  Zeitschrift fiber, die Popkultur aus einem feministischen Blickwinkel beleuchtet. Was ist die Geschichte von fiber?

Katrin: Es ist aus dem Verein nylon entstanden. Mittlerweile gibt es fiber seit zehn Jahren und zwanzig Ausgaben. Ziel ist Präsenz in einem sehr *männlich-dominierten Musikbiz im Magazinbereich zu schaffen.

Angela: Damals unter der blau-schwarzen Regierung war klar, dass man eine Öffentlichkeit schaffen muss, die feministisch Gesellschaft und Popkultur kommentiert.

progress: fiber hat den Untertitel Werkstoff für Feminismus und Popkultur. Was ist dieser Werkstoff?

Katrin: Die Grundidee bei allen, die dieses Magazin gemacht haben, war mehr zu sein, als etwas, das man konsumieren kann. Mit der fiber soll etwas gemacht werden – gewerkt werden. Zum Teil in der wortwörtlichen Bedeutung, dass beispielsweise Bauanleitungen für einen Lipstick-Vibrator mit drinnen sind. Zum anderen aber, dass es etwas ist, womit man sich auseinander setzen kann. Bewusst kontroverse Themen angehen. fiber ist immer genau das, was Menschen auch einschicken; seien es Artikel, Illustrationen, oder was auch immer.

Katharina: Auch im Sinne eines Do-It-Yourself-Gedankens. Popfeminismus oder Popkultur ist immer wieder eine Diskussion, die wir im fiber haben. Das ist ja für jede_n etwas anderes, aber das ist es nicht nur. Es geht uns um feministische Bildsprache.

Angela: Popkultur darf eben nicht nur auf Musik, Film und Fernsehen reduziert werden. Popkultur muss als Gesellschaftskommentar verstanden werden.

Katrin: Auch, dass feministische Kritik nicht nur auf hochgeistigen Metaebenen und abgeschlossenen Räumen stattfindet, sondern eine Alltagsgeschichte ist. Das Private ist nun mal politisch und das Politische ist privat.

Daniela: Was die Popkultur eben auch markiert, ist die Mischung aus Theorie und Party. Was auch für eine queer-feministische Szene sehr markant ist.

progress: Wer ist eure Zielgruppe?

Angela: Wir produzieren ein Heft und ein Festival für ein interessiertes Publikum, das dem Gedanken des Queer-Feminismus nahe steht. Aber wir versuchen mit diesem Projekt auch Leute zu erreichen, die sich vorher noch nicht damit auseinandergesetzt haben und ich glaube, dass das Heft auch sehr gut kann.

Katrin: Sprache und Bildsprache sind nicht zu unterschätzen. “Macht Welt schafft Welt macht Realitäten” ist eine Grundüberzeugung. Die Grundaussage ist jedenfalls, dass Sprache nicht etwas ist das „nur“ ist, sondern Sprache kreiert Wirklichkeit und in der Hinsicht nutzen wir sie. Beim rampenfiber gibt es von fiber auch einen Workshop zu feministischer Mediengestaltung. 

Die offizielle Fiber Webseite

Das Magazin fiber besteht aus einem festen Kollektiv. Der Einstieg ist jederzeit möglich.
Zum Mitmachen einfach ein Mail an kontakt@fibrig.net schreiben oder zu einer der offenen Redaktionssitzungen vorbeikommen.

Mehr als eine

  • 30.09.2012, 21:49

Das Transgender Equality Network Ireland (TENI) tritt für eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Transgender-Personen in Irland ein. progress sprach mit dem TENI-Aktivisten Broden Giambrone über die Herausforderungen einer Bewegung.

Das Transgender Equality Network Ireland (TENI) tritt für eine rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung von Transgender-Personen in Irland ein. progress sprach mit dem TENI-Aktivisten Broden Giambrone über die Herausforderungen einer Bewegung.

progress: Der Begriff Transgender wird sehr unterschiedlich verwendet. Was bedeutet Transgender für TENI?

Broden Giambrone: Alle Menschen, deren Geschlechtsidentität von jener abweicht, die ihnen bei ihrer Geburt zugewiesen wurde fallen für uns unter den Begriff Transgender. Konkret: Crossdressing, Transsexualität, Travestie, Gender-Queer oderGender-Fluid  und viele mehr, aber auch Menschen, die sagen, dass sie gar keine Geschlechtsidentität haben.

Wie würdest du die Wahrnehmung von Transgender-Personen in Irland beschreiben?

Diskriminierung von Trans-Personen ist ein großes Problem. Viele Menschen realisieren überhaupt nicht, dass es Trans-Menschen gibt. Ein gutes Beispiel dafür war ein Interview, zu dem ich letztes Jahr von einem der großen Radiosender eingeladen wurde. Nachdem das Interview vorbei war, kam der Moderator zu mir und sagte: „Ich habe ja gar nicht realisiert, dass es mehr als eine Trans-Person in Irland gibt.“ (lacht) Wir kämpfen also in erster Linie mit dieser Unsichtbarkeit. Von dieser Unwissenheit leiten sich viele der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, wie etwa Transphobie, ab. Das Sereotyp ist eine Trans-Frau in ihren Fünfzigern.

Welche Unterstützung können sich Transgender-Personen erwarten, wenn sie zu TENI kommen?

Viele sind arbeitslos oder haben Probleme, das Haus zu verlassen, manche wollen sich einer Geschlechtsumwandlung unterziehen oder sie haben ganz einfach Probleme mit ihren Gefühlen in Bezug auf ihre Geschlechtsidentität. Die Anfragen reichen vom Wunsch nach einem Kontakt zu Gleichgesinnten, etwa in einer Peer-Support-Group, über das Bedürfnis, anonym mit einem/einer TherapeutIn sprechen zu können, bis hin zu Fragen rund um intraspezifische Gesundheitsversorgung.

Ihr haltet Workshops an Schulen, für Gewerkschaften oder andere Interessierte. Was vermittelt ihr hier?

Wenn wir mit Gruppen aus dem Gewerkschaftsbereich arbeiten, reden wir vor allem über Diskriminierungen am Arbeitsplatz. Da die Gleichbehandlungsgesetze in Irland Trans-Menschen nicht explizit erwähnen, kommt es für sie am Arbeitsplatz immer wieder zu Problemen, wenn es etwa um Mobbing oder Kündigungen geht. Wir bekommen selten die Möglichkeit, in den Schulen Workshops zu  halten, weil das Schulsystem sehr katholisch geprägt ist.

Welche Reaktionen bekommt ihr auf die Workshops?

Die Reaktionen sind meist positiv, aber auch sehr unterschiedlich. Ich würde nicht sagen, dass die irische Gesellschaft inhärent  transphob ist. Oft ist es einfach Unwissenheit. Wenn wir mit Jüngeren sprechen, sind sie zwar meist recht schüchtern, dafür fehlen ihnen viele der Vorurteile die ältere Generationen haben.

Wie funktioniert eure Zusammenarbeit mit der Politik beziehungsweise der Gesetzgeberin als Interessensvertretung?

Wir versuchen in erster Linie Bewusstsein zu schaffen. Wir reden mit den PolitikerInnen über negative Erfahrungen, die Trans-Menschen in den verschiedenen Lebensbereichen machen müssen, wie etwa den schwierigen Zugang zur Gesundheitsversorgung, Diskriminierung am Arbeitsmarkt oder die hohe Selbstmordrate. Wir bemühen uns auch das Thema positiv zu besetzen. Aber die Politik agiert in diesem Bereich nicht proaktiv. Zum Beispiel ist Irland eines der letzten Länder, in dem man die eigene  Geburtsurkunde immer noch nicht ändern kann. Und das, obwohl ein Gericht bereits 2007 entschieden hat dass eine entsprechende  Änderung möglich sein muss. Wir arbeiten an einem entsprechenden Gesetz, aber der Prozess schreitet sehr langsam voran.

Wie sieht die Situation in Irland in Bezug auf den Zugang zum Gesundheitssystem für Transpersonen aus?

Um in Irland etwa eine Geschlechtsumwandlung oder einfach nur einzelne geschlechtsspezifische Operationen machen zu können, muss man zuerst mit einer sogenannten „Geschlechtsidentitätsstörung“ identifiziert werden. Im staatlichen Gesundheitssystem gibt  es aber nur sehr wenige PsychologInnen oder PsychiaterInnen, die sich damit auskennen oder Erfahrungen mit Trans-Menschen haben. Das führt dazu, dass Menschen in das teure private System wechseln, sofern sie sich das überhaupt leisten können. Es hängt also davon ab, ob man das Geld hat, um sich die entsprechende Gesundheitsversorgung leisten zu können.

Wie  gehen die Menschen damit um, dass sie mit einer Geschlechtsidentitätsstörung identifiziert werden müssen, um Anspruch auf gewisse Leistungen bekommen zu können?

Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt einige, die sich sehr stark damit identifizieren. Für sie bietet ein „Geschlechtsidentitätsstörung“ eine Erklärung für ihre Gefühle sowie eine Möglichkeit, zu ihren KollegInnen, FreundInnen oder ihrer Familie gehen und sagen zu  können: Schaut ich habe diese Störung, ich kann nichts dafür. Ich denke aber, dass wir uns langsam in eine Richtung entwickeln die diese Diagnose überflüssig macht.

Arbeitet ihr auch mit anderen europäischen oder internationalen Transgender-Organisationen zusammen?

Ja. Derzeit mit verschiedenen europäischen Organisationen gemeinsam an dem Projekt Page One, das sich mit der Sichtbarkeit und Repräsentation von Trans-Menschen in den Medien beschäftigt. Europaweit erleben wir einen sehr ähnlichen Umgang der Medien mit Trans-Themen, entweder sie finden gar keine Beachtung, oder es werden Sensations-Stories gebracht. Ziel des Projekts ist es, mehr Sichtbarkeit und eine positivere Berichterstattung in den Medien zu erreichen. Oft wird in Interviews danach gefragt, ob man  eine Operation hatte oder wie man früher geheißen hat. Unvorbereitet kann es in solchen Situationen passieren, dass man plötzlich  über Sachen spricht, die man gar nicht erzählen wollte. Wir wollen, dass sich Trans-Menschen dabei wohl fühlen, ihre eigene Geschichte so zu erzählen, wie sie es wollen und nicht, wie sie die JournalistInnen oftmals hören wollen.

Wie würdest du die Repräsentation von Trans-Menschen in den Medien generell beschreiben?

Wenn darüber überhaupt berichtet wird, dann fast ausschließlich in Form von Klatsch- und Tratsch- Geschichten. Themen, über die eigentlich berichtet werden sollte, wie Transphobie, Diskriminierungen, Gewaltverbrechen oder die rechtliche Situation, kommen praktisch nicht vor. Die Medien sind mehr daran interessiert, ob du operiert wurdest, oder an Vorher-nachher-Bildern. Unsere Vorsitzende bei TENI, die auch als Lektorin für die Trinity Universität in Dublin arbeitet, musste vor einiger Zeit eine besondersschlimme Erfahrung im Umgang mit den Medien machen. Die irische Sun, eine der größten Boulevard- Zeitungen, die von Millionen Menschen gelesen wird, hat ein Foto von ihr auf dem Cover abgedruckt und getitelt: „Trinity's sex swap proof. Greek Lecturer was a man“. Sie haben sie einfach so geoutet. Auf der Titelseite! Sie hat weder ihr Einverständnis zu einem Interview gegeben, noch dazu, dass ein Foto von ihr gemacht wird und schon gar nicht, dass es abgedruckt wird. Wir waren erschüttert.

Habt ihr geklagt?

Nein, aufgrund einer Reihe von persönlichen Gründen hat sie sich entschieden, keine rechtlichen Schritte einzuleiten.

Those kids are fast as lightning

  • 30.09.2012, 03:18

Schlag auf Schlag. Kampf, Sport und Selbstverteidigung.

Schlag auf Schlag. Kampf, Sport und Selbstverteidigung.

Jiu Jitsu

Jiu Jitsu war für die japanischen Samurai beim Verlust der Waffen eine alternative Methode der Selbstverteidigung. Die Herkunft des Jiu Jitsu ist aufgrund des Mythenreichtums schwer nachzuvollziehen. Das Leitprinzip „Siegen durch Nachgeben“ spiegelt sich in der Technik des Jiu Jitsu wider. Ziel ist nicht, möglichst viel Kraft aufzuwenden, sondern die Kraft des_r Gegner_in gegen ihn_sie selbst auszurichten. Die Schüler_innen, Kyu genannt, erlernen von dem_r Lehrer_in, genannt Dan, grundlegende Schlag-, Tritt-, Bein- sowie Falltechniken. Später kommen Würfe, Hebel- und Festlegetechniken hinzu. Eine Abwandlung, das brasilianische Jiu Jitsu, ist auch in den USA besonders bekannt. Durch Erich Rahn wurde Jiu Jitsu in Deutschland weit verbreitet und ist dort aufgrund seiner Initiative bereits seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Polizei- und Militärausbildung institutionalisiert.

Judo

Die Judoka, also die Judokämpfer_innen, beziehen ihre Kampfkunst aus dem Jiu Jitsu. Jigoro Kano begründete Judo in der Umbruchstimmung der 1880er-Jahre in Japan. Nach demselben Prinzip wie beim Jiu Jitsu werden keine Waffen verwendet – Judo dient zur Selbstverteidigung. Wie Jiu Jitsu fand auch Judo bald seinen Weg nach Deutschland. 1933 wurde Judo von den  NationalsozialistInnen instrumentalisiert und war erst wieder 1948 nach einem Verbot durch die Alliierten erlaubt. Heute ist Judo der weitest verbreitete Kampfsport der Welt und wird in über 150 Ländern betrieben. Die im alten Kodokan-Judo verwendeten Waffen-, Tritt- und Schlagtechniken wurden im Judo entfernt, und machen diesen Kampfsport durch die Konzentration auf Würfe, Fall- und Bodentechniken auch für Kinder zugänglich. Trainiert wird wie im Jiu Jitsu im charakteristischen weißen Anzug, dem Keikogi. Die Graduierung der Judoka ist an der Farbe (Weiß bis Schwarz/Rot) des Gürtels, als Obi bekannt, erkennbar.

Capoeira

Capoeira hat seine Wurzeln in Brasilien. Während der Kolonialzeit entwickelten die aus Afrika verschleppten Sklav_innen Capoeira, um sich gegen Misshandlungen durch Sklavenhändler_innen zu wehren. Die Struktur dieser Kampfkunst geht von Kampfspielen und Tänzen der afrikanischen und indigenen Kultur aus. Die Symbiose aus afrikanischen Tänzen, Ringen und Jiu Jitsu erfordert eine enorme Ausdauer und Flexibilität. Die Capoeirist_innen kämpfen nach dem Malícia, demnach stellt der/die Capoeirista sich schwächer dar, als er_sie ist, um sich die Unwissenheit zum Vorteil zu machen. Ziel ist, den_die Gegner_in durch Angriffe  abzulenken, um dann den eigentlichen Überraschungsangriff zu ermöglichen, weshalb Capoeira auch viele akrobatische Elemente umfasst. Heute ist Capoeira eher als Straßenkampfkunst zu verstehen und hat eine weltweite Verbreitung.

Krav Maga

Krav Maga ist kein Sport, sondern ein flexibles Selbstverteidigungssystem. Dieses ist besonders darauf ausgerichtet, unter Stress und Druck Gefahren zu erkennen, zu reagieren oder auch zu deeskalieren. Deshalb ist Krav Maga auch kein starres System, das erlernt wird. Vielmehr orientiert es sich an spontanen, intuitiven, individuellen Zügen. Das Prinzip, untrainierte Menschen innerhalb kürzester Zeit auf ein hohes Niveau der Selbstverteidigung zu bringen, liegt im Ursprung des Krav Maga. In Bukarest entwickelte  Imrich Lichtenfeld in den 1930ern Krav Maga und lehrte seine Technik Juden und Jüdinnen, um sich vor antisemitischen Übergriffen zu schützen. Als Lichtenfeld nach der Gründung Israels 1948 Nahkampfausbilder der israelischen Armee wurde, hielt Krav Maga Einzug in die Nahkampfausbildung von SoldatInnen, PolizistInnen und Sicherheitskräften. In diesen Bereichen ist Krav Maga heuteweltweit etabliert.

Boxen

Das Boxen geht auf den Faustkampf des antiken Griechenlands zurück. Das moderne Boxen fand seit dem 16. Jahrhundert ein Aufleben in England. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg strömten BoxerInnen aus England in die ganze Welt, jedoch fand der Boxsport in den USA seit Ende des 19. Jahrhunderts einen besonders fruchtbaren Boden. Während in England strenge Regeln gelten, wurden diese in den USA meist vernachlässigt. Charakteristische Gewichtsklassen wurden bereits 1867 vom Vater des modernen  Amateurboxens, dem Marquess of Queensberry, ausgearbeitet. Gekämpft wird nur mit den Fäusten, als Treffer gilt alles über der Gürtellinie, nur bei Armen und Händen gilt der Angriff als blockiert. Eine Runde gilt als beendet, wenn eine_r der Boxer_innen k.o.  geht. Der Boxsport ist umstritten und zugleich die populärste aller Kampfsportarten, auch aufgrund von Boxgrößen wie Muhammad Ali.

Kickboxen

Aus einer Kombination aus ostasiatischen und westlichen Kampfsportarten entstand Kickboxen, dessen erster Name All-Style-Karate war. Seinen Ursprung hat es in den USA in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als man verschiedene Kampfsportarten aneinander messen wollte. Wie bei Karate werden hier nicht nur die Fäuste verwendet, sondern auch die Beine. Schläge werden wie beim Boxen ausgeteilt. Und auch beim Kickboxen werden die Kämpfer_innen in Gewichtsklassen eingeteilt. Wie es bei ostasiatischen Kampfsportarten üblich ist, können Grade anhand von Gurten von Weiß bis Schwarz abgelegt werden. Die  Konzentration des Trainings liegt bei Gelenkigkeit, Körperbeherrschung sowie Kondition, Reaktion und Kombinationsfähigkeit. Die Vernachlässigung der Regeleinhaltung und martialische Vereinsnamen handeln dem Kickboxen unter den Kampfsportarten einen vergleichsweise schlechten Ruf ein.

Quellen und Linkliste:
www.kampfsportarten.net
www.oejv.com (Österreichischer Judoverband)
www.abadacapoeira.at
www.jjvoe.at (Jiu Jiutso Verband Österreich)
www.oetdv.at (Österreichischer Teakwondo Verband)
www.kravmagamaor.at

Der Sprung ins kalte Wasser

  • 21.09.2012, 11:22

progress schnuppert in die österreichische Poetry-Slam-Szene. Stoff geben jahrelange Erfahrungen und Erlebnisse von Österreichs Poetry-Slam-„Mama“ Mieze Medusa, U20-Slam-Meisterin Yasmin Hafedh und Slam Newcomerin Mara Ban.

progress schnuppert in die österreichische Poetry-Slam-Szene. Stoff geben jahrelange Erfahrungen und Erlebnisse von Österreichs Poetry-Slam-„Mama“ Mieze Medusa, U20-Slam-Meisterin Yasmin Hafedh und Slam Newcomerin Mara Ban.

DER WETTBEWERB. Das A und O im Poetry Slam. Ob bei lokalen Poetry Slams, beim Ö-Slam oder direkt bei den Meisterschaften - ohne Wettbewerb kein Slam. Auch wenn der Grundsatz lautet: „Vom, fürs und mit dem Publikum“, kann es nur eineN GewinnerIn geben. Wer als ErsteR drankommt, hat es am Schwersten. Hier kommt das sogenannte „Opferlamm“ ins Spiel. Dieses wird zu Beginn dem Publikum zum Fraß vorgeworfen. Wenn man aber doch mal als ErstgereihteR gewinnt, ist die Freude groß. Alle SlammerInnen wollen MeisterIn werden; nur nicht Yasmin Hafedh, die will es ein zweites Mal werden. Nicht zu verwechseln ist die/der MeisterIn mit dem/der Slam-MasterIn. Die/Der ist da, damit alles rund läuft. Die Startplätze zu ziehen, einem lahmen Publikum einzuheizen oder ihnen das angemessene Kleingeld aus der Tasche zu ziehen – davon kann Mieze Medusa einen Text slammen.

DIE OFFENE BÜHNE. Ein wichtiges Prinzip, auf das sich das Poetry-Slam-Konzept stützt: Sagen darfst du alles - aber die anderen auch. Durch die unmittelbare Reaktion des Publikums kann die offene Bühne auch zum Gericht werden. Geurteilt wird sofort. Auch SlammerInnen untereinander scheuen nicht vor ihrem Recht zurück, im Positiven wie im Negativen. Für Mieze Medusa wird’s bei Rassismus und Sexismus aber dann doch heikel. Als Slam-Masterin und Organisatorin scheut sie sich nicht, zu kommentieren. Klare Sache. Aus Erfahrung kann Yasmin Hafedh aber sagen, dass diskriminierende SlammerInnen meist nur ein Mal das Mikro in die Hand nehmen, um es dann liegen zu lassen.

DAS PUBLIKUM. Als „hart aber herzlich“ haben Mieze Medusa, Yasmin Hafedh und Mara Ban das Poetry-Slam-Publikum erlebt. Hier gibt’s kein Erbarmen. Reaktionen auf vorgetragene Texte kommen unmittelbar und lautstark. Von Buhrufen bis rasende Begeisterung ist alles dabei. Davon lebt Poetry Slam. Dass man lernt, damit umzugehen, ist Teil des Konzepts. Für Yasmin Hafedh ist Feedbackfähigkeit für längerfristiges Slammen ein Muss. Also nicht unterkriegen lassen, wenn ein Text mal nicht funktioniert! Denn bei jedem Poetry Slam ist auch das Publikum anders.
Verstecken gibt’s nicht! Das gilt für die SlammerInnen wie für das Publikum. Wer glaubt, sich bei einem Poetry Slam mit verschränkten Armen zurücklehnen zu können, kann schon mal einen bösen Blick von der/m Slam-MasterIn abfangen.

DER TEXT. Text, Text und noch mal Text! Formregeln gibt’s keine. Nur Gesang soll’s keiner sein. In der Kürze liegt bekanntlich die Würze, und die liegt meist bei fünf, aber maximal bei acht Minuten. Grob werden beim Poetry Slam Story Telling, Spoken Word und Rap unterschieden. Beim Story Telling kann man sich schon mal bei der Performance etwas mehr Zeit für einzelne Wörter nehmen. Anders sieht’s bei Spoken Word und Rap aus. Doch nicht nur die Quantität, auch die Qualität des Inhalts zeichnet einen guten Slam-Text aus. Mara Ban schreibt konsequent viel, doch eignet sich nicht jeder Text für die Schärfe eines Poetry Slams. Zwei oder drei sollten’s dann aber schon pro Slam sein. Und immer aus eigener Feder!

DIE PERFORMANCE. Was du hast, ist eine Bühne, ein Mikro, deinen Text und dich. Was du nicht hast, sind Requisiten. Mara Ban weiß aus Erfahrung, dass das meiste an Performance tatsächlich direkt auf der Bühne passiert. Was sich gut anfühlt, bleibt. Für Yasmin Hafedh hat sich ein individueller Performancestil nach und nach herausgeschält. Wenig ist kalkuliert, authentisch soll es sein. Nix ist fix im Poetry Slam: „Immer dann, wenn eine Regel aufgestellt wird, was bei Poetry Slams nicht geht, und was man nie machen darf, kommt ein/e SlammerIn, stellt sich hin, macht genau das und knackt damit das Publikum“, so Mieze Medusa.

DER ORT. Es heißt nicht zu Unrecht, Kärnten sei ein hartes Pflaster für neuere Kunstformen. Mit „Slam if you can“ findet in Klagenfurt nur ein unregelmäßiger Poetry Slam statt. Zu Leiden der Kärntnerin Mara Ban. Für Poetry Slams geht sie dann schon mal ins Exil auf Zeit. Anders sieht’s für die Wienerin Yasmin Hafedh und Wahlwienerin Mieze Medusa aus. Bei sechs koexistierenden Poetry Slams müsste der Umkehrschluss heißen: Wien ist ein weiches Pflaster für Poetry Slam. Doch jeder Veranstaltungsort hat seine eigenen Macken. Als Organisatorin des Poetry Slams Textstrom fühlt sie sich seit Jahren im Wiener rhiz wohl. Ebenfalls in Wien fand Yasmin Hafedh im lokativ eine geeignete Stätte, um ihr Baby D.T.S. Poetry Slam heranzuziehen. Im Wiener Dschungel nimmt sie sich mit U20 Poetry Slam besonders den Slamküken bis 20 an.

DAS LAMPENFIEBER. Dagegen haben sogar unsere drei Slammerinnen kein Rezept. Tipps gibt’s trotz- dem. Die junge Slammerin Mara macht Neulingen Mut: „Wenn man’s machen will, soll man es auf jeden Fall machen!“ Falls doch mal Angst aufkommt, ist es gut, sich vorher zu überlegen, wie man die am Besten rumkriegt. Um es mit Mieze Medusas Worten zu sagen: „Poetry Slam und Sex haben gemeinsam, dass es besser wird, wenn man es öfter macht.” Also: Üben was das Zeug hält!

POETRY SLAM TERMINE
>> poetryslam.at

Nachhilfe in: Geschlechtergerechte Erziehung

  • 20.09.2012, 01:32

Im September 2011 bekannte sich die Bundesregierung zu einer nachhaltigen umsetzung von Gender Mainstreaming. Wie wird dieses Bekenntnis umgesetzt und welchen Spielraum gibt es wirklich für geschlechtergerechte Erziehung?

Im September 2011 bekannte sich die Bundesregierung zu einer nachhaltigen umsetzung von Gender Mainstreaming. Wie wird dieses Bekenntnis umgesetzt und welchen Spielraum gibt es wirklich für geschlechtergerechte Erziehung?

Gleichberechtigung in Kinderschuhen. Wer im Kindergarten die kleinen Geschwister oder eigenen Kinder abholt, denjenigen oder diejenige mag die ausgeprägte Präsenz von Fantasiespielen überraschen. Das Mädchen ist Prinzessin, wird von ihrem Spielkameraden, einem Ritter, errettet. Gleich daneben üben sich Mädchen in klassischen Haushaltsaufgaben im „Vater-Mutter-Kind“-Versuch. Kindern beim Spielen zuzusehen, hat eine eigene Faszination, vielleicht weil sie sich ungetrübt mit der Welt beschäftigen, wie es kein Erwachsener kann. Wer jedoch aufmerksam ist, wird feststellen, dass Kinder dabei als unbarmherzige Spiegel gesellschaftliche Strukturen unverzerrt wiedergeben. Kinder nehmen schon im jüngsten Alter gesellschaftspolitische Zustände in ihrer Umwelt, sei durch Familie, FreundInnen oder Medien, auf. Gerade deshalb ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Gleichberechtigung eine wichtige.

Karl-Martin Wolffhardt-Cermak ist Kindergärtner in der WUK-Kindergruppe ‚Kinderinsel’. Er ist überzeugt davon, Kinder von Anfang an in ihrer Geschlechtsentwicklung zu begleiten und sich gemeinsam mit den Kindern damit auseinanderzusetzen. „Geschlechtsspezifische Sozialisation ist in unserer Arbeit sehr wesentlich. Geschlechteridentität wird, wie häufig belegt, nicht biologisch, sondern kulturell erworben. Dabei kommt uns als Institution eine besondere Aufgabe zu.“ In der „Kinderinsel“ wird auf einen reflektierten Umgang mit Koedukation geachtet. „Wir beobachten genau, wie welche Räume von den Kindern genutzt werden und setzen da auch immer wieder bewusst Buben-, Mädchenzeiten ein, um Raum für unterschiedliches Nutzungsverhalten zu geben. Möglichst vielfältige Gelegenheiten zu Körper und Sinneswahrnehmungen sind wichtige Voraussetzung für einen entspannten Umgang mit „mir und anderen“, erklärt Wolffhardt-Cermak im Gespräch. Neben einem bewussten Sprachgebrauch im Alltag und pädagogischem Material ist die Vorbildwirkung eine wichtige. Ein gemischtgeschlechtliches PädagogInnenteam, welches in der Erziehung nicht den „klassischen“ Rollenmustern nacheifert, sieht auch der Kindergärtner als erhebliche Förderung geschlechtergerechter Erziehung.

Einmal Genderbrille, bitte. Das Ziel war, sich in Schulen fächerübergreifend verstärkt mit der Frage der Gleichstellung der Geschlechter zu befassen. Das wurde 1994 mit dem Unterrichtsprinzip „Erziehung zur Gleichstellung von Frauen und Männern“ in den Lehrplänen verankert. Trotz klischeehafter Geschlechterdarstellungen und insbesondere der Unterrepräsentation von Frauen in vielen Schulbüchern existiert durchaus eine breite Auswahl an geschlechtersensibler Literatur und Medienmaterialien. Die Vermittlung von geschlechtergerechten Inhalten wird dennoch im Schulalltag weitgehend links liegen gelassen. Die Ergebnisse einer 2007 durchgeführten Studie des BMUKK zu „Gender und Schule“, an der 34 Prozent aller Schulen teilnahmen, erhärtet den Verdacht weitgehend fehlender Umsetzung im Unterricht. So gaben 54 Prozent der LehrerInnen an, „kaum“ oder „nie“ Geschlechterthemen im Unterricht zu behandeln. Vereinzelt werden von Schulen und Kindergärten, oft auch aufgrund von Elterninitiativen, Fortbildungen und Projekte mit ExpertInnen durchgeführt. Doch das fehlende didaktische und pädagogische Wissen der Lehrpersonen ist bezeichnend. Renate Tanzberger, Teammitglied des Vereins EfEU zur Erarbeitung feministischer Erziehungs- und Unterrichtsmodelle, sieht ein großes Problem in der Freiwilligkeit, sich als PädagogIn mit dem Thema auseinanderzusetzen. „Es ist nötig, dass Lehramtsstudierende in ihrer Ausbildung und LehrerInnen im Rahmen von Fortbildungen verpflichtet werden, sich mit der Gender- und Diversitätsthematik auseinanderzusetzen und erfahren, wie Pädagogik im Unterricht umgesetzt werden kann.“

Wir brauchen mehr. Angebote wie der GirlsDay und der BoysDay sowie Frauen in die Technik (FiT) werden von Schulen häufig genutzt und können als erfolgreiche Konzepte betrachtet werden. Im Schulalltag fehlt es aber oft an den nötigen Rahmenbedingungen. Oft fehlen die Ressourcen für langjährige Gendermainstreamingprozesse, sei es in Form eines/einer Genderbeauftragten oder von Gruppenprojekten. Das Konzept einer Ganztagsschule würde durch die Möglichkeit einer flexibleren Gestaltung des Unterrichts einer geschlechtergerechten Erziehung entgegenkommen. Nicht nur fächerübergreifendes Lernen, auch geschlechtersensible Freizeitgestaltung wären leichter möglich. Die jetzige Schulsituation, die hohe Anzahl der SchülerInnen pro Klasse, zu kleine und/oder zu wenig Räumlichkeiten und der starre Umgang mit Zeit machen es den PädagogInnen unmöglich, den Anforderungen einer praxisorientierten gender- wie auch diversitysensiblen Bildung nachzukommen.

Emanzipierte Erziehung. Offenere Rahmenbedingungen bieten mehr Raum, um auf einzelne Kinder einzugehen, um pauschalen Geschlechterzuschreibungen von Seiten Erwachsener entgegenzuwirken und Kindern zu ermöglichen, ihr Geschlecht eigenständig auszuprobieren. Für Tanzberger ist es in Bezug auf die zukünftige Entwicklung einer geschlechtergerechten Pädagogik besonders wichtig, „Geschlechtsrollen und sonstige Zuschreibungen aufzulösen. Zum anderen ist es aber nach wie vor wichtig, Machtverhältnisse zu benennen. Für die Schule kann das heißen, Geschlecht zu dramatisieren, wenn es nötig ist und zu entdramatisieren, wenn es möglich ist.“ Dass im Bildungssystem endlich Platz für eine unbedeckte Evaluierung und den für eine emanzipierte Erziehung notwendigen Ausbau des Bildungssystems gemacht wird, ist aufgrund hartnäckiger ÖVP-Bildungsblockaden fraglich. Die Aufwertung des noch immer frauendominierten Bereichs der Sozial- und Pädagogikarbeit wäre nur eine Maßnahme, um den rostzerfressenen Bildungskahn vor dem Sinken zu bewahren.

Die Autorin studiert Philosophie in Wien.

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